ein ausflug in die geschichte - wiley-vch · 1 ein ausflug in die geschichte die erste...

24
1 Ein Ausf lug in die Geschichte Die erste Kunststoffrevolution: Neue Materialien lieferten Zündfunken für Innovationen Wie die Vergesslichkeit eines Chemikers einem Superwerkstoff auf die Sprünge half Die besten Erfindungen kommen manchmal durch Zufall zustande. Diese Erfahrung machte unter anderem der Amerikaner Roy Plunkett. Offensichtlich war der 26 Jahre junge Chemiker frisch verliebt und hatte ein Date im Kopf, als er aus Versehen eine Gasflasche mit der Fluorverbindung Tetrafluorethylen, kurz TFE genannt, auf dem Labortisch stehen ließ, statt sie wie geplant in den Eisschrank zu verfrachten. Vergleichbares war ihm zuvor noch nie passiert! Als am Morgen des 6. April des Jahres 1938 Plunketts Laborassistent Jack Rebok das Ventil aufdrehte, um das kompri- mierte TFE zu entnehmen, wollte die Flasche partout kein Gas mehr von sich geben. Sie konnte aber unmöglich leer sein! Da sich Plunkett keinen Reim darauf machen konnte, sägte er kurz ent- schlossen den Stahlzylinder auf und fand einen weißen Belag vor. Nachfolgende Tests bewiesen: Ein neuer Kunststoff war entstanden – das Polytetrafluorethylen, später kurz Teflon genannt. Es war unbrennbar, quoll bei der Einwirkung von organischen Lösungs- mitteln nicht auf und trotzte sogar den aggressivsten Säuren. Ein bis dato in dieser Substanzklasse extrem ungewöhnliches Verhal- ten! Seine einzigartigen Eigenschaften konnte das Material allerdings erst etliche Jahre später ausspielen – und zwar als Hitzeschutz- kachel, Kabelisolierung und in der Raumfahrt als Schutzschicht für die Anzüge der Astronauten. Gerne wird Teflon daher auch als erfolgreicher »Spin-Off« der Raumfahrt bezeichnet. Eine hübsche Legende, mehr nicht. So eroberte Teflon bereits ab 1954 die Brat- Fußball, Fashion, Flachbildschirme. Rolf Froböse, Klaus Jopp Copyright © 2006 WILEY-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim ISBN: 3-527-31411-3

Upload: duongduong

Post on 17-Sep-2018

216 views

Category:

Documents


0 download

TRANSCRIPT

Page 1: Ein Ausflug in die Geschichte - Wiley-VCH · 1 Ein Ausflug in die Geschichte Die erste Kunststoffrevolution: Neue Materialien lieferten Zündfunken für Innovationen Wie die Vergesslichkeit

1

Ein Ausf lug in die Geschichte

Die erste Kunststoffrevolution: Neue Materialienlieferten Zündfunken für Innovationen

Wie die Vergesslichkeit eines Chemikerseinem Superwerkstoff auf die Sprünge halfDie besten Erfindungen kommen manchmal durch Zufall

zustande. Diese Erfahrung machte unter anderem der AmerikanerRoy Plunkett. Offensichtlich war der 26 Jahre junge Chemikerfrisch verliebt und hatte ein Date im Kopf, als er aus Versehen eineGasflasche mit der Fluorverbindung Tetrafluorethylen, kurz TFEgenannt, auf dem Labortisch stehen ließ, statt sie wie geplant inden Eisschrank zu verfrachten. Vergleichbares war ihm zuvor nochnie passiert! Als am Morgen des 6. April des Jahres 1938 PlunkettsLaborassistent Jack Rebok das Ventil aufdrehte, um das kompri-mierte TFE zu entnehmen, wollte die Flasche partout kein Gasmehr von sich geben. Sie konnte aber unmöglich leer sein! Da sichPlunkett keinen Reim darauf machen konnte, sägte er kurz ent-schlossen den Stahlzylinder auf und fand einen weißen Belag vor.Nachfolgende Tests bewiesen: Ein neuer Kunststoff war entstanden– das Polytetrafluorethylen, später kurz Teflon genannt. Es warunbrennbar, quoll bei der Einwirkung von organischen Lösungs-mitteln nicht auf und trotzte sogar den aggressivsten Säuren. Einbis dato in dieser Substanzklasse extrem ungewöhnliches Verhal-ten!

Seine einzigartigen Eigenschaften konnte das Material allerdingserst etliche Jahre später ausspielen – und zwar als Hitzeschutz-kachel, Kabelisolierung und in der Raumfahrt als Schutzschichtfür die Anzüge der Astronauten. Gerne wird Teflon daher auch alserfolgreicher »Spin-Off« der Raumfahrt bezeichnet. Eine hübscheLegende, mehr nicht. So eroberte Teflon bereits ab 1954 die Brat-

Fußball, Fashion, Flachbildschirme. Rolf Froböse, Klaus JoppCopyright © 2006 WILEY-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, WeinheimISBN: 3-527-31411-3

Page 2: Ein Ausflug in die Geschichte - Wiley-VCH · 1 Ein Ausflug in die Geschichte Die erste Kunststoffrevolution: Neue Materialien lieferten Zündfunken für Innovationen Wie die Vergesslichkeit

pfanne, erst anschließend, nach dem Sputnik-Schock des Jahres1957, war der Weltraum an der Reihe.

Aufgrund seiner hervorragenden chemischen und thermischenBeständigkeit hat sich der Werkstoff in den nachfolgenden Jahr-zehnten eine große Palette von Einsatzgebieten erobern können.Das Spektrum reicht von chemikalienbeständigen Rohrleitungenfür Industrieanlagen über medizinische Injektionsschläuche bishin zur Mikroelektronik, und ein Ende des Teflon-Booms ist nichtzu erkennen.

Von der »Schwiegermutterseide« zur modernen KunstfaserEine andere bedeutende Innovation, die der ersten Kunststoff-

revolution den Weg ebnen sollte, wurde Jahrzehnte zuvor quasi ausder Not heraus geboren: Als am Ende des 19. Jahrhunderts inFrankreich eine Seuche die Seidenraupen befallen hatte, kam derfranzösische Chemiker Hilaire Bernigaud Graf von Chardonnet deGrange, ein Schüler von Louis Pasteur, auf die Idee, seidenartigeFäden künstlich herzustellen. Zu diesem Zweck löste er Schieß-baumwolle (Nitrocellulose) in einem Gemisch aus Alkohol undEther und presste die entstandene Lösung durch feine Glasröhr-chen. Nach dem Verdunsten des Lösungsmittels blieben feine sei-denglänzende »Reyon-Fäden« (von französ. rayon, Lichtstrahl)zurück, die sich verspinnen ließen. Bernigaud zögerte nicht lange,stellte seine Kunstseide 1889 auf der Pariser Weltausstellung vorund nahm 1891 die kommerzielle Fertigung auf.

Wie sich herausstellte, wiesen Damenkleider aus BernigaudsKunstseide aber einen entscheidenden Nachteil auf. Sie warenhochgradig brennbar und entzündeten sich bisweilen bereits in derNähe eines Kamins oder einer Gaslaterne. Als die Presse wieder-holt darüber berichtete, machte in Frankreich ein nicht geradeabsatzförderndes Bonmot die Runde: »Schwiegermutterseide«.Bernigaud löste das Problem mit Hilfe von Schwefelverbindungen,die denitrierend wirkten und die Brennbarkeit entscheidend herab-setzten, dafür handelt er sich ein neues ein – die Rosskur verhalfzwar den Schwiegermüttern zu einer höheren Lebenserwartung,dafür war die Seide relativ brüchig.

Mehr Glück hatten die englischen Chemiker Charles FrederickCross, Edward John Bevan und Clayton Beadle, als sie Cellulose

Ein Ausf lug in die Geschichte2

Page 3: Ein Ausflug in die Geschichte - Wiley-VCH · 1 Ein Ausflug in die Geschichte Die erste Kunststoffrevolution: Neue Materialien lieferten Zündfunken für Innovationen Wie die Vergesslichkeit

zuerst mit Natronlauge behandelten und anschließend Schwefel-kohlenstoff hinzufügten. Das Resultat waren lebhaft orangegelbgefärbte Körnchen aus Cellulosenatriumxanthogenat. Als sie dar-aufhin den Festkörper mit dem zungenbrecherischen Namennochmals in Lauge auflösten, entstand eine sirupähnliche Flüssig-keit, die von den Chemikern Viskose getauft wurde. Diese Flüssig-keit pressten sie durch feine Gold- oder Platindüsen in ein Säure-bad und erhielten feine glänzende Fäden, die sich leicht verspinnenließen. Das Austreiben der Kinderkrankheiten überließen dieChemiker der Industrie, die im mehreren Ländern schon bald dieProduktion aufnahm. So gab es 1906 in Deutschland bereits siebenHersteller von Viskose. Auch heute ist Viskose nach wie vor diewichtigste Chemiefaser auf der Basis von Cellulose. Weltweit wer-den jährlich rund 3 Mio. Tonnen für die Textilindustrie produziert.

Kuriosum am Rande: Der Engländer Joseph Wilson Swan hieltbereits ein Jahr vor Bernigaud den ersten Faden aus Kunstseide inder Hand, den er nach einem ganz ähnlichen Verfahren gewonnenhatte. Er hatte jedoch nicht an die Möglichkeit gedacht, die Fasernzu Garn zu verspinnen. Stattdessen nutzte er die Kunstfasern, dieer durch eine gezielte Verbrennung in Kohlefasern verwandelte, alsGlühfäden in seinen elektrischen Birnen.

Ein Chemiker wird zum FrauenheldNie im Leben hätte der amerikanische Chemiker Wallace Hume

Carothers, der sich seit 1929 den linearen Hochpolymeren ver-schrieben hatte, daran geglaubt, dass er einmal zum Favoriten derDamenwelt avancieren würde. Allerdings hing sein »Frauenglück«buchstäblich an einem seidenen Faden, genauer gesagt am Super-polyamid 6.6. Denn dieser Faden, den er 1935 schuf, war so feinwie Seide, aber fester als Baumwolle: Nylon. Hergestellt hatte Caro-thers die künstliche Seide aus Hexamethylendiamin und Adipin-säure. Dabei stellte er fest, dass die Fäden durch nachträglichesStrecken eine außergewöhnliche Festigkeit erreichen.

Als am 15. Mai 1940 erstmals Nylonstrümpfe auf dem amerika-nischen Markt auftauchten, kam dies einer Sensation gleich. Alleinin New York City wurden innerhalb weniger Stunden vier Millio-nen Paare verkauft, und nur wenige Monate nach der Markteinfüh-rung mussten die Produktionskapazitäten bereits erweitert werden.

Die erste Kunststoffrevolution 3

Page 4: Ein Ausflug in die Geschichte - Wiley-VCH · 1 Ein Ausflug in die Geschichte Die erste Kunststoffrevolution: Neue Materialien lieferten Zündfunken für Innovationen Wie die Vergesslichkeit

Nach dem 2. Weltkrieg ging der einzigartige Siegeszug des Produk-tes aus der Retorte unaufhaltsam weiter: Nylonstrümpfe, Coca Colaund Lucky Strike wurden zu Statussymbolen, die eine neue Ärades Massenkonsums einläuteten. Damit war das Potenzial desNylons aber lange noch nicht ausgeschöpft. Vielmehr eröffnete dievollsynthetische Faser der Textilindustrie in nahezu allen Bereichenneue Anwendungsmöglichkeiten.

Nahezu zeitgleich mit dem Amerikaner Carothers hatte auch eindeutscher Chemiker, Dr. Paul Schlack, an Polyamiden gearbeitet.Als Ausgangssubstanz verwendete er jedoch das Caprolactam, daser im Januar 1938 zusammen mit einer kleinen Menge Amino-capronsäurehydrochlorid und einer Spur Wasser in einem Bom-benofen auf 240 °C erhitzt hatte. Daraus erhielt er ein Produkt, dasin seinen Eigenschaften dem Nylon völlig adäquat war: Perlon.Eine Lücke im amerikanischen Patent hatte Schlacks Erfindung zuweltweitem Erfolg verholfen. So hatte Carothers behauptet, dasssich Superpolyamid aus Caprolactam nicht herstellen lasse – einfolgenschwerer Irrtum! Dennoch kam es zu einer gütlichen Eini-gung. Da die Eigenschaften von Nylon und Perlon praktisch iden-tisch waren, schlossen die beteiligten Unternehmen in Deutsch-land und den USA einen Vertrag über die Verwertung der Verfah-

Ein Ausf lug in die Geschichte4

Wallace Hume Carothers, Erfinder des Nylon

Page 5: Ein Ausflug in die Geschichte - Wiley-VCH · 1 Ein Ausflug in die Geschichte Die erste Kunststoffrevolution: Neue Materialien lieferten Zündfunken für Innovationen Wie die Vergesslichkeit

ren, der später einen vollständigen Patentaustausch sowie eine Auf-teilung der Absatzgebiete mit sich brachte.

Bereits 1939 brachte die deutsche chemische Industrie Perlonauf den Markt. Größter Abnehmer wurde aber bald die Rüstungs-industrie, die großen Bedarf an Fallschirmseide hatte. So sprangenwährend des 2. Weltkrieges deutsche Soldaten mit Perlon-Schir-men, amerikanische dagegen mit Nylon-Schirmen vom Himmel.Ähnlich wie beim Nylon setzte der Perlon-Boom erst richtig in derNachkriegsära ein. Des Weiteren stellte sich bald heraus, dass sichaus Carothers und Schlacks Erfindung nicht nur Fasern, sondernauch komplexe Spritzgussteile herstellen lassen. Die ersten Zahn-kränze aus Polyamid wurden 1966 auf der Hannover-Messe vorge-stellt.

Bevor auf die zweite Kunststoffrevolution eingegangen wird,sollen in den nachfolgenden Kapiteln die weiteren Highlights derersten Revolution chronologisch gestreift werden.

Chemiefasern: Vom Autoreifen zur Mikrofaser

1935 ReifencordIn den dreißiger Jahren machte das Bestreben der Industrie,

klassische Produkte aus Naturstoffen durch synthetische Produktezu ersetzen, auch vor dem Automobilsektor nicht mehr Halt. Sostellte ein deutscher Reifenhersteller bereits 1933 einen Autoreifenaus dem noch relativ neuen synthetischen Kautschuk Buna her.Nur zwei Jahre später tauchte der erste Reifencord aus syntheti-schen Fasern auf. Ein technisch wichtiger Meilenstein war der Baueiner Doppeldraht-Zwirnmaschine für Fasern aus Reyon im Jahre1935. Sie ermöglichte es erstmals, bei einem Spindelumlauf zweiDrehungen in den Faden einzubringen. Das Prinzip war seit Mittedes 19. Jahrhunderts zwar bekannt, aber erst mit der Erfindung derso genannten Speicherscheibe im Jahre 1930 wurde es technischmöglich, Doppeldrahtzwirnmaschinen industriell einzusetzen.

Chemiefasern: Vom Autoreifen zur Mikrofaser 5

Page 6: Ein Ausflug in die Geschichte - Wiley-VCH · 1 Ein Ausflug in die Geschichte Die erste Kunststoffrevolution: Neue Materialien lieferten Zündfunken für Innovationen Wie die Vergesslichkeit

1937 ElasthanDie Herstellung der ersten elastischen Chemiefaser auf der Basis

von Polyurethan war ein weiterer bedeutender Meilenstein in derEntwicklung der Chemiefaser. Die hervorstechende Eigenschaftdieser Faser ist ihre Elastizität, die ihr zu dem Namen Elasthan ver-half. Verglichen mit Gummi ist Elasthan reißfester, um ein Drittelleichter und darüber hinaus wesentlich haltbarer. Dennoch hieltdas Elasthan erst rund 25 Jahre später unter den Namen Lycra undDorlastan Einzug in die Textilbranche, wo es zur Herstellung vonMiederwaren, Sport- und Badebekleidung sowie Strümpfen ver-wandt wurde. Insbesondere aus dem Bereich der Sportbekleidungist das Elasthan heute nicht mehr wegzudenken.

1941 PolyesterCarothers, der Entdecker des Nylons, hatte über Polyester einst

ein vernichtendes Urteil gefällt: Für Kunstseide ungeeignet. Dieenglischen Chemiker John R. Whinfield und James T. Dicksonwollten es indessen genauer wissen und entschlossen sich zu einerVorgehensweise, die sich für die damalige Zeit schlicht utopischanhörte: Anstatt in hunderten von Reaktionen eine Substanz nachder anderen zu testen, entwarfen sie ein Polyester-Riesenmolekülmit positiven Fasereigenschaften zunächst auf dem Papier. Ausder vorliegenden Struktur folgerten sie wiederum, dass »nur dieTerephthalsäure zusammen mit Glykolen einen faserbildendenPolyester ergeben« könne. Gesagt, getan – als die beiden diegenannten Komponenten aufeinander einwirken ließen, erhieltensie eine neuartige Faser, die sich hervorragend verstrecken ließ undüber eine hohe Knitter- und Reißfestigkeit verfügt. Damit hattenWhinfield und Dickson zugleich das Fundament für die modernesynthetische Chemie geschaffen. Die industrielle Produktion desnach der Terephthalsäure benannten »Terrylen« begann 1953.

1941 Polyacrylnitril (PAN)Die Suche nach Möglichkeiten, dem Kunststoff Polyacrylnitril

(PAN) brauchbare Fäden abzuringen, hat den Chemikern viel Kopf-zerbrechen bereitet. Da das PAN jedes dargebotene Lösungsmittelhartnäckig verabscheute, war an ein Verspinnen des Kunststoffs

Ein Ausf lug in die Geschichte6

Page 7: Ein Ausflug in die Geschichte - Wiley-VCH · 1 Ein Ausflug in die Geschichte Die erste Kunststoffrevolution: Neue Materialien lieferten Zündfunken für Innovationen Wie die Vergesslichkeit

einfach nicht zu denken. Einer, der sich nicht geschlagen gab, warder deutsche Chemiker Herbert Rein. Im Jahre 1941 hatte er imDimethylformamid (DMF) ein passendes Lösungsmittel gefunden.

Nicht nur in Deutschland, sondern auch in den USA und inJapan hatten Chemiker zu dieser Zeit fieberhaft nach einem pas-senden Elixier gesucht, wobei den Amerikanern in den Jahren1942/43 Erfolg beschieden war. So wurden in den USA sofort groß-technische Spinnversuche unternommen, während in Deutschlandder Bombenkrieg die Arbeit an der PAN-Faser zunächst unter-brach.

Dennoch hatten die Chemiker diesseits und jenseits des Atlan-tiks unabhängig voneinander die Basis für den Nachkriegserfolgder Faser geschaffen. Die Amerikaner führten die PAN-Faser 1950unter dem Namen »Orlon« auf dem Markt ein, Deutschland zog1954 mit »Dralon« nach. PAN, das inzwischen nicht nur nass, son-dern auch trocken versponnen wird, kommt heute nicht nur imBekleidungsbereich, sondern auch auf dem breiten Sektor derHeim- und Haustextilien zum Einsatz.

1965 SpinnvliesUrsprünglich wollte der deutsche Chemiker Dr. Carl Nottebohm

ein synthetisches Leder entwickeln, doch dann kam alles anders.1948 fand er »im Vorbeigehen« einen Weg, textile Flächen direktaus Fasern herzustellen – die Vliesstoffe. Die ersten Markenwaren »Vlieseline« (Einlagestoffe für die Bekleidungsindustrie)und »Vileda« (Haushalts- und Reinigungstücher).

Mit der Einführung des so genannten Spinnvliesverfahrens imJahre 1965 wurde schließlich die gesamte industrielle Textilferti-gung revolutioniert. Dabei wird ein polymeres Granulat – zum Bei-spiel Polyester – geschmolzen und durch Spinndüsen gepresst. Diedabei entstehenden Endlosfasern werden abgekühlt und auf einemTräger zu einem gleichmäßigen Flor geformt. Vliesstoffe bestehenzu einem großen Teil aus Luft, die innerhalb des Fasergewebes ein-geschlossen ist. Diese Eigenschaft macht sie zu hervorragendenKälteisolatoren, weshalb Textilien aus Spinnvlies insbesonderebeim Einsatz in polaren Gegenden und im Hochgebirge favorisiertwerden.

Chemiefasern: Vom Autoreifen zur Mikrofaser 7

Page 8: Ein Ausflug in die Geschichte - Wiley-VCH · 1 Ein Ausflug in die Geschichte Die erste Kunststoffrevolution: Neue Materialien lieferten Zündfunken für Innovationen Wie die Vergesslichkeit

1980 MikrofasernDie Mikrofaser verbindet den Vorteil der heutigen Polyesterfäden

mit den Eigenschaften äußerst feiner Fäden. Das Ergebnis ist einStoff, der natürliche Grenzen überspringt: Mikrofasern sind hun-dertmal feiner als ein Menschenhaar, und 10 000 Meter wiegennoch nicht einmal ein Gramm. Nur knapp 30 Kilo eines solchenFadens wären notwendig, um die Entfernung zum Mond zu über-brücken. Deshalb gehört die Mikrofaser zu den interessantestenMaterialinnovationen der jüngeren Zeit.

Ursprünglich hatte man Mikrofasern für Funktionsbekleidungim Hochleistungssport entwickelt, denn die hohe Dichte von Fädenbei geringem Gewicht bedeutet eine hohe Anzahl von Luftkam-mern und Poren, was der Hautatmung und Thermoregulierungdes Körpers entgegenkommt. Bald darauf erkannten jedoch dieModeschöpfer das Potenzial der Mikrofaser, die sich problemlosauch mit anderen Chemiefasern kombinieren lässt. Mischungenvon Mikrofasern mit Seide, Wolle, Baumwolle oder Viskose habendazu geführt, dass über 75 % dieser Materialien heute für modischeBekleidung eingesetzt werden.

Klebstoffe: Von der Fokker zur Chipkarte

1909 PhenolharzeKlebstoffe benutzten die Menschen bereits in vorchristlicher

Zeit. Von den Sumerern ist beispielsweise bekannt, dass sie um3000 v. Chr. einen Leim, den sie SE.GIN nannten, aus tierischenHäuten gewannen. Etwa um 1500 v. Chr. verwendeten die Ägyptertierische Leime für Furnierarbeiten. Zeugnis von dieser Epochelegt eine Tafel Hautleim ab, die im Grab des Königs Tut-ench-Amun gefunden wurde. Im alten Griechenland gab es bereits denBeruf des Leimsieders (Kellopsos), und auch die Römer verwende-ten einen Leim (Glutinum). Die erste Leimfabrik nahm 1690 inHolland ihren Betrieb auf, während Ferdinand Sichel 1889 denersten gebrauchsfertigen Pflanzenleim vorstellte.

Das Zeitalter der Klebstoffe auf der Basis synthetischer Rohstoffebegann aber erst 1909, als Leo Hendrik Baekeland ein Verfahrenzur Phenolharz-Härtung zum Patent anmeldete. Noch im selbenJahr wurden die Flügel der Fokker erstmals mit Phenolharzen

Ein Ausf lug in die Geschichte8

Page 9: Ein Ausflug in die Geschichte - Wiley-VCH · 1 Ein Ausflug in die Geschichte Die erste Kunststoffrevolution: Neue Materialien lieferten Zündfunken für Innovationen Wie die Vergesslichkeit

geklebt. Zur Herstellung des Klebers hatte Baekeland Phenol undFormaldehyd miteinander reagieren lassen, eine Reaktion, an dersich zuvor zahlreiche andere Chemiker vergeblich versucht hatten.Einer von diesen war Adolf von Baeyer, der 1872 aus beiden Stoffenbereits ein künstliches Harz herstellte. Weil ihm das Produkt aberzu unansehnlich war und darüber hinaus scheußlich klebte, ließ errasch die Finger davon und wandte sich einem attraktiveren Pro-dukt zu – dem blauen Indigo.

1920–1931 Kaurit-LeimeÄhnlich wie Baeyer erging es dem Chemiker C. Goldschmidt, als

er 1896 ein klebriges Kondensat aus Formaldehyd und Harnstoffin den Händen hielt, dessen Klebstoff-Natur erst 1920 von Johnerkannt wurde. Im Jahre 1931 gelang es der chemischen Industrie,aus dem Kondensat einen Klebstoff herzustellen, der unter demNamen Kaurit auf den Markt kam. Eine hohe Festigkeit in Verbin-

Klebstoffe: Von der Fokker zur Chipkarte 9

Leo Hendrik Baekeland, Erfinder der Phenolharzhärtung

Page 10: Ein Ausflug in die Geschichte - Wiley-VCH · 1 Ein Ausflug in die Geschichte Die erste Kunststoffrevolution: Neue Materialien lieferten Zündfunken für Innovationen Wie die Vergesslichkeit

dung mit einer guten Verarbeitbarkeit ließen ihn bald zu einemder führenden vollsynthetischen Klebstoffe werden. Kaurit wirdheute noch zur Verleimung von Massivholz, Furnierplatten undHolzspanplatten eingesetzt.

1943 DispersionshaftklebstoffeMit dem Begriff Dispersion bezeichnet der Chemiker eine

extrem feine Verteilung eines Stoffes in einem anderen, wobei dieTeilchen sich nicht durch die Schwerkraft trennen, sondern dauer-haft in dem anderen Medium schweben. Auch die historischenKleister waren nichts anderes als Dispersionen von Stoffen wieMehl, Baumharz oder Knochen in Wasser. Die erstmals in einemPatent aus dem Jahre 1943 beschriebenen und Anfang der fünfzi-ger Jahre auf dem Markt eingeführten Dispersionshaftklebstoffebasierten dagegen auf Kunstharz-Dispersionen in Wasser. Sie läute-ten eine neu Ära der Klebetechnik ein.

Dispersionshaftklebstoffe verfügen über große Adhäsions- undkleine Kohäsionskräfte, die sie bereits unter leichtem Druck aufden verschiedensten Oberflächen sofort haften lassen. Ihre heutigeDomäne sind Folienetiketten, selbstklebende Bänder, doppelseitigeKlebebänder und Isolierbänder.

1958–1960 Cyanacrylat-KlebstoffeEin bedeutender Meilenstein in der Geschichte der Klebstoffe

sind die so genanten Sofortkleber (auch Blitz- oder Sekundenkle-ber). Sie basierten auf Cyanacrylat und kamen 1958 erstmals in denUSA unter dem Namen »Eastman 910« auf den Markt, gefolgtvom deutschen »Sicomet«, welches ab 1960 erhältlich war. Beidegehörten zu den Einkomponenten-Klebstoffen und zeichneten sichdurch eine rasche Aushärtung auf nahezu allen Oberflächen unter-schiedlichster Beschaffenheit aus. Damit war der Klebstoffindustrieein entscheidender Durchbruch im Bereich der Metall- und Kunst-stoffverbindungen gelungen.

Cyanacrylat-Klebstoffe, die selbst poröse Oberflächen fest miteinan-der verbinden, werden nicht nur von Hobbybastlern geschätzt, son-dern kommen heute auch in technologisch anspruchsvollen Gebie-ten wie der Elektronik-Industrie zum Verkleben von Chips, in der

Ein Ausf lug in die Geschichte10

Page 11: Ein Ausflug in die Geschichte - Wiley-VCH · 1 Ein Ausflug in die Geschichte Die erste Kunststoffrevolution: Neue Materialien lieferten Zündfunken für Innovationen Wie die Vergesslichkeit

Mess- und Regeltechnik, bei optischen Geräten und Uhren sowiein der Zahntechnik zum Einsatz. Anwendungen, die vor einigenJahren noch utopisch anmuteten, finden sich in der Medizintech-nik. So lassen sich mit Cyanacrylat-Klebstoffen nicht nur Hautge-webe kleben, sondern selbst feinste Nervenfasern neurochirurgischmiteinander verbinden.

1970 UV-vernetzbare KlebrohstoffeUm 1970 konnten erstmals Klebstoffe auf der Basis von Acrylat-

Formulierungen hergestellt werden, bei denen sich die Aushärtunggezielt mit Hilfe von ultraviolettem Licht realisieren ließ. Diese sogenannten lichthärtenden Polymere werden heute in den verschie-densten Industrien, zum Beispiel bei der Herstellung von CDs,Chipkarten und Elektronikteilen, eingesetzt.

1979 Leitfähige KlebstoffeSeit längerem war bekannt, dass durch die Zugabe elektrisch leit-

fähiger Partikel – zum Beispiel feinverteilter Nickel-, Silber- oderGoldkörnchen – Klebstoffen metallische Eigenschaften verliehenwerden können. Konkrete Anwendungen brachte aber erst vor gut20 Jahren die aufstrebende High-Tech-Industrie, wo mit Silberpar-tikeln beladene Epoxidharze zum Einsatz gelangten. Wärmeemp-findlichen Hochleistungsbausteinen muss dank der Chemie heutenicht mehr mit dem Lötkolben zu Leibe gerückt werden. Ein imwahrsten Sinne des Wortes bodenständige Anwendung ist dieableitfähige Verklebung von Bodenbelägen.

1981 Lösemittelfreie KlebstoffeLösemittelfreie Klebstoffe basieren auf feinsten Polymerparti-

keln, die im »natürlichsten« aller Lösungsmittel, Wasser, verteiltsind. Sie sind umweltfreundlich, weisen keinerlei Geruchsbelästi-gung auf und erfreuen sich einer wachsenden Beliebtheit. Auf»natürliche« Materialien wie Holz, Papier oder Textilien aufge-bracht, entfalten sie die gleiche Klebewirkung wie die lösemittelhal-tigen Klebstoffe. Wegen der langsameren Verdunstung des Wassersim Vergleich zu organischen Lösungsmitteln muss allerdings eine

Klebstoffe: Von der Fokker zur Chipkarte 11

Page 12: Ein Ausflug in die Geschichte - Wiley-VCH · 1 Ein Ausflug in die Geschichte Die erste Kunststoffrevolution: Neue Materialien lieferten Zündfunken für Innovationen Wie die Vergesslichkeit

längere Trocknungszeit in Kauf genommen werden. Darüber hin-aus müssen die Klebestellen vor Frost geschützt werden.

Kunststoffe in der Informationstechnik:Von Großmutters Kintopp zum Flüssigkristall

1869 CelluloidUrsprünglich hatte er lediglich nach einem widerstandsfähigen

Material für Buchdruckwalzen gesucht. Dass er im Zuge seinerEntdeckungsreise Elefanten das Leben rettete und den Bildern dasLaufen beibrachte, hätte er in seinen kühnsten Träumen nie fürmöglich gehalten. Die Rede ist von John Wesley Hyatt, dem ameri-kanischen Erfinder, Drucker und Vater der Kunststoffe schlechthin.

Man kann heute darüber spekulieren, ob es eine Ausschreibungder Firma Phelan & Collendar war, die Hyatts Ehrgeiz beflügelte.Das Unternehmen, Hersteller von Billardkugeln aus Elfenbein,hatte demjenigen 10 000 Dollar versprochen, der ein Ersatzmate-rial für Elfenbein erfinden würde, weil in den 1860er Jahren derPreis für Elfenbein aufgrund der hohen Nachfrage ins Astronomi-

Ein Ausf lug in die Geschichte12

John Wesley Hyatt, Erfinder des Celluloids

Page 13: Ein Ausflug in die Geschichte - Wiley-VCH · 1 Ein Ausflug in die Geschichte Die erste Kunststoffrevolution: Neue Materialien lieferten Zündfunken für Innovationen Wie die Vergesslichkeit

sche geklettert war und es schließlich immer schwerer wurde, das»weiße Gold« zu beschaffen. In den Jahren zuvor hatten zweifel-hafte Jäger und organisierte Verbrecher Jahr für Jahr rund 70 000afrikanische Elefanten erlegt, was dazu führte, dass die Tiere inner-halb nur weniger Jahre vom Aussterben bedroht waren.

Als Hyatt im Jahre 1869 gewöhnliches Papier mit Salpetersäuredurchfeuchtete und die entstandene Nitrocellulose mit Campherverknetete, erhielt er einen hornartigen Stoff, der sich sehr gut ver-formen ließ: Celluloid. Bald sollte sich herausstellen, dass man ausdiesem Material auch wesentlich kostbarere Dinge als Buchdruck-walzen wie Perlen, Billardkugeln, Schmucksachen und Spielzeugefertigen konnte. Im Zuge dieser Entwicklung verdrängte das Cellu-loid Horn und Gummi aus der Industrie der Kämme und Schirm-griffe.

Einen geradezu sensationellen Aufschwung erlebte die nochjunge Celluloidindustrie, als George Eastman, Chef des Kodak-Konzerns, im Jahre 1884 den fotografischen Film auf Celluloid-basis zum Patent anmeldete. Nach einer stürmischen Entwicklungtrug der Celluloid-Film den Sieg über die fotografische Plattedavon. Eine andere Anwendung zeichnete sich in der aufkeimen-den Filmindustrie ab, deren jährlicher Bedarf rasch auf einigeZehntausend Kilometer Celluloid-Film kletterte. Bereits kurz nachder Jahrhundertwende zählte der Besuch von Lichtspielhäusern inEuropa und Amerika zu den beliebtesten Freizeitvergnügen.

Ihren Höhepunkt erreichte die Celluloid-Produktion mit 50 000Jahrestonnen im Jahre 1930. Danach brach die Ära der modernenPolymere an, die das Celluloid nach und nach verdrängten.

1900–1942 SiliconeBei Versuchen, kunststoffartige Verbindungen nicht aus Kohlen-

stoff-, sondern aus Siliciumketten aufzubauen, entdeckte der engli-sche Chemiker Frederic Stanley Kipping im Jahre 1900 die Familieder Silicone. Silicium ist das zweithäufigste Element der oberenErdkruste und kommt buchstäblich wie Sand an Meer vor, derbekanntlich aus Siliciumdioxid besteht. Möglicherweise wurde Kip-ping durch den deutschen Chemiker Friedrich Wöhler inspiriert,der rund 50 Jahre zuvor spekuliert hatte, dass man eines Tages ausSiliciumverbindungen künstliche Lebewesen erschaffen könne.

Kunststoffe in der Informationstechnik: 13

Page 14: Ein Ausflug in die Geschichte - Wiley-VCH · 1 Ein Ausflug in die Geschichte Die erste Kunststoffrevolution: Neue Materialien lieferten Zündfunken für Innovationen Wie die Vergesslichkeit

Aus unerklärlichen Gründen wertete Kipping seine Entdeckungaber nicht weiter aus. Als im Jahre 1942 die industrielle Produktionvon Siliconen einsetzte, wurden die neuen Materialien wegen ihrerherausragenden Materialeigenschaften noch während des ZweitenWeltkriegs als hitzebeständige Schmierstoffe und Isoliermasseneingesetzt. In den vergangenen fünf Jahrzehnten konnte die Sili-cone nahezu alle Branchen erobern. Das Spektrum reicht vonDichtstoffen in der Elektroindustrie über Autopflegemittel bis hinzur Medizintechnik, wo Silicone wegen ihrer exzellenten Körper-verträglichkeit in Form künstlicher Adern oder als Herzklappen-ventile zum Einsatz gelangen.

1902 LaccainWeitaus weniger Erfinderglück als Hyatt hatte der deutsche Che-

miker Carl Heinrich Meyer, der Erfinder des Laccains, eines zu denPhenol-Formaldehydharzen gehörenden Novolaks. Wie zahlreicheandere Forscher suchte Meyer zu jener Zeit nach einem geeignetenErsatz für ein teures Naturprodukt namens Schellack. Hierbei han-delt es sich um das Stoffwechselprodukt der Lackschildlaus, die aufeinigen harzreichen asiatischen Baumarten beheimatet ist. MitHilfe von Schellack wurden Möbel poliert, Briefe versiegelt, Hütegesteift, elektrische Geräte isoliert und später auch Schallplattenhergestellt.

Bereits nach relativ kurzer Forschungstätigkeit wurde Meyer fün-dig. In einem im Frühjahr 1902 angemeldeten Patent hatte er ein»Verfahren zur Herstellung eines dem Schellack ähnlichen harzar-tigen Kondensationsproduktes aus Phenol und Formaldehydlö-sung« beschrieben. Das auf den Namen Laccain getaufte Produktverkaufte sich in den ersten Jahren gut, bevor sich Beschwerdenüber den strengen Phenolgeruch und die Nachdunkelung vonMöbelpolituren häuften. Als Meyers Versuche zur Produktverbesse-rung nicht von Erfolg gekrönt waren, verschwand das Laccain nacheinigen Jahren wieder vom Markt. Obwohl Meyer der geschäftlicheErfolg letztendlich versagt blieb, hatten seine Pionierarbeiten derweiteren Entwicklung von Phenolharzen entscheidende Impulseverliehen.

Ein Ausf lug in die Geschichte14

Page 15: Ein Ausflug in die Geschichte - Wiley-VCH · 1 Ein Ausflug in die Geschichte Die erste Kunststoffrevolution: Neue Materialien lieferten Zündfunken für Innovationen Wie die Vergesslichkeit

1907–1909 BakelitAufbauend auf die von Carl Heinrich Meyer erzielten Ergebnisse

mit Phenolharzen wollte der gebürtige Belgier Leo Hendrik Baeke-land der Natur der Reaktion von Phenol mit Formaldehyd, welchedie Chemiker trotz unentwegter Versuche seit 1872 immer wiederan der Nase herumgeführt hatte, nochmals auf den Grund gehen.Minutiös wiederholte er die Experimente seiner Vorgänger, machtekleine Änderungen und notierte sich sämtliche Details. Im Jahre1907 konnte er schließlich zeigen, wie man Phenole und Form-aldehyd durch Anwendung basischer Katalysatoren und durchWärme-Druck-Härtung zu einem brauchbaren Kunstharz umset-zen konnte, in das sich obendrein Füllstoffe einarbeiten ließen. Beider nachfolgenden Formulierung seines Patentes ließ er sich Zeitund schützte buchstäblich jeden noch so kleinen Schritt. Zu großwar seine Angst, dass Nachahmer, die er bereits in den Startlöchernwitterte, gnadenlos über seine Erfindung herfallen würden. Erst imJahre 1909 stellte Baekeland seine Ergebnisse der Öffentlichkeitvor. Somit wurde er zum Erfinder des ersten »richtigen« Kunst-stoffs – des später nach ihm benannten Bakelit.

1907–1935 FarbfilmSie hatten 1895 das erste Kino eröffnet und wollten nun auch

Farbe auf die Leinwand bringen: Gemeint sind die französischenBrüder Louis Jean und Auguste Lumière, die im Jahre 1907 erst-mals ein Verfahren zur Herstellung von farbigen Fotografien vor-stellten, an dem sie bereits seit 1903 herumtüftelten. Ihr Prinzipbasierte auf rot, grün und blau eingefärbten Stärkekörnchen, dieauf Glasplatten aufgebracht als Lichtfilter dienten. Dieses Verfah-ren fußte auf Ideen des englischen Physikers J. C. Maxwell (1855)und des Franzosen D. du Hauron (1862). Auf dem Prinzip desadditiven Rasterverfahrens basierte auch die erste Agfa-Farbraster-platte (1916) und nachfolgend der Agfacolor-Farbrasterfilm (1932).Parallel zu diesen Entwicklungen wurden die ebenfalls additivenLinsenrasterverfahren – Kodak (1928) und Agfa (1931) – für dieAmateurkinematografie ausgearbeitet.

Den großen Durchbruch bescherte indessen das Agfacolor-Verfahren im Jahre 1935 auf der Grundlage der subtraktiven Farb-

Kunststoffe in der Informationstechnik: 15

Page 16: Ein Ausflug in die Geschichte - Wiley-VCH · 1 Ein Ausflug in die Geschichte Die erste Kunststoffrevolution: Neue Materialien lieferten Zündfunken für Innovationen Wie die Vergesslichkeit

mischung, bei dem die Farbkuppler in die drei Schichten des Filmseingearbeitet waren. Das hatte unter anderem zur Folge, dass dieEntwicklung nur noch aus einem einzigen Arbeitsgang bestand.Bereits ein Jahr später gelang Chemikern der nächste große Wurf.Sie stellten fest, dass sich mit Hilfe feinster Goldkörnchen in derfotografischen Schicht deren Empfindlichkeit ohne Kornvergröße-rung auf das Vierfache steigern lässt. Dieser so genannte Goldef-fekt blieb bis 1945 ein streng gehütetes Geheimnis.

1928–1934 TonbandDie Ursprünge des Tonbands reichen bis in das 19. Jahrhundert

zurück. Die erste Idee, den Magnetismus zum Aufzeichnen vonTönen zu verwenden, hatte 1898 der dänische Physiker ValdemarPoulsen. Er verwendete hierzu einen Stahldraht, der an einemElektromagneten vorbeilief. Die erste kommerzielle Nutzung gabes aber erst 30 Jahre später, als der deutsche Techniker Fritz Pfleu-mer den Draht durch ein Band ersetzte und die Erfindung zumPatent anmeldete.

Dem Stahlband war aber nur ein kurzes Leben vergönnt, denndie Fortschritte in der Chemie hatten inzwischen die Grundlagefür ein wesentlich verbessertes Verfahren geschaffen. So hatte sichherausgestellt, dass bei der thermischen Zersetzung von Eisencar-bonyl ein äußerst feines Metallpulver anfiel, welches sich in einerKunststoff-Folie, die als Trägermaterial diente, hervorragend vertei-len ließ. Im Jahre 1934 wurden von der chemischen Industrie inDeutschland die ersten 50 000 Meter Tonband ausgeliefert. SeinDebüt gab das Tonbandgerät ein Jahr später auf der Funkausstel-lung in Berlin.

1953 MakrolonDie Idee hielten seine Forscherkollegen für ziemlich verrückt:

Als der Chemiker Dr. Hermann Schnell im Jahre 1953 seine bereitsfrüher begonnenen Arbeiten über Polycarbonate fortsetzte, wollteniemand ernsthaft daran glauben, dass die empfindlichen Ester derKohlensäure eine geeignete Grundlage für stabile Kunststoffe ab-geben könnten. Schnell ließ sich nicht beirren. Er fand noch imgleichen Jahr heraus, dass ein schon seit langem bekanntes Kon-

Ein Ausf lug in die Geschichte16

Page 17: Ein Ausflug in die Geschichte - Wiley-VCH · 1 Ein Ausflug in die Geschichte Die erste Kunststoffrevolution: Neue Materialien lieferten Zündfunken für Innovationen Wie die Vergesslichkeit

densationsprodukt aus Phenol und Aceton, das Dian, mit Hilfe vonPhosgen in Polykohlensäureester überführt werden konnte. Diesepolymerisierten Ester wiesen als Kunststoff eine Reihe von uner-wartet guten Eigenschaften auf, mit denen niemand rechnenkonnte. Fünf Jahre später gelang es schließlich, den Polycarbona-ten die noch fehlenden Eigenschaften eines gut verarbeitbarenKunststoffs zu verleihen und das Produkt unter dem NamenMakrolon auf den Markt zu bringen. Makrolon ist bis 135 °C form-beständig und büßt seine Schlagzähigkeit erst unter Weltraum-bedingungen von –100 °C ein. Als 1985/86 das frühere Glasdachdes Kölner Hauptbahnhofs mit 13 500 Quadratmetern Makrolon-platten neu eingedeckt wurde, kam das Produkt in die Schlag-zeilen. In jüngster Zeit hat das Makrolon den Markt der CompactDisks erobert: Rund 75 % aller CD-Platten in Europa werden inzwi-schen aus Makrolon hergestellt.

1973 FlüssigkristalleDie Grundlagen der modernen Flüssigkristalldisplays gehen

auf eine Entdeckung des österreichischen Botanikers FriedrichReinitzer zurück, der im Jahre 1888 ein seltsames Verhalten desCholesterin-Benzoats beobachtete. Reinitzer sah, dass Cholesterin-Benzoat bei 145 °C schmilzt, aber nicht direkt in eine klareSchmelze übergeht, sondern zunächst in eine milchig-trübe Flüs-sigkeit. Erst beim weiteren Erhitzen auf 179 °C wurde die Schmelzeklar und durchsichtig. Kurze Zeit später stellte der deutsche Physi-ker Otto Lehmann fest, dass es sich hierbei um eine besonderePhase handelt. Welche anwendungstechnische Bedeutung Stoffe,die solche Phasen ausbilden können, einmal haben würden,konnte keiner der beteiligten Wissenschaftler auch nur erahnen.

Erst zu Beginn der 1960er Jahre machte sich bei der Radio Cor-poration of America (RCA) eine Forschergruppe Gedanken übermögliche Anwendungen von Flüssigkristallen. Richtig spannendwurde es, als auf der ersten wissenschaftlichen Tagung an der KentState University in Kent/Ohio Vorschläge laut wurden, Flüssig-kristalle in elektrooptischen Anzeigen einzusetzen. Ein deutschesChemieunternehmen hat das Potenzial dieser eigenartigen Stoff-klasse auf dem Gebiet der Displaytechniken bereits vor 30 Jahrenerkannt und die weiteren Entwicklungen maßgeblich beeinflusst.

Kunststoffe in der Informationstechnik: 17

Page 18: Ein Ausflug in die Geschichte - Wiley-VCH · 1 Ein Ausflug in die Geschichte Die erste Kunststoffrevolution: Neue Materialien lieferten Zündfunken für Innovationen Wie die Vergesslichkeit

Heute finden sich Flüssigkristallanzeigen in vielen Bereichen destäglichen Lebens wieder. In Form von Flachbildschirmen – nichtnur in Notebook-PCs, sondern zunehmend auch in Desktop-PCs –machten sie der Braun’schen Röhre ernsthaft Konkurrenz. Sogardie Spielwarenindustrie kam nicht zu kurz: Ohne Flüssigkristall-anzeige kein Tamagotchi!

Kunststoffe als Werkstoffe

1909–1929 Synthetischer KautschukKautschuk, der »Vater« aller Kunststoffe, ist benannt nach dem

indianischen Wort »cahachu« für »weinender Baum«. Seine Eigen-schaften waren den Mayas bereits im 11. Jahrhundert bekannt. Sofanden Archäologen bei Ausgrabungen historische Darstellungenvon Gummibällen und Ballspielen, und als Christoph Columbuswährend seiner zweiten Amerikareise auf diese Bälle aufmerksamwurde, transportierte er erstmals Kautschuk von Haiti nachEuropa. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts wurden in London undParis Kautschukwürfel öffentlich feil geboten, und der englischeChemiker Priestley demonstrierte einem staunenden Publikum,dass man mit solchen Würfeln Bleistiftstriche wegradieren kann.Folgerichtig nannten die Briten den Radiergummi »India Rubber«.Bis ins 20. Jahrhundert hinein blieb der Gummibaum »Hevea bra-siliensis«, der ursprünglich nur im Amazonasgebiet, später aber innahezu allen Tropenländern angepflanzt wurde, die einzige Roh-stoffquelle.

Die stürmisch einsetzende Motorisierung zu Beginn des 20.Jahrhunderts führte zu einer dramatisch gestiegenen Nachfrageund zu einer Verknappung des Naturkautschuks auf dem Welt-markt. Als die Preise im Jahre 1906 mit bis zu 28 Mark pro Kilo-gramm dem Wochenlohn eines Industriearbeiters entsprachen,entschloss sich ein deutsches Chemieunternehmen zu einemungewöhnlichen Schritt und schrieb einen Preis in Höhe von20 000 Mark für denjenigen seiner Chemiker aus, dem es inner-halb von drei Jahren gelingen würde, ein Verfahren zur Herstel-lung von Kautschuk oder eines Ersatzes zu entwickeln. Fritz Hof-mann, ein Chemiker, der sich eigentlich auf Pharmaka spezialisierthatte, nahm die Herausforderung an. Zu der Zeit war lediglich

Ein Ausf lug in die Geschichte18

Page 19: Ein Ausflug in die Geschichte - Wiley-VCH · 1 Ein Ausflug in die Geschichte Die erste Kunststoffrevolution: Neue Materialien lieferten Zündfunken für Innovationen Wie die Vergesslichkeit

bekannt, dass der Naturkautschuk aus langen Ketten aneinandergereihter Isopren-Moleküle besteht.

Hofmann entschloss sich, zunächst reines Isopren zu syntheti-sieren und es dann zu polymerisieren. Die Arbeiten waren recht-zeitig vor Ablauf der Frist von Erfolg gekrönt. Im August 1909 hielter das Polymerisat des Isoprens in den Händen, das unabhängigePrüfer als »veritablen Kautschuk« charakterisierten. Die Produk-tion des ersten synthetischen Kautschuks wurde im Jahre 1919allerdings wieder eingestellt, nachdem es nach dem Ersten Welt-krieg zu einem dramatischen Preisverfall für Naturkautschukgekommen war. Hinzu kam, dass die englischen Chemiker FrancisEdward Matthews und Edward Halford Strange im Jahre 1910 ent-deckt hatten, dass sich Butadien in Gegenwart von Alkalimetallenwie Natrium rasch polymerisieren ließ. Damit schlug die Geburts-stunde des Buna (Butadien-Natrium), der dem synthetischen Kau-tschuk ab 1929 zu einer steilen Karriere verhelfen sollte. WeitereProdukt- und Verfahrensverbesserungen führten von diesem Zeit-punkt an zum so genannten »Buchstaben-Buna« – einem Misch-polymerisat von Butadien mit Styrol und anderen Monomeren.

1912 PVCWenn er nur im Entferntesten geahnt hätte, was er in den Hän-

den hielt, wäre der französische Chemiker Henri Victor Regnaultin die Annalen der Kunststoffchemie eingegangen. Seine im Jahre1835 durchgeführten Versuche, in der er alkoholische Kalilauge aufdiverse organische Substanzen einwirken ließ, hatten in einemKölbchen, das auf einer Fensterbank dem Sonnenlicht ausgesetztwar, zu einem weißen Niederschlag geführt, mit dem Regnaultnichts anzufangen wusste. Ohne es zu wissen, hatte er in seinemLabor in Lyon erstmals PVC hergestellt. Gewissenhaft notierte Reg-nault seine Beobachtung und überließ alles Weitere dem Schicksal.

Erst knapp 80 Jahre später, am 11. Oktober 1912, hatte der Frank-furter Chemiker Dr. Fritz Klatte ein patentreifes Verfahren entwik-kelt, das die Synthese des Vinylchlorids, der Vorstufe des PVC, ausAcetylen und Salzsäure in Gegenwart von Salzen des Quecksilberszum Gegenstand hatte. Die Herstellung von Acetylen war denkbareinfach: Man brauchte nur Wasser auf Carbid einwirken zu lassen,ein Prinzip, das zu Klattes Zeiten jeder Radfahrer von der Carbid-

Kunststoffe als Werkstoffe 19

Page 20: Ein Ausflug in die Geschichte - Wiley-VCH · 1 Ein Ausflug in die Geschichte Die erste Kunststoffrevolution: Neue Materialien lieferten Zündfunken für Innovationen Wie die Vergesslichkeit

lampe her kannte. Nachdem Klatte das Vinylchlorid isoliert hatte,beobachtete er kurze Zeit später, dass sich die bei Zimmertempera-tur gasförmige Verbindung unter der Einwirkung von Hitze oderLicht zu PVC polymerisieren lässt. Ähnlich wie beim synthetischenKautschuk ebneten erst die ab den dreißiger Jahren begonnenenindustriellen Entwicklungen der weiteren Karriere des PVC denWeg, eines Kunststoffs, dem wir heute wegen seiner herausragen-den Eigenschaften in beinahe allen Bereichen des täglichen Lebensauf Schritt und Tritt begegnen – und zwar nicht nur in Form vonFußbodenbelag.

1920–1930 PolystyrolDie Vorgeschichte eines weiteren Meilensteins bei den Werkstof-

fen, des Polystyrols, weist in vielfacher Hinsicht Parallelen zumPVC auf. So wurde das Polymere bereits wiederholt von Chemikerndes 19. Jahrhunderts beschrieben, aber erst der deutsche ChemikerHermann Staudinger erkannte im Jahre 1920, dass das Produktaus kettenförmig aneinander gereihten Styrol-Molekülen bestand.Auf Staudingers Erkenntnissen aufbauend konnten Chemiker inLudwigshafen bis 1929 ein Syntheseverfahren entwickeln, das einJahr später die Ära der großtechnischen Produktion einläutete. Dereigentliche Siegeszug des Polystyrols setzte 1951 ein, als es unterdem Warenzeichen »Styropor« auf den Markt kam.

1933 PolyethylenDer 24. März 1933 war ein ganz besonderes Datum in der

Geschichte der Polymerchemie. In England wollten zwei jungeWissenschaftler – Reginald Oswald Gibson und Eric William Faw-cett – wissen, wie sich der einfachste ungesättigte Kohlenwasser-stoff, das Gas Ethylen, unter Überdruck verhält. Hierzu erhitztensie in einer stählernen Bombe das Gas auf 170 °C und ließen denDruck im Innern des Behälters auf 1900 Atmosphären steigen. Alssie drei Tage später das Experiment beendeten, fanden sie imInnern des Behälters eine wachsartige Schicht vor. Es war dieGeburtsstunde des Polyethylens! Ausgehend von diesem Experi-ment wurden in England bald Versuche unternommen, ein groß-technisches Verfahren zu entwickeln. 1939 waren die Vorbereitun-

Ein Ausf lug in die Geschichte20

Page 21: Ein Ausflug in die Geschichte - Wiley-VCH · 1 Ein Ausflug in die Geschichte Die erste Kunststoffrevolution: Neue Materialien lieferten Zündfunken für Innovationen Wie die Vergesslichkeit

gen soweit abgeschlossen, dass die großtechnische Produktion desPolyethylens begann.

Nach dem 2. Weltkrieg suchte der deutsche Chemiker KarlZiegler nach geeigneten Katalysatoren, um die Polymerisation desEthylens auch im Niederdruckbereich durchführen zu können. Alser es am 26. Oktober 1953 mit einem Aluminium/Zirkonium-Katalysator ausprobierte, hatte er doppeltes Glück: Die Nieder-druck-Polymerisation war nicht nur erfolgreich verlaufen, sondernsie lieferte ihm zugleich ein Polyethylen, das dem Hochdruck-Polyethylen hinsichtlich der Elastizität und anderer mechanischerEigenschaften deutlich überlegen war. Gemeinsam mit dem Mai-länder Chemiker Giulio Natta, der ihm mit einem ganz ähnlichenVerfahren bei der Polymerisation des Polypropylens zuvorgekom-men war, wurde er für seine Leistungen im Jahre 1963 mit demChemie-Nobelpreis ausgezeichnet.

Polyethylen kommt heute als umweltfreundlicher und wieder-verwertbarer Werkstoff in nahezu allen Bereichen des täglichenLebens – quasi von der Frischhaltefolie bis zur Mülltonne – zumEinsatz. Seinen ersten Massenmarkt eroberte das Niederdruck-Polyethylen in den fünfziger Jahren im Spielwarenbereich, inGestalt des von der Wham-O-Toy Company herausgebrachtenHula-Hoop-Reifens.

1937–1941 PolyurethanAls der deutsche Chemiker Otto Bayer in den dreißiger Jahren

nach neuen Makromolekülen Ausschau hielt und anfing, mitIsocyanaten zu experimentieren, hielten nicht wenige seiner Fach-kollegen dies für ziemlich abwegig. Den Skeptikern konnte Bayerim Jahre 1937 eine Patentschrift unter die Nase halten, in der voneinem »neuartigen und wertvollen hochmolekularen Produkt« dieRede war. Als »Backzutaten« hatte Bayer Isocyanate und Polyolezusammengebracht. Weil die Reichsstellen und die Wehrmacht imanschließend ausgebrochenen Zweiten Weltkrieg vorrangig nachneuen und besseren Kautschuk-Sorten suchten, wurden die Eigen-schaften elastischer Polyurethan-Gießmassen untersucht. Einerdieser Versuche schlug fehl, dennoch öffnete das Ergebnis denBeteiligten die Augen für den Weg, den es einzuschlagen galt. Sowaren einige der Gussmassen derart mit Blasen durchsetzt, dass

Kunststoffe als Werkstoffe 21

Page 22: Ein Ausflug in die Geschichte - Wiley-VCH · 1 Ein Ausflug in die Geschichte Die erste Kunststoffrevolution: Neue Materialien lieferten Zündfunken für Innovationen Wie die Vergesslichkeit

die Prüfstelle sich zu einer ironischen Bemerkung hinreißen ließ:»Allenfalls brauchbar zur Herstellung von Emmentaler-Käse-Imita-tionen.« Otto Bayer zögerte nicht lange, um dem »Pseudo-Käse«auf die Schliche zu kommen. Indem er in nachfolgenden Ver-suchen die Kohlendioxidabspaltung, die zur Blasenbildung geführthatte, durch Zugabe von Wasser zum Reaktionsgemisch absichtlichherbeiführte, fand er den Polyurethan-Schaumstoff. Als in denKriegsjahren 1943/44 die ersten Gegenstände aus Polyurethan –Propellerblätter, Landeklappen und Schneekufen für Flugzeuge –zum Einsatz gelangten, war dies »geheime Kommandosache«. Inden Nachkriegsjahren setzte dann der unaufhaltsame Siegeszugdes Polyurethans ein, das aus unserem heutigen Leben beimbesten Willen nicht mehr wegzudenken ist.

1951 StyroporMit einer gezielten »Schaumschlägerei« gelang dem Chemiker

Fritz Stastny der erste große Wurf der Nachkriegsära. Seit 1949arbeitete der Ludwigshafener an einem Verfahren zur Verschäu-mung des Polystyrols. Zwei Jahre später, als er das richtige Treib-mittel und die beste Mischung gefunden hatte, waren seine Arbei-ten von Erfolg gekrönt. Das einfache Herstellungsverfahren unddie vielseitige Anwendung machten den neuen Schaumstoff schonbald zu einem der erfolgreichsten Kunststoffe. Zu 98 % aus Luftbestehend wird Styropor (Styrol + porös) heute vor allem in derVerpackungstechnik, Isolationstechnik, im Schwimmkörperbau,im Metallbau und im Metallguss eingesetzt. Die wohl spektaku-lärste Anwendung fand 1964 statt, als der im Hafen von Kuwaitgesunkene Frachter »Al Kuwait« mit Hilfe von 2500 KubikmeternStyropor, das man in die Laderäume gepumpt hatte, erfolgreichgehoben wurde. Eine Patentierung des Verfahrens scheiterte indes-sen, da Walt Disney diese Idee bereits 1949 hatte: In einer Comic-Geschichte kommt Donald Duck auf die Idee, ein gesunkenesSchiff mit Ping-Pong-Bällen zu heben.

Ein Ausf lug in die Geschichte22

Page 23: Ein Ausflug in die Geschichte - Wiley-VCH · 1 Ein Ausflug in die Geschichte Die erste Kunststoffrevolution: Neue Materialien lieferten Zündfunken für Innovationen Wie die Vergesslichkeit

Generationswechsel: Die neuen Polymere

Bereits aus der Historie wird deutlich: Ohne geeignete Werk-stoffe wären nicht nur die meisten Errungenschaften der Technikauf der Strecke geblieben. Vielmehr müssten wir auch im täglichenLeben auf nahezu sämtliche lieb gewordenen Gewohnheiten – vonder Mobilität bis zur Schönheitspflege und vom Informations-bedarf bis hin zum Freizeitvergnügen – wohl oder übel verzichten.Denn polymere Werkstoffe sind nicht nur in Autokarosserien ver-treten, vielmehr wirken sie in vielfältigster Weise auch hinter denKulissen und haben in allen erdenklichen Bereichen vielen Ent-wicklungen erst zum technischen und wirtschaftlichen Durch-bruch verholfen. »Die Erforschung neuer Werkstoffe gehört zu deninnovativsten und wichtigsten Schlüsseltechnologien des 21. Jahr-hunderts überhaupt«, heißt es in einer aktuellen Studie des US-Handelsministeriums. Welche Überraschungen polymere Werk-stoffe noch bereithalten und wohin die Reise geht, zeigen diefolgenden Beispiele.

Generationswechsel: Die neuen Polymere 23

Page 24: Ein Ausflug in die Geschichte - Wiley-VCH · 1 Ein Ausflug in die Geschichte Die erste Kunststoffrevolution: Neue Materialien lieferten Zündfunken für Innovationen Wie die Vergesslichkeit