durrenmatt

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Durrenmatt

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  • Friedrich Drrenmatt

    Der HundDer TunnelDie Panne

    Erzhlungen

    Diogenes

  • Diogenes Taschenbuch 250/20

    Friedrich Drrenmatt

    Werkausgabe in dreiig Bnden

    Herausgegebenin Zusammenarbeit

    mit dem Autor

    Band 20

    Umschlag: Detail aus Flucht I von Friedrich Drrenmatt. Der Hunderschien erstmals 1952 im Sammelband Die Stadt. Prosa I IV im Verlagder Arche, Zrich. Copyright 1952, 1980 by Peter Schifferli, Verlags AGDie Arche, Zrich.Der Tunnel erschien erstmals 1952 im Sammelband Die Stadt. Prosa I-IVim Verlag der Arche, Zrich. Die vorliegende bearbeitete Fassung von 1978erschien erstmals 1978 im Friedrich Drrenmatt Lesebuch im Verlag derArche, Zrich. Copyright 1952, 1978, 1980 by Peter Schifferli, VerlagsAG Die Arche, Zrich. Die Panne erschien erstmals 1956 im Verlag derArche, Zrich. Copyright 1956, 1980 by Peter Schifferli, Verlags AGDie Arche, Zrich.Die Texte wurden fr diese Ausgabe durchgesehen und korrigiert.Redaktion: Thomas Bodmer.

    Berechtigte Lizenzausgabe mit freundlicher Genehmigungder Verlags AG Die Arche, Zrich

    Alle Rechte an dieser Edition vorbehaltenDiogenes Verlag AG Zrich, 1980

    120/80/8/1ISBN 3 257 20850 2

  • 3Der Hund

    Eine Erzhlung1951

    Schon in den ersten Tagen, nachdem ich in die Stadtgekommen war, fand ich auf dem kleinen Platz vor demRathaus einige Menschen, die sich um einen zerlumpten Mannscharten, der mit lauter Stimme aus der Bibel las. Den Hund,den er bei sich hatte und der zu seinen Fen lag, bemerkte icherst spter, erstaunt darber, da ein so riesiges undentsetzliches Tier meine Aufmerksamkeit nicht auf der Stelleerregt hatte, denn es war von tiefschwarzer Farbe und glattem,schweibedecktem Fell. Seine Augen waren schwefelgelb, undwie es das riesige Maul ffnete, bemerkte ich mit GrauenZhne von ebenderselben Farbe, und seine Gestalt war so, daich sie mit keinem der lebenden Wesen vergleichen konnte. Ichertrug den Anblick des gewaltigen Tieres nicht lnger undwandte meine Augen wieder dem Prediger zu, der vongedrungener Gestalt war, und dessen Kleider in Fetzen anseinem Leibe hingen: doch war seine Haut, die durch die Risseschimmerte, sauber, wie denn auch das zerrissene Gewanduerst reinlich war: Kostbar jedoch sah die Bibel aus, aufderen Einband Gold und Diamanten funkelten. Die Stimme desMannes war ruhig und fest. Seine Worte zeichneten sich durcheine auergewhnliche Klarheit aus, so da seine Rede einfachund sicher wirkte, auch fiel es mir auf, da er nie Gleichnissebrauchte. Es war eine ruhige und unfanatische Auslegung derBibel, die er gab, und wenn seine Worte doch nichtberzeugten, so rhrte dies nur von der Erscheinung desHundes her, der unbeweglich zu seinen Fen lag und die

  • 4Zuhrer mit seinen gelben Augen betrachtete. So war es dennvorerst die seltsame Verbindung des Predigers mit seinem Tier,die mich gefangennahm und mich verfhrte, den Mann immerwieder aufzuspren. Er predigte jeden Tag auf den Pltzen derStadt und in den Gassen, doch war es nicht leicht, ihnaufzufinden, obwohl er seine Ttigkeit bis spt in die Nachtausbte, denn die Stadt war verwirrend, obgleich sie klar undeinfach angelegt war. Auch mute er seine Wohnung zuverschiedenen Zeiten verlassen und seiner Ttigkeit nie einenPlan zu Grunde legen, denn nie lie sich in seinem Auftreteneine Regel feststellen. Manchmal redete er ununterbrochen denganzen Tag auf demselben Platz, manchmal aber wechselte erden Ort jede Viertelstunde. Er war immer von seinem Hundbegleitet, der neben ihm schritt, wenn er durch die Straenging, schwarz und riesig, und der sich schwer auf den Bodenlegte, wenn der Mann zu predigen anfing. Er hatte nie vieleZuhrer und meistens stand er allein, doch konnte ichbeobachten, da ihn dies nicht verwirrte, auch verlie er denPlatz nicht, sondern redete weiter. Oft sah ich, da er mitten ineiner kleinen Gasse stillstand und mit lauter Stimme betete,whrend nicht weit von ihm die Leute achtlos durch einebreitere Gasse gingen. Da es mir jedoch nicht gelang, einesichere Methode zu finden, ihn aufzuspren, und ich diesimmer dem Zufall berlassen mute, versuchte ich nun, seineWohnung zu finden, doch vermochte mir niemand Auskunft zugeben. Ich verfolgte ihn daher einmal den ganzen Tag, dochmute ich dies mehrere Tage wiederholen, denn er kam mirimmer wieder am Abend aus den Augen, weil ich bestrebt war,mich vor ihm verborgen zu halten, damit er meine Absichtnicht entdecke. Dann jedoch sah ich ihn endlich, spt in derNacht, in ein Haus einer Gasse treten, die nur von denReichsten der Stadt bewohnt wurde, wie ich wute, was michdenn auch in Erstaunen versetzte. Von nun an nderte ich ihm

  • 5gegenber mein Verhalten, indem ich meine Verborgenheitaufgab, um mich nur in seiner nchsten Nhe aufzuhalten, soda er mich sehen mute, doch strte ich ihn nicht, nur derHund knurrte jedesmal, wenn ich zu ihnen trat. So vergingenmehrere Wochen, und es war in einem Sptsommer, als er,nachdem er seine Auslegung des Johannisevangeliums beendethatte, zu mir trat und mich bat, ihn nach Hause zu begleiten;doch sagte er kein Wort mehr, wie wir durch die Gassenschritten, und als wir das Haus betraten, war es schon sodunkel, da im groen Zimmer, in welches ich gefhrt wurde,die Lampe brannte. Der Raum war tiefer als die Strae gelegen,so da wir von der Tre einige Stufen hinuntergehen muten,auch sah ich die Wnde nicht, so sehr wurden sie von Bchernberdeckt. Unter der Lampe war ein groer, einfacher Tischaus Tannenholz, an welchem ein Mdchen stand und las. Estrug ein dunkelblaues Kleid. Es drehte sich nicht um, als wireintraten. Unter einem der beiden Kellerfenster, die verhngtwaren, befand sich eine Matratze und an der gegenber-liegenden Wand ein Bett, und zwei Sthle standen am Tisch.Bei der Tre war ein Ofen. Wie wir jedoch dem Mdchenentgegenschritten, wandte es sich, so da ich sein Gesicht sah.Es gab mir die Hand und deutete auf einen Stuhl, worauf ichbemerkte, da der Mann schon auf der Matratze lag; der Hundaber legte sich zu seinen Fen nieder.

    Das ist mein Vater, sagte das Mdchen, der nun schonschlft und nicht hrt, wenn wir zusammen sprechen, und dergroe, schwarze Hund hat keinen Namen, der ist einfach einesAbends zu uns gekommen, als mein Vater zu predigen anfing.Wir hatten die Tre nicht verschlossen, und so konnte er mitseinen Tatzen die Klinke niederdrcken und hereinspringen.Ich stand wie betubt vor dem Mdchen und fragte leise, wasdenn ihr Vater gewesen sei. Er war ein reicher Mann mitvielen Fabriken, sagte es und schlug die Augen nieder. Er

  • 6verlie meine Mutter und meine Brder, um den Menschen dieWahrheit zu verknden. Glaubst du denn, da es dieWahrheit ist, die dein Vater verkndet? fragte ich. Es ist dieWahrheit, sagte das Mdchen. Ich habe es immer gewut,da es die Wahrheit ist, und so bin ich denn mit ihm gegangenin diesen Keller und wohne hier mit ihm. Aber ich habe nichtgewut, da dann auch der Hund kommen wrde, wenn mandie Wahrheit verkndet. Das Mdchen schwieg und sah michan, als wolle es um etwas bitten, das es nicht auszusprechenwagte. Dann schick ihn fort, den Hund, antwortete ich, aberdas Mdchen schttelte den Kopf. Er hat keinen Namen undso wrde er auch nicht gehen, sagte es leise. Es sah, da ichunentschlossen war, und setzte sich auf einen der beiden Sthleam Tisch. So setzte ich mich denn auch. Frchtest du dichdenn vor diesem Tier? fragte ich. Ich habe mich immer vorihm gefrchtet, antwortete es, und als vor einem Jahr dieMutter kam mit einem Rechtsanwalt und die Brder, ummeinen Vater zurckzuholen und mich, haben sie sich auchgefrchtet vor unserem Hund ohne Namen, und dabei hat ersich vor den Vater gestellt und geknurrt. Auch wenn ich imBett liege, frchte ich mich vor ihm, ja dann besonders, aberjetzt ist alles anders. Jetzt bist du gekommen und nun kann ichber das Tier lachen. Ich habe immer gewut, da du kommenwrdest. Natrlich wute ich nicht, wie du aussiehst, abereinmal, das wute ich, wrdest du mit meinem Vater kommen,an einem Abend, wenn schon die Lampe brennt, und es stillerwird auf der Strae, um mit mir die Hochzeitsnacht zu feiern indiesem Zimmer halb unter der Erde, in meinem Bett neben denvielen Bchern. So werden wir beieinander liegen, ein Mannund ein Weib, und drben auf der Matratze wird der Vater sein,in der Dunkelheit wie ein Kind, und der groe, schwarze Hundwird unsere arme Liebe bewachen.

  • 7Wie knnte ich unsere Liebe vergessen! Die Fensterzeichneten sich als schmale Rechtecke ab, die waagrecht berunserer Nacktheit irgendwo im Rume schwebten. Wir lagenLeib an Leib, immer wieder ineinander versinkend, uns immergieriger umklammernd, und die Gerusche der Straevermischten sich mit dem verlorenen Schrei unserer Lust,manchmal das Torkeln Betrunkener, dann das leise Trippelnder Dirnen, einmal das lange, eintnige Stampfen einervorbeiziehenden Kolonne Soldaten, abgelst vom hellen Klangder Pferdehufe, vom dumpfen Rollen der Rder. Wir lagenbeisammen unter der Erde, eingehllt in ihre warmeDunkelheit, uns nicht mehr frchtend, und von der Ecke her,wo der Mann auf seiner Matratze schlief, lautlos wie ein Toter,starrten uns die gelben Augen des Hundes an, runde Scheibenzweier schwefliger Monde, die unsere Liebe belauerten.

    So stieg ein glhender Herbst herauf, gelb und rot, dem spterst in diesem Jahr der Winter folgte, mild, ohne dieabenteuerliche Klte der Vorjahre. Doch gelang es mir nie, dasMdchen aus seinem Kellerraum zu locken, um es mit meinenFreunden zusammenzubringen, mit ihm das Theater zubesuchen (wo sich entscheidende Dinge vorbereiteten) oderzusammen durch die dmmerhaften Wlder zu gehen, die sichber die Hgel breiten, die wellenfrmig die Stadt umgeben:Immer sa es da, am Tisch aus Tannenholz, bis der Vater kammit dem groen Hund, bis es mich in sein Bett zog beim gelbenLicht der Fenster ber uns. Wie es jedoch gegen den Frhlingging, wie noch Schnee in der Stadt lag, schmutzig und na,meterhoch an schattigen Stellen, kam das Mdchen in meinZimmer. Die Sonne schien schrg durchs Fenster. Es war sptim Nachmittag und in den Ofen hatte ich Scheiter gelegt, undnun erschien es, bleich und zitternd, wohl auch frierend, dennes kam ohne Mantel, so wie es immer war, in seinem

  • 8dunkelblauen Kleid. Nur die Schuhe hatte ich noch nie an ihmgesehen, sie waren rot und mit Pelz gefttert. Du mut denHund tten, sagte das Mdchen, noch auf der Schwellemeiner Tre, auer Atem und mit gelstem Haar, mit weitoffenen Augen, und so gespenstisch war sein Erscheinen, daich nicht wagte, es zu berhren. Ich ging zum Schrank undsuchte meinen Revolver hervor. Ich wute, da du micheinmal darum bitten wrdest, sagte ich, und so habe ich eineWaffe gekauft. Wann soll es geschehen? Jetzt, antwortetedas Mdchen leise. Auch der Vater frchtet sich vor dem Tier,immer hat er sich gefrchtet, ich wei es nun. Ich untersuchtedie Waffe und zog den Mantel an. Sie sind im Keller, sagtedas Mdchen, indem es den Blick senkte. Der Vater liegt aufder Matratze, den ganzen Tag, ohne sich zu bewegen, so sehrfrchtet er sich, nicht einmal beten kann er, und der Hund hatsich vor die Tre gelegt.

    Wir gingen gegen den Flu hinunter und dann ber diesteinerne Brcke. Der Himmel war von einem tiefen,bedrohlichen Rot, wie bei einer Feuersbrunst. Die Sonne ebengesunken. Die Stadt war belebter als sonst, voll mit Menschenund Wagen, die sich wie unter einem Meer von Blut bewegten,da die Huser das Licht des Abends mit ihren Fenstern undMauern widerspiegelten. Wir gingen durch die Menge. Wireilten durch einen immer dichteren Verkehr, durch Kolonnenbremsender Automobile und schwankender Omnibusse, diewie Ungetme waren, mit bsen, mattleuchtenden Augen, anaufgeregt fuchtelnden Polizisten mit grauen Helmen vorbei. Ichdrngte so entschlossen vorwrts, da ich das Mdchenzurcklie; die Gasse endlich rannte ich hinauf, keuchend undmit offenem Mantel, einer immer violetteren, immermchtigeren Dmmerung entgegen: doch ich kam zu spt. Wieich nmlich zum Kellerraum hinabgesprungen war und, die

  • 9Waffe in der Hand, die Tre mit einem Futritt geffnet hatte,sah ich den riesigen Schatten des furchtbaren Tieres eben durchdas Fenster entweichen, dessen Scheibe zersplitterte, whrendam Boden, eine weiliche Masse in einem schwarzen Tmpel,der Mann lag, vom Hunde zerfetzt, so sehr, da er nicht mehrzu erkennen war.

    Wie ich zitternd an der Wand lehnte, in die Bcherhineingesunken, heulten drauen die Wagen heran. Man kammit einer Tragbahre. Ich sah schattenhaft einen Arzt vor demToten und schwerbewaffnete Polizisten mit bleichenGesichtern. berall standen Menschen. Ich schrie nach demMdchen. Ich eilte die Stadt hinunter und ber die Brcke aufmein Zimmer, doch fand ich es nicht. Ich suchte verzweifelt,ruhelos und ohne Nahrung zu mir zu nehmen. Die Polizeiwurde aufgeboten, auch, da man sich vor dem riesigen Tierfrchtete, die Soldaten der Kaserne, welche die Wlder inlanggestreckten Ketten durchstreiften. Boote stieen in denschmutzigen, gelben Flu und man forschte mit langenStangen. Da nun der Frhling hereinbrach mit warmenRegengssen, die unermelich heranschwemmten, drang manin die Hhlen der Steinbrche, rufend und mit hocherhobenenFackeln. Man stieg in die Kanalisationsgnge hinab unddurchsuchte den Estrich der Kathedrale. Doch wurde dasMdchen nicht mehr gefunden und der Hund kam nicht mehrzum Vorschein.

    Nach drei Tagen kam ich spt in der Nacht auf mein Zimmer.Erschpft und ohne Hoffnung wie ich war, warf ich mich inden Kleidern auf mein Bett, als ich drunten auf der StraeSchritte hrte. Ich rannte ans Fenster, ffnete es und lehntemich hinaus in die Nacht. Ein schwarzes Band lag die Straeunter mir, noch na vom Regen, der bis Mitternacht gefallen

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    war, so da sich die Straenlampen auf ihr widerspiegelten alsverwachsene, goldene Flecken, und drben, den Bumenentlang, schritt das Mdchen in seinem dunklen Kleid mit denroten Schuhen, vom Haar, das im Lichte der Nacht blauschimmerte, in langen Strngen umflossen, und ihm zur Seite,ein dunkler Schatten, sanft und lautlos wie ein Lamm, ging derHund mit gelben, runden, funkelnden Augen.

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    Der Tunnel

    Eine Erzhlung1952

    Neufassung 1978

    Ein Vierundzwanzigjhriger, fett, damit das Schrecklichehinter den Kulissen, welches er sah (das war seine Fhigkeit,vielleicht seine einzige), nicht allzu nah an ihn herankomme,der es liebte, die Lcher in seinem Fleisch, da doch geradedurch sie das Ungeheuerliche hereinstrmen konnte, zuverstopfen, derart, da er Zigarren rauchte (Ormond-Brasil 10)und ber seiner Brille eine zweite trug, eine Sonnenbrille, undin den Ohren Wattebschel: Dieser junge Mann, noch vonseinen Eltern abhngig und mit nebulosen Studien auf einerUniversitt beschftigt, die mit einer zweistndigen Bahnfahrtzu erreichen war, stieg eines Sonntagnachmittags in dengewohnten Zug, Abfahrt siebzehnuhrfnfzig, Ankunft neun-zehnuhrsiebenundzwanzig, um anderentags ein Seminar zubesuchen, das zu schwnzen er schon entschlossen war. DieSonne schien an einem wolkenlosen Himmel, als er seinenWohnort verlie. Es war Sommer. Der Zug hatte sich zwischenden Alpen und dem Jura fortzubewegen, an reichen Drfernund kleineren Stdten vorbei, spter an einem Flu entlang,und tauchte denn auch nach noch nicht ganz zwanzig MinutenFahrt, gerade nach Burgdorf, in einen kleinen Tunnel. Der Zugwar berfllt. Der Vierundzwanzigjhrige war vorne einge-stiegen und hatte sich mhsam nach hinten durchgearbeitet,schwitzend und einen leicht vertrottelten Eindruck erweckend.Die Reisenden saen dicht gedrngt, viele auf Koffern, auch

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    die Coups der zweiten Klasse waren besetzt, nur die ersteKlasse schwach belegt. Als sich der junge Mann endlich durchdas Wirrwarr der Familien, Rekruten, Studenten undLiebespaare gekmpft hatte, bald, vom Zug hin und hergeschleudert, gegen diesen fallend und bald gegen jenen, gegenBuche und Brste torkelnd, fand er im hintersten WagenPlatz, so viel sogar, da er in diesem Abteil der dritten Klasse in der es sonst Wagen mit Coups selten gibt eine ganzeBank fr sich allein hatte: Im geschlossenen Rume sa ihmeiner gegenber, noch dicker als er, der mit sich selber Schachspielte, und in der Ecke der gleichen Bank, gegen den Korridorzu, ein rothaariges Mdchen, das einen Roman las. So sa erschon am Fenster und hatte eben eine Ormond Brasil 10 inBrand gesteckt, als der Tunnel kam, der ihm lnger als sonst zudauern schien. Er war diese Strecke schon manchmal gefahren,fast jeden Samstag und Sonntag seit einem Jahr, und hatte denTunnel eigentlich gar nie beachtet, sondern immer nur geahnt.Zwar hatte er ihm einige Male die volle Aufmerksamkeitschenken wollen, doch hatte er, wenn er kam, jedes Mal anetwas anderes gedacht, so da er das kurze Eintauchen in dieFinsternis nicht bemerkte, denn der Tunnel war eben geradevorbei, wenn er, entschlossen, ihn zu beachten, aufschaute, soschnell durchfuhr ihn der Zug und so kurz war der kleineTunnel. So hatte er denn auch jetzt die Sonnenbrille nichtabgenommen, als sie einfuhren, da er nicht an den Tunneldachte. Die Sonne hatte eben noch mit voller Kraft geschienen,und die Landschaft, durch die sie fuhren (die Hgel undWlder, die fernere Kette des Jura und die Huser desStdtchens), war wie von Gold gewesen, so sehr hatte sie imAbendlicht geleuchtet, so sehr, da ihm die nun schlagartigeinsetzende Dunkelheit des Tunnels bewut wurde, der Grundwohl auch, warum ihm die Durchfahrt lnger vorkam. Es warvllig finster im Abteil, da der Krze des Tunnels wegen die

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    Lichter nicht in Funktion gesetzt waren, denn jede Sekundemute sich ja in der Scheibe der erste fahle Schimmer desTages zeigen, sich blitzschnell ausweiten und mit voller,goldener Helle gewaltig hereinbrechen; als es jedoch immernoch dunkel blieb, nahm er die Sonnenbrille ab. Das Mdchenzndete sich in diesem Augenblick eine Zigarette an, offenbarrgerlich, da es im Roman nicht weiterlesen konnte, wie er imrtlichen Aufflammen des Streichholzes zu bemerken glaubte;seine Armbanduhr mit dem leuchtenden Zifferblatt zeigte zehnnach sechs. Er lehnte sich in die Ecke zwischen derCoupwand und der Scheibe und beschftigte sich mit seinenverworrenen Studien, die ihm niemand recht glaubte, mit demSeminar, in das er morgen mute und in das er nicht gehenwrde (alles, was er tat, war nur ein Vorwand, hinter derFassade seines Tuns Ordnung zu erlangen, nicht die Ordnungselber, nur die Ahnung einer Ordnung, angesichts desSchrecklichen, gegen das er sich mit Fett polsterte, Zigarren inden Mund steckte, Wattebschel in die Ohren), und wie erwieder auf das Zifferblatt schaute, war es viertel nach sechsund immer noch der Tunnel. Das verwirrte ihn. Zwarleuchteten nun die Glhbirnen auf, es wurde hell im Coup, dasrote Mdchen konnte in seinem Roman weiterlesen, und derdicke Herr spielte wieder mit sich selber Schach, doch drauen,jenseits der Scheibe, in der sich nun das ganze Abteil spiegelte,war immer noch der Tunnel. Er trat in den Korridor, inwelchem ein hochgewachsener Mann in einem hellenRegenmantel auf und ab ging, ein schwarzes Halstuchumgeschlagen. Wozu auch bei diesem Wetter, dachte er undschaute in die anderen Coups dieses Wagens, wo man Zeitunglas und miteinander schwatzte. Er trat wieder zu seiner Eckeund setzte sich, der Tunnel mute nun jeden Augenblickaufhren, jede Sekunde; auf der Armbanduhr war es nunbeinahe zwanzig nach; er rgerte sich, den Tunnel vorher so

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    wenig beachtet zu haben, dauerte er doch nun schon eineViertelstunde und mute, gerade weil der Zug offenbar inhchster Geschwindigkeit fuhr, ein bedeutender Tunnel sein,einer der lngsten Tunnel in der Schweiz. Es war daherwahrscheinlich, da er einen falschen Zug genommen hatte,wenn ihm im Augenblick auch nicht erinnerlich war, da sichzwanzig Minuten Bahnfahrt von seinem Wohnort entfernt einso langer und bedeutender Tunnel befand. Er fragte deshalbden dicken Schachspieler, ob der Zug nach Zrich fahre, wasder besttigte. Er habe gar nicht gewut, da diese Streckeeinen so betrchtlichen Tunnel aufweise, entgegnete der jungeMann, doch der Schachspieler antwortete, etwas rgerlich, daer in irgendeiner schwierigen berlegung zum zweiten Malunterbrochen worden war, in der Schweiz gebe es eben vieleTunnel, auerordentlich viele, er reise zwar zum ersten Mal indiesem Lande, doch falle dies sofort auf, auch habe er in einemstatistischen Jahrbuch gelesen, kein Land besitze so vieleTunnel wie die Schweiz. Er msse sich nun entschuldigen,wirklich, es tue ihm schrecklich leid, da er sich mit einemwichtigen Problem der Nimzowitsch-Verteidigung beschftigeund nicht mehr abgelenkt werden drfe. Der Schachspielerhatte hflich, aber bestimmt geantwortet; da von ihm keineAntwort zu erwarten war, sah der junge Mann ein. Er warberzeugt, da seine Fahrkarte zurckgewiesen werden wrde;auch als der Schaffner, ein blasser, magerer Mann, nervs, wiees den Eindruck machte, gegenber dem Mdchen, dem erzuerst die Fahrkarte abnahm, bemerkte, es msse in ltenumsteigen, gab der Vierundzwanzigjhrige noch nicht alleHoffnung auf, so sehr war er berzeugt, in den falschen Zuggestiegen zu sein. Er werde wohl nachzahlen mssen, er solltenach Zrich, sagte er denn, ohne die Ormond Brasil 10 ausdem Munde zu nehmen, und reichte dem Schaffner das Billethin. Der Herr sei im rechten Zug, antwortete der, als er die

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    Fahrkarte geprft hatte. Aber wir fahren doch durch einenTunnel! rief der junge Mann rgerlich und recht energischaus, entschlossen, nun die verwirrende Situation aufzuklren.Man sei eben an Herzogenbuchsee vorbeigefahren und nheresich Langenthal, sagte der Schaffner. Es stimmt, mein Herr,es ist jetzt zwanzig nach sechs. Aber man fahre seit zwanzigMinuten durch einen Tunnel, beharrte der junge Mann aufseiner Feststellung. Der Schaffner sah ihn verstndnislos an.Es ist der Zug nach Zrich, sagte er, und schaute nun auchnach dem Fenster. Zwanzig nach sechs, sagte er wieder, jetztetwas beunruhigt, wie es schien, bald kommt lten, Ankunftachtzehnuhrsiebenunddreiig. Es wird schlechtes Wettergekommen sein, ganz pltzlich, daher die Nacht, vielleicht einSturm, ja, das wird es sein. Unsinn, mischte sich nun derMann, der sich mit dem Problem der Nimzowitsch-Verteidigung beschftigte, ins Gesprch, rgerlich, weil erimmer noch sein Billet hinhielt, ohne vom Schaffner beachtetzu werden, Unsinn, wir fahren durch einen Tunnel. Man kanndeutlich den

    Fels sehen, Granit wie es scheint. In der Schweiz gibt es diemeisten Tunnel der ganzen Welt. Ich habe es in einemstatistischen Jahrbuch gelesen. Der Schaffner, indem erendlich die Fahrkarte des Schachspielers entgegennahm,versicherte aufs neue, fast flehentlich, der Zug fahre nachZrich, worauf der Vierundzwanzigjhrige den Zugfhrerverlangte. Der sei vorne im Zug, sagte der Schaffner, imbrigen fahre der Zug nach Zrich, jetzt sei essechsuhrfnfundzwanzig, und in zwlf Minuten werde er nachdem Sommerfahrplan in lten anhalten, er fahre jede Wochediesen Zug dreimal. Der junge Mann machte sich auf den Weg.Das Gehen fiel ihm noch schwerer im berfllten Zug alsvorher, als er die gleiche Strecke umgekehrt gegangen war; derZug mute beraus schnell fahren; auch war das Getse, das er

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    dabei verursachte, entsetzlich; so steckte er sich seineWattebschel denn wieder in die Ohren, nachdem er sie beimBetreten des Zuges entfernt hatte. Die Menschen, an denen ervorbeikam, verhielten sich ruhig, in nichts unterschied sich derZug von anderen Zgen, in denen er an den Sonntag-nachmittagen gefahren war, und niemand fiel ihm auf, derbeunruhigt gewesen wre. In einem Wagen mit Zweitkla-Abteilen stand ein Englnder am Fenster des Korridors undtippte freudestrahlend mit der Pfeife, die er rauchte, an dieScheibe. Simplon, sagte er. Auch im Speisewagen war alleswie sonst, obwohl kein Platz frei war und der Tunnel docheinem der Reisenden oder der Bedienung, die Wienerschnitzelund Reis servierte, htte auffallen knnen. Den Zugfhrer, dener an der roten Tasche erkannte, fand der junge Mann amAusgang des Speisewagens. Sie wnschen? fragte derZugfhrer, der ein grogewachsener, ruhiger Mann war, miteinem sorgfltig gepflegten schwarzen Schnurrbart und einerrandlosen Brille. Wir sind in einem Tunnel, seitfnfundzwanzig Minuten, sagte der junge Mann. DerZugfhrer schaute nicht nach dem Fenster, wie derVierundzwanzigjhrige erwartet hatte, sondern wandte sichzum Kellner. Geben Sie mir eine Schachtel Ormond 10,sagte er, ich rauche die gleiche Sorte wie der Herr da; dochkonnte ihn der Kellner nicht bedienen, da man diese Zigarrenicht besa, so da denn der junge Mann, froh, einenAnknpfungspunkt zu haben, dem Zugfhrer eine Brasil anbot.Danke, sagte der, ich werde in lten kaum Zeit haben, mireine zu verschaffen, und so tun Sie mir denn einen groenGefallen. Rauchen ist wichtig. Darf ich Sie nun bitten, mir zufolgen? Er fhrte den Vierundzwanzigjhrigen in denPackwagen, der vor dem Speisewagen lag. Dann kommt nochdie Maschine, sagte der Zugfhrer, als sie den Raum betraten,wir befinden uns an der Spitze des Zuges. Im Packraum

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    brannte ein schwaches, gelbes Licht, der grte Teil desWagens lag im Ungewissen, die Seitentren warenverschlossen, und nur durch ein kleines vergittertes Fensterdrang die Finsternis des Tunnels. Koffer standen herum, vielemit Hotelzetteln beklebt, einige Fahrrder und einKinderwagen. Der Zugfhrer hngte seine rote Tasche an einenHaken. Was wnschen Sie? fragte er aufs neue, schautejedoch den jungen Mann nicht an, sondern begann in einemHeft, das er der Tasche entnommen hatte, Tabellenauszufllen. Wir befinden uns seit Burgdorf in einemTunnel, antwortete der Vierundzwanzigjhrige entschlossen,einen derartigen Tunnel gibt es auf dieser Strecke nicht, ichfahre sie jede Woche hin und zurck, ich kenne die Strecke.Der Zugfhrer schrieb weiter.

    Mein Herr, sagte er endlich und trat nah an den jungenMann heran, so nah, da sich die beiden Leiber fast berhrten,mein Herr, ich habe Ihnen wenig zu sagen. Wie wir in diesenTunnel geraten sind, wei ich nicht, ich besitze dafr keineErklrung. Doch bitte ich Sie zu bedenken: Wir bewegen unsauf Schienen, der Tunnel mu also irgendwohin fhren. Nichtsbeweist, da am Tunnel etwas nicht in Ordnung ist, auernatrlich, da er nicht aufhrt. Der Zugfhrer, die OrmondBrasil immer noch ohne zu rauchen zwischen den Lippen, hatteberaus leise gesprochen, jedoch mit so groer Wrde und sodeutlich und bestimmt, da seine Worte vernehmbar waren,trotz der Wattebschel und obgleich im Packwagen das Tosendes Zuges um vieles strker war als im Speisewagen. Dannbitte ich Sie, den Zug anzuhalten, begehrte der junge Mannungeduldig, ich verstehe kein Wort von dem, was Sie sagen.Wenn etwas nicht stimmt mit diesem Tunnel, dessenVorhandensein Sie selber nicht erklren knnen, haben Sie denZug anzuhalten. Den Zug anhalten? antwortete der anderelangsam, gewi, daran habe er auch schon gedacht, worauf er

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    das Heft schlo und in die rote Tasche zurcksteckte, die anihrem Haken hin und her schwankte, dann steckte er dieOrmond sorgfltig in Brand. Ob er die Notbremse ziehen solle,fragte der junge Mann und wollte nach dem Haken der Bremseber seinem Kopf greifen, torkelte jedoch im selbenAugenblick nach vorne, wo er an die Wand prallte. EinKinderwagen rollte auf ihn zu, und Koffer rutschten heran;seltsam schwankend kam auch der Zugfhrer mitvorgestreckten Hnden durch den Packraum. Wir fahrenabwrts, sagte der Zugfhrer und lehnte sich neben demVierundzwanzigjhrigen an die Vorderwand des Wagens, dochkam der erwartete Aufprall des rasenden Zuges am Fels nicht,dieses Zerschmettern und Ineinanderschachteln der Wagen, derTunnel schien vielmehr wieder eben zu verlaufen. Am ndernEnde des Wagens ffnete sich die Tre. Im grellen Licht desSpeisewagens sah man Menschen, die einander zutranken,dann schlo sich die Tre wieder. Kommen Sie in dieLokomotive, sagte der Zugfhrer und schaute demVierundzwanzigjhrigen nachdenklich und, wie es pltzlichschien, drohend ins Gesicht, dann schlo er die Tre auf, nebender sie an der Wand lehnten: Mit solcher Gewalt jedoch schlugihnen ein sturmartiger, heier Luftstrom entgegen, da sie vonder Wucht des Orkans aufs neue gegen die Wand taumelten;gleichzeitig erfllte ein frchterliches Getse den Packwagen.Wir mssen zur Maschine hinberklettern, schrie derZugfhrer dem jungen Mann ins Ohr, auch so kaumvernehmbar, und verschwand dann im Rechteck der offenenTre, durch die man die hellerleuchteten, hin und herschwankenden Scheiben der Zugmaschine sah. DerVierundzwanzigjhrige folgte entschlossen, wenn er auch denSinn der Kletterei nicht begriff. Die Plattform, die er betrat,besa auf beiden Seiten ein Eisengelnder, woran er sichklammerte, doch war nicht der ungeheure Luftzug das

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    Entsetzliche, der sich milderte, wie der junge Mann sich derMaschine zubewegte, sondern die unmittelbare Nhe derTunnelwnde, die er zwar nicht sah, da er sich ganz auf dieMaschine konzentrieren mute, die er jedoch ahnte,durchzittert vom Stampfen der Rder und vom Pfeifen derLuft, so da ihm war, als rase er mit Sterngeschwindigkeit ineine Welt aus Stein. Der Lokomotive entlang lief ein schmalesBand und darber als Gelnder eine Stange, die sich in immergleicher Hhe ber dem Band um die Maschine herum-krmmte: Dies mute der Weg sein; den Sprung, den es zuwagen galt, schtzte er auf einen Meter. So gelang es ihm dennauch, die Stange zu fassen. Er schob sich, gegen dieLokomotive gepret, dem Band entlang; frchterlich wurde derWeg erst, als er auf die Lngsseite der Maschine gelangte, nunvoll der Wucht des brllenden Orkans ausgesetzt unddrohenden Felswnden, die, hell erleuchtet von der Maschine,heranfegten. Nur der Umstand, da ihn der Zugfhrer durcheine kleine Tre ins Innere der Maschine zog, rettete ihn.Erschpft lehnte sich der junge Mann gegen denMaschinenraum, worauf es mit einem Male still wurde, denndie Stahlwnde der riesenhaften Lokomotive dmpften, als derZugfhrer die Tre geschlossen hatte, das Tosen so sehr ab,da es kaum mehr zu vernehmen war. Die Ormond Brasilhaben wir auch verloren, sagte der Zugfhrer. Es war nichtklug, vor der Kletterei eine anzuznden, aber sie zerbrechenleicht, wenn man keine Schachtel mit sich fhrt, bei ihrerlnglichen Form. Der junge Mann war froh, nach derbedenklichen Nhe der Felswnde auf etwas gelenkt zuwerden, das ihn an die Alltglichkeit erinnerte, in der er sichnoch vor wenig mehr denn einer halben Stunde befunden hatte,an diese immergleichen Tage und Jahre (immergleich, weil ernur auf diesen Augenblick hinlebte, der nun erreicht war, aufdiesen Augenblick des Einbruchs, auf dieses pltzliche

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    Nachlassen der Erdoberflche, auf den abenteuerlichen Sturzins Erdinnere). Er holte eine der braunen Schachteln aus derrechten Rocktasche und bot dem Zugfhrer erneut eine Zigarrean, selber steckte er sich auch eine in den Mund, und vorsichtignahmen sie Feuer, das der Zugfhrer bot. Ich schtze dieseOrmond sehr, sagte der Zugfhrer, nur mu einer gut ziehen,sonst gehen sie aus, Worte, die den Vierundzwanzigjhrigenmitrauisch machten, weil er sprte, da der Zugfhrer auchnicht gern an den Tunnel dachte, der drauen immer nochdauerte (immer noch war die Mglichkeit, er knnte pltzlichaufhren, wie ein Traum mit einem Mal aufzuhren vermag).Achtzehnuhrvierzig, sagte er, indem er auf seine Uhr mitdem leuchtenden Zifferblatt schaute, jetzt sollten wir dochschon in lten sein, und dachte dabei an die Hgel undWlder, die doch noch vor kurzem waren, goldberhuft in dersinkenden Sonne. So standen sie und rauchten, an die Wanddes Maschinenraumes gelehnt. Keller ist mein Name, sagteder Zugfhrer und zog an seiner Brasil. Der junge Mann gabnicht nach. Die Kletterei auf der Maschine war nichtungefhrlich, bemerkte er, wenigstens fr mich, der ichdergleichen nicht gewohnt bin, und so mchte ich denn wissen,wozu Sie mich hergebracht haben. Er wisse es nicht,antwortete Keller, er habe sich nur Zeit zum berlegenschaffen wollen. Zeit zum berlegen, wiederholte derVierundzwanzigjhrige. Ja, sagte der Zugfhrer, so sei es,rauchte dann wieder weiter. Die Maschine schien sich vonneuem nach vorne zu neigen. Wir knnen ja in denFhrerraum gehen, schlug Keller vor, blieb jedoch immernoch unschlssig an der Maschinenwand stehen, worauf derjunge Mann den Korridor entlangschritt. Wie er die Tre zumFhrerraum geffnet hatte, blieb er stehen. Leer, sagte erzum Zugfhrer, der nun auch herankam, der Fhrerstand istleer. Sie betraten den Raum, schwankend durch die ungeheure

  • 21

    Geschwindigkeit, mit der die Maschine, den Zug mit sichreiend, immer weiter in den Tunnel hineinraste. Bitte, sagteder Zugfhrer und drckte einige Hebel nieder, zog auch dieNotbremse. Die Maschine gehorchte nicht. Sie htten allesgetan, sie anzuhalten, gleich als sie die nderung in derStrecke bemerkt htten, versicherte Keller, doch sei dieMaschine immer weitergerast. Sie wird immer weiterrasen,antwortete der Vierundzwanzigjhrige und wies auf denGeschwindigkeitsmesser. Hundertfnfzig. Ist die Maschine jehundertfnfzig gefahren? Hchstens hundertfnf,entgegnete der Zugfhrer. Eben, stellte der junge Mann fest.Eben. Die Schnelligkeit nimmt zu. Jetzt zeigt der MesserHundertachtundfnfzig. Wir fallen. Er trat an die Scheibe,doch konnte er sich nicht aufrecht halten, sondern wurde mitdem Gesicht auf die Glaswand gepret, so abenteuerlich warnun die Geschwindigkeit. Der Lokomotivfhrer? schrie erund starrte nach den Felsmassen, die in das grelle Licht derScheinwerfer hinaufstrzten, ihm entgegen, die auf ihnzurasten, und ber ihm, unter ihm und zu beiden Seiten desFhrerraums verschwanden. Abgesprungen, schrie Kellerzurck, der nun mit dem Rcken gegen das Schaltbrett gelehntauf dem Boden sa. Wann? fragte der Vierundzwanzig-jhrige hartnckig. Der Zugfhrer zgerte ein wenig und mutesich seine Ormond aufs neue anznden, die Beine, da sich derZug immer strker neigte, in der gleichen Hhe wie sein Kopf.Schon nach fnf Minuten, sagte er dann. Es war sinnlos,noch eine Rettung zu versuchen. Der im Packraum ist auchabgesprungen. Und Sie, fragte der Vierundzwanzigjhrige.Ich bin der Zugfhrer, antwortete der andere, auch habe ichimmer ohne Hoffnung gelebt. Ohne Hoffnung, wiederholteder junge Mann, der nun geborgen auf der Glasscheibe desFhrerstandes lag, das Gesicht ber den Abgrund gepret.Wir saen noch in unseren Abteilen und wuten nicht, da

  • 22

    schon alles verloren war, dachte er. Es hatte sich noch nichtsverndert, wie es schien, doch hatte uns in Wahrheit derSchacht nach der Tiefe zu schon aufgenommen. Er msse nunzurck, schrie der Zugfhrer, in den Wagen wird die Panikausgebrochen sein. Alles wird sich nach hinten drngen.Gewi, antwortete der Vierundzwanzigjhrige und dachte anden dicken Schachspieler und an das Mdchen mit seinemRoman und dem roten Haar. Er reichte dem Zugfhrer seinebrigen Schachteln Ormond Brasil 10. Nehmen Sie, sagte er,Sie werden Ihre Brasil beim Hinberklettern doch wiederverlieren. Ob er denn nicht zurckkomme, fragte derZugfhrer, der sich aufgerichtet hatte und mhsam den Trichterdes Korridors hinaufzukriechen begann. Der junge Mann sahnach den sinnlosen Instrumenten, nach diesen lcherlichenHebeln und Schaltern, die ihn im gleienden Licht der Kabinesilbern umgaben. Zweihundertzehn, sagte er. Ich glaubenicht, da Sie es bei dieser Geschwindigkeit schaffen,hinaufzukommen in die Wagen ber uns. Es ist meinePflicht, schrie der Zugfhrer. Gewi, antwortete derVierundzwanzigjhrige, ohne seinen Kopf nach dem sinnlosenUnternehmen des Zugfhrers zu wenden. Ich mu eswenigstens versuchen, schrie der Zugfhrer noch einmal, nunschon weit oben im Korridor, sich mit Ellbogen und Schenkelngegen die Metallwnde stemmend, doch wie sich die Maschineweiter hinabsenkte, um nun in frchterlichem Sturz dem Innernder Erde entgegenzurasen, so da der Zugfhrer in seinemSchacht direkt ber dem Vierundzwanzigjhrigen hing, der amGrunde der Maschine auf dem silbernen Fenster desFhrerraumes lag, das Gesicht nach unten, lie seine Kraftnach. Der Zugfhrer strzte auf das Schaltbrett und kamblutberstrmt neben den jungen Mann zu liegen, dessenSchultern er umklammerte. Was sollen wir tun? schrie derZugfhrer durch das Tosen der ihnen entgegenschnellenden

  • 23

    Tunnelwnde hindurch dem andern ins Ohr, der mit seinemfetten Leib, der jetzt nutzlos war und nicht mehr schtzte,unbeweglich auf der Glasscheibe des Fhrerstandes klebte undden Abgrund unter ihm in seine nun zum ersten Mal weitgeffneten Augen sog. Was sollen wir tun? schrie derZugfhrer noch einmal, worauf der Vierundzwanzigjhrige,ohne sein Gesicht vom Schauspiel abzuwenden, whrend diezwei Wattebschel durch den ungeheuren Luftzug, der nunpltzlich hereinbrach, pfeilschnell nach oben in den Schachtber ihnen fegten, mit einer gespensterhaften Heiterkeitantwortete: Nichts.

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    Die Panne

    Eine noch mgliche Geschichte1955

    Erster Teil

    Gibt es noch mgliche Geschichten, Geschichten frSchriftsteller? Will einer nicht von sich erzhlen, romantisch,lyrisch sein Ich verallgemeinern, fhlt er keinen Zwang, vonseinen Hoffnungen und Niederlagen zu reden, durchauswahrhaftig, und von seiner Weise, bei Frauen zu liegen, wiewenn Wahrhaftigkeit dies alles ins Allgemeine transponierenwrde und nicht viel mehr ins Medizinische, Psychologischebestenfalls, will einer dies nicht tun, vielmehr diskretzurcktreten, das Private hflich wahren, den Stoff vor sichwie ein Bildhauer sein Material, an ihm arbeitend und an ihmsich entwickelnd und als eine Art Klassiker versuchen, nichtgleich zu verzweifeln, wenn auch der bare Unsinn kaum zuleugnen ist, der berall zum Vorschein kommt, dann wirdSchreiben schwieriger und einsamer, auch sinnloser, eine guteNote in der Literaturgeschichte interessiert nicht wer bekamnicht schon gute Noten, welche Stmpereien wurden nichtschon ausgezeichnet , die Forderungen des Tags sindwichtiger. Doch auch hier ein Dilemma und ungnstigeMarktlage. Bloe Unterhaltung bietet das Leben, am Abenddas Kino, Poesie die Tageszeitung unter dem Strich, fr mehr,doch sozialerweise schon von einem Franken an, wird Seelegefordert, Gestndnisse, Wahrhaftigkeit eben, hhere Wertesollen geliefert werden, Moralien, brauchbare Sentenzen,

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    irgend etwas soll berwunden oder bejaht werden, baldChristentum, bald gngige Verzweiflung, Literatur, alles inallem. Doch wenn dies zu produzieren der Autor sich weigert,immer mehr, immer hartnckiger, weil er sich zwar im klarenist, da der Grund seines Schreibens bei ihm liegt, in seinemBewuten und Unbewuten in je nach Fall dosiertemVerhltnis, in seinem Glauben und Zweifeln, jedoch auchmeint, gerade dies gehe das Publikum nun wirklich nichts an,es genge, was er schreibt, gestaltet, formt, man zeigeappetitlicherweise die Oberflche und nur diese, arbeite an ihrund nur dort, im brigen sei der Mund zu halten, weder zukommentieren noch zu schwatzen? Angelangt bei dieserErkenntnis, wird er stocken, zgern, ratlos werden, dies wirdkaum zu vermeiden sein. Die Ahnung steigt auf, es gebe nichtsmehr zu erzhlen, die Abdankung wird ernstlich in Erwgunggezogen, vielleicht sind einige Stze noch mglich, sonst aberSchwenkung in die Biologie, um der Explosion der Mensch-heit, den vorrckenden Milliarden, den unablssig lieferndenGebrmttern wenigstens gedanklich beizukommen, oder indie Physik, in die Astronomie, sich ordnungshalber ber dasGerst Rechenschaft abzulegen, in welchem wir pendeln. DerRest fr die Illustrierte, fr Life, Match, Quick und fr dieSie und Er: der Prsident unter dem Sauerstoffzelt, OnkelBulganin in seinem Garten, die Prinzessin mit ihrem Tausend-sassa von Flugkapitn, Filmgren und Dollargesichter,auswechselbar, schon aus der Mode, kaum wird von ihnengesprochen. Daneben der Alltag eines jeden, westeuropisch inmeinem Fall, schweizerisch genauer, schlechtes Wetter undKonjunktur, Sorgen und Plagen, Erschtterungen durch privateEreignisse, doch ohne Zusammenhang mit dem Weltganzen,mit dem Ablauf der Dinge und Undinge, mit dem Abspulen derNotwendigkeiten. Das Schicksal hat die Bhne verlassen, aufder gespielt wird, um hinter den Kulissen zu lauern, auerhalb

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    der gltigen Dramaturgie, im Vordergrund wird alles zumUnfall, die Krankheiten, die Krisen. Selbst der Krieg wirdabhngig davon, ob die Elektronen-Hirne sein Rentierenvoraussagen, doch wird dies nie der Fall sein, wei man,gesetzt die Rechenmaschinen funktionieren, nur nochNiederlagen sind mathematisch denkbar; wehe nur, wennFlschungen stattfinden, verbotene Eingriffe in die knstlichenHirne, doch auch dies weniger peinlich als die Mglichkeit,da eine Schraube sich lockert, eine Spule in Unordnung gert,ein Taster falsch reagiert, Weltuntergang aus technischemKurzschlu, Fehlschaltung. So droht kein Gott mehr, keineGerechtigkeit, kein Fatum wie in der fnften Symphonie,sondern Verkehrsunflle, Deichbrche infolge Fehlkonstruk-tion, Explosion einer Atombombenfabrik, hervorgerufen durcheinen zerstreuten Laboranten, falsch eingestellte Brutmaschi-nen. In diese Welt der Pannen fhrt unser Weg, an dessenstaubigem Rande nebst Reklamewnden fr Bally-Schuhe,Studebaker, Eiscreme und den Gedenksteinen der Verunfalltensich noch einige mgliche Geschichten ergeben, indem auseinem Dutzendgesicht die Menschheit blickt, Pech sich ohneAbsicht ins Allgemeine weitet, Gericht und Gerechtigkeitsichtbar werden, vielleicht auch Gnade, zufllig aufgefangen,widergespiegelt vom Monokel eines Betrunkenen.

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    Zweiter Teil

    Unfall, harmlos zwar, Panne auch hier: Alfredo Traps, umden Namen zu nennen, in der Textilbranche beschftigt,fnfundvierzig, noch lange nicht korpulent, angenehmeErscheinung, mit gengenden Manieren, wenn auch einegewisse Dressur verratend, indem Primitives, Hausiererhaftesdurchschimmert dieser Zeitgenosse hatte sich eben noch mitseinem Studebaker ber eine der groen Straen des Landesbewegt, konnte schon hoffen, in einer Stunde seinen Wohnort,eine grere Stadt, zu erreichen, als der Wagen streikte. Erging einfach nicht mehr. Hilflos lag die rotlackierte Maschineam Fue eines kleineren Hgels, ber den sich die Straeschwang; im Norden hatte sich eine Kumuluswolke gebildet,und im Westen stand die Sonne immer noch hoch, fastnachmittglich. Traps rauchte eine Zigarette und tat dann dasNtige. Der Garagist, der den Studebaker schlielichabschleppte, erklrte, den Schaden nicht vor dem andernMorgen beheben zu knnen, Fehler in der Benzinzufuhr. Obdies stimmte, war weder ausfindig zu machen, noch warratsam, es zu versuchen; Garagisten ist man ausgeliefert wieeinst Raubrittern, noch frher Ortsgttern und Dmonen. Zubequem, die halbe Stunde zur nchsten Bahnstationzurckzulegen und die etwas komplizierte, wenn auch kurzeReise nach Hause zu unternehmen, zu seiner Frau, zu seinenvier Kindern, alles Jungen, beschlo Traps zu bernachten. Eswar sechs Uhr abends, hei, der lngste Tag nahe, das Dorf, andessen Rand sich die Garage befand, freundlich, verzetteltgegen bewaldete Hgel hin, mit einem kleinen Bhl samtKirche, Pfarrhaus und einer uralten, mit mchtigen Eisenringenund Sttzen versehenen Eiche, alles solide, proper, sogar dieMisthaufen vor den Bauernhusern sorgfltig geschichtet und

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    herausgeputzt. Auch stand irgendwo ein Fabriklein herum undmehrere Finten und Landgasthfe, deren einen Traps schonfters hatte rhmen hren, doch waren die Zimmer belegt, eineTagung der Kleinviehzchter nahm die Betten in Anspruch,und der Textilreisende wurde nach einer Villa gewiesen, wohin und wieder Leute aufgenommen wrden. Traps zgerte.Noch war es mglich, mit der Bahn heimzukehren, doch lockteihn die Hoffnung, irgendein Abenteuer zu erleben, gab es dochmanchmal in den Drfern Mdchen, wie in Grobiestringenneulich, die Textilreisende zu schtzen wuten. So schlug erdenn neubelebt den Weg zur Villa ein. Von der Kirche herGlockengelute. Khe trotteten ihm entgegen, muhten. Daseinstckige Landhaus lag in einem greren Garten, die Wndeblendend wei, Flachdach, grne Rollden, halb verdeckt vonBschen, Buchen und Tannen, gegen die Strae hin Blumen,Rosen vor allem, ein betagtes Mnnchen dazwischen mitumgebundener Lederschrze, mglicherweise der Hausherr,leichte Gartenarbeit verrichtend.

    Traps stellte sich vor und bat um Unterkunft.Ihr Beruf? fragte der Alte, der an den Zaun gekommen

    war, eine Brissago rauchend und die Gartentre kaumberragend.

    In der Textilbranche beschftigt.Der Alte musterte Traps aufmerksam, nach der Weise der

    Weitsichtigen ber eine kleine randlose Brille blickend:Gewi, hier kann der Herr bernachten.

    Traps fragte nach dem Preis.Er pflege dafr nichts zu nehmen, erklrte der Alte, er sei

    allein, sein Sohn befinde sich in den Vereinigten Staaten, eineHaushlterin sorge fr ihn, Mademoiselle Simone, da sei erfroh, hin und wieder einen Gast zu beherbergen.

    Der Textilreisende dankte. Er war gerhrt ber dieGastfreundschaft und bemerkte, auf dem Lande seien eben die

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    Sitten und Bruche der Altvordern noch nicht ausgestorben.Die Gartentre wurde geffnet. Traps sah sich um. Kieswege,Rasen, groe Schattenpartien, sonnenbeglnzte Stellen.

    Er erwarte einige Herren heute abend, sagte der Alte, als siebei den Blumen angelangt waren, und schnitt sorgfltig aneinem Rosenstock herum. Freunde kmen, die in derNachbarschaft wohnten, teils im Dorf, teils weiter gegen dieHgel hin, pensioniert wie er selber, hergezogen des mildenKlimas wegen und weil hier der Fhn nicht zu spren sei, alleeinsam, verwitwet, neugierig auf etwas Neues, Frisches,Lebendiges, und so sei es ihm denn ein Vergngen, HerrnTraps zum Abendessen und zum nachfolgenden Herrenabendeinladen zu drfen.

    Der Textilreisende stutzte. Er hatte eigentlich im Drfchenessen wollen, im allseits bekannten Landgasthof eben, dochwagte er nicht, die Aufforderung abzulehnen. Er fhlte sichverpflichtet. Er hatte die Einladung angenommen, kostenlos zubernachten. Er wollte nicht als ein unhflicher Stadtmenscherscheinen. So tat er erfreut. Der Hausherr fhrte ihn in denersten Stock. Ein freundliches Zimmer. Flieendes Wasser, einbreites Bett, Tisch, bequemer Sessel, ein Hodler an der Wand,alte Lederbnde im Bchergestell. Der Textilreisende ffnetesein Kfferchen, wusch, rasierte sich, hllte sich in eine Wolkevon Eau de Cologne, trat ans Fenster, zndete eine Zigarettean. Eine groe Sonnenscheibe rutschte gegen die Hgelhinunter, umstrahlte die Buchen. Er berschlug flchtig dieGeschfte dieses Tages, den Auftrag der Rotacher AG, nichtschlecht, die Schwierigkeiten mit Wildholz, fnf Prozentverlangte der, Junge, Junge, dem wrde er schon den Halsumdrehen. Dann tauchten Erinnerungen auf. Alltgliches,Unordentliches, ein geplanter Ehebruch im Hotel Touring, dieFrage, ob seinem Jngsten (den er am meisten liebte) eineelektrische Eisenbahn zu kaufen sei, die Hflichkeit und

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    eigentlich die Pflicht, seiner Frau zu telephonieren, Nachrichtvon seinem ungewollten Aufenthalt zu geben. Doch unterlieer es. Wie schon oft. Sie war daran gewhnt und wrde ihmauerdem auch nicht glauben. Er ghnte, genehmigte eineweitere Zigarette. Er sah zu, wie drei alte Herren ber denKiesweg anmarschiert kamen, zwei Arm in Arm, ein dicker,glatzkpfiger hintendrein. Begrung, Hndeschtteln,Umarmungen, Gesprche ber Rosen. Traps zog sich vomFenster zurck, ging zum Bchergestell. Nach den Titeln, dieer las, war ein langweiliger Abend zu erwarten: Hotzendorff,Das Verbrechen des Mordes und die Todesstrafe; Savigny,System des heutigen rmischen Rechts; Ernst David Hlle, DiePraxis des Verhrs. Der Textilreisende sah klar. Sein Gastgeberwar Jurist, vielleicht ein gewesener Rechtsanwalt. Er machtesich auf umstndliche Errterungen gefat, was verstand so einStudierter vom wirklichen Leben, nichts, die Gesetze waren jadanach. Auch war zu befrchten, da ber Kunst oderhnliches geredet wrde, wobei er sich leicht blamieren konnte,na gut, wenn er nicht mitten im Geschftskampf stehen wrde,wre er auch auf dem laufenden in hheren Dingen. So ging erdenn ohne Lust hinunter, wo man sich in der offenen, immernoch sonnenbeschienenen Veranda niedergelassen hatte,whrend die Haushlterin, eine handfeste Person, nebenan imSpeisezimmer den Tisch deckte. Doch stutzte er, als er dieGesellschaft sah, die ihn erwartete. Er war froh, da ihm frserste der Hausherr entgegenkam, nun fast geckenhaft, diewenigen Haare sorgfltig gebrstet, in einem viel zu weitenGehrock. Traps wurde willkommen geheien. Mit einer kurzenRede. So konnte er seine Verwunderung verbergen, murmelte,die Freude sei ganz auf seiner Seite, verneigte sich, khl,distanziert, spielte den Textilfachmann von Welt und dachtemit Wehmut, da er doch nur in diesem Dorfe geblieben sei,irgendein Mdchen aufzutreiben. Das war milungen. Er sah

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    sich drei weiteren Greisen gegenber, die in nichts demkauzigen Gastgeber nachstanden. Wie ungeheure Raben flltensie den sommerlichen Raum mit den Korbmbeln und denluftigen Gardinen, uralt, verschmiert und verwahrlost, wennauch ihre Gehrcke die beste Qualitt aufwiesen, wie er gleichfeststellte, wollte man vom Glatzkpfigen absehen (Pilet mitNamen, siebenundsiebzig Jahre alt, gab der Hausherr bei derVorstellerei bekannt, die nun einsetzte), der steif und wrdigauf einem uerst unbequemen Schemel sa, obgleich dochmehrere angenehme Sthle herumstanden, berkorrekthergerichtet, eine weie Nelke im Knopfloch und stndig berseinen schwarzgefrbten buschigen Schnurrbart streichend,pensioniert offenbar, vielleicht ein ehemaliger, durchGlcksfall wohlhabend gewordener Kster oder Schornstein-feger, mglicherweise auch Lokomotivfhrer. Um soverlotterter dagegen die beiden andern. Der eine (HerrKummer, zweiundachtzig), noch dicker als Pilet, unermelich,wie aus speckigen Wlsten zusammengesetzt, sa in einemSchaukelstuhl, das Gesicht hochrot, gewaltige Sufernase,joviale Glotzaugen hinter einem goldenen Zwicker, dazu, wohlaus Versehen, ein Nachthemd unter dem schwarzen Anzug unddie Taschen vollgestopft mit Zeitungen und Papieren, whrendder andere (Herr Zorn, sechsundachtzig), lang und hager, einMonokel vor das linke Auge geklemmt, Schmisse im Gesicht,Hakennase, schlohweie Lwenmhne, eingefallener Mund,eine vorgestrige Erscheinung alles in allem, die Weste falschgeknpft hatte und zwei verschiedene Socken trug.

    Campari? fragte der Hausherr.Aber bitte, antwortete Traps und lie sich in einen Sessel

    nieder, whrend der Lange, Hagere ihn interessiert durch seinMonokel betrachtete:

    Herr Traps wird wohl an unserem Spielchen teilnehmen?Aber natrlich. Spiele machen mir Spa.

  • 32

    Die alten Herren lchelten, wackelten mit den Kpfen.Unser Spiel ist vielleicht etwas sonderbar, gab der

    Gastgeber vorsichtig, fast zgernd zu bedenken. Es bestehtdarin, da wir des Abends unsere alten Berufe spielen.

    Die Greise lchelten aufs neue, hflich, diskret.Traps wunderte sich. Wie er dies verstehen solle?Nun, przisierte der Gastgeber, ich war einst Richter,

    Herr Zorn Staatsanwalt und Herr Kummer Advokat, und sospielen wir denn Gericht.

    Ach so, begriff Traps und fand die Idee passabel.Vielleicht war der Abend doch noch nicht verloren.

    Der Gastgeber betrachtete den Textilreisenden feierlich. Imallgemeinen, erluterte er mit milder Stimme, wrden dieberhmten historischen Prozesse durchgenommen, der ProzeSokrates, der Proze Jesus, der Proze Jeanne d'Arc, derProze Dreyfus, neulich der Reichstagsbrand, und einmal seiFriedrich der Groe fr unzurechnungsfhig erklrt worden.

    Traps staunte. Das spielt ihr jeden Abend?Der Richter nickte. Aber am schnsten sei es natrlich,

    erklrte er weiter, wenn am lebenden Material gespielt werde,was des fteren besonders interessante Situationen ergebe, erstvorgestern etwa sei ein Parlamentarier, der im Dorfe eineWahlrede gehalten und den letzten Zug verpat htte, zuvierzehn Jahren Zuchthaus wegen Erpressung und Bestechungverurteilt worden.

    Ein gestrenges Gericht, stellte Traps belustigt fest.Ehrensache, strahlten die Greise.Was er denn fr eine Rolle einnehmen knne?Wieder Lcheln, fast Lachen.Den Richter, den Staatsanwalt und den Verteidiger htten sie

    schon, es seien dies ja auch Posten, die eine Kenntnis derMaterie und der Spielregeln voraussetzten, meinte derGastgeber, nur der Posten eines Angeklagten sei unbesetzt,

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    doch sei Herr Traps in keiner Weise etwa gezwungenmitzuspielen, er mchte dies noch einmal betonen.

    Das Vorhaben der alten Herren erheiterte den Textil-reisenden. Der Abend war gerettet. Es wrde nicht gelehrtzugehen und langweilig, es versprach lustig zu werden. Er warein einfacher Mensch, ohne allzugroe Denkkraft und Neigungzu dieser Ttigkeit, ein Geschftsmann, gewitzigt, wenn es seinmute, der in seiner Branche aufs Ganze ging, daneben gernegut a und trank, mit einer Neigung zu handfesten Spaen. Erspiele mit, sagte er, es sei ihm eine Ehre, den verwaisten Posteneines Angeklagten anzunehmen.

    Bravo, krchzte der Staatsanwalt und klatschte in die Hnde,bravo, das sei ein Manneswort, das nenne er Courage.

    Der Textilreisende erkundigte sich neugierig nach demVerbrechen, das ihm nun zugemutet wrde.

    Ein unwichtiger Punkt, antwortete der Staatsanwalt, dasMonokel reinigend, ein Verbrechen lasse sich immer finden.

    Alle lachten.Herr Kummer erhob sich. Kommen Sie, Herr Traps, sagte

    er beinahe vterlich, wir wollen doch den Porto nochprobieren, den es hier gibt; er ist alt, den mssen Siekennenlernen.

    Er fhrte Traps ins Speisezimmer. Der groe runde Tisch warnun aufs festlichste gedeckt. Alte Sthle mit hohen Lehnen,dunkle Bilder an den Wnden, altmodisch, solide alles, von derVeranda her drang das Plaudern der Greise, durch die offenenFenster flimmerte der Abendschein, drang das Gezwitscher derVgel, und auf einem Tischchen standen Flaschen, weiterenoch auf dem Kamin, die Bordeaux in Krbchen gelagert. DerVerteidiger go sorgfltig und etwas zittrig aus einer altenFlasche Porto in zwei kleine Glser, fllte sie bis zum Rande,stie mit dem Textilreisenden auf dessen Gesundheit an,vorsichtig, die Glser mit der kostbaren Flssigkeit kaum in

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    Berhrung bringend.Traps kostete. Vortrefflich, lobte er.Ich bin Ihr Verteidiger, Herr Traps, sagte Herr Kummer.

    Da heit es zwischen uns beiden: Auf gute Freundschaft!Auf gute Freundschaft!Es sei am besten, meinte der Advokat und rckte mit seinem

    roten Gesicht, mit seiner Sufernase und seinem Zwicker nheran Traps heran, so da sein Riesenbauch ihn berhrte, eineunangenehme weiche Masse, es sei am besten, wenn der Herrihm sein Verbrechen gleich anvertraue. So knne ergarantieren, da man beim Gericht auch durchkme. DieSituation sei zwar nicht gefhrlich, doch auch nicht zuunterschtzen, der lange hagere Staatsanwalt, immer noch imBesitz seiner geistigen Krfte, sei zu frchten, und dann neigeder Gastgeber leider zur Strenge und vielleicht sogar zurPedanterie, was sich im Alter er zhle siebenundachtzig noch verstrkt habe. Trotzdem aber sei es ihm, demVerteidiger, gelungen, die meisten Flle durchzubringen, oderes wenigstens nicht zum Schlimmsten kommen zu lassen. Nureinmal bei einem Raubmord sei wirklich nichts zu rettengewesen. Aber ein Raubmord komme hier wohl nicht in Frage,wie er Herrn Traps einschtze, oder doch?

    Er habe leider kein Verbrechen begangen, lachte derTextilreisende. Und dann sagte er: Prosit!

    Gestehen Sie es mir, munterte ihn der Verteidiger auf. Siebrauchen sich nicht zu schmen. Ich kenne das Leben, wunderemich ber nichts mehr. Schicksale sind an mir vorber-gegangen, Herr Traps, Abgrnde taten sich auf, das knnen Siemir glauben.

    Es tue ihm leid, schmunzelte der Textilreisende, wirklich, ersei ein Angeklagter, der ohne Verbrechen dastehe, und imbrigen sei es die Sache des Staatsanwaltes, eines zu finden, erhabe es selber gesagt, und da wolle er ihn nun beim Wort

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    nehmen. Spiel sei Spiel. Er sei neugierig, was herauskomme.Ob es denn ein richtiges Verhr gebe?

    Will ich meinen!Da freue ich mich aber darauf.Der Verteidiger machte ein bedenkliches Gesicht.Sie fhlen sich unschuldig, Herr Traps?Der Textilreisende lachte: Durch und durch, und das

    Gesprch kam ihm uerst lustig vor.Der Verteidiger reinigte seinen Zwicker.Schreiben Sie sich's hinter die Ohren, junger Freund,

    Unschuld hin oder her, auf die Taktik kommt es an! Es isthalsbrecherisch gelinde ausgedrckt , vor unserem Gerichtunschuldig sein zu wollen, im Gegenteil, es ist am klgsten,sich gleich eines Verbrechens zu bezichtigen, zum Beispiel,gerade fr Geschftsleute vorteilhaft: Betrug. Dann kann sichimmer noch beim Verhr herausstellen, da der Angeklagtebertreibt, da eigentlich kein Betrug vorliegt, sondern etwaeine harmlose Vertuschung von Tatsachen aus Reklame-grnden, wie sie im Handel fters blich ist. Der Weg von derSchuld zur Unschuld ist zwar schwierig, doch nicht unmglich,dagegen ist es geradezu hoffnungslos, seine Unschuldbewahren zu wollen, und das Resultat verheerend. Sieverlieren, wo Sie doch gewinnen knnten, auch sind Sie nungezwungen, die Schuld nicht mehr whlen zu drfen, sondernsich aufzwingen zu lassen.

    Der Textilreisende zuckte amsiert die Achseln, er bedaure,nicht dienen zu knnen, aber er sei sich keiner beltat bewut,die ihn mit dem Gesetz in Konflikt gebracht habe, beteuerte er.

    Der Verteidiger setzte seinen Zwicker wieder auf. Mit Trapswerde er Mhe haben, meinte er nachdenklich, das werde hartauf hart gehen. Doch vor allem, schlo er die Unterredung,berlegen Sie sich jedes Wort, plappern Sie nicht einfach vorsich hin, sonst sehen Sie sich pltzlich zu einer langjhrigen

  • 36

    Zuchthausstrafe verurteilt, ohne da noch zu helfen wre.Dann kamen die brigen. Man setzte sich um den runden

    Tisch. Gemtliche Tafelrunde, Scherzworte. Zuerst wurdenverschiedene Vorspeisen serviert, Aufschnitt, russische Eier,Schnecken, Schildkrtensuppe. Die Stimmung war vortrefflich,man lffelte vergngt, schlrfte ungeniert.

    Nun, Angeklagter, was haben Sie uns vorzuweisen, ichhoffe einen schnen, stattlichen Mord, krchzte derStaatsanwalt.

    Der Verteidiger protestierte: Mein Klient ist einAngeklagter ohne Verbrechen, eine Seltenheit in der Justizsozusagen. Behauptet unschuldig zu sein.

    Unschuldig? wunderte sich der Staatsanwalt. Die Schmisseleuchteten rot auf, das Monokel fiel ihm beinahe in den Teller,pendelte hin und her an der schwarzen Schnur. Der zwerghafteRichter, der eben Brot in die Suppe brockte, hielt inne,betrachtete den Textilreisenden vorwurfsvoll, schttelte denKopf, und auch der Glatzkpfige, Schweigsame mit der weienNelke starrte ihn erstaunt an. Die Stille war bengstigend. KeinLffel- und Gabelgerusch, kein Schnaufen und Schlrfen warzu vernehmen. Nur Simone im Hintergrund kicherte leise.

    Mssen wir untersuchen, fate der Staatsanwalt sichendlich. Was es nicht geben kann, gibt es nicht.

    Nur zu, lachte Traps. Ich stehe zur Verfgung!Zum Fisch gab es Wein, einen leichten spritzigen

    Neuchteller. Nun denn, sagte der Staatsanwalt, seineForelle auseinandernehmend, wollen mal sehen. Verheiratet?

    Seit elf Jahren.Kinderchen?Vier.Beruf?In der Textilbranche.Also Reisender, lieber Herr Traps?

  • 37

    Generalvertreter.Schn. Erlitten eine Panne?Zufllig. Zum ersten Mal seit einem Jahr.Ach. Und vor einem Jahr?Nun, da fuhr ich noch den alten Wagen, erklrte Traps.

    Einen Citron 1939, doch jetzt besitze ich einen Studebaker,rotlackiertes Extramodell.

    Studebaker, ei, interessant, und erst seit kurzem? Warenwohl vorher nicht Generalvertreter?

    Ein simpler, gewhnlicher Reisender in Textilien.Konjunktur, nickte der Staatsanwalt.Neben Traps sa der Verteidiger. Passen Sie auf, flsterte

    er.Der Textilreisende, der Generalvertreter, wie wir jetzt sagen

    drfen, machte sich sorglos hinter ein Beefsteak Tartar,trufelte Zitrone darber, sein Rezept, etwas Kognak, Paprikaund Salz. Ein angenehmeres Essen sei ihm noch nievorgekommen, strahlte er dabei, er habe stets die Abende in derSchlaraffia fr das Amsanteste gehalten, was seinesgleichenerleben knne, doch dieser Herrenabend bereite noch grerenSpa.

    Aha, stellte der Staatsanwalt fest, Sie gehren derSchlaraffia an. Welchen Spitznamen fhren Sie denn dort?

    Marquis de Casanova.Schn, krchzte der Staatsanwalt freudig, als ob die

    Nachricht von Wichtigkeit wre, das Monokel wiedereingeklemmt. Uns allen ein Vergngen, dies zu hren. Darfvon Ihrem Spitznamen auf Ihr Privatleben geschlossen werden,mein Bester?

    Aufgepat, zischte der Verteidiger.Lieber Herr, antwortete Traps. Nur bedingt. Wenn mir

    mit Weibern etwas Auereheliches passiert, so nurzuflligerweise und ohne Ambition.

  • 38

    Ob Herr Traps die Gte htte, der versammelten Runde seinLeben in kurzen Zgen bekannt geben zu wollen, fragte derRichter, Neuchteller nachfllend. Da man ja beschlossenhabe, ber den lieben Gast und Snder zu Gericht zu sitzen undihn womglich auf Jahre hinaus zu verknurren, sei es nurangemessen, Nheres, Privates, Intimes zu erfahren,Weibergeschichten, wenn mglich gesalzen und gepfeffert.

    Erzhlen, erzhlen! forderten die alten Herren denGeneralvertreter kichernd auf. Einmal htten sie einen Zuhlteram Tisch gehabt, der htte die spannendsten und pikantestenDinge aus seinem Metier erzhlt und sei zu alledem mit nurvier Jahren Zuchthaus davongekommen.

    Nu, nu, lachte Traps mit, was gibt es schon von mir zuerzhlen. Ich fhre ein alltgliches Leben, meine Herren, einkommunes Leben, wie ich gleich gestehen will. Pupille!

    Pupille!Der Generalvertreter hob sein Glas, fixierte gerhrt die

    starren, vogelartigen Augen der vier Alten, die an ihm hafteten,als wre er ein spezieller Leckerbissen, und dann stieen dieGlser aneinander.

    Drauen war die Sonne nun endlich untergegangen, und auchder Hllenlrm der Vgel verstummt, aber noch lag dieLandschaft taghell da, die Grten und die roten Dcherzwischen den Bumen, die bewaldeten Hgel und in der Fernedie Vorberge und einige Gletscher, Friedensstimmung, Stilleeiner lndlichen Gegend, feierliche Ahnung von Glck,Gottessegen und kosmischer Harmonie.

    Eine harte Jugend habe er durchgemacht, erzhlte Traps,whrend Simone die Teller wechselte und eine dampfendeRiesenschssel auftischte. Champignons la Creme. SeinVater sei Fabrikarbeiter gewesen, ein Proletarier, den Irrlehrenvon Marx und Engels verfallen, ein verbitterter, freudloserMann, der sich um sein einziges Kind nie gekmmert habe, die

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    Mutter Wscherin, frh verblht.Nur die Primarschule durfte ich besuchen, nur die

    Primarschule, stellte er fest, Trnen in den Augen, erbittertund gerhrt zugleich ber seine karge Vergangenheit, whrendman mit einem Reserve des Marechaux anstie.

    Eigenartig, sagte der Staatsanwalt, eigenartig. Nur diePrimarschule. Haben sich aber mit Leibeskrften herauf-gearbeitet, mein Verehrter.

    Das will ich meinen, prahlte dieser, vom Marechauxangefeuert, beschwingt vom geselligen Beisammensein, vonder feierlichen Gotteswelt vor den Fenstern. Das will ichmeinen. Noch vor zehn Jahren war ich nichts als ein Hausiererund zog mit einem Kfferchen von Haus zu Haus. HarteArbeit, tippeln, bernachten in Heuschobern, zweifelhaftenHerbergen. Von unten fing ich an in meiner Branche, ganz vonunten. Und jetzt, meine Herren, wenn Sie mein Bankkontoshen! Ich will mich nicht rhmen, aber hat jemand von eucheinen Studebaker?

    Seien Sie doch vorsichtig, flsterte der Verteidiger besorgt.Wie denn das gekommen sei, fragte der Staatsanwalt

    neugierig.Er solle aufpassen und nicht zuviel reden, mahnte der

    Verteidiger.Er habe die Alleinvertretung der Hephaiston auf diesem

    Kontinent bernommen, verkndete Traps und schaute sichtriumphierend um. Nur Spanien und der Balkan seien inanderen Hnden.

    Hephaistos sei ein griechischer Gott, kicherte der kleineRichter, Champignons auf seinen Teller hufend, ein gargroer Kunstschmied, der die Liebesgttin und ihren Galan,den Kriegsgott Ares, in einem so feingeschmiedeten undunsichtbaren Netz gefangen habe, da sich die brigen Gtternicht genug ber diesen Fang htten freuen knnen, aber was

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    der Hephaiston bedeute, dessen Alleinvertretung der verehrteHerr Traps bernommen habe, sei ihm schleierhaft.

    Und doch sind Sie nahe daran, verehrter Gastgeber undRichter, lachte Traps. Sie sagen selbst: schleierhaft, und dermir unbekannte griechische Gott fast gleichen Namens mitmeinem Artikel habe ein gar feines und unsichtbares Netzgesponnen. Wenn es heute Nylon, Perlon, Myrlon gibt,Kunststoffe, von denen das hohe Gericht doch wohl gehrt hat,so gibt es auch Hephaiston, den Knig der Kunststoffe,unzerreibar, durchsichtig, doch dabei gerade fr Rheumatikereine Wohltat, ebenso verwendbar in der Industrie wie in derMode, fr den Krieg wie fr den Frieden. Der vollendete Stofffr Fallschirme und zugleich die pikanteste Materie frNachthemden schnster Damen, wie ich aus eigener Forschungwei.

    Hrt, hrt, quakten die Greise, eigene Forschung, das istgut, und Simone wechselte aufs neue die Teller, brachte einenKalbsnierenbraten.

    Ein Festessen, strahlte der Generalvertreter.Freut mich, sagte der Staatsanwalt, da Sie so etwas zu

    wrdigen wissen, und mit Recht! Beste Ware wird unsvorgesetzt und in gengenden Mengen, ein Men wie aus demvorigen Jahrhundert, da die Menschen noch zu essen wagten.Loben wir Simone! Loben wir unseren Gastgeber! Kauft erdoch selber ein, der alte Gnom und Gourmet, und was dieWeine betrifft, sorgt Pilet fr sie als Ochsenwirt imNachbardrfchen. Loben wir auch ihn! Doch wie steht es nunmit Ihnen, mein Tchtiger? Durchforschen wir Ihren Fallweiter. Ihr Leben kennen wir nun, es war ein Vergngen, einenkleinen Einblick zu erhalten, und auch ber Ihre Ttigkeitherrscht Klarheit. Nur ein unwichtiger Punkt ist noch nichtgeklrt: Wie kamen Sie beruflich zu einem so lukrativenPosten? Allein durch Flei, durch eiserne Energie?

  • 41

    Aufpassen, zischte der Verteidiger. Jetzt wird'sgefhrlich.

    Das sei nicht so leicht gewesen, antwortete Traps und sahbegierig zu, wie der Richter den Braten zu tranchieren begann,er habe zuerst Gygax besiegen mssen, und das sei eine harteArbeit gewesen.

    Ei, und Herr Gygax, wer ist denn dies wieder?Mein frherer Chef.Er mute verdrngt werden, wollen Sie sagen?Auf die Seite geschafft mute er werden, um im rauhen Ton

    meiner Branche zu bleiben, antwortete Traps und bedientesich mit Sauce. Meine Herren, Sie werden ein offenes Wortertragen. Es geht hart zu im Geschftsleben, wie du mir, so ichdir, wer da ein Gentleman sein will, bitte schn, kommt um.Ich verdiene Geld wie Heu, doch ich schufte auch wie zehnElefanten, jeden Tag spule ich meine sechshundert Kilometermit meinem Studebaker herunter. So ganz fair bin ich nichtvorgegangen, als es hie, dem alten Gygax das Messer an dieKehle zu setzen und zuzustoen, aber ich mutevorwrtskommen, was will einer, Geschft ist schlielichGeschft.

    Der Staatsanwalt sah neugierig vom Kalbsnierenbraten auf.Auf die Seite schaffen, das Messer an die Kehle setzen,zustoen, das sind ja ziemlich bsartige Ausdrcke, lieberTraps.

    Der Generalvertreter lachte: Sie sind natrlich nur imbertragenen Sinne zu verstehen.

    Herr Gygax befindet sich wohl, Verehrtester?Er ist letztes Jahr gestorben.Sind Sie toll? zischte der Verteidiger aufgeregt. Sie sind

    wohl ganz verrckt geworden!Letztes Jahr, bedauerte der Staatsanwalt. Das tut mir aber

    leid. Wie alt ist er denn geworden?

  • 42

    Zweiundfnfzig.Blutjung. Und woran ist er gestorben?An irgendeiner Krankheit.Nachdem Sie seinen Posten erhalten hatten?Kurz vorher.Schn, mehr brauche ich einstweilen nicht zu wissen, sagte

    der Staatsanwalt. Glck, wir haben Glck. Ein Toter istaufgestbert, und das ist schlielich die Hauptsache.

    Alle lachten. Sogar Pilet, der Glatzkpfige, der andchtig vorsich hin a, pedantisch, unbeirrbar, unermeliche Mengenhinunterschlingend, sah auf.

    Fein, sagte er und strich sich ber den schwarzenSchnurrbart.

    Dann schwieg er und a weiter.Der Staatsanwalt hob feierlich sein Glas. Meine Herren,

    erklrte er, auf diesen Fund hin wollen wir den Pichon-Longueville 1933 goutieren. Ein guter Bordeaux zu einemguten Spiel!

    Sie stieen aufs neue an, tranken einander zu.Donnerwetter, meine Herren! staunte der Generalvertreter,

    den Pichon in einem Zuge leerend und das Glas dem Richterhinhaltend: Das schmeckt aber riesig!

    Die Dmmerung war angebrochen und die Gesichter derVersammelten kaum mehr zu erkennen. Die ersten Sternewaren in den Fenstern zu ahnen, und die Haushlterin zndetedrei groe schwere Leuchter an, die das Schattenbild derTafelrunde wie den wunderbaren Bltenkelch einerphantastischen Blume an die Wnde malten. Trauliche,gemtliche Stimmung, Sympathie allerseits, Lockerung derUmgangsformen, der Sitten.

    Wie im Mrchen, staunte Traps.Der Verteidiger wischte sich mit der Serviette den Schwei

    von der Stirne. Das Mrchen, lieber Traps, sagte er, sind

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    Sie. Es ist mir noch nie ein Angeklagter begegnet, der mitgrerer Seelenruhe so unvorsichtige Aussagen gemachthtte.

    Traps lachte: Keine Bange, lieber Nachbar! Wenn ersteinmal das Verhr beginnt, werde ich schon den Kopf nichtverlieren.

    Totenstille im Zimmer, wie schon einmal. Kein Schmatzenmehr, kein Schlrfen.

    Sie Unglcksmensch! chzte der Verteidiger. Wasmeinen Sie damit: Wenn erst einmal das Verhr beginnt?

    Nun, sagte der Generalvertreter, Salat auf den Tellerhufend, hat es etwa schon begonnen?

    Die Greise schmunzelten, sahen pfiffig drein, verschmitzt,meckerten endlich vor Vergngen.

    Der Stille, Ruhige, Glatzkpfige kicherte: Er hat es nichtgemerkt, er hat es nicht gemerkt!

    Traps stutzte, war verblfft, die spitzbbische Heiterkeit kamihm unheimlich vor, ein Eindruck, der sich freilich baldverflchtigte, so da er mitzulachen begann: Meine Herren,verzeihen Sie, sagte er, ich dachte mir das Spiel feierlicher,wrdiger, frmlicher, mehr Gerichtssaal.

    Liebster Herr Traps, klrte ihn der Richter auf, Ihrbestrztes Gesicht ist nicht zu bezahlen. Unsere Art, Gericht zuhalten, scheint Ihnen fremd und allzu munter, sehe ich. Doch,Wertgeschtzter, wir vier an diesem Tisch sind pensioniert undhaben uns vom unntigen Wust der Formeln, Protokolle,Schreibereien, Gesetze und was sonst noch fr Kram unsereGerichtssle belastet, befreit. Wir richten ohne Rcksicht aufdie lumpigen Gesetzbcher und Paragraphen.

    Mutig, entgegnete Traps mit schon etwas schwerer Zunge,mutig. Meine Herren, das imponiert mir. Ohne Paragraphen,das ist eine khne Idee.

    Der Verteidiger erhob sich umstndlich. Er gehe Luft

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    schnappen, verkndete er, bevor es zum Hhnchen und zumbrigen komme, ein kleines Gesundheits-Spaziergnglein undeine Zigarette seien nun an der Zeit, und er lade Herrn Trapsein, ihn zu begleiten.

    Sie traten von der Veranda in die Nacht hinaus, die nunendlich hereingebrochen war, warm und majesttisch. Von denFenstern des Ezimmers her lagen goldene Lichtbnder berdem Rasen, erstreckten sich bis zu den Rosenbeeten. DerHimmel voller Sterne, mondlos, als dunkle Masse standen dieBume da, und die Kieswege zwischen ihnen waren kaum zuerraten, ber die sie nun schritten. Sie hatten sich den Armgegeben. Beide waren schwer vom Wein, torkelten undschwankten auch hin und wieder, gaben sich Mhe, schngerade zu gehen, und rauchten Zigaretten, Parisiennes, rotePunkte in der Finsternis.

    Mein Gott, schpfte Traps Atem, war dies ein Jux dadrinnen, und wies nach den erleuchteten Fenstern, in deneneben die massige Silhouette der Haushlterin sichtbar wurde.Vergnglich geht's zu, vergnglich.

    Lieber Freund, sagte der Verteidiger wankend und sich aufTraps sttzend, bevor wir zurckgehen und unser Hhnchenin Angriff nehmen, lassen Sie mich ein Wort an Sie richten, einernstes Wort, das Sie beherzigen sollten. Sie sind mirsympathisch, junger Mann, ich fhle zrtlich fr Sie, ich willwie ein Vater zu Ihnen reden: Wir sind im schnsten Zuge,unseren Proze in Bausch und Bogen zu verlieren!

    Das ist Pech, antwortete der Generalvertreter und steuerteden Verteidiger vorsichtig den Kiesweg entlang um die groeschwarze, kugelrunde Masse eines Gebschs herum. Dann kamein Teich, sie ahnten eine Steinbank, setzten sich. Sternespiegelten sich im Wasser, Khle stieg auf. Vom Dorfe herHandharmonikaklnge und Gesang, auch ein Alphorn war jetztzu hren, der Kleinviehzchterverband feierte.

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    Sie mssen sich zusammennehmen, mahnte derVerteidiger. Wichtige Bastionen sind vom Feind genommen;der tote Gygax, unntigerweise aufgetaucht durch Ihrhemmungsloses Geschwtz, droht mchtig, all dies istschlimm, ein ungebter Verteidiger mte die Waffenstrecken, doch mit Zhigkeit, unter Ausntzung aller Chancenund vor allem mit der grten Vorsicht und Disziplin Ihrerseitskann ich noch Wesentliches retten.

    Traps lachte. Das sei ein gar zu komisches Gesellschaftsspiel,stellte er fest, in der nchsten Sitzung der Schlaraffia mssedies unbedingt auch eingefhrt werden.

    Nicht wahr? freute sich der Verteidiger, man lebt auf.Hingesiecht bin ich, lieber Freund, nachdem ich meinenRcktritt genommen hatte und pltzlich ohne Beschftigung,ohne meinen alten Beruf in diesem Drfchen das Altergenieen sollte. Was ist denn hier auch los? Nichts, nur derFhn nicht zu spren, das ist alles. Gesundes Klima?Lcherlich, ohne geistige Beschftigung. Der Staatsanwalt lagim Sterben, bei unserem Gastfreund vermutete manMagenkrebs, Pilet litt an einem Diabetes, mir machte derBlutdruck zu schaffen. Das war das Resultat. Ein Hundeleben.Hin und wieder saen wir traurig zusammen, erzhltensehnschtig von unseren alten Berufen und Erfolgen, unsereeinzige sprliche Freude. Da kam der Staatsanwalt auf denEinfall, das Spiel einzufhren, der Richter stellte das Haus undich mein Vermgen zur Verfgung na ja, ich bin Junggeselle,und als jahrzehntelanger Anwalt der oberen Zehntausend legtman sich ein hbsches Smmchen auf die Seite, mein Lieber,kaum zu glauben, wie sich ein freigesprochener Raubritter derHochfinanz seinem Verteidiger splendide erweist, das grenztan Verschwendung , und es wurde unser Gesundbrunnen,dieses Spiel; die Hormone, die Mgen, die Bauchspeichel-drsen kamen wieder in Ordnung, die Langeweile verschwand,

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    Energie, Jugendlichkeit, Elastizitt, Appetit stellten sich wiederein; sehen Sie mal, und er machte trotz seinem Bauch einigeTurnbungen, wie Traps undeutlich in der Dunkelheitbemerken konnte. Wir spielen mit den Gsten des Richters,die unsere Angeklagten abgeben, fuhr der Verteidiger fort,nachdem er sich wieder gesetzt hatte, bald mit Hausierern,bald mit Ferienreisenden, und vor zwei Monaten durften wirgar einen deutschen General zu zwanzig Jahren Zuchthausverurteilen. Er kam hier durchgewandert mit seiner Gattin, nurmeine Kunst rettete ihn vor dem Galgen.

    Groartig, staunte Traps, diese Produktion! Doch das mitdem Galgen kann nicht gut stimmen, da bertreiben Sie einbichen, verehrter Herr Rechtsanwalt, denn die Todesstrafe istja abgeschafft.

    In der staatlichen Justiz, stellte der Verteidiger richtig,doch wir haben es hier mit einer privaten Justiz zu tun undfhrten sie wieder ein: Gerade die Mglichkeit der Todesstrafemacht unser Spiel so spannend und eigenartig.

    Und einen Henker habt ihr wohl auch, wie? lachte Traps.Natrlich, bejahte der Verteidiger stolz; haben wir auch.

    Pilet.Pilet?berrascht, wie?Traps schluckte einige Male. Der ist doch Ochsenwirt und

    sorgt fr die Weine, die wir trinken.Gastwirt war er immer, schmunzelte der Verteidiger

    gemtlich. bte seine staatliche Ttigkeit nur nebenberuflichaus. Ehrenamtlich beinah. War einer der tchtigsten seinesFachs im Nachbarlande, nun auch schon zwanzig Jahrepensioniert, doch immer noch auf dem laufenden in seinerKunst.

    Ein Automobil fuhr durch die Strae, und im Lichte derScheinwerfer leuchtete der Rauch der Zigaretten auf.

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    Sekundenlang sah Traps auch den Verteidiger, die unmigeGestalt im verschmierten Gehrock, das fette, zufriedene,gemtliche Gesicht. Traps zitterte. Kalter Schwei lag aufseiner Stirne.

    Pilet.Der Verteidiger stutzte: Aber was haben Sie denn auf

    einmal, guter Traps? Spre, da Sie zittern. Ist Ihnen nichtwohl?

    Er sah den Kahlkpfigen vor sich, der doch eigentlichziemlich stumpfsinnig mitgetafelt hatte, es war eine Zumutung,mit so einem zu essen. Aber was konnte der arme Kerl frseinen Beruf die milde Sommernacht, der noch mildere Weinstimmten Traps human, tolerant, vorurteilslos, er warschlielich ein Mann, der vieles gesehen hatte und die Weltkannte, kein Mucker und Spieer, nein, ein Textilfachmannvon Format, ja es schien Traps nun, der Abend wre ohneHenker weniger lustig und ergtzlich, und er freute sich schon,das Abenteuer bald in der Schlaraffia zum besten geben zuknnen, wohin man den Henker sicher auch einmal kommenlassen wrde gegen ein kleines Honorar und Spesen, und solachte er denn schlielich befreit auf: Bin reingefallen! Habemich gefrchtet! Das Spiel wird immer lustiger!

    Vertrauen gegen Vertrauen, sagte der Verteidiger, als siesich erhoben hatten und Arm in Arm, vom Licht der Fenstergeblendet, gegen das Haus hintappten. Wie brachten SieGygax um?

    Ich soll ihn umgebracht haben?Na, wenn er doch tot ist.Ich brachte ihn aber nicht um.Der Verteidiger blieb stehen. Mein lieber junger Freund,

    entgegnete er teilnehmend, ich begreife die Bedenken. Vonden Verbrechen sind die Morde am peinlichsten zu gestehen.Der Angeklagte schmt sich, will seine Tat nicht wahrhaben,

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    vergit, verdrngt sie aus dem Gedchtnis, ist berhaupt vollerVorurteile der Vergangenheit gegenber, belastet sich mitbertriebenen Schuldgefhlen und traut niemandem, selbstseinem vterlichen Freunde nicht, dem Verteidiger, was geradedas Verkehrteste ist, denn ein rechter Verteidiger liebt denMord, jubelt auf, bringt man ihm einen. Her damit, lieberTraps! Mir wird erst wohl, wenn ich vor einer wirklichenAufgabe stehe, wie ein Alpinist vor einem schwierigenViertausender, wie ich als alter Bergsteiger sagen darf. Dafngt das Hirn an zu denken und zu dichten, zu schnurren undzu schnarren, da es eine Freude ist. So ist denn auch IhrMitrauen der groe, ja ich darf sagen, der entscheidendeFehler, den Sie machen. Darum, heraus mit dem Gestndnis,alter Knabe!

    Er habe aber nichts zu gestehen, beteuerte derGeneralvertreter.

    Der Verteidiger stutzte. Grell beschienen vom Fenster, ausdem Glserklirren und Lachen immer bermtiger schwoll,glotzte er Traps an.

    Junge, Junge, brummte er mibilligend, was heit daswieder? Wollen Sie denn Ihre falsche Taktik immer noch nichtaufgeben und immer noch den Unschuldigen spielen? HabenSie denn noch nicht kapiert? Gestehen mu man, ob man willoder nicht, und zu gestehen hat man immer was, das drfteIhnen doch langsam dmmern! Wohlan denn, lieber Freund,weder geziert noch gezaudert, sondern frisch von der Leberweg gesprochen: Wie brachten Sie Gygax um? Im Affekt,nicht? Da mten wir uns auf eine Anklage auf Totschlaggefat machen. Wette, da der Staatsanwalt dahinsteuert. Habeso meine Vermutung. Kenne den Burschen.

    Traps schttelte den Kopf. Mein lieber Herr Verteidiger,sagte er, der besondere Reiz unseres Spiels besteht darin wenn ich als Anfnger und ganz unmageblich meine Meinung

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    uern darf , da es einem dabei unheimlich und gruseligwird. Das Spiel droht in die Wirklichkeit umzukippen. Manfragt sich auf einmal, ob man nun eigentlich ein Verbrecher seioder nicht, ob man den alten Gygax umgebracht habe odernicht. Es ist mir bei Ihrer Rede fast wirblig geworden. Unddarum, Vertrauen gegen Vertrauen: Ich bin unschuldig amTode des alten Gangsters. Wirklich. Damit traten sie wiederins Speisezimmer, wo das Hhnchen schon serviert war und einChteau Pavie 1921 in den Glsern funkelte.

    Traps, in Stimmung, begab sich zum Ernsten, Schweigenden,Glatzkpfigen, drckte ihm die Hand. Er habe vom Verteidigerseinen ehemaligen Beruf erfahren, sagte er, er wolle betonen,da es nichts Angenehmeres geben knne, als einen sowackeren Mann am Tische zu wissen, er kenne keineVorurteile, im Gegenteil, und Pilet, ber seinen gefrbtenSchnurrbart streichend, murmelte errtend, etwas geniert undin einem entsetzlichen Dialekt: Freut mich, freut mich, werdmir Mhe geben.

    Nach dieser rhrenden Verbrderung mundete denn auch dasHhnchen vortrefflich. Es war nach einem GeheimrezeptSimones zubereitet, wie der Richter verkndete. Manschmatzte, a mit den Hnden, lobte das Meisterwerk, trank,stie auf jedermanns Gesundheit an, leckte die Sauce von denFingern, fhlte sich wohl, und in aller Gemtlichkeit nahm derProze seinen Fortgang. Der Staatsanwalt, eine Servietteumgebunden und das Hhnchen vor dem schnabelartigen,schmatzenden Munde, hoffte, zum Geflgel ein Gestndnisserviert zu bekommen. Gewi, liebster und ehrenhaftesterAngeklagter, forschte er, haben Sie Gygax vergiftet.

    Nein, lachte Traps, nichts dergleichen.Nun, sagen wir: erschossen?Auch nicht.Einen heimlichen Autounfall arrangiert?

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    Alles lachte, und der Verteidiger zischte wieder einmal:Aufpassen, das ist eine Falle!

    Pech, Herr Staatsanwalt, ausgesprochen Pech, rief Trapsbermtig aus: Gygax starb an einem Herzinfarkt, und es warnicht einmal der erste, den er erlitt. Schon Jahre vorhererwischte es ihn, er mute aufpassen, wenn er nach auen auchden gesunden Mann spielte, bei jeder Aufregung war zubefrchten, da es sich wiederhole, ich wei es bestimmt.

    Ei, und von wem denn?Von seiner Frau, Herr Staatsanwalt.Von seiner Frau?Aufpassen, um Himmelswillen, flsterte der Verteidiger.Der Chteau Pavie 1921 bertraf die Erwartungen. Traps war

    schon beim vierten Glas, und Simone hatte eine Extraflasche inseine Nhe gestellt. Da staune der Staatsanwalt, prostete derGeneralvertreter den alten Herren zu, doch damit das hoheGericht nicht etwa glaube, er verheimliche was, wolle er dieWahrheit sagen und bei der Wahrheit bleiben, auch wenn ihnder Verteidiger mit seinem Aufpassen! umzische. Mit FrauGygax nmlich habe er was gehabt, nun ja, der alte Gangstersei oft auf Reisen gewesen und habe sein gutgebautes undleckeres Frauchen aufs grausamste vernachlssigt; da habe erhin und wieder den Trster abgeben mssen, auf dem Kanapeein Gygaxens Wohnstube und spter auch bisweilen im Ehebett,wie es eben so komme und wie es der Lauf der Welt sei.

    Auf diese Worte Trapsens erstarrten die alten Herren, dannaber, auf einmal, kreischten sie laut auf vor Vergngen, undder Glatzkpfige, sonst Schweigsame schrie, seine weieNelke in die Luft werfend: Ein Gestndnis, ein Gestndnis!,nur der Verteidiger trommelte verzweifelt mit den Fusten aufseine Schlfen.

    So ein Unverstand! rief er. Sein Klient sei toll gewordenund dessen Geschichte nicht ohne weiteres zu glauben, worauf

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    Traps entrstet und unter erneutem Beifall der Tischrundeprotestierte. Damit begann ein langes Gerede zwischen demVerteidiger und dem Staatsanwalt, ein hartnckiges Hin undHer, halb komisch, halb ernst, eine Diskussion, deren InhaltTraps nicht begriff. Es drehte sich um das Wort dolus, von demder Generalvertreter nicht wute, was es bedeuten mochte. DieDiskussion wurde immer heftiger, lauter gefhrt, immerunverstndlicher, der Richter mischte sich ein, ereiferte sichebenfalls, und war Traps anfangs bemht hinzuhorchen, etwasvom Sinn des Streitgesprchs zu erraten, so atmete er nun auf,als die Haushlterin Kse auftischte, Camembert, Brie,Emmentaler, Gruyere, Tete de Moine, Vacherin, Limburger,Gorgonzola, und lie dolus dolus sein, prostete mit demGlatzkpfigen, der allein schwieg und auch nichts zu begreifenschien, und griff zu bis auf einmal, unerwartet, derStaatsanwalt sich wieder an ihn wandte: Herr Traps, fragte ermit gestrubter Lwenmhne und hochrotem Gesicht, dasMonokel in der linken Hand, sind Sie immer noch mit FrauGygax befreundet?

    Alle glotzten zu Traps hinber, der Weibrot mit Camembertin den Mund geschoben hatte und gemtlich kaute. Dann nahmer noch einen Schluck Chteau Pavie. Irgendwo tickte eineUhr, und vom Dorfe her drangen noch einmal ferneHandorgelklnge, Mnnergesang Heit ein Haus zumSchweizerdegen.

    Seit dem Tode Gygaxens, erklrte Traps, habe er dasFrauchen nicht mehr besucht. Er wolle die brave Witweschlielich nicht in Verruf bringen.

    Seine Erklrung erweckte zu seiner Verwunderung aufs neueeine gespenstische, unbegreifliche Heiterkeit, man wurde nochbermtiger als zuvor, der Staatsanwalt schrie: Dolo malo,dolo malo!, brllte griechische und lateinische Verse, zitierteSchiller und Goethe, whrend der kleine Richter die Kerzen

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    ausblies, bis auf eine, die er dazu benutzte, mit den Hndenhinter ihrer Flamme, laut meckernd und fauchend, dieabenteuerlichsten Schattenbilder an die Wand zu werfen,Ziegen, Fledermuse, Teufel und Waldschrate, wobei Pilet aufden Tisch trommelte, da die Glser, Teller, Platten tanzten:Es kommt zum Todesurteil, es kommt zum Todesurteil! Nurder Verteidiger machte nicht mit, schob die Platte zu Traps hin.Er solle nehmen, sie mten sich am Kse gtlich tun, esbliebe nichts anderes mehr brig.

    Ein Chteau Margaux wurde gebracht. Damit kehrte dieRuhe wieder ein. Alle starrten auf den Richter, der dieverstaubte Flasche (Jahrgang 1914) vorsichtig und umstndlichzu entkorken begann, mit einem sonderbaren, altertmlichenZapfenzieher, der es ihm ermglichte, den Zapfen aus derliegenden Flasche zu ziehen, ohne sie aus dem Krbchen zunehmen, eine Prozedur, die unter atemloser Spannung erfolgte,galt es doch, den Zapfen mglichst unbeschdigt zu lassen, warer doch der einzige Beweis, da die Flasche wirklich aus demJahre 1914 stammte, da die vier Jahrzehnte die Etikette lngstvernichtet hatten. Der Zapfen kam nicht ganz, der Rest mutesorgfltig entfernt werden, doch war auf ihm noch die Jahrzahlzu lesen, er wurde von einem zum andern gereicht, berochen,bewundert und schlielich feierlich dem Generalvertreterbergeben, zum Andenken an den wunderschnen Abend, wieder Richter sagte. Der kostete den Wein nun vor, schnalzte,schenkte ein, worauf die ndern zu riechen, zu schlrfenbegannen, in Rufe des Entzckens ausbrachen, den splendidenGastgeber priesen. Der Kse wurde herumgereicht, und derRichter forderte den Staatsanwalt auf, sein Anklageredchenzu halten. Der verlangte vorerst neue Kerzen, es solle feierlichdabei zugehen, andchtig, Konzentration sei vonnten, innereSammlung. Simone brachte das Verlangte. Alle warengespannt, dem Generalvertreter kam die Angelegenheit leicht

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    unheimlich vor, er frstelte, doch gleichzeitig fand er seinAbenteuer wundervoll, und um nichts auf der Welt htte erdarauf verzichten wollen. Nur sein Verteidiger schien nichtganz zufrieden.

    Gut, Traps, sagte er, hren wir uns die Anklagerede an.Sie werden staunen, was Sie mit Ihren unvorsichtigenAntworten, mit Ihrer falschen Taktik angerichtet haben. War esvorher schlimm, so ist es nun katastrophal. Doch Courage, ichwerde Ihnen schon aus der Patsche helfen, verlieren Sie nurnicht den Kopf dabei, wird Sie Nerven kosten, da heildurchzukommen.

    Es war soweit. Allgemeines Ruspern, Husten, noch einmalstie man an, und der Staatsanwalt begann unter Gekicher undGeschmunzel seine Rede.

    Das Vergngliche unseres Herrenabends, sagte er, indemer sein Glas erhob, doch sonst sitzen blieb, das Gelungene istwohl, da wir einem Mord auf die Spur gekommen sind, soraffiniert angelegt, da er unserer staatlichen Justiznatrlicherweise mit Glanz entgangen ist.

    Traps stutzte, rgerte sich mit einem Male. Ich soll einenMord begangen haben? protestierte er, na hren Sie, das gehtmir etwas zu weit, schon der Verteidiger kam mit dieser faulenGeschichte, aber dann besann er sich und begann zu lachen,unmig, kaum da er sich beruhigen konnte, ein wunderbarerWitz, jetzt begreife er, man wolle ihm ein Verbrecheneinreden, zum Kugeln, das sei einfach zum Kugeln.

    Der Staatsanwalt sah wrdig zu Traps hinber, reinigte dasMonokel, klemmte es wieder ein.

    Der Angeklagte, sagte er, zweifelt an seiner Schuld.Menschlich. Wer von uns kennt sich, wer von uns wei vonseinen Verbrechen und geheimen Untaten? Eins jedoch darfschon jetzt betont werden, bevor die Leidenschaften unseresSpiels von neuem aufbrausen: Falls Traps ein Mrder ist, wie

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    ich behaupte, wie ich innig hoffe, stehen wir vor einerbesonders feierlichen Stunde. Mit Recht. Es ist ein freudigesEreignis, die Entdeckung eines Mordes, ein Ereignis, dasunsere Herzen hher schlagen lt, uns vor neue Aufgaben,Entscheidungen, Pflichten stellt, und so darf ich denn vor allemunserem lieben voraussichtlichen Tter gratulieren, ist es dochohne Tter nicht gut mglich, einen Mord zu entdecken,Gerechtigkeit walten zu lassen. Auf ein besonderes Wohl dennunserem Freund, unserem bescheidenen Alfrede Traps, den einwohlmeinendes Geschick in unsere Mitte brachte!

    Jubel brach aus, man erhob sich, trank auf das Wohl desGeneralvertreters, der dankte, Trnen in den Augen, undversicherte, es sei sein schnster Abend.

    Der Staatsanwalt, nun ebenfalls mit Trnen: Sein schnsterAbend, verkndet unser Verehrter, ein Won, ein erschtterndesWort. Denken wir an die Zeit zurck, da im Dienste des Staatsein trbes Handwerk zu verrichten war. Nicht als Freund standuns damals der Angeklagte gegenber, sondern als Feind; wenwir nun an unsere Brust drcken drfen, hatten wir von uns zustoen. An meine Brust denn!

    Bei diesen Worten sprang er auf, ri Traps hoch undumarmte ihn strmisch.

    Staatsanwalt, lieber, lieber Freund, stammelte derGeneralvertreter.

    Angeklagter, lieber Traps, schluchzte der Staatsanwalt.Sagen wir du zueinander. Heie Kurt. Auf dein Wohl,Alfredo!

    Auf dein Wohl, Kurt!Sie kten sich, herzten, streichelten sich, tranken einander

    zu, Ergriffenheit breitete sich aus, die Andacht einererblhenden Freundschaft. Wie hat sich doch alles gendert,jubelte der Staatsanwalt; hetzten wir einst von Fall zu Fall,von Verbrechen zu Verbrechen, von Urteil zu Urteil, so

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    begrnden, entgegnen, referieren, disputieren, reden underwidern wir jetzt mit Mue, Gemtlichkei