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Ein Dilemma des Protagoras Von Andreas Graeser (Bern) Protagoras, der viel zitierte Ahnherr von Skeptizismus, Rela- tivismus, Agnostizismus, Sensualismus und Subjektivismus, soll folgende Thesen vertreten haben: A Der Mensch ist das Mass aller Dinge, dessen was ist, dass/wie es ist, dessen was nicht ist, dass/ wie es nicht ist 1 . B Über jede Sache gibt es zwei ein- ander entgegengesetzte Aussagen 2 . C Widerspruch ist unmöglich 3 . Diese Thesen scheinen unverträglich zu sein. Zumindest B und C scheinen einander auszuschließen. Aber auch A und C können sich bei einer bestimmten Interpretation von A als unverträglich erweisen; das gleiche gilt für A und B für eine bestimmte Inter- pretation von A. Die nachfolgenden Erörterungen bemühen sich um eine Son- dierung der Position des Protagoras. Entsprechend sollen in einem ersten Teil (I) die drei Thesen diskutiert werden. In einem zweiten Teil (II) ist sodann die Frage nach der Kompatibilität auf zu werfen. (i) A. Eines der fundamentalen interpretatorischen Probleme 4 des Homo-Mensura-Satzes ist bekanntlich durch die Frage nach der Bedeutung des „a>s" angezeigt, das sowohl (a) durch „daß" als auch (b) durch „wie" wiedergegeben werden kann. Daneben gibt es aber auch die Annahme (c) t daß Protagoras „bei seiner Aussage 1 Fr. Bl; H. Diels—W. Kranz, Die Fragmente der Vorsokratiker. Griechisch und Deutsch 7 (Zürich 1954), Bd. II. S. 263. 2 Fr. B 6a; Diels—Kranz, a. a. O., S. 266. 3 Fr. A 19; Diels—Kranz, a. a. O., S. 259. 4 Einen repräsentativen Überblick über die einzelnen Probleme der Deutung vermittelt W. K. C. Guthrie, A History of Greek Philosophy Bd. 111 (Cambridge 1969), S. 183—191; siehe auch F. Jürss, Zum Erkennini sproblcm bei den frühfinr- c.hischen Denkern (Berlin 1976), S. 88-100. Brought to you by | University Library Technische Univ Authenticated | 129.187.254.46 Download Date | 10/4/13 4:21 PM

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Ein Dilemma des ProtagorasVon Andreas Graeser (Bern)

Protagoras, der viel zitierte Ahnherr von Skeptizismus, Rela-tivismus, Agnostizismus, Sensualismus und Subjektivismus, sollfolgende Thesen vertreten haben:

A Der Mensch ist das Mass allerDinge, dessen was ist, dass/wiees ist, dessen was nicht ist, dass/wie es nicht ist1.

B Über jede Sache gibt es zwei ein-ander entgegengesetzte Aussagen2.

C Widerspruch ist unmöglich3.Diese Thesen scheinen unverträglich zu sein. Zumindest B und C

scheinen einander auszuschließen. Aber auch A und C könnensich bei einer bestimmten Interpretation von A als unverträglicherweisen; das gleiche gilt für A und B für eine bestimmte Inter-pretation von A.

Die nachfolgenden Erörterungen bemühen sich um eine Son-dierung der Position des Protagoras. Entsprechend sollen in einemersten Teil (I) die drei Thesen diskutiert werden. In einem zweitenTeil (II) ist sodann die Frage nach der Kompatibilität auf zu werfen.

(i)A. Eines der fundamentalen interpretatorischen Probleme4

des Homo-Mensura-Satzes ist bekanntlich durch die Frage nachder Bedeutung des „a>s" angezeigt, das sowohl (a) durch „daß"als auch (b) durch „wie" wiedergegeben werden kann. Daneben gibtes aber auch die Annahme (c)t daß Protagoras „bei seiner Aussage1 Fr. Bl; H. Diels—W. Kranz, Die Fragmente der Vorsokratiker. Griechisch und

Deutsch7 (Zürich 1954), Bd. II. S. 263.2 Fr. B 6a; Diels—Kranz, a. a. O., S. 266.3 Fr. A 19; Diels—Kranz, a. a. O., S. 259.4 Einen repräsentativen Überblick über die einzelnen Probleme der Deutung

vermittelt W. K. C. Guthrie, A History of Greek Philosophy Bd. 111 (Cambridge1969), S. 183—191; siehe auch F. Jürss, Zum Erkennini sproblcm bei den frühfinr-c.hischen Denkern (Berlin 1976), S. 88-100.

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25«S nrlrcas Graeser

diese beiden Bedeutungen nicht ausdrücklich unterschieden undkeine derselben von ihr ausgeschlossen habe"5 — eine Auffassung,die nun auf dein Hintergrund von C. H. Kahns Überlegungen0 zumsog. 'verituüven* Gebrauch des absolut konstruierten und quasials einstelliges Prädikat verwendeten „ist" in der Bedeutung „istder Fall", „ist wirklich", ,,ist so-und-so" vermutlich neue und prä-zisere (irunde für sich in Anspruch nehmen kann.

(a) Die herkömmliche Deutung des „ $" als Konjunktion ,,daß" ist der Sachena* h gehalten, mit Existenzaussagen zu rechnen. Dem wurde plausibel entgegen-gehalten, daß Protagoras kein besonderes Interesse daran gehabt haben dürfte,den Menschen zum Maß der Beurteilung von Existenzfragen zu machen. Es wurdesogar behauptet, daß eine derartige Position unsinnig sei. Nun, sie ist es nicht;zumindest dann nicht, wenn Protagoras von einer 'esse est percipi-Theorie* aus-gegangen wäre.

(b) Die alternative Deutung des „ $" als Adverb „wie" setzt voraus, daß derAusdruck ,,Dinge, die nicht sind" in keinem Fall,,nicht-existierende Dinge" heißt.D. h.: Die Deutung ,,wie" mit einer entsprechenden Interpretation des absolutkonstruierten „ist" im Sinne von ,,so-und-so sein" (,,wie sie sind") läßt sich ver-mutlich nur dann nicht um den Preis einer Inkonsistenz erkaufen, wenn man unterden ,,Dingen, die sind" ihrerseits nicht einfach „existierende Dinge" begreift.Anderenfalls hätte man mit einem Bedeutungswechsel von ,, " zu rechnen.Jedenfalls läßt sich von simpliciter nicht seienden Dingen nicht sinnvoll sagen, wiesie nicht sind.

Beide Auffassungen bergen bestimmte Schwierigkeiten. Zudem scheinen sie beidebestimmte Voraussetzungen begrifflicher Art als gegeben anzunehmen, — so etwadie Voraussetzung, daß für Protagoras bereits eine mehr oder weniger präzise Unter-scheidung zwischen dem „ist" als Zeichen der Prädikation einerseits und dem „ist"als Verb der Existenz andererseits anzunehmen ist. Gegen diese Annahme ist imPrinzip nichts einzuwenden; nur weiß man, daß selbst Platon und Aristoteles,die diese Unterscheidung kannten, sie nicht durchwegs als philosophische Optionwahrnahmen geschweige denn systematisch ausnutzten7.

6 E. Zeller, Philosophie der Griechen Bd. I 2 (Leipzig 1920), S. 1135 Amn. 1.6 C. H. Kahn, "The Greek verb 'to be' and the Concept of Being", Foundations of

Language 2 (1966), S. 245—265, bes. S. 250; siehe auch sein Buch The Verb 'be'in Ancient Greek (Dordrecht—Boston 1973), S. 331—370.

7 In diesem Zusammenhang ist auf folgende Arbeiten hinzuweisen: G. E. L. Owen,"Aristotle on the Snares of Ontology", in New Essays on Plato and Aristotle,hrsgb. von R. Bambrough (London 1965), S. 69—96; S. Mansion, Le jugement d'existence chez Aristote (Louvain 1946, 2. Aufl. 1976 mit zahlreichen Nachträgen);M. Frede, Existenz und Prädikation (Göttingen 1967); daran anknüpfend G. E. L.Owen, "Plato on Not-Being", in Plato /. Metaphysics and Epistemology, hrsgb.von G. Vlastos (New York 1971), S. 223—267; D. Wiggins, "Sentence Meaning,Negation, and Plato's Problem of Not-Being", in Plato I S. 268—304. — Einentsprechender Überblick über diese Positionen findet sich in meinem Buch

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Ein Dilemma des Protagoras 259

(c) Die Annahme, wonach Protagoras mit dem „ώ$" sowohl „da " als auch„wie" meinte, scheint diese Voraussetzung zu vermeiden. Damit vermeidet sie esauch, f r den Ausdruck ,,Dinge, die sind" bzw. f r den Ausdruck „Dinge, die nichtsind" (i. e. τα οντά bzw. τα οΟκ οντά) eine jener relativ eng fixierten Bedeutun-gen zu postulieren, welche f r Interpretationen vom Typus (a) in hnlicher Weisezum Problem werden wie f r solche vom Typus ( )8. Der vielleicht entscheidendeSchritt f r die weitere Diskussion wurde in Gestalt der These gebahnt, da es sichbei den οντά keinesfalls um individuenartige Dinge handeln m sse sondern daes dem normalen griechischen Sprachgebrauch entsprechend ebenso gut um Sach-verhalie gehen k nne9. Diese berlegung ergibt sich problemlos aus der Beobachtung,da ein quasi als einstelliges Pr dikat verwendetes, absolut konstruiertes „ist"anders als in unserer Sprache nicht nur „existiert" sondern auch „ist der Fall",„ist wirklich" etc. bedeuten kann. Mit der Anerkennung des veritativen Sinnes vonείναι wird es brigens m glich, solch paradox oder zumindest fremdartig anmuten-den Redewendungen wie ακρίβεια των όντων („Exaktheit des Seienden") f runsere Begriffe sinnvoll als „exakter Sachverhalt" zu deuten. Entsprechend ist„Seiendes sagen" im idiomatischen Griechisch synonym mit „die Wahrheit sagen"und bedeutet soviel wie „sagen, was der Fall ist". Diese offenbar auch von Aristote-les registrierte veritative Bedeutung des „ist", die soeben von E. Tugendhat an-satzweise thematisiert wurde10, f hrt uns ganz in die N he jener Redeweise, diedurch L. Wittgensteins Tractatus Ber hmtheit erlangte, — die Rede vom Bestehen

Platons Ideenlehre. Sprache Logik Metaphysik. Eine Einf hrung (Bern—Stutt-gart 1975). — Die Frage nach der Unterscheidung zwischen dem „ist" der Pr di-kation und dem ,,ist" als Verb der Existenz wurde von U. K lscher neu ins Augegefasst: Der Sinn von Sein in der lteren griechischen Philosophie (Heidelberg1976). Anders als K lscher, der meint, der urspr ngliche Sinn von είναι in dergriechischen Philosophie sei das einfache Sein der Pr dikation als Zeichen desWirklich-Dies-Seins argumentiert jetzt C. H. Kahn, "Why Existence does notEmerge s a Distinct Concept in Greek Philosophy", Archiv f r Geschichte derPhilosophie 4 (Sonderheft H. Wagner zum 60. Geburtstag gewidmet) (1976), S.323—334, da der Begriff des veritativen Seins die griechische Seins-Frage vonvornherein als Frage nach der Realit t unter dem Gesichtspunkt der Wahrheitbestimmt.

8 Zeller, a. a. O., S. 1355 Anm. l macht seine eigenen Voraussetzungen nichtwirklich klar. Aber aus seiner Argumentation („wenn einem Subjekt ein Pr di-kat abgesprochen wird, so wird von ihm nicht ausgesagt, da es nicht sei, sondernwie beschaffen es nicht ist, was f r ein Sein ihm nicht zukommt") geht hervor,da er f r Protagoras also auch S tze wie ,a ist nicht blau' als Exemplifikationenvon των 5έ οΟκ όντων ώ$ οΟκ Ιστι in Betracht zieht.

9 Entsprechend versteht C. H. Kahn, Foundations of Language 2 (1966), S. 2Γ>0"man is the measure of what is the case. . . that it is the case". Vgl. auch DGlidden, "Protagorean Relativism and Physis", Phronesis 20 (1976), S. 209Anm. 1; ders.: "Protagorean Relativism and the Cyrenaics", American Ph»/<»<>-phical Quarterly Monograph Scries Vol. 9 (1976), S. 114 Anm. 6.

10 E. Tugendhat, Vorlesungen zur Einf hrung in die sprachanalytische Philosophie(Frankfurt a. M. 1976), S. 60 u. .

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260 drcas Oracsc r

<«l<-r Nicht-licstfhfH von Sarhvcrhaltcn. Tatsächlich kann ein absolut konstruiertes,,ist" im Griechischen olnic weiteres das 13cstchcn von Sachvcrhalten signalisieren.

Gewiß, oino derartige Aus<leutung. wonach JVotagoras also nicht vom Existierenoder Nirht-Kxistieren individucnartiger Dingo gesprochen hätte, sondern vomJlcstohcn tuU»r Nicht-Bestehen von Sachverhalten, scheint außerordentlich interes-sant. Nur darf nicht übersehen werden, daß diese Ausdeutung ihrerseits Gefahr läuft,eine Unterscheidung zu thematisieren, von der sich kaum sagen läßt, daß sie in dergriechischen Philosophie systematisch verankert war. Dazu nur folgendes: Andersals eine Ontologie der Dinge rechnet eine Ontologie der Tatsachen nicht mit ge-wissermaßen greifbaren Stücken der Wirklichkeit. Denn anders als bei den indivi-duenartigen Dingen, auf die man sich vermittels von Eigennamen oder logischäquivalenten Kennzeichnungen bezieht, werden im Fall von Sach verhalten undTatsachen jeweils Dinge mit ihren Eigenschaften und Relationen ins Auge gefaßt.Sachverhalte sind im gewissen Sinn Konstruktionen des denkenden Subjektes.Aber ein präziser Begriff etwa von Eigenschaften und Relationen als solchen istfür die antike Philosophie nicht unbedingt selbstverständlich11. Die Problematikdes 'falschen Satzes* zeigt sogar sehr deutlich, daß Sachverhalte weithin als benenn-bare Stücke der Wirklichkeit angesehen wurden; denn die These etwa von derUnsinnigkeit negierter Sätze geht ja in der Tat von der Annahme aus, daß auch Sätzeals Namen fungieren und daß auch daß-Satzen gewissermaßen greifbare Komplexein der Welt entsprechen. Mit anderen Worten: Innerhalb einer weitverbreiteten,von der Eleatik ausgehenden sophistischen Theorie, die auch der Diskussion beiPlaton im „Kratylos" und „Euthydemos" zugrunde liegt, bedeutet das Bestehenvon Sach verhalten soviel wie das Existieren von Dingen. Das sog. veritative „ist"ändert an dieser Situation so lange nichts Entscheidendes, als auch Sätze alsNamen ( ) betrachtet werden, und die Logik der propositionalen Kon-struktion eine begriffliche Angleichung an die Logik der Konstruktion der ent-sprechenden Verben mit einem direkten Objekt erfährt12.

Wenn also antike Philosophen noch nicht über unseren Begriff der Tatsache ver-fügten und wenn Ausdrücke wie - und gleichermaßen fürSache, Ding bzw. Sachverhalt und Tatsache eintreten konnten, so ist dies im Grundegar nicht verwunderlich. Denn über die Komplexität des mit diesem AusdruckGemeinten ist man sich eigentlich erst seit vergleichsweise kurzer Zeit im klaren.Dem Begriff 'Tatsache* eignet nämlich, wie G. Patzig darlegte, eine innere Doppelt-heit13. Sofern wir nämlich sagen, daß Tatsachen genau das sind, was wahre Sätze

11 Siehe besonders A. P. D. Mourelatos, "Heraclitus, Parmenides, and the NaiveMetaphysics of Things", in Exegis and Argument. Studies in Greek Philosophypresented to Gregory Vlastos hrsgb. von E. N. Lee, A. P. D. Mourelatos, R. Rorty(Assen 1973), S. 16—48.

12 Besonders wichtig sind hier die Arbeiten von J. Hintikka. Vgl. etwa seinen Auf-satz "Knowledge and its Objects in Plato", Patterns of Thought in Plato hrsgb.von J. Moravcsik (Dordrecht 1974), S. l—30.

13 G. Patzig, ,,Satz und Tatsache", in G. Patzig, Sprache und Logik (Göttingen1970), S. 39ff.; ursprünglich erschien dieser Beitrag in Argumentationen. Fest-schrift für J. König (Göttingen 1964), S. 170ff.

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Ein Dilemma des Protagoras 261

ausdrücken, und daß Tatsachen genau durch den Satz definiert werden, dersie zum Ausdruck bringt, scheint es sich dabei um etwas Sprachimmanentes zuhandeln. Sofern wir aber nicht ohne guten Grund unter Tatsachen eben das ver-stehen, was unserem Denken und Sprechen unabhängig gegenübersteht, scheint eswidersinnig, Tatsachen ein rein sprachimmanentes Dasein führen zu lassen. Womitsollte man wahre Sätze sonst konfrontieren ?

Daß man sich in der vor-stoischen Philosophie über diese Komplexität nochnicht hinreichend im klaren war, ist, so gesehen, durchaus verständlich. Offenbarbestand die Tendenz, Tatsachen und Sachverhalte generell qua sozusageneinseitig in der Außenwelt anzusiedeln, sie als etwas 'in der Welt* zu betrachten,um P. F. Strawsons Ausdruck14 zu gebrauchen. Jedenfalls bestand die Tendenz,sie als objektive Wirklichkeitsstücke zu sehen, die sich im Prinzip ebenso greifenlassen wie individuenartige Gegenstände, auf die man sich vermittels des als gram-matikalisches Subjekt fungierenden Ausdrucks bezieht. Tatsachen und Sach-verhalte wurden dem begrifflichen Status von Einzeldingen angeglichen. — Wasbesagt dies nun für unser Problem ? Nun es besagt im Grunde nicht mehr und nichtweniger, als daß die philosophisch attraktive dritte Option (c) zugunsten desfaktischen bzw. veritativen „ist" nicht eo ipso als Weg in die Welt der zeitgenössi-schen Semantik in Anspruch genommen werden kann. Vielleicht hätte Protagorasfür unsere Option votiert, vielleicht aber auch nicht (s. u.). Zumindest eine Reiheseiner Zeitgenossen scheinen — auf dem Hintergrund unausgesprochener denotati-stischer oder sogar über-denotatistischer Annahmen — das veritative ,,ist" durchausdingsprachlich verstanden zu haben.

Der Homo-Mensura-Satz, der wie allgemein und wohl auch zuRecht angenommen vom Wahrnehmungsurteil16 als Paradigma aus-geht, zwischen propositionalem und nicht-propositionalem Wahr-nehmen16 aber vermutlich keinen Unterschied annahm und sämt-liche anderen Behauptungen an diesem Paradigma bemißt, erlaubtim wesentlichen zwei Interpretationen, eine subjektivistische undeine relativistische.

Die subjektivistische Interpretation, die sich bereits bei SextusEmpiricus findet, besagt, daß jede Erscheinung wahr ist. Die rela-tivistische Interpretation, die sich bereits bei Platon findet, besagt,daß jede Erscheinung jeweils für das betreffende Subjekt wahr ist.Während also die subjektivistische These, wonach r^> p und pgleichermaßen wahr sind, einen Verstoß gegen den Satz des verbo-tenen Widerspruch bedeutet, kann die relativistische These diesen

14 P. F. Strawson, Logico-Linguislic Papers (London 1971), S. 195.16 Vgl. etwa W. Kullmann, „Zur Nachwirkung des Homo-Mcnsura-Satzcs bei Do-

mokrit und Epikur", Archiv für Geschichte der Philosophie 61 (1909), S. 128.J6 Vgl. etwa D. Crawford, "Propositional and Nonpropositional Porcciving".

Philosophy and Phenemcnological Research 36 (1972). S. 201 — 210.

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2i*2 A n d r e a s Graoscr

Yorwuri in der Tat dadurch vermeiden, daß sie geltend macht,p und f^ p seien jeweils für verschiedene Personen a und b wahr.

Nun gibt es gegen beide Versionen ernsthafte Bedenken. Zu-mindest die siibjcktivistische These scheitert, noch bevor sie eigent-lirh ins Spiel kommt. Denn wenn (P) jede Erscheinung wahr ist,und ((>) es scheint, daß nicht jede Erscheinung wahr ist, dannfol^t ( /v): nicht jede Erscheinung ist wahr. Da R und r^P äquiva-lent sind, hebt sicli die subjektivistische These selbst auf. (Dieswurde bereits von Sextus Empiricus geltend gemacht.)17

Anders steht es mit der relativistischen Version, die namentlichvon Platoii expliziert wird18. Relativistisch verstanden scheitertdie Behauptung des Protagoras daran, daß sie auf die Anerkennungeines selbst widerlegenden Elementes verpflichtet wird: Protagorasist gehalten, mindestens eine Prämisse anzubieten, deren Wahrheitnicht relativ ist sondern allgemein anerkannt wird. Denn wennman den Homo-Mensura-Satz relativistisch formuliert, so hätteman zunächst nur mit folgender Argumentation zu rechnen: (M)Jedes Urteil ist wahr für die Person, die so urteilt; (N) Es wirdgeurteilt, daß M falsch ist, (O) M ist falsch für die Person, die sourteilt. — Diese Argumentation würde lediglich zeigen, daß Mfür die Opponenten des Protagoras falsch ist. Sie zeigt indessennicht, daß M für Protagoras selbst falsch ist. Und seine These, daßjedes Urteil für den wahr ist, der so urteilt, verpflichtet Protagorasnatürlich nicht zu dem Eingeständnis, daß aus der Wahrheit derThese seiner Opponenten die Falschheit seiner eigenen Auffassungfolgt. Andererseits ist Protagoras damit eben auch nicht geholfen.Denn um seine These ihrem Anspruch entsprechend sinnvoll alsallgemeine Wahrheit anbieten zu können, muß er de facto anheim-stellen, daß etwas überhaupt wahr ist, — nicht nur für a sondernauch für b etc. Er muß also z. B. die Auffassung zugrunde legen,daß M uneingeschränkt wahr ist. Und genau dies ist ja die Thesedes Homo-Mensura-Satzes, der selbst als Plädoyer für den Rela-tivismus in Gestalt einer absoluten Wahrheit auftreten muß19.17 Siehe M. Burnyeat, "Protagoras and Self-Refutation in Later Greek Philosophy",

Philosophical Review 85 (1976), S. 44—69, zu Sextus Empiricus, Adv. Log. l, 389.18 \"gl. M. Burnyeat, "Protagoras and Self-Refutation in Plato's Theaetetus"', Philo-

sophical Review 85 (1976), S. 172—195, zu Platon, Theaet. 151 e. Die traditionellkontroverse Frage, inwieweit Platon die Position des Protagoras durchwegspräzis darstellt, wird neuerdings von E. N. Lee interessant diskutiert: "Hoistwith his Own Petard: Ironie and Comic Elements in Plato's Critique of Protago-ras (Tht. 161—171)", in Exegis and Argument (oben, Anm. 11), S. 226—261.

19 Vgl. M. Burnyeat, Philosophical Review 85 (1976), S. 173.

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Ein Dilemma des Protagoras 263

B. Im Selbstverständnis antiker wie moderner Autoren gilt dieThese cÜber jede Sache gibt es zwei einander entgegengesetzteAussagen/Meinungen* vielfach als programmatischer Ausdruckder als charakteristisch sophistisch empfundenen Position, wonachsich jede Angelegenheit kontrovers diskutieren lasse. Sie scheintsich also als die antike Version des in unserer Sprache sattsam be-kannten und nahezu sprichwörtlichen 'Jede Sache hat zwei Seiten*anzubieten. — Indes bleibt vorderhand unklar, wie „ "hier genau zu verstehen ist. Geht es Aussagen, so kommt natürlichdie Frage nach der Wahrheit ins Spiel. Geht es aber um Gründe, sobleibt die Frage nach der Wahrheit außerhalb des Horizontes. AnStelle von Wahrheit würde es um Validität gehen. Ob Protagoraseinen solchen Unterschied überhaupt ins Auge fassen konnte,bleibt fraglich.

Wissenswert wäre also, ob Protagoras faktisch behaupten wollte(a), daß p und ~p gleichermaßen wahr seien, oder (b), daß sichsowohl für p als auch für ~ p gute Gründe geltend machen lassen.Beide Interpretationen haben für die These B selbst verheerendeFolgen. Während nämlich die Interpretation (a) die These B so-wohl falsch wie auch wahr macht, involviert (b) zumindest das Zu-geständnis, daß sich gegen B selbst gute Gründe geltend machenlassen. (In der Tat soll Protagoras nach dem Zeugnis Senecas bereitgewesen sein, B kontrovers zu diskutieren.)

Die Version (a) kann für moderne Begriffe ebenso wenig erstgenommen werden wie die subjektivistische Lesung der These A.Die Version (b) wäre für moderne Begriffe dann akzeptabel, wennProtagoras den Geltungsbereich von B auf solche Fragen wie'Soll Schwangerschaftsabbruch in Zukunft straffrei sein ?', 'Istdie allgemeine Einführung einer 4-Tage-Woche wünschenswert?*etc. beschränkt wissen wollte. Indes setzt eine derartige Präzi-sierung der Version (b) unsererseits die Annahme voraus, daß Pro-tagoras seinerseits wußte, warum in den unter (b) beschriebenenFällen die Frage der Wahrheit gar nicht erst zur Diskussion gelangt.Er, der — wie Aristoteles, Theophrast und die Stoiker nach ihm —zwar zwischen verschiedenen Sprachfunktionen unterschieden hatte,müßte dann aber auch gewußt haben, daß Ausdrücke der Spracheder Moral über keinen eindeutig deskriptiven Sinn verfügen, unddaß bestimmte indikativische Sätze ihrer äußeren Form zum Trotznicht als Kandidaten für die semantischen Prädikate „wahr" und„falsch" in Betracht kommen. Dies ist jedoch unwahrscheinlich.Immerhin haben auch die Stoiker, die die Ausdrücke „wahr" und18 Arch. Cicech. Philosophie TM. 60

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2( )' cl r t· a s G r a e s c r

,,falsch" als scmanüsche Prädikate interpretierten und zumindestImperative von Aussage-Sätzen unterschieden, präskriptive Sätze/u Kl.-issc der wahrheits fällige n Sätze gezählt, — dies offenbar auf( i rund eines ethischen Naturalismus, dem bisweilen auch ein meta-physischer Moralismus zur Seite tritt. Und auch Aristoteles' kur-sorische Behandlung der sog. "praktischen Wahrheit* in N E VI 2ist nicht dazu angetan, die oben angezeigte interpretatorische Prä-/isicrung von (b) als philosophische Option des Protagoras wahr-scheinlich zu machen. — Ähnlich wie die These A vermutlichvon einem bestimmten Paradigma ausgeht und andere Fälle andiesem Paradigma orientiert, wird vermutlich auch B von einembestimmten Paradigma-Fall (z. B. *x ist gut', *x ist nicht gut')ausgegangen sein, ohne daß sich mit irgendwelcher Sicherheitsagen ließe, welche Fälle womöglich ausgeklammert wurden. So-fern Protagoras jedenfalls noch vor der Unterscheidung zwischender Wahrheit von Sätzen einerseits und der Gültigkeit von Argu-menten andererseits dachte, könnte auch die Unterscheidung zwi-schen (a) und (b) gegenstandslos werden.

C. Die These 'Widerspruch ist unmöglich' wird in der Antikehäufig erwähnt und gilt auf Grund der einschlägigen Angaben desAristoteles in der Metaphysik und Topik gemeinhin als Eigentumdes Antisthenes20. Der Sache nach erwächst diese These natürlichaus der parmenideischen Behauptung, der Gegenstand des Spre-chens und Denkens müsse seiend sein21. Und wenn man schon nichtsagen kann 'x ist nicht A* 9 so kann man der These c# ist A' auchnicht widersprechen22.

Im platonischen ,,Euthydemos" wird diese These dem Prota-goras und ,,noch älteren (seil. Denkern)"23 zugeschrieben. Und dieBegründung, die Platon für diese These erstellt bzw. geben läßt,lautet folgendermaßen:

(1) Wenn a und b den Xoyos einer und derselben Sache nennen,widersprechen sie einander nicht (286 a 5—6)

20 Siehe besonders H. Keulen, Untersuchungen zu Platons ,Euthydem' (Wiesbaden1971), S. 82—83.

21 Vgl. etwa Parmenides B 2, 7—9; B 3; B 6; B 8, 7—9. 34—36. Dazu siehe A. Grae-ser, ,,Parmenides über Sprechen und Denken", Museum Helveiicum 34 (1977).

22 Gute Beobachtungen zu diesem. Komplex trifft G. Nuchelmans, Theories of theProposition (Amsterdam—London 1973), S. 9.

23 Vermutlich Parmenides, vgl. etwa R. M. Dancy, Sense and Contradiction. AStudy in Aristotle (Dordrecht—Boston 1975), S. 72 und Anm. 9.

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Ein Dilemma des Protagoras 265

(2) Wenn a und b jeweils den Aoyos von χ bzw. z nennen, redensie nicht von y sondern reden aneinander vorbei und wider-sprechen sich f glich auch nicht (286 a 7—b 2)

(3) Wenn a den Aoyos von x, b den anderen einer anderen Sachey nennt, kann b als jemand der nicht von χ spricht, a alsoauch nicht widersprechen. Er spricht also nicht zur Sache(286 b 3—6).

Der Umstand, da in (3) wie selbstverst ndlich ein bergang'anderer Logos -> andere Sache* vorgenommen wird, erkl rt auch,warum hier (was von K. R. Sprague bem ngelt wurde24) nicht auchder Fall zur Debatte gestellt wird, (4) da b einen anderen λόγοςderselben Sache nennt. Tats chlich wird hier n mlich — diesseitsnoch der Ber cksichtigung elementarer syntaktischer Kategorien —zwischen dem Satz-Inhalt, der sog. Proposition, oder dem, was G.Frege ,,Gedanke" nannte, einerseits und dem Gegenstand anderer-seits, auf den man sich vermittels des syntaktisch an Subjektstellestehenden referentiellen Ausdruckes bezieht, nicht unterschieden.Dies geht explizit aus 283 e 9 hervor: Die vermittels eines Satzes(Aoyos) behauptete Sache (πράγμα) ist das, wor ber (ττερι oO)der Satz ist. — Dieser Punkt scheint bisher nicht hinreichend be-r cksichtigt worden zu sein. Jedenfalls trifft der von P. F. Strawsongegen J. Austin erhobene Vorwurf der Konfusion des Unterschiedeszwischen dem Sachverhalt, der zum Ausdruck gebracht wird, unddem Ding als au enweltlichem Gegenstand der Aussage diese Argu-mentation um so schwerer, als hier n mlich jedem Satz als sinn-vollem Satz ipso facto ein benennbares, gewisserma en greifbaresWirklichkeitsst ck als Bedeutung gegen bersteht (vgl. 284 a l —4)und jedem dieser distinkten Komplexe 'in der Welt* so etwas wieein identifizierender Satz als Eigenname entspricht. Dies ist285 a 9 zu entnehmen25. Damit wird die Welt allerdings zu einemletztlich un berschaubaren Arsenal von benennbaren Wirklichkeits-st cken: Wir begegnen einem klugen Sokrates, einem t richten24 Plato. Euthydemus. Translated with an Introduction by Rosamund Kent Sprague

(Indianapolis 1965), S. 28 Anm. 44.25 Im Lichte dieser semantischen Annahmen scheint es wenig sinnvoll, darauf /u

insistieren, da hier wie anderswo mit ,,Sache" (-πράγμα) "statcs of affairs"."facts" etc. gemeint sein m sse. Tats chlich unterlegt etwa D. Gliddcn, Amcii-

'veridical reading' diesem Text eine Dimension, die offensichtlich unhistoiisrhist. — Siehe A. Graeser, "On Kanguage, Thought. and Ural i tv in Aiicirni (Irrr-UPhiJosophy", Diatectica 1077.

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266 Andreas Gracscr *

Sokrutes, einem sympathischen Sokratcs etc. und sprechen dem-nach immer nur von dem einen, nicht aber auch von dem anderenSokrates.

( )

Das Bild, welches sich nunmehr darbietet, scheint verwirrend.Bei einer entsprechenden Interpretation des Geltungsbereiches

von B besteht nicht nur die Gefahr des Selbsteinschlusses. Auchdie Thesen A und C wären auf der Basis dieser Interpretationvon B betroffen. Denn für den Fall, daß in B behauptet wird, pund ~ p seien gemeinsam wahr, wären A und C ebenso wahr wienicht-^L und nicht-C; und Aristoteles' etwas summarischer Hera-klitismus-Vorvvurf in Metaph. 5 käme in der Tat nicht von un-gefähr.

Sollte Piotagoras im Blick auf B indes gemeint haben, die Frageder Wahrheit stehe erst gar nicht zur Debatte, so hätte er — beieiner genügend weiten Interpretation des Geltungsbereiches dieserThese — A und C gar nicht erst behaupten dürfen.

Auf der Basis einer subjektivistischen Interpretation des Homo-Mensura-Satzes wären A und C inkompatibel. Sollte die Be-gründung, die Platon für C erstellte, in der Tat protagoreisch sein,so wäre die subjektivistische Interpretation von A allerdings aus-geschlossen. — Die relativistische Interpretation von A scheintmit C verträglich zu sein. Doch müßte der Anspruch der These Aselbst nicht-relativistisch formuliert sein; denn A müßte — wasauch intendiert zu sein scheint — die Behauptung einer absolutenWahrheit enthalten. Und damit wäre allerdings auch C betroffen.Denn C könnte nur für den Fall aufrecht erhalten werden, daßWahrheit als etwas Relatives verstanden wird. Wie aber könnteman sich auf dem Boden der für C erstellten Begründung überdiese These selbst einigen ?

Die Thesen B und C wären nur dann kompatibel, wenn Prota-goras behauptet hätte, es gebe keine Wahrheit und die Fragenach der Wahrheit kommte überhaupt nie zur Debatte. Aber ebendies ist durch die Formulierung von B und C selbst ausgeschlossen.Denn B wird ja ebenso als wahr beansprucht wie C. — Sollte sichProtagoras zudem jene Begründung für C zueigen gemacht haben,die Platon geben läßt, so hätte er allerdings B schon deshalb nichtbehaupten dürfen, weil die Argumentation für C eben diese Mög-lichkeit ausdrücklich ausschließt.

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Ein Dilemma des Protagoras 267

Doch auch die Möglichkeit, daß er sich die von Platon skizzierteArgumentation nicht zueigen machte, würde ihn nicht ohne weiteresentlasten. Denn dann hätte er wohl oder übel von der eleatisch-antistheneischen These ausgehen müssen, wonach falsche Sätzequa Negationen ipso facto sinnlos sind. Aber eben diese Argumen-tation ist Protagoras nicht zuzutrauen. Denn A besagt ja, daß manvon dem, was nicht ist, sagen könne, daß es nicht ist. — Das Bildbleibt verworren, so oder so. War Protagoras also doch nur ein'Sophist' ? Kaum. Denn aus der Tatsache, daß die Sätze A, B undC für sich genommen problematisch erscheinen und für unsere Be-griffe kaum kompatibel sind, folgt natürlich nicht, daß Protagorasdies auch so gesehen haben müßte.

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