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MOSKAU. Alexey Kuzmin hat sie, die gehörige Portion Optimismus, die man als Arzt in einer Moskauer Tuberkuloseklinik braucht. „Ich bin immun gegen die Tuber- kulose. Und damit das auch so bleibt, esse ich viel, vor allem viel Fleisch“, sagt der junge, etwas lethargisch wirkende Pulmo- loge, dessen Körper von der Effektivität seiner persönlichen Diät zeugt. „Damit un- sere Abwehrkräfte stark bleiben, haben wir hier außerdem nur Sechs-Stunden- Schichten und mehr Urlaub als die Kolle- gen auf anderen Stationen“, fügt er in ge- brochenem Englisch hinzu. Und so führt Kuzmin, nur durch seinen Arztkittel ge- schützt, durch die Klinik des Zentralen Tu- berkulose-Forschungsinstituts in Moskau (CTRI), gefolgt von seinen mit grünem Wegwerfkittel, Haarnetz, Schuhüberzie- hern und Atemschutzmaske vor einer möglichen Tröpfcheninfektion behüteten Besuchern. Viele seiner Patienten auf der Erwachse- nenstation im dritten Stock eines der allge- genwärtigen Plattenbauten kommen von weit her, um sich in der russischen Haupt- stadt behandeln zu lassen. So auch die drei Frauen aus Dagestan in Zimmer fünf, die seit Monaten die belastende Therapie mit täglich zwölf Tabletten verschiedener An- tibiotika über sich ergehen lassen. Die Mutter und ihre beiden Töchter haben sich ihr Zimmer mit Postern an der Wand ver- schönert. Zwischen Teekocher, Geschirr und Plastik-Wasserflaschen steht auf dem Tisch das unvermeidliche Set aus TV- Gerät und DVD-Spieler, das für Ablen- kung vom tristen Klinikalltag sorgt. Wie so oft, wenn Menschen in beengten Verhältnissen leben, hat die Tuberkulose (Tbc) im Familienkreis zugeschlagen: Als Erstes hatte sie die Mutter erwischt, die dann ihre Töchter ansteckte. Mit ihrem bleichen, eingefallenen Gesicht und den graublonden, von einem Kopftuch zusam- mengehaltenen Haarsträhnen wirkt die Frau allerdings mehr wie die Großmutter der beiden jungen, vergleichsweise gesunden Frauen. „Sie sieht aus wie 70, dabei ist sie erst Anfang vierzig“, sagt Kuzmin. „Die Krankheit war schon weit fortgeschritten, als sie zu uns kam.“ Zu lange hatte die Frau die Anzeichen ignoriert. Die frühen Sym- ptome einer Tuberkulose sind allerdings Eine GEISSEL kehrt zurück Tuberkulose: Die Krankheit schien schon besiegt, doch seit dem Ende der Sowjetunion ist die Schwindsucht wieder auf dem Vormarsch Das russische Gesundheitssystem ist marode, resistente Tbc-Erreger haben leichtes Spiel. / von Georg Rüschemeyer Aufnahme mykobakterien- haltiger Tröpfchen Alveolar-Makrophage nimmt Erreger auf; diese versuchen der Abtötung zu entgehen Immunsystem erfolgreich: Alle Mykobakterien werden zerstört, infizierte Makrophagen dabei zum Teil abgetötet Gleichgewicht zwischen Immunsystem und Erreger (90 Prozent aller Infektionen) Geschwächtes Immunsystem: Erreger vermehren sich in Makrophagen und breiten sich aus. Inkubationszeit: 4—12 Wochen Bakterien überleben in Makrophagen, können diese aber zunächst nicht töten Sofortiger Ausbruch: Makrophagen sterben massenhaft ab Eingrenzung der Infektion Granulombildung Zerstörung des Lungengewebes, Bakterien im Sputum (offene Tbc), Eindringen in Blutgefäße Ausbreitung im ganzen Körper über die Blutbahn: Tbc kann sämtliche Organe befallen (Miliartuberkulose) Postprimärtuberkulose Primärtuberkulose Konzertierte Aktion von Immunzellen sondert befallene Makrophagen ab, Bildung eines Granuloms, einer einem kleinen Lymphknoten ähnlichen Bindegewebskapsel, in der verschiedene Immunzellen die Erreger in Schach halten Das Granulom kann auch nach Jahren noch infektiöse Erreger enthalten Postprimäre Phase: ansteckende, off Latentes Stadium: dormante Erreger im Granulom, keine Symptome, nicht ansteckend Latenzperiode Ohne Behandlung: Organversagen, Sepsis, Tod Schwächung des Immunsystems (HIV, Alter, Unterernährung): endogene Reaktivierung der latenten Infektion, Aufbrechen des Granuloms dert oms, psel, alten Mykobakterien Erneute Ansteckung durch Tröpfchen- infektion (exogene Reinfektion) Makrophage Mykobakterium Phagosom (Verdauungs- bläschen) ene Tbc Ausgang ungewiss: Am Anfang einer Tbc-Erkrankung stehen infektiöse Tröpfchen aus der Lunge von Kranken. Wie oft ein solcher Erst- kontakt tatsächlich zu einer Erkrankung führt, ist unklar – vermutlich befördern die Flimmerhärchen der Bronchien die Erreger in den meisten Fällen wieder nach außen, oder das Immunsystem tötet sie frühzeitig ab. Andernfalls entspinnt sich ein oft jahrelanger Kampf zwischen den Zellen des Immunsystems und den ausgesprochen zähen Tbc-Bazillen. Sonderdruck aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 18. März 2007

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Page 1: Eine GEISSEL kehrt zurück · MOSKAU. Alexey Kuzmin hat sie, die gehörige Portion Optimismus, die man als Arzt in einer Moskauer Tuberkuloseklinik braucht. „Ich bin immun gegen

MOSKAU. Alexey Kuzmin hat sie, diegehörige Portion Optimismus, die man alsArzt in einer Moskauer Tuberkuloseklinikbraucht. „Ich bin immun gegen die Tuber-kulose. Und damit das auch so bleibt, esseich viel, vor allem viel Fleisch“, sagt derjunge, etwas lethargisch wirkende Pulmo-loge, dessen Körper von der Effektivitätseiner persönlichen Diät zeugt. „Damit un-sere Abwehrkräfte stark bleiben, habenwir hier außerdem nur Sechs-Stunden-Schichten und mehr Urlaub als die Kolle-gen auf anderen Stationen“, fügt er in ge-brochenem Englisch hinzu. Und so führtKuzmin, nur durch seinen Arztkittel ge-schützt, durch die Klinik des Zentralen Tu-berkulose-Forschungsinstituts in Moskau(CTRI), gefolgt von seinen mit grünem

Wegwerfkittel, Haarnetz, Schuhüberzie-hern und Atemschutzmaske vor einermöglichen Tröpfcheninfektion behütetenBesuchern.

Viele seiner Patienten auf der Erwachse-nenstation im dritten Stock eines der allge-genwärtigen Plattenbauten kommen vonweit her, um sich in der russischen Haupt-stadt behandeln zu lassen. So auch die dreiFrauen aus Dagestan in Zimmer fünf, dieseit Monaten die belastende Therapie mittäglich zwölf Tabletten verschiedener An-tibiotika über sich ergehen lassen. DieMutter und ihre beiden Töchter haben sichihr Zimmer mit Postern an der Wand ver-schönert. Zwischen Teekocher, Geschirrund Plastik-Wasserflaschen steht auf demTisch das unvermeidliche Set aus TV-

Gerät und DVD-Spieler, das für Ablen-kung vom tristen Klinikalltag sorgt.

Wie so oft, wenn Menschen in beengtenVerhältnissen leben, hat die Tuberkulose(Tbc) im Familienkreis zugeschlagen: AlsErstes hatte sie die Mutter erwischt, diedann ihre Töchter ansteckte. Mit ihrembleichen, eingefallenen Gesicht und dengraublonden, von einem Kopftuch zusam-mengehaltenen Haarsträhnen wirkt die Frauallerdings mehr wie die Großmutter derbeiden jungen, vergleichsweise gesundenFrauen. „Sie sieht aus wie 70, dabei ist sieerst Anfang vierzig“, sagt Kuzmin. „DieKrankheit war schon weit fortgeschritten,als sie zu uns kam.“ Zu lange hatte die Fraudie Anzeichen ignoriert. Die frühen Sym-ptome einer Tuberkulose sind allerdings

Eine GEISSEL kehrt zurückTuberkulose: Die Krankheit schien schon besiegt, doch seit dem Ende der Sowjetunion

ist die Schwindsucht wieder auf dem VormarschDas russische Gesundheitssystem ist marode, resistente Tbc-Erreger haben leichtes Spiel. /

von Georg Rüschemeyer

Aufnahmemykobakterien-haltigerTröpfchen

Alveolar-Makrophage nimmtErreger auf; diese versuchender Abtötung zu entgehen

Immunsystem erfolgreich:Alle Mykobakterienwerden zerstört,infizierte Makrophagendabei zum Teil abgetötet

Gleichgewicht zwischenImmunsystem und Erreger(90 Prozent aller Infektionen)

GeschwächtesImmunsystem:Erreger vermehren sich inMakrophagen und breitensich aus.Inkubationszeit: 4—12 Wochen

Bakterien überleben in Makrophagen,können diese aber zunächst nicht töten

Sofortiger Ausbruch: Makrophagensterben massenhaft ab

Eingrenzung der InfektionGranulombildung

Zerstörung desLungengewebes,Bakterien im Sputum(offene Tbc),Eindringen in Blutgefäße

Ausbreitung im ganzen Körper über die Blutbahn:Tbc kann sämtliche Organe befallen

(Miliartuberkulose)

PostprimärtuberkulosePrimärtuberkulose

Konzertierte Aktion von Immunzellen sondertbefallene Makrophagen ab, Bildung eines Granuloms,

einer einem kleinen Lymphknoten ähnlichen Bindegewebskapsel,in der verschiedene Immunzellen die Erreger in Schach halten

Das Granulom kannauch nach Jahrennoch infektiöseErreger enthalten

Postprimäre Phase:ansteckende, off

Latentes Stadium:dormante Erreger im Granulom,keine Symptome, nicht ansteckend

Latenzperiode

Ohne Behandlung:Organversagen,Sepsis,Tod

Schwächung des Immunsystems (HIV,Alter, Unterernährung): endogeneReaktivierung der latenten Infektion,Aufbrechen des Granuloms

dertoms,psel,alten

Mykobakterien

Erneute Ansteckung durch Tröpfchen-infektion (exogene Reinfektion)

Makrophage

Mykobakterium

Phagosom(Verdauungs-bläschen)

ene Tbc

Ausgang ungewiss: Am Anfang einer Tbc-Erkrankung stehen infektiöse Tröpfchen aus der Lunge von Kranken. Wie oft ein solcher Erst-kontakt tatsächlich zu einer Erkrankung führt, ist unklar – vermutlich befördern die Flimmerhärchen der Bronchien die Erreger in denmeisten Fällen wieder nach außen, oder das Immunsystem tötet sie frühzeitig ab. Andernfalls entspinnt sich ein oft jahrelanger Kampfzwischen den Zellen des Immunsystems und den ausgesprochen zähen Tbc-Bazillen.

Sonderdruck aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 18. März 2007

Page 2: Eine GEISSEL kehrt zurück · MOSKAU. Alexey Kuzmin hat sie, die gehörige Portion Optimismus, die man als Arzt in einer Moskauer Tuberkuloseklinik braucht. „Ich bin immun gegen

auch für den Fachmann nicht leicht zu er-kennen: Mattigkeit, leichtes Fieber, Hüstelnund Nachtschweiß können eben auch An-zeichen einer harmlosen Erkältung sein. Undwenn sich erst Blut im Sputum, dem schlei-migen Auswurf Tbc-Kranker, zeigt, habensich die sprichwörtlichen „Motten“ meistschon tief in das Lungengewebe gefressen.

So auch bei dem ebenfalls aus dem Kau-kasus stammenden Mann, der das nächsteZimmer alleine bewohnt. Ihm verbleibengerade mal 20 Prozent seiner Atemkapa-zität, der Rest ist Opfer der Motten gewor-den, deren Fraßlöcher auf den Röntgenauf-nahmen seines Brustkorbs auch für denLaien kaum zu übersehen sind. „1998 wur-de bei ihm erstmals eine bereits fortge-schrittene Tbc festgestellt, inzwischen istder linke Lungenflügel völlig zerstört“,fasst sein Arzt zusammen.

Wie die meisten Patienten am auf schwe-re Fälle spezialisierten CTRI ist der etwaFünfzigjährige das Opfer eines mehrfachresistenten Tbc-Stammes. Als „multidrugresistant“ (MDR) bezeichnet man Stämmevon Mycobacterium tuberculosis, die nichtmehr auf die beiden wichtigsten Tbc-Anti-biotika Isoniazid und Rifampicin reagie-ren. Oft kommen weitere Resistenzen ge-gen die verbleibenden drei bewährten Tu-berkulostatika hinzu. Was dann bleibt, sinddie Wirkstoffe der „Second Line“, mit allihren Nachteilen. Weil sie weniger gut wir-ken als die „First Line“-Medikamente, ver-längert sich die Therapie von sechs Mona-ten auf fast zwei Jahre, die Erfolgsaussich-ten sind trotzdem schlechter. Dabei verur-sachen sie stärkere Nebenwirkungen undsind aufgrund der um ein Vielfaches höhe-ren Kosten in vielen Ländern der Weltkaum verfügbar – selbst am CTRI könnendie Ärzte nicht immer die optimale Wirk-stoffkombination verschreiben.

„Resistenzen gegen Antibiotika bildensich vor allem dann, wenn die Medikamen-te unregelmäßig, in zu geringer Dosis odernach der sich anfänglich meist bald einstel-lenden Linderung der Symptome über-haupt nicht mehr genommen werden“, sagtTimo Ulrichs, der sich als Immunologe amBerliner Max-Planck-Institut (MPI) für In-fektionsbiologie jahrelang mit dem Myco-bacterium tuberculosis befasst hat. Schuldist oft die mangelnde Kooperation von Pa-tienten, die sich nach anfänglicher Besse-rung der ohnehin diffusen Symptome nichtmehr der belastenden Therapie aussetzenwollen. Doch meist sind es marode Ge-sundheitssysteme und fehlender Nach-schub an Medikamenten, die den Nährbo-den für die Resistenzbildung bereiten.

In den Wirren nach dem Ende der So-wjetunion litt das russische Gesundheitssys-tem. Die vorher üblichen Reihenuntersu-chungen zur Tbc-Früherkennung fielenweitgehend weg, Medikamente warenschwer zu bekommen und eine effektive

Therapie oft unmöglich. Zwischen denJahren 1991 und 2000 verdreifachte sichdie geschätzte Zahl der jährlichen Neuer-krankungen auf über 100 pro 100 000 Ein-wohner, der Anteil von Patienten mitMDR-Tbc liegt heute mit rund zehn Pro-zent an der Weltspitze.

Immerhin haben sich die Zahlen seit2001 stabilisiert. „Anders als vor zehn Jah-ren gibt es inzwischen ein ausgeprägtesProblembewusstsein in der russischen Po-litik, aber gerade in ländlicheren Regionenist man noch völlig veralteten Strategienfür Diagnose und Therapie verhaftet“, sagtTimo Ulrichs, der neuerdings der SektionTuberkulose des im vergangenen Oktobergegründeten Koch-Metschnikow-Forumsvorsteht, einer deutschrussischen For-schungsinitiative zur Bekämpfung von In-fektionskrankheiten. Regelmäßig fliegt ernun in die ehemaligen Sowjetrepubliken,um gemeinsame Forschungsprojekte vor-anzutreiben und Gesundheitspersonal zuschulen. „Wir versuchen so, die Umset-zung der international anerkannten Stan-dards für Diagnose und Therapie voranzu-treiben.“

DOTS – Directly Observed Treatment,Short Course – heißt diese Strategie, mitder die WHO seit den neunziger Jahren dersich weltweit ausbreitenden Tuberkuloseden Kampf angesagt hat. Die Kernidee er-scheint einfach genug: Um sichergehen zu

können, dass sich der Patient an die ver-ordnete Therapie hält, nimmt er seine Me-dikamente unter den Augen eines Mitar-beiters der Gesundheitsbehörden ein, sei esin einer Klinik oder zu Hause. Zu DOTSgehören aber auch geschultes Personal undzuverlässige Diagnoseverfahren, um even-tuell vorhandene Resistenzen des Erregerserkennen und die richtige Wirkstoffthera-pie bestimmen zu können.

All das ist allerdings vergeblich, wenn in-mitten der monatelangen Behandlung derNachschub an Medikamenten versiegt. Des-halb ist der Erfolg der weltweiten DOTS-Kampagne vor allem eine Frage der örtli-chen Infrastruktur und des politischen Wil-lens. „Unter günstigen Voraussetzungenlassen sich so aber 99 Prozent der Patientendauerhaft heilen und die Bildung von resis-tenten Erregern verhindern“, sagt Ulrichs.

Für den Mann auf Zimmer sechs desCTRI kommt all das zu spät. „Seine Pro-gnose ist sehr schlecht“, sagt sein Arzt Kuz-min. Und für eine Pneumektomie, die er beider ersten Tbc-Diagnose vor acht Jahrennoch verweigerte, sei es nun auch zu spät.

Diese Operation, in der die Ärzte die amstärksten befallenen Teile der Lunge heraus-schneiden, kann die Erregerlast senken unddie Belastung durch das absterbende, käsigeGewebe lindern. Für weit fortgeschritteneTbc-Fälle, die schlecht auf Medikamenteansprechen, ist sie oft das letzte Mittel. InMoskau werden die meisten dieser Eingrif-fe an der eine drei viertel Autostunde vomCTRI entfernten Zentralen Tuberkulose-Klinik durchgeführt, die im Stadtteil Sokol-niki in einem ehemaligen Prunkbau aus derZarenzeit untergebracht ist.

„665 Lungen-OPs haben wir letztes Jahrdurchgeführt“, sagt der Brust-Chirurg Vse-volod Trusov. Seine Führung durch dieKlinik mit ihren 430 Betten hinterlässt ge-mischte Eindrücke: Das historische Ge-mäuer bröselt an vielen Stellen, die Bezügeder im Flur abgestellten leeren Betten sinddurch das hundertfache Desinfizierenschmutzig-braun verfärbt. Im Keller wartetdagegen eine hochmoderne Diagnostik-Abteilung auf die Besucher. Besondersstolz ist man auf die selbst entwickeltenMikro-Arrays, auf einem Glasobjektträgeruntergebrachte Genchips. Mit ihnen lassensich die Erreger eines Tbc-Patienten inner-halb weniger Stunden auf Resistenzgeneuntersuchen. „Auch sonst ist die technischeEinrichtung hier unten tipptopp“, sagtMarc Jacobsen, der an der Abteilung fürImmunologie des Berliner MPI für Infekti-onsbiologie unter anderem an molekularenNachweisverfahren für unterschiedlicheTbc-Stämme arbeitet.

Gefängnisse sind die gefährlichsten Brut-stätten.

Der Biologe ist in die russische Haupt-stadt gekommen, um die seit einigen Jah-

Seite 2 Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

LungenbläschenB

lutb

ahn

L u n g e n g e w e b eMakrophage (Mp)

Mp

Mp

Chemokine der T-Helferzellen (CD4)rekrutieren weitere Immunzellenan den Ort derInfektion

CD8

Frühe Immunantwort: Beginn der Granulombildung

CD4

Postprimärer Ausbruch durch geschwächtes Immunsystem: starke Vermehrung der Bakterien,unausgewogene Immunantwort führt zu undichtem Granulom

CD4Langhans-Zelle

Nekrose

ROI

RNIfibröser W

all

L u n g e n g e w e b e

und TGF-

CD4

CD8

Sauerstoffmangel

Blu

tbah

n

weniger TNF-

CD8CD8

Aussaat derMikrobakterien

Durchbruchzum Bronchial-system:offene Lungen-tuberkulose

Lungenbläschen

Mp

CD4

unkontrolliertezytolytischeAktivität

CD4

CD8

CD4

TGF-TNF-

CD8

CD8

Perforin Zytolysine

Langhans-Zelle

RNIIFN-

fibröser Wall

TNF-

L u n g e n g e w e b e

Blu

tbah

nLungenbläschen

Mp

Mp

Mp

TGF-

NekroseSauerstoffmangelChemokine

ROI

Perforin

CD8

CD8

CD8

CD8

CD8CD4

CD4CD4

CD4

CD4

CD4

CD4CD4

CD4

Granulysin

Intaktes Granulom: fein abgestimmte Immunantwort tötet Bakterien und befallene Fresszellen,Immunreaktion und Erregervermehrung im Gleichgewicht

Zytolysine

Page 3: Eine GEISSEL kehrt zurück · MOSKAU. Alexey Kuzmin hat sie, die gehörige Portion Optimismus, die man als Arzt in einer Moskauer Tuberkuloseklinik braucht. „Ich bin immun gegen

ren laufende Kooperation der Berliner mitMoskauer Kollegen auszubauen. Diese ha-ben im Überfluss, woran es in Deutschlandmangelt: von der Tbc angenagtes Lungen-gewebe, wie es bei den Operationen täglichanfällt. Nur mit Hilfe solcher Proben ließensich die komplizierten Interaktionen zwi-schen Erregern und Immunsystem verste-hen, die zur Bildung und Aufrechterhal-tung, aber auch zum Zerfall des Granulomsführten (siehe „Das Granulom, Schlacht-feld der Immunabwehr“), sagt Jacobsen.„In Deutschland sind solche OPs einfachzu selten, um gezielt Forschung mit ent-nommenem Gewebe betreiben zu können.“

Diesmal ist Jacobsen aber nur zur Kon-taktpflege in Moskau, die nächste LadungGewebeproben wird erst im Frühjahr er-wartet. Dann hat George Kosmiadi, der seitJahren in den Labors des CTRI die Immu-nologie der Tbc erforscht, wieder mal einekurze Nacht vor sich, in der er die Probenaufbereitet, bevor sie per Express nachBerlin geschickt werden. „In Berlin habenwir einfach viel bessere technische Vor-aussetzungen für unsere Studien“, sagtKosmiadi zum Interesse der russischenForscher an der Kooperation. Ethische Be-denken wegen des Probentransfers sehendie Forscher nicht – schließlich gäben diePatienten zuvor ihr Einverständnis zur Nut-zung des Gewebes und man verwende le-diglich im täglichen Betrieb des MoskauerZentrums anfallendes Material.

Nur ein kleines Stück Lunge musste Ol-ga entnommen werden, einer blonden Mitt-dreißigerin, die sich gerade die Füße aufdem scheinbar unendlich langen Flur desMoskauer Tbc-Zentrums vertritt. „Ich kannmich nicht beklagen – als die Ärzte vorzwei Jahren zum ersten Mal die Knötchenauf meinen Röntgenbildern sahen, dachtensie noch, es sei ein bösartiger Tumor.“ Jetztist ihre Prognose günstig, die Bakterien

sprechen gut auf die Standardtherapie an.Die Kauffrau ist ein Beleg dafür, dass dieTuberkulose in allen Gesellschaftsschich-ten zuschlägt.

Voll und ganz dem weitverbreitetenVorurteil von der Tbc als Randgruppen-problem entspricht dagegen Jewgeni, einKrimineller mit vernarbtem Gesicht undlangjähriger Gefängniskarriere. Er erholtsich in einem der meist mit vier Patientenbelegten Krankenzimmer der Zentralklinikvon seiner zweiten Lungenoperation. 1999kam er das erste Mal unters Messer, dochstatt in ein Sanatorium schickten ihn dieBehörden danach direkt zurück in denKnast, wo die Krankheit bald wieder aus-brach. „Trotz einiger Verbesserungen inden letzten Jahren gehören die Gefängnis-se Russlands immer noch zu den gefähr-lichsten Brutstätten der Tbc“, sagt Vsevo-lod Trusov, unter dessen Patienten viele

Häftlinge sind. „Vor allem in den extrembeengten Untersuchungsgefängnissen ste-cken sich die Gefangenen gegenseitig an.“

Die teils enorm hohe Infektionsrate un-ter Russlands Gefangenen machte die Tbclange Zeit zum vermeintlichen Randgrup-penproblem. Unter diesem Stigma leidenach wie vor die Ansteckung mit demAids-Erreger HIV, der sich in Russlandebenfalls dramatisch ausgebreitet habe,warnt Timo Ulrichs. Da das durch HIV ge-schwächte Immunsystem besonders anfäl-lig für die Tbc ist, heize das in Russlandweit verbreitete Virus die Tbc-Epidemieweiter an (siehe „Tödliche Kombination“).

Noch setzt sich das westliche Europa aufder Weltkarte der TB-Inzidenz deutlich vonden ehemaligen Sowjetrepubliken ab (sie-he „Tuberkulose-Verbeitung 2004“). Dochparallel mit den Tbc-Zahlen nahm seit1991 auch der Flugverkehr zwischen denbeiden Regionen massiv zu. Die Tuberku-lose ist dadurch mehr denn je zu einem glo-balen Problem geworden. Helfen könntedie Umsetzung des DOTS-Programms.Doch der vor einem Jahr unter anderemvon der Weltgesundheitsorganisation aus-gerufene Plan, die Ausbreitung der Krank-heit bis 2015 zu stoppen, könnte schon ander Finanzierung scheitern – sie weist eineLücke von 31 Milliarden Dollar auf.

© Alle Rechte vorbehalten. FrankfurterAllgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt.Zur Verfügung gestellt vom FrankfurterAllgemeine Archiv. www.faz-archiv.de/sonderdrucke.

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung Seite 3

Falsche Therapien, unkooperativePatienten, fehlende Medikamente – einganzes Bündel von Problemen machtden Ärzten zu schaffen.

Tuberkulose in RusslandAmtlich registrierte Fälle

Quelle: WHO Report 2006, Global Tuberculosis Control, Genf, Tab. A2.10‘91 ‘92 ‘93 ‘94 ‘95 ‘96 ‘97 ‘98 ‘99 ‘00 ‘01 ‘02 ‘03 ‘04

121 426

50 407

TÖDLICHE KombinationIn Verbindung mit Aids ist Tuberkulose schwer zu bekämpfen.

In zehn Jahren hat sich die Zahl der russi-schen Fälle verdoppelt.

Tuberkulose ist eine ansteckende Krank-heit. Sie wird durch infektiöse Tröpfchenübertragen, die den Bazillus Mycobacteri-um tuberculosis enthalten. Allerdings istein Kranker nur dann ansteckend, wenn derInfektionsherd Anschluss an die Atemwe-ge der Lunge bekommt („offene Tbc“).Ohne Behandlung steckt er nach Schätzun-gen der Weltgesundheitsorganisation(WHO) im Jahr durchschnittlich zehn bisfünfzehn Personen an. Diese Zahl kann un-ter beengten Lebensumständen, zum Bei-spiel in Gefängnissen oder Flüchtlingsla-gern, wesentlich höher liegen.

Rund neunzig Prozent aller Infektionenwerden vom Immunsystem zunächst inSchach gehalten, das die Erreger in einemTuberkel-Knoten, dem Granulom (siehe„Das Granulom, Schlachtfeld der Immun-abwehr“), abkapselt. Wenn das Alter, an-dere Krankheiten, zum Beispiel Aids, oderUnterernährung die Abwehrkräfte schwä-chen, kann sie jedoch auch Jahre späterwieder ausbrechen.

Anfang des zwanzigsten Jahrhundertsentwickelten die französischen Bakteriolo-gen Albert Calmette und Camille Guérinmit einen Stamm des Erregers der Rinder-

tuberkulose (Mycobacterium bovis) einennoch heute gebräuchlichen, nach ihnen be-nannten Impfstoff, den Bacille Calmette-Guérin (BCG). Die durch ihn ausgelösteAktivierung des Immunsystems richtetsich auch gegen den Erreger der Tbc.

Ab 1928 empfahl das Gesundheitsgremi-um des Völkerbundes den neuen Impfstoff,in Deutschland wurde er aber erst nach demZweiten Weltkrieg eingeführt. Schuld wardas Lübecker Impfunglück von 1930, beidem der Impfstoff mit infektiösen Tbc-Bakterien verunreinigt war. Die meisten der256 geimpften Säuglinge erkrankten, 77

Page 4: Eine GEISSEL kehrt zurück · MOSKAU. Alexey Kuzmin hat sie, die gehörige Portion Optimismus, die man als Arzt in einer Moskauer Tuberkuloseklinik braucht. „Ich bin immun gegen

starben. Grundsätzlich kann eine BCG-Impfung Kinder zwar vor den schlimmstenFolgen einer Tbc-Infektion behüten, einensicheren Schutz bietet sie aber nicht. Zudemerschwert sie die Diagnose, da geimpfteMenschen genau wie Infizierte positiv aufeinen Immuntest mit Tuberkulin reagieren.Mit Hochdruck wird deshalb an wirksame-ren Impfstoffen geforscht. Bis dahin emp-fiehlt die WHO die BCG-Impfung nur nochfür Säuglinge in Ländern mit hohen Tbc-Raten. In Deutschland wurde sie 1998 vonder Empfehlungsliste der Ständigen Impf-kommission genommen.

Hierzulande liegt die Rate der jährlichenNeuerkrankungen mit acht Fällen auf100 000 Einwohner vergleichsweise nied-rig, doch die Zahlen der WHO zeugen voneiner globalen Epidemie: Rund ein Drittelder Weltbevölkerung ist mit dem Tuberku-lose-Erreger infiziert, Jahr für Jahr erkran-ken acht bis neun Millionen Menschen neuan der Krankheit, die im Jahr 2004 1,7 Mil-lionen Todesopfer forderte. Rund ein Drittelder Fälle wurden aus Südostasien gemeldet.

Betrachtet man jedoch die Zahl der Neu-erkrankungen in Bezug auf die Bevölke-rungszahlen, so liegt der südlich der Saha-ra gelegene Teil Afrikas mit fast 400 Neu-erkrankungen pro Jahr und pro 100 000Einwohnern weit vorn. Dort kommt dietödliche Kombination aus Tuberkulose und

HIV besonders zum Tragen: Das HI-Virustötet die T-Helferzellen des Immunsys-tems, die eine entscheidende Rolle in derAbwehr der Tuberkulose haben. In HIV-Infizierten führt eine Tröpfcheninfektionmit Tuberkelbazillen deshalb sehr vielleichter zu einem Ausbruch, gleichzeitigkönnen latente, seit Jahren vorhandeneTbc-Granulome durch eine HIV-Infektionreaktiviert werden. Da nur eine aktive Tu-berkulose ansteckend ist, steigt auch die In-fektionsrate in der HIV-negativen Bevöl-kerung weiter an.

Antibiotika versagen immer häufigerMit der Entdeckung verschiedener Anti-

biotika gegen die sehr zählebigen Bakterien

hatte man ab den fünfziger Jahren endlichein Mittel zur aktiven Therapie der Tuber-kulose. Dies führte zeitweise zu einem star-ken Rückgang der weltweiten Neuerkran-kungen, doch inzwischen haben sich Erre-gerstämme mit Resistenzen gegen jedeseinzelne der fünf gängigen Tbc-Antibiotikaentwickelt. Die Kombination mehrerer sol-cher Resistenzen in einem Stamm kann zumultiresistenten Bakterien führen, die imExtremfall auf keines der bekannten Mittelansprechen.

Im Herbst vergangenen Jahres meldetedie WHO aus Tugela Ferry, einer Stadt inder südafrikanischen Provinz Kwazulu-Natal, das Auftreten einer solchen, prak-tisch unbehandelbaren Tbc-Form, dienoch dazu ungewöhnlich schnell fort-schreitet: Von den 53 Patienten, in derenAuswurf die neue Form extrem multiresi-stenter Tbc (XDR-Tbc) gefunden wurde,starben 52 innerhalb von nur 25 Tagen.Dieser extrem schnelle Verlauf hängt ver-mutlich ebenfalls mit einer Koinfektionmit HIV zusammen, jedenfalls waren alle44 getesteten Patienten HIV-positiv.

geru© Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter

Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt.Zur Verfügung gestellt vom FrankfurterAllgemeine Archiv. www.faz-archiv.de/sonderdrucke.

Seite 4 Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Geschätzte neue Tbc-Fälleje 100 000 Einwohner

0–24

25–49

50–99

100–299

300 und mehr

keine Angaben

Quelle: WHO Report 2006, Global Tuberculosis Control, GenfAnteil multiresistenter Tbc-Stämmean Neuerkrankungen höher als 6%

Tuberkulose-Verbreitung 2004 GUS-Staaten

4000 vor Chr.In menschlichen Skelettresten aus der

Kupferzeit finden sich Anzeichen vonKnochentuberkulose.

2000 vor Chr.Tbc in Knochen und Lunge ägyptischer

Mumien aus dem mittleren Reich, Hinwei-se aus Südamerika.

460 vor Chr.Hippokrates beschreibt den „Schwund“.

Die Krankheit ist weitverbreitet und fordertviele Todesopfer.

1223 nach Chr.Die Mongolen dringen nach Europa vor.

Vermutlich mit dabei: der besonders ag-gressive Peking-Stamm der Tbc.

1485Botticelli malt die „Geburt der Venus“

zu Ehren der an Tbc verstorbenen Gelieb-ten von Giuliano de’ Medici.

1546Girolamo Fracastoro vertritt die Über-

zeugung, dass die Tbc ansteckend sei unddurch „Sporen“ verbreitet werde.

1699Die italienische Stadt Lucca erlässt erst-

mals Gesetze gegen die Verbreitung derSchwindsucht.

19. Jdt.Im Zuge der industriellen Revolution

wird Tbc von der „romantischen Krank-heit“ zur „Krankheit des Proletariats“.1815 stirbt jeder Vierte in England daran.

1848Alexandre Dumas veröffentlicht die

„Kameliendame“, Verdi vertont deren tra-gischen Tbc-Tod 1883 in „La Traviata“.

1882Robert Koch identifiziert das Stäbchen-

bakterium Mycobacterium tuberculosis alsErreger der Tuberkulose.

1906Calmette und Guérin entwickeln den

BCG-Impfstoff, erster Versuch am Men-schen am 18. Juli 1921.

1946Mit dem neuen Wirkstoff Streptomycin

wird erstmals die aktive Behandlung derTuberkulose möglich.

80er JahreResistente Bakterienstämme machen

Hoffnung auf baldige Ausrottung zunichte,weltweite Zunahme.

2006Meldungen aus Südafrika über eine ge-

gen fast alle gängigen Medikamente resis-tente, besonders tödliche Form der Tbcalarmieren die WHO.

Vor allem in Afrika, aber auch in Asiennehmen die Neuansteckungen zu.

MedizingeschichteDer Mensch und die Tuberkulose