Sprachsensibler FachunterrichtUrsula Esterl
WORKSHOP 1
IMST-Tagung 2019„Vernetzung zwischen den MINDT-Fachdidaktiken“24. September 2019
„Wofür ich keine Sprache habe, darüber kann ich nicht reden.“ Ingeborg Bachmann
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Sprachsensibel unterrichten?◦ Frage 1: Was sind die besonderen (sprachlichen)
Herausforderungen Ihres Faches?
◦ Frage 2: Welche sprachlichen Probleme erkennen Sie bei Ihren Schüler_innen?
◦ Frage 3: Welche Strategien und Methoden setzen Sie ein, um Ihren Unterricht sprachsensibel zu gestalten?
Schlüsselbegriffe
Bildungssprache
Sprache im Fach
Sprachsensibler Fachunterricht
Sprachsensibler Fachunterricht
Das Thema sprachsensiblen Fachunterrichts ist die Sprachbildung in allen Fächern und der Erwerb der Bildungssprache.
Sprachbildung: „Sprache bilden“, Bildungssprache lernen und bildungssprachliche Kompetenzen erwerben.
Sprachsensibler Fachunterricht verbindet fachliches Lernen mit sprachlichem Lernen
Fokus auf Sprache im Fachunterricht?
Die Beherrschung der für Lehr- und Lernprozesse im Unterricht typischen Sprache, ist – so lässt sich vereinfachend sagen – der Schlüssel zum Bildungserfolg, weil mit und über Sprache im Unterricht
Wirklichkeit erschlossen, kognitive Prozesse befördert und Wissen (re-)organisiert, erweitert und vertieft wird
Arbeitsweisen und Bedeutungen ausgehandelt werden Lernleistungen erfasst und bewertet und damit
Berechtigungen und Lebenschancen vergeben werden. Thürmann/Vollmer (2013),
https://www.schulentwicklung.nrw.de/materialdatenbank/material/view/3831 [23.09.2019]
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Sprachsensibler (Fach-)Unterricht
ist Regelunterricht und keine organisatorische Sonderform, also kein zusätzlicher Förderunterricht, sondern Kernelement einer (durchgängigen) Sprachbildung.
stellt sprachliche Hilfen und Lerngelegenheiten bereit, damit die Schüler/innen im Unterricht angemessen sprachlich handeln und die Ziele des Regelunterrichts erreichen können.
ist prinzipiell in allen Fächern und Lernbereichen möglich und entfaltet sein volles Potenzial, wenn die Fächer untereinander und mit dem Deutschunterricht abgestimmt zusammenarbeiten.
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Sprachsensibler Unterricht nimmt in besonderer Weise zwei Varietäten in den Blick:◦ Bildungssprache – Fachsprache
setzt voraus, dass die Schüler/innen soweit Deutsch beherrschen, um sich in grundlegenden Alltagssituationen verständigen zu können.
ist von besonderer Bedeutung für Schüler/innen, die in Familien mit Migrationshintergrund und/ oder schwächer ausgeprägter literaler (schriftsprachlicher) Kultur aufwachsen.
https://www.schulentwicklung.nrw.de/materialdatenbank/material/view/3831 [Stand: 23.9.2019]
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Bildungssprache
„Bildungssprache ist das Medium, um abstrakte und komplexe Inhalte sprachlich aufzunehmen und auszudrücken. Dies muss unabhängig von einer konkreten Interaktionssituation geleistet werden und in den unterschiedlichsten Situationen, bei sehr verschiedenen Anforderungen. Greifbar wird Bildungssprache in schultypischen Diskursen, wie Lehr-Lern-Dialogen, dem Lösen von Aufgaben, der Aufnahme und Verarbeitung oder bei der Abfrage von Wissen.“
(Lange & Gogolin, 2010, S. 9).
Alltagssprache : : Bildungssprache
Alltagssprache Öffentlich-formale Sprache / Bildungssprache
fast ausschließlich mündlicher, zumeist ‚umgangssprachlicher‘ Sprachgebrauch; konzeptionelle Mündlichkeit auch in geschriebenen Texten
Merkmale der konzeptionellen Schriftlichkeit auch im mündlichen Sprachgebrauch (z.B. Vorträge, Fachdiskussionen …)
kontextabhängig Zumeist de-kontextualisiert
viele (explizit) bedeutungstragende Elemente
hoher Abstraktionsgrad
konkret hoher Anteil symbolischer Aspekte
illustrativ-anschaulich kohärenzbildende Redemittel z. B. inhaltsleere Funktionswörter wie Artikel, Pronomen etc.
Nach: Lengyel, Drorit (2007): Durchgängige Sprachförderung – ein Konzept zur Sprachbildung im Unterricht, www.gew-koeln.de/02/web03/gew/forum/forum2007_1.pdf [19.09.2019]
Merkmale von Bildungssprache• Fachbegriffe: Atom, Syntax, Spannung, Lösung, Induktion, UV-Strahlung
• komplexe Komposita und Attribute: Der zu ermittelnde Wert liegt bei .... bzw. der Ermittlungswert liegt bei ... / sauerstoffarm, schwach leitend
• Komplexe Verben, Präfixverben: sich ausdehnen, zurückfließen, erhitzen
• unpersönliche Ausdrücke/Formulierungen: Es kann festgehalten werden, dass ...
• Passivkonstruktionen: Als Becher wird ein Gefäß bezeichnet, das ..
• Nicht eingeleitete Konditionalsätze: Bebaut man eine Fläche der Größe x mal x, .... ; statt: Wenn man eine Fläche, die x mal x groß ist, bebaut, so ...
• Nominalkonstruktionen statt Nebensätze: Trotz starker Niederschläge, kann …: Obwohl es stark regnet, kann ... Oder: Aus Mangel an Nahrungsmitteln… (statt: Es gibt zu wenig Nahrungsmittel / zu essen, daher ...)
• Größerer aktiver wie passiver Wortschatz • variantenreiche Sprache • Vermehrter Gebrauch des Konjunktivs
Bildungssprache
„Dieses Klugscheißerdeutsch will ich gar nicht lernen.“
(Berliner Schülerin mit Lernschwierigkeiten nach Übertritt ans Gymnasium; zit. n. Rösch 2017, S. 179)
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Sprachliche Gründe,die sich auf die Bildungserfolge von Schüler_innen auswirken:Die Sprache desDie
derfachlichen Leistung mit ein.
(Tanja Tajmel 2017)
Die Unterrichtssprache ist nicht altersgemäß.
Die Sprache des Unterrichts ist nicht die
Herkunftssprache.
Die Unterrichtssprache ist nicht Alltagssprache.
Die sprachlichen Kontexte sind neu
bzw. nicht bekannt.
Die sprachliche Leistung fließt in die Beurteilung der fachlichen Leistung mit ein.
Fokus auf Sprache im Fachunterricht?
Wer? – Wann? – Warum?
„Es war uns aufgefallen, dass die Kinder überhaupt nicht verstehen, was sie tun sollen. Wir das aber gar nicht mitkriegen, weil sie denken, dass sie das verstehen, das ist ja das Problem, oder sie verstehen oft was völlig anderes, als wir meinen […]
(Abteilungsleiterin 5–7, Gesamtschule Kirchdorf)
In: Hanne Brandt 2011, www.schulmagazin5-10.de)
Sprachprobleme der Lernenden im FachunterrichtDie Lernenden
1. vermischen Alltags- und Fachsprache; 2. suchen nach (Fach-)Begriffen; 3. verfügen über einen begrenzten (Fach-)Wortschatz; 4. geben einsilbige Antworten und vermeiden ganze Sätze; 5. sprechen unstrukturiert, holprig, unpräzise und können ihre Sätze
nicht zu Ende führen; 6. verwenden fachliche Sprachstrukturen nicht korrekt; 7. sprechen und hören lehrerzentriert; 8. wenden Vermeidungs- oder Ausweichstrategien an; 9. vermeiden zusammenhängendes und diskursives Sprechen; 10. haben Schwierigkeiten mit dem Lesen von Fachtexten.
(Leisen 2015)
Merkmale sprachensensiblen Fachunterrichts n. J. Leisen (2015)
• Ich nutze das Fachlernen zum Sprachlernen.
• Ich bringe meine Lernenden in ein sprachlich reichhaltiges Sprachbad.
• Ich fordere sprachlich kalkuliert heraus.
• Ich erkenne die Sprachprobleme meiner Lernenden.
• Ich diagnostiziere, wo und wie ich unterstützen kann.
• Ich biete Sprachhilfen mit Methoden-Werkzeugen an.
• Ich nutze Methoden des Fremdsprachlernens (Vorentlastungen, Kontexte, sensible Fehlerkorrektur …).
Darstellungsformen und Abstraktions-ebenen im Fachunterricht (Quelle: J. Leisen, 1999, 2010; hier zit. n. 2015)
12 Lehr-Lern-Handlungssituationen im sprachsensiblen Fachunterricht (Leisen 2017)
Lehr-Lern-Handlungssituationen im sprachsensiblen Fachunterricht als Vorhaben
Kategorie
1. Aufgabenstellungen sprachsensibel ausbauen2. Wechsel der Darstellungsformen3. Begriffslernen und (Fach-)Wortschatz gezielt fördern
Bildungssprache gezielt fördern
4. Sprachprodukte diagnostizieren und mit Sprachfehlern umgehen5. Spezifische Sprachprobleme untersuchen und Hilfen entwickeln6. Binnendifferenzierende Methodenwerkzeuge einsetzen
Sprachprobleme diagnostizierenund Sprachhilfen einsetzen
7. Lehrtexte sprachsensibel vereinfachen und umgestalten8. Fachtexte mit Lesehilfen und Lesestrategien aufbereiten9. Das Schreiben im Fachunterricht mit Werkzeugen unterstützen
Lese- und Schreib-kompetenzen fördern
10. Sprachübungen für fachspezifische Sprachsituationen konzipieren11. Leseübungen zu Fachtexten konzipieren12. Schreibübungen konzipieren
Bildungssprache üben
Ideenpool für die Gestaltung von Materialien
Graphik und Diagramm (Mengen-, Spinnen-, Strukturdiagramm, Flussdiagramm....)
Wortfelder, Worträtsel, Textpuzzle, Flashcards
Satz-, Fragemuster, Sätze beenden
Lernplakat, Mind-Map
Bildergeschichten, Karussellgespräch
Bilderbücher und Geschichten
Dialoge, Interview
Domino, Memory, Kartenspiele
....
(siehe auch Leisen 2009)
Steckbrief Methoden-Werkzeuge:
http://www.josefleisen.de/downloads/methodenwerkzeuge/50%20Methoden-Werkzeuge%20-%20Steckbrief%20NiU%202003.pdf [21.09.2019]
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Durchgängige Sprachbildung: Sechs Qualitätsmerkmale1. Die Lehrkräfte planen und gestalten den Unterricht mit Blick auf das
Register Bildungssprache und stellen die Verbindung von Allgemein- und Bildungssprache explizit her.
2. Die Lehrkräfte diagnostizieren die individuellen sprachlichen Voraussetzungen und Entwicklungsprozesse.
3. Die Lehrkräfte stellen allgemein- und bildungssprachliche Mittel bereit und modellieren diese.
4. Die Schülerinnen und Schüler erhalten viele Gelegenheiten, ihre allgemein-und bildungssprachlichen Fähigkeiten zu erwerben, aktiv einzusetzen und zu entwickeln.
5. Die Lehrkräfte unterstützen die Schülerinnen und Schüler in ihren individuellen Sprachbildungsprozessen.
6. Die Lehrkräfte und die Schülerinnen und Schüler überprüfen und bewerten die Ergebnisse der sprachlichen Bildung.
file:///C:/Users/uesterl/Seafile/iFolder/Mehrsprachigkeit/Sprache%20in%20allen%20Fächern/Qualittsmerkmale_Durchgngige_Sprachbildung_Gogolin.pdf
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Hilfreiche Linkshttp://www.oesz.at/sprachsensiblerunterricht/UPLOAD/oesz_praxisheft_27_deutsch_su_usbplus_web.pdf
http://oesz.at/sprachsensiblerunterricht/UPLOAD/Praxisreihe_23web.pdf
http://www.sprachsensiblerfachunterricht.de/
http://www.josefleisen.de/download-methodenwerkzeuge
https://www.hss.de/fileadmin/media/downloads/Berichte/111027_RM_Leisen.pdf
https://www.foermig.uni-hamburg.de/bildungssprache/durchgaengige-sprachbildung.html
https://bildungsserver.berlin-brandenburg.de/fileadmin/bbb/themen/sprachbildung/Durchgaengige_Sprachbildung/Publikationen_sprachbildung/sprachsensibler_fachunterricht/3_Sprachsensibler_Fachunterricht-Deutsch.pdf
Quellen• Brandt, Hanne (2011): Bildungssprachförderlicher Unterricht – wie geht das? In: Schulmagazin 5-10, S. 12-15.
• Gogolin, Ingrid; Lange, Imke; Hawighorst, Britta; Bainski, Christiane; Heintze, Andreas; Rutten, Sabine; Saalmann, Wiebke (2011) in
Zusammenarbeit mit der FÖRMIG-AG Durchgängige Sprachbildung: Durchgängige Sprachbildung. Qualitätsmerkmale für den Unterricht. (=
FörMig Materialien, Bd. 3). Münster: Waxmann. Online: https://bimm.at/wp-
content/uploads/2017/02/durchgaengigesprachbildungqualittsmerkmaleopenaccess.pdf [Stand: 23.09.2019]
• Lange, Imke; Gogolin, Ingrid ( 2010): Durchgängige Sprachbildung. Eine Handreichung. Münster: Waxmann.
• Leisen, Josef (2015): Integrierte Sprach(en)didaktik: Sprache lernen und lehren in allen Fächern. In: ide. informationen zur deutschdidaktik. H. 4,
Jg. 39, S. 126–132.
• Leisen, Josef (2017): Handbuch Fortbildung Sprachförderung im Fach. Sprachsensibler Fachunterricht in der Praxis. Stuttgart: Klett.
• Lengyel, Drorit (2007): Durchgängige Sprachförderung – ein Konzept zur Sprachbildung im Unterricht, www.gew-
koeln.de/02/web03/gew/forum/forum2007_1.pdf [19.09.2019]
• Rösch, Heidi (2017); Deutschunterricht in der Migrationsgesellschaft. Eine Einführung. Stuttgart: J. B. Metzler.
• Tajmel, Tanja (2017): Sprachbewusste Unterrichtsplanung. Prinzipien, Methoden und Beispiele für die Umsetzung. Münster: Waxmann (=
FörMig Material, Bd. 9).
• Thürmann, Eike; Vollmer, Helmut Johannes (2010): Zur Sprachlichkeit des Fachlernens: Modellierung eines Referenzrahmens für Deutsch als
Zweitsprache. In: Ahrenholz, Bernt (Hrsg.): Fachunterricht und Deutsch als Zweitsprache. 2., durchges. u. akt. Aufl. Tübingen: Narr, S. 107–132.
• Thürmann, Eike; Vollmer, Helmut Johannes (31.05.2013): Checkliste zu sprachlichen Aspekten des Fachunterrichts. Online:
https://www.schulentwicklung.nrw.de/materialdatenbank/material/view/3831 [Stand: 23.09.2019]
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http://pressengers.de/plugins/mehrsprachige-wordpress-seite-einrichten/
Von der Alltags- zur Bildungssprache
Hier nachfolgend ein gekürzter Auszug aus den umfassenden Beobachtungen von Pauline Gibbons (2006, zit. n. Lange & Gogolin 2010):
1. Drei zehnjährige Schülerinnen sprechen und handeln:
− Das … nein, es geht nicht … es bewegt sich nicht … − Versuch das …− Ja, es geht … ein bisschen … das nicht …− Das geht nicht, es ist kein Metall …− Diese sind am besten … gehen richtig schnell.
Von der Alltags- zur Bildungssprache
2. Ein Kind berichtet anschließend vor der Klasse:
„Wir versuchten eine Stecknadel … einen Bleistiftanspitzer … ein paar Eisenspäne und ein Stück Plastik … der Magnet hat die Stecknadel nicht angezogen … aber er hat den Bleistiftanspitzer und die Eisenspäne angezogen … er hat das Plastik nicht angezogen.“
Von der Alltags- zur Bildungssprache
3. Dasselbe Kind produziert zum Schluss einen schriftlichen Text:
Mit unserem Experiment sollten wir herausfinden, was ein Magnet anzieht. Wir entdeckten, dass ein Magnet einige Arten von Metall anzieht. Er zog die Eisenspäne an, aber nicht die Stecknadel. Er zog auch Dinge nicht an, die kein Metall waren.
Von der Alltags- zur Bildungssprache
4. (aus einem Kinderlexikon)
Ein Magnet ist ein Stück Metall, das von einem unsichtbaren Kräftefeld umgeben ist, welches auf magnetisches Material einwirkt. Der Magnet kann ein Stück Stahl oder Eisen hochheben oder anziehen, weil sein magnetisches Feld in das Metall fließt und es vorübergehend in einen Magneten verwandelt. Magnetische Anziehung entsteht nur zwischen eisenhaltigen Materialien.