eine orthodoxe gemeinde und die religiösen, sozialen und wirtschaftlichen wandlungen in der neuzeit

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7/24/2019 Eine orthodoxe Gemeinde und die religiösen, sozialen und wirtschaftlichen Wandlungen in der Neuzeit http://slidepdf.com/reader/full/eine-orthodoxe-gemeinde-und-die-religioesen-sozialen-und-wirtschaftlichen 1/29 222 MEIR  HILDESHEIMER © Koninklijke Brill NV, Leiden ZRGG 56, 3 (2004) MEIR HILDESHEIMER Eine orthodoxe Gemeinde und die religiösen, sozialen und wirtschaftlichen Wandlungen in der Neuzeit Die jüdische Gemeinde in Halberstadt im 19. und 20. Jahrhundert Im 19. und zu einem gewissen Maße auch im 20. Jahrhundert machten sich in Deutschland – und besonders in der jüdischen Bevölkerung – politische, ideologische und soziale Wandlungen bemerkbar, die Än- derungen in allen Lebensbereichen hervorriefen. Die religiösen Wand- lungen waren in den jüdischen Gemeinden, die zur Reform neigten, weitgehend, doch drangen sie auch in die orthodoxen Gemeinden ein. Im wirtschaftlichen und sozialen Bereich waren die Wandlungen infolge der allgemeinen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Veränderun- gen sowie der vermehrten Integration der Juden in die deutsche Gesell- schaft einschneidender. Halberstadt ist eine Kreisstadt in Sachsen-Anhalt, nördlich des Harz- gebirges an der Holzhemme gelegen. Die jüdische Gemeinde bestand seit dem 13. Jahrhundert. Von dieser Zeit an und bis zu ihrer Vernich- tung durch das Naziregime im Jahre 1938 führte sie ein reges Gemein- deleben, wenn man von zwei kurzen Perioden Ende des 15. und des 16. Jahrhunderts absieht, in welchen die Juden aus der Stadt vertrieben wurden. Dieser Aufsatz beschreibt die Auswirkungen der Wandlungen, wel- che in den jüdischen Gemeinden Deutschlands spürbar wurden, und auch die besondere Weise, in der die Halberstädter Gemeinde auf dieselben reagierte, ohne ihren orthodoxen Charakter zu verlieren; er untersucht auch, wie die Gemeinde der religiösen Reform widerstehen und ihre Einheit bewahren konnte, während sich zahlreiche jüdische Gemein- den, hauptsächlich in Nord- und Mitteldeutschland, spalteten. Ebenfalls behandelt werden die Wechselwirkungen zwischen Reli- gion, Gesellschaft und Wirtschaft in der Halberstädter Gemeinde. Im allgemeinen wird angenommen, daß zwischen dem religiösen und dem sozialen und wirtschaftlichen Gefüge kein Zusammenhang besteht. Die Verbindung zwischen Gesellschafts- und Wirtschaftsstruktur ist hinge- gen offensichtlich. In diesem Aufsatz werden Fakten dargelegt, die darauf hinweisen, daß in der Halberstädter Gemeinde Religion und Wirtschaftsstruktur eng miteinander verbunden waren und einander gegenseitig beeinflußten.

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222 MEIR HILDESHEIMER

© Koninklijke Brill NV, Leiden ZRGG 56, 3 (2004)

MEIR HILDESHEIMER

Eine orthodoxe Gemeinde unddie religiösen, sozialen und wirtschaftlichenWandlungen in der NeuzeitDie jüdische Gemeinde in Halberstadt

im 19. und 20. Jahrhundert

Im 19. und zu einem gewissen Maße auch im 20. Jahrhundert machtensich in Deutschland – und besonders in der jüdischen Bevölkerung –politische, ideologische und soziale Wandlungen bemerkbar, die Än-derungen in allen Lebensbereichen hervorriefen. Die religiösen Wand-lungen waren in den jüdischen Gemeinden, die zur Reform neigten,weitgehend, doch drangen sie auch in die orthodoxen Gemeinden ein.Im wirtschaftlichen und sozialen Bereich waren die Wandlungen infolgeder allgemeinen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Veränderun-gen sowie der vermehrten Integration der Juden in die deutsche Gesell-

schaft einschneidender.Halberstadt ist eine Kreisstadt in Sachsen-Anhalt, nördlich des Harz-gebirges an der Holzhemme gelegen. Die jüdische Gemeinde bestandseit dem 13. Jahrhundert. Von dieser Zeit an und bis zu ihrer Vernich-tung durch das Naziregime im Jahre 1938 führte sie ein reges Gemein-deleben, wenn man von zwei kurzen Perioden Ende des 15. und des 16.Jahrhunderts absieht, in welchen die Juden aus der Stadt vertriebenwurden.

Dieser Aufsatz beschreibt die Auswirkungen der Wandlungen, wel-

che in den jüdischen Gemeinden Deutschlands spürbar wurden, und auchdie besondere Weise, in der die Halberstädter Gemeinde auf dieselbenreagierte, ohne ihren orthodoxen Charakter zu verlieren; er untersuchtauch, wie die Gemeinde der religiösen Reform widerstehen und ihreEinheit bewahren konnte, während sich zahlreiche jüdische Gemein-den, hauptsächlich in Nord- und Mitteldeutschland, spalteten.

Ebenfalls behandelt werden die Wechselwirkungen zwischen Reli-gion, Gesellschaft und Wirtschaft in der Halberstädter Gemeinde. Im

allgemeinen wird angenommen, daß zwischen dem religiösen und demsozialen und wirtschaftlichen Gefüge kein Zusammenhang besteht. DieVerbindung zwischen Gesellschafts- und Wirtschaftsstruktur ist hinge-gen offensichtlich.

In diesem Aufsatz werden Fakten dargelegt, die darauf hinweisen,daß in der Halberstädter Gemeinde Religion und Wirtschaftsstruktur engmiteinander verbunden waren und einander gegenseitig beeinflußten.

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223Die jüdische Gemeinde in Halberstadt im 19. und 20. Jahrhundert

 I. Demographische Entwicklung

Die demographische Entwicklung weist in großem Maße auf die Verände-rungen hin, mit denen sich die jüdischen Gemeinden auseinandersetzen

mußte. In Notzeiten verringerte sich die Zahl der Gemeindemitglieder,während sie in Blütezeiten anstieg. In dem Zeitraum vom Mittelalter biszu ihrer Vernichtung erfolgten bedeutende Änderungen in der Anzahl derJuden, wie auch in dem zahlenmäßige Verhältnis zwischen der jüdischenund der allgemeinen Bevölkerung der Stadt.

Am Anfang des 17. Jahrhunderts bestand die Gemeinde aus ungefähr100 Juden.1 Während des Dreißigjährigen Krieges (1618-1648), als sich inden dreißiger Jahren des 17. Jahrhunderts die Kämpfe Halberstadt näher-ten, verließen viele der Einwohner – unter ihnen zwei Drittel der jüdischen

Familien – die Stadt. Von der Mitte des 17. bis Mitte des 18. Jahrhundertsvermehrte sich infolge der zur Zeit von Kurfürst Friedrich Wilhelm undseiner Nachkommen günstigen politischen und wirtschaftlichen Bedingendie Anzahl der Juden wieder. In den fünfziger Jahren des 18. Jahrhundertswar die jüdische Gemeinde in Halberstadt die größte Gemeinde in Preu-ßen.2 Die Abnahme der Zahl der Juden in Halberstadt in der zweiten Hälftedes 18. Jahrhunderts ist sowohl auf wirtschaftliche Gründe – die großeSteuerlast, die hauptsächlich die wohlhabenden Mitglieder zu tragen hat-

ten – als auch auf die Wirren des Siebenjährigen Krieges (1756-1763) zu-rückzuführen, in dessen Verlauf die Einwohner der Stadt schwer unter Raubund Plünderung zu leiden hatten. In den Jahren 1875-1885 ist ebenfalls eingewisses Absinken der Zahl der Juden zu bemerken, diesmal als Folge derWirtschaftskrise: die Euphorie nach der Reichsgründung hatte einen Wirt-schaftsboom und eine Reihe von folgenschweren Fehlinvestitionen ausge-löst.3 Ab 1885 stieg sowohl die Zahl der Juden wie auch jene der allgemei-nen Bevölkerung an und erreichte in der Mitte der zwanziger Jahre des 20.Jahrhunderts ihren Höhepunkt.4 Dieser Anstieg weist auf eine wirtschaftli-

che und soziale Stärkung der Juden in Halberstadt hin. Die Gründe für dengeringfügigen Abwärtstrend am Anfang des 20. Jahrhunderts sind uns un-bekannt. In der zweiten Hälfte des dritten Jahrzehnts verkehrte sich dieseTendenz in eine starke Abnahme der Zahl der Juden. Schuld daran trugendie katastrophale Wirtschaftskrise in Deutschland und die Verschlechte-rung der politischen Lage.5 Nach dem Beginn des Naziregimes verstärktesich der Rückgang noch mehr.6

1 G. Schmidt, Urkundenbuch der Stadt 2, Halle 1878, doc. 984; Reyer, Halberstadt,in: A. Maymon (Hg.), Germania Judaica III/1 Tübingen 1968, S. 495.

2 M. Köhler, Beiträge zur Neuen Jüdischen Wirtschaftsgeschichte. Die Juden in Hal-berstadt und Umgebung bis zur Emanzipation, Breslau 1927, S. 9 ff.; S. Stern, Der Preu-ßische Staat und die Juden I, S. 120, 611.

3 Köhler (wie Anm. 2), S. 73 ff.4 B. H. Auerbach, Die Halberstädter Gemeinde von 1844 bis zu ihren Ende, in: Leo

Baeck Institut Bulletin (=LBIB), 10 (1964), 38, S. 315.5 H. Eschwege, Geschichte der Juden im Territorium der ehemaligen DDR, Dresden

1991, S. 302.6 Ebd., S. 296.

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224 MEIR HILDESHEIMER

Die Einbeziehung von Geburts- und Todesstatistiken bietet zusätz-liche Einblicke und ermöglicht die Unterscheidung zwischen natürli-cher Vermehrung und Migration. Daten über die natürliche Vermeh-rung stehen uns nur für die Jahre 1810-1875 zur Verfügung.

Tabelle I 7 : Veränderungen in der Bevölkerung der jüdischen Gemeinde Halberstadt in den Jahren 1810-1875 (Die Daten der Geburts- und To-desfälle sowie der Ein- und Auswanderung sind Durchschnittswerte)

Tabelle I weist darauf hin, daß in den Jahren 1810-1830 die Zahl derJuden in Halberstadt hauptsächlich infolge natürlicher Vermehrungstieg, trotzdem 15 Mitglieder die Gemeinde verließen. Dieser Abgangist höchstwahrscheinlich auf die Unzufriedenheit über die religiösenReformen des westfälischen Konsistoriums begründet, die der Gemeindeaufgezwungen worden waren.8 In den Jahren 1830-1840 ist eine radi-

kale Abnahme der Gemeindemitglieder zu verzeichnen: ein Resultatder negativen Geburtenbilanz sowie der Abwanderung von einem Zehn-tel der Mitglieder. Die Gründe waren hauptsächlich wirtschaftlicher Art,

Jahr Anzahl Anwachs Geburten Todesfälle  Natürlicher

Zuwachs

Ein- und

Auswanderung

+ - Anzahl % Anzahl % + - + -

1810 39634 - 191 3.0 142 2.3 49 - - 15

1822 430

21 - 39 1.8 79 2.4 - 20 41 -

1830 451

- 109 63 2.0 116 3.7 - 5 - 56

1840 342

48 - 90 2.7 77 2.3 13 - 35 -

1850 39044 - 109 2.65 74 1.8 35 - 9 -

1861 434

78 - 81 1.9 84 2.0 - 3 81 -

1871 512

97 97 53 2.4 28 1.25 25 - 72 -

1875 609

Zusammen 322 109 646 600 122 76 238 71

Differenz 213 46 167

7  Central Archives for the History of the Jewish People, Jerusalem=(CAHJP), HM376, S. 1-91, 94-179.

8 Z. B. Auerbach, Die Geschichte der Israelitischen Gemeinde Halberstadt, Halber-stadt 1860, S. 156.

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225Die jüdische Gemeinde in Halberstadt im 19. und 20. Jahrhundert

teils wegen der finanziellen Schwierigkeiten der Gemeinde9 und teilswegen der feindlichen Haltung der preußischen Beamten gegenüberwirtschaftlichen Initiativen. Aus diesem Grunde emigrierten einigeGemeindemitglieder nach Magdeburg, Berlin, Hamburg und Amster-

dam, wo solche Initiativen willkommen waren.10 Es sei hier vermerkt,daß  besonders viele Juden aus Kleinstädten nach Berlin und Hamburgzogen. 1850 wohnten in diesen Großstädten nahezu 10.000 Juden.11 Von1840 nahm die Zahl der Juden zu. Zwischen 1840 und 1875 schlossensich 97 Juden der Gemeinde an; hinzu kamen noch 73 Neugeburten(gegenüber drei Todesfällen). Dies änderten auch die Krisen nicht, wel-che die Gemeinde im fünften und zu Anfang des sechsten Jahrzehnts be-unruhigten, und die das Verlassen von acht Familien zur Folge hatte.12

 II. Wandlungen im Erziehungswesen

In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts kam es auf Initiative derAufklärungsbewegung zu tiefgreifenden Veränderungen im Erziehungs-wesen der jüdischen Jugend.13 Die orthodoxe Judenschaft distanziertesich von den Neuerungen, weil sie darin einen Angriff auf die geheilig-te Tradition sah. Die jüdische Gemeinde Halberstadt war die erste or-thodoxe Gemeinde, die verstand, daß die Veränderungen der Neuzeit

neue Wege der Erziehung nötig machten. Nach der alten Methode lern-ten die Kinder im „Talmud Thora“ oder im „Cheder“.14 WohlhabendeHausherren beschäftigten Privatlehrer zwecks besserer Ausbildung ih-rer Kinder. Die Wende kam im Jahre 1796. In Halberstadt wurde dieSchule „Hascharat Zwi“ gegründet, an der sowohl religiöses als auchweltliches Wissen unterrichtet wurde.15 Anfangs wurden den weltli-chen Fächern zwei Wochenstunden gewidmet: ein christlicher Lehrerunterrichtete Rechnen und Deutsch. Nachdem im Jahre 1825 die „Tal-mud Thora“ und die Töchterschule in die „Hascharat Zwi“-Schule ein-

gegliedert wurden, wurde ein detaillierter Lehrplan ausgearbeitet, lautdem fast 50% der Unterrichtsstunden den weltlichen Fächern gewid-met waren.16

9 E. Hildesheimer, Die Verwaltung der jüdischen Gemeinde zu Halberstadt zugleichals Beitrag zur Geschichte der Israeliten, Halberstadt 1849, S. 8, Anm. 5.

10 Eschwege (wie Anm. 5), S. 295-296.11 J. Lestschinsky, Das wirtschaftliche Schicksal des deutschen Judentums, Berlin

1912, S. 63.12  Hildesheimer (wie Anm. 9), S. 9.13  Vgl. M. Eliav, Jewish Education in Germany in the Period of Enlightment and

Emancipation, Jerusalem 1961, S. 65-90.14 „Talmud Thora“ war eine Schule der Gemeinde und „Cheder“ war eine Art private

Lehrstube.15 Die Errichtung der Schule wurde durch die Initiative und den Nachlaß in Höhe von

11.000 Talern vom Stifter Zwi Hirsch Koslin, genannt Hirsch Borchardt, ermöglicht.16 G. Lasch/S. Bär, Die Geschichte der israelitischen Schule zu Halberstadt, Nord-

hausen 1847, S. 13-14, 35. Daten über die Töchterschule, Gründungsjahr, Lehrplan u.s.w.wurden nicht angegeben.

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226 MEIR HILDESHEIMER

Die Rabbiner der Gemeinde, und hauptsächlich diejenigen aus derFamilie Auerbach, trugen viel zur Hebung des Unterrichtsniveaus bei.Rabbiner Dr. Zwi Benjamin Auerbach17 – er amtierte in Halberstadtvon 1863-1872 – führte als Neuerung an der Schule Bibelunterricht für

Mädchen ein. Bis dahin hatten die Mädchen fast nur die mit dem Haus-halt verbundenen religiösen Aufgaben erlernt.18 Rabbiner Dr. AviesriSelig Auerbach19 – er amtierte von 1873-1901 – fügte den vier bereitsbestehenden Klassen eine fünfte hinzu. Damit wurde einerseits das Ni-veau gesteigert und andererseits der Übergang der Schüler in die höhe-ren Schulen erleichtert.20 Rabbiner Dr. Jizchak (Eisik) Auerbach21 – eramtierte von 1873-1901 – fügte weitere Klassen hinzu, so daß auchSchüler vom 12. Lebensjahr bis nach ihrer Bar-Mizwah an der Schule

lernen konnten.22

 Rabbiner Benjamin Hirsch23

– er amtierte von 1933-

17  Der Rabbiner Dr. Z.B. Auerbach wurde am 26. Ijar 5568 (1808) in Neuwied beiKoblenz als Sohn des Rabbiners Abraham Auerbach als Angehöriger einer berühmter Rab-binerfamilie geboren. Er starb in Halberstadt im Jahre 1872. Er lernte bei berühmten Rab-binern. Die „Hatarat Hahoraah“ (Promotion zum Rabbiner) wurde ihm von Rabbiner LeibKoppel Bamberg aus Würzburg verliehen. Seine akademische Ausbildung erhielt er an derUniversität in Marburg; er war einer der ersten Rabbiner mit einem Doktortitel in Deutsch-land. Von 1837 bis 1851 fungierte er als Rabbiner der Gemeinde Darmstadt, doch legte erdas Amt nieder, als dort religiöse Reformen eingeführt wurden. Er veröffentlichte For-schungen, Bücher und Artikel meist religiösen Inhalts und war als einer der hervorra-gendsten Thora-Forscher seiner Zeit berühmt. Vgl. B. H. Auerbach, Rabbiner Zwi Benja-min Auerbach. 100 Jahre zu seinem Hinscheiden (27 Elul 5632 - 27 Elul 5732) (Hebrä-isch), Hamaajan, (5733/ 1973), III, S. 19-43; E. Hildesheimer, Die Rabbiner Halberstadtsund ihre Weisen (Hebräisch), J. Rafael (Hg.), Sefer Aviad, Jerusalem 1986, S. 248.

18  J. Hirsch, (Hg.), R. Benjamin Hirsch s.A., Aufzeichnungen und Erinerungen zurGeschichte der Familie Hirsch und Auerbach und auch einige der Menschen der heiligenGemeinde Halberstadt (Hebräisch), Jerusalem 1948, S. 63-66.

19 Rabbiner Dr. A. S. Auerbach, Sohn des Rabbiners Z.B., wurde in Darmstadt am 27.Kislev 5501 (1840) geboren und starb 5662 (1902). Erste religiöse Studien machte er unter der

Anleitung seines Vaters. Seine akademische Bildung erhielt er an den Universitäten Münchenund Berlin. Im Berliner Rabbinerseminar schloß er seine Ausbildung ab und wurde im Jahre1870 vom Rabbiner Elchanan Spektor aus Kowno zum Rabbinat authorisiert. Von 1863 bis1872 leitete er die Mittelschule in Fürth. Vgl. Hildesheimer (wie Anm. 17), S. 249.

20 Hirsch (wie. Anm.18), S. 70.21 Rabbiner Dr. Isak Auerbach, Sohn des Rabbiners A.S., wurde im Jahre 5630 (1870)

in Fürth geboren und starb am 25. Ijar 5692 (1932). Er lernte an der „Hascharat Zwi“-Schule in Halberstadt und im Berliner Rabbinerseminar. Dort erhielt er von Rabbiner EsrielHildesheimer die Promotion zum Rabbiner. Seine akademische Bildung erlangte er an derUniversität Berlin. Sein erstes Rabbineramt bekleidete er 1896-1899 in Rogosin in Posen.1899-1901 fungierte er als Rabbiner der orthodoxen Gemeinde in Leipzig. Während seinerAmtsausübung in Halberstadt war er auch in orthodoxen Organisationen in Deutschlandaktiv. Vgl. Hildesheimer (wie. Anm. 17), S. 248; Hirsch (wie. Anm. 18), S. 69-71.

22 Hirsch (wie. Anm. 18) S. 70.23 Rabbiner B. H. Auerbach, Sohn des Rabbiners Isak, wurde in Leipzig im Jahre 5661

(1901) geboren. Er lernte bei seinem Vater im Gymnasium in Halberstadt und studierte ander Universität Berlin. Nach Beendigung des Studiums wandte er sich dem Handel zu.Nach dem Tode seines Vaters schloß er seine religiösen Studien im Berliner Rabbinerse-minar ab, wo er 1932 die Promotion zum Rabbiner erhielt. Vgl. Hildesheimer (wie. Anm.17), S. 246.

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227Die jüdische Gemeinde in Halberstadt im 19. und 20. Jahrhundert

1938 – leitete die „Hascharat Zwi“-Schule in einer Zeit, in der die Judeneiner feindlichen Umgebung und den Schikanen der Behörden ausge-setzt waren. Dennoch gelang es dem Rabbiner und den Lehrern, das Schul-pensum derart zu erweitern, daß die Schüler die Schule mit der Reife-

prüfung absolvieren konnten.24 Die „Hascharat Zwi“-Schule wurde, wiealle jüdischen Lehrinstitute, 1941 von den Behörden geschlossen. Aberdas erzieherische Ziel der Gemeinde, nämlich die Vertiefung des jüdi-schen Bewußtseins der Jugend und ihre Vorbereitung auf das praktischeLeben in einer Zeit von dynamischen Veränderungen, konnte trotzdemerreicht werden.

 III. Wandlungen im Religionswesen

Wandlungen im Religionswesen kamen sowohl in unbedeutenden Ände-rungen in den Synagogenordnungen sowie in Konflikten innerhalb derGemeinden zum Ausdruck. Wie in anderen orthodoxen GemeindenDeutschlands wurde auch in Halberstadt die religiöse Tradition nach der„Halachah“25 streng befolgt, und es wurden keine Änderungen in denGebeten und Bräuchen vorgenommen. Doch der Zeitgeist machte sichauch in den orthodoxen Gemeinden bemerkbar. Den Gemeinderabbinernoblag die schwere Aufgabe, ihre Gemeinde auf der komplizierten Grat-

wanderung zwischen Tradition und Zeitgeist anzuführen.In orthodoxen Gemeinden wurden einige Änderungen ästhetischerArt beim Gebet eingeführt.26 Die deutsche Predigt war eine der Neue-rungen, welche die Orthodoxie annehmen konnte, ohne die Traditionzu gefährden.

Die erste deutsche Predigt in der Halberstädter Synagoge hielt im April1841 der Lehrer Gerson Lasch.27 Die „Allgemeine Zeitung des Judenthums“,eine Zeitschrift der Reformbewegung, lobte die Gemeinde und erblicktedarin einen guten Anfang.28 Noch im August desselben Jahres hielt Aron

Hirsch Götingen29 eine deutsche Predigt in der „Klaus“-Synagoge.30

24 Auerbach (wie Anm. 4), S. 328-329.25 Gesetze und Vorschriften des Talmuds.26 J. Katz, The Secession of Orthodox Jews from the General Community in Hungary

and German (Hebräisch), Jerusalem 1995, S. 43 ff.27 Gerson Lasch fungierte von 1829 bis 1823 als Stellvertreter des Direktors der „Ha-

scharat Zwi“-Schule und seit 1825 als ihr Direktor. Er bekleidete verschiedene öffentlicheÄmter in der Gemeinde und war auch im Wohlfahrts- und Lernverein tätig. Er veröffent-lichte fünf Bücher, darunter Lehrbücher für Schulkinder. Vgl. Auerbach (wie. Anm. 8), S.133; Hildesheimer (wie Anm. 17), S. 261.

28 Allgemeine Zeitung des Judentums = (AZJ), 5 (1841) 19, S. 260-261.29 Aron Hirsch wurde im Jahre 5543 (1783) in Göttingen geboren. Er war ein Sohn des

Rabbiners Naftali Hirsch Gumperz, der in Halberstadt 50 Jahre lang „Klaus“-Rabbiner war.Aron war der Gründer der Metall-Firma „Aron Hirsch & Sohn“. Er starb Kislev 5603 (1842).Vgl. Hildesheimer (wie Anm. 17), S. 247; Hirsch (wie Anm.18) S. 21-22.

30 CAHJP, Ha2, 3536, S. 63, 135. Das Bet-Hamidrasch (Lehrhaus), genannt die „Klaus“,wurde 1702 vom Hofjuden Behrend Lehmann gegründet. In der „Klaus“ lernten zahlreicheSchüler, wovon einige berühmte Rabbiner wurden. Vgl. Auerbach (wie Anm. 8), S. 61-63.

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228 MEIR HILDESHEIMER

Die Herstellung von engeren Beziehungen zwischen den Juden undihrer Umgebung, die sich besonders im 19. Jahrhunderts entwickelte,stellte die jüdische Gemeinschaft, und besonders die Orthodoxie, vorneue Probleme. Das schwierigste davon war die Sabbathruhe. Der preu-

ßische Justizminister wandte sich im Dezember 1861 mit einer Anfragean einige Rabbiner, darunter an den Rabbiner der „Klaus“-Synagoge inHalberstadt, Gerson Josaphat31, ob die Ausübung des Amts eines jüdi-schen Richters nicht die jüdischen Gesetze verletzen würde. Die Ant-wort des Rabbiners lautete nach der „Allgemeinen Zeitung des Juden-thums“ folgendermaßen: in derselben Weise, wie ein Soldat keinenBefehl verweigern kann, sogar wenn dadurch die Sabbath- oder Fest-tagsruhe verletzt wird, so muß ein jüdischer Beamter sein Amt gewis-

senhaft ausführen.32

 Die Glaubwürdigkeit dieser Nachricht ist jedochsehr zweifelhaft, denn Josaphat war 1842 ein entschiedener Gegner derEinführung der Wehrpflicht für Juden, da er befürchtete, daß die jüdi-schen Soldaten den Sabbat entheiligen könnten.33

 IV. Synagogen-Ordnungen

Von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis zur Vernichtung der Gemeinde1938 wurden in der Halberstädter Gemeinde drei Synagogenordnungen

eingeführt, nämlich in den Jahren 5501 (1741)

34

, 5639 (1879)

35

und5688 (1928)36. Ein ähnliches Statut wurde 1809 auch vom Westfäli-schen Konsistorium veröffentlicht, und die Gemeinden des Bezirkswaren gezwungen, danach zu handeln37. Die Synagogen-Ordnung 5501war in hebräischer Sprache, worin einige Wörter und Sätze in Juden-deutsch, d.h. deutsche Wörter in hebräischen Buchstaben, enthaltenwaren. Die Ordnungen der Jahre 5639 und 5688 sind in deutscher Spra-che abgefaßt.

Im Statut des Jahres 5501 (1741) wurde das erste Kapitel dem „Be-

nehmen in der Synagoge“ gewidmet. Dieses Kapitel enthielt 19 Para-graphen. Die §§ 1-11 beziehen sich auf die Tauglichkeit der Torahrollen;§ 12 – behandelt die Regelung des Kaddisch-Gebets; die §§ 13-14 –beziehen sich auf die „Klaus“-Synagoge; der § 15 – benennt die Sitz-plätze in der Synagoge; der § 16 – das züchtige Erscheinen; § 17 –benennt die Mitglieder, die sich auf dem Almemor befinden dürfen; § 18 –

31  Rabbiner Gerson Josaphat, Sohn des Rabbiners der Gemeinde Kassel, Samuel J.,wurde im Jahre 5568 (1808) in Kassel geboren. 1831 wurde ihm von Rabbiner Tuvia Sond-heim, Rabbiner der Gemeinde Hanau die Rabbinerpromotion verliehen. 1836 wurde erzum Rabbiner der „Klaus“ in Halberstadt ernannt und bekleidete dieses Amt bis zu seinemTode im Nissan 5643 (1883). Vgl. Hildesheimer (wie Anm. 17), S. 250.

32 AZJ, 25 (1861) 52, S. 755.33 CAHJP, Kge 3 (2), S. 8, datiert 7. August 1842.34 CAHJP, Kge 3/8.35 CAHJP, TD 964. Im Vorwort der Synagogen-Ordnung 5688 ist vermerkt, daß die

Synagogen-Ordnung 5639 die erste jeher war. Vgl. CAHJP, TD 1051, S. 2.36 CAHJP, TD 1050.37 Sulamith, III (1810), 1/6, S. 366-380.

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229Die jüdische Gemeinde in Halberstadt im 19. und 20. Jahrhundert

schreibt vor, daß die Haftara „Chason“ nur vom Rabbiner, dem Vorsit-zender des Rabbinatsgerichtes oder einen der sieben Stadtältesten (ToweHair) gesagt werden soll; § 19 – Segan38 ruft zur Thora auf, außer an„Simchat Thora“. An diesen Tag tritt der Monats-Vorsteher39 an seine

Stelle. In diesem Paragraphen werden auch die Pflichten des Dieners, der„an die Fenster klopft“ und die Beter zum Gottesdienst ruft, behandelt.

Die „Synagogen-Ordnung für die Synagoge der Israelitischen Gemein-de zu Halberstadt“, die anläßlich der Einweihung der renovierten Syna-goge veröffentlicht wurde, war in Deutsch mit einigen hebräischen Wör-tern, die den Betern bekannt waren, abgefaßt. Die Ordnung umfaßte 25Paragraphen. Das erste Kapitel, die §§ 1-6, wurde vollständig der Ord-nung und der Erscheinung in der Synagoge gewidmet, wie: stiller und

geordneter Ein- und Ausgang; Gruppierung und Gespräche sind in derSynagoge und in den anliegenden Räumen während des Gottesdienst nichterlaubt; das Ablegen von Mänteln, das An- und Ausziehen des „Kittels“und der Schuhe (zum Priestersegen, zu Jom Kippur und am 9. Av) darf nur in der Garderobe stattfinden; Kinder unter 9 Jahren sollen nicht indie Synagoge gebracht werden, ausgenommen jene, welche die Thora-Binden überreichen, ältere Kinder nur unter Aufsicht ihrer Angehörigen;am 9. Av dürfen keine Kisten und Schemel in die Synagoge gebrachtwerden; am 9. Av und am Jom-Kipur sind nur diejenigen, welche die

entsprechende Fußbekleidung tragen, zu den Ehrenverrichtungen berech-tigt; Verehelichte werden nach Ablauf des ersten Jahres der Hochzeit nurmit einem Kittel bekleidet zu Ehrenverrichtungen zugelassen. Das zwei-te Kapitel, die §§ 7-8, – zu den Synagogen-Plätzen – enthält Regelun-gen, z.B.: die Plätze werden nur für ein Jahr vermietet; auf einem Platzdarf nur ein Erwachsener sitzen, doch ist es gestattet, daß zwei Kinderunter 13 Jahren einen Platz gemeinsam einnehmen; ein Knabe unter 13Jahren kann neben einem Erwachsenen stehen, wenn sein Nachbar dadurchnicht belästigt wird. Im dritten Kapitel, die §§ 9-15 betreffend, – Gebeteund Vorbeter – wurden die Art des Betens und die Pflichten des Vorbe-ters spezifiziert: die Gebete sollen mit Würde und Anstand verrichtet wer-den; ein jeder hat sich des Mitsingens und lauten Mitlesens zu enthalten;als Vorbeter fungiert gewöhnlich der Kantor der Gemeinde; nur demRabbiner oder dem fungierenden Synagogen-Vorsitzenden ist es erlaubt,den Vorleser auf Fehler aufmerksam zu machen. Das vierte Kapitel, die§§ 16-21, – Ehrenverrichtungen – enthält u.a. Regelungen wie: sie sindmit schwarzem Hut oder Barett vorzunehmen; die Spezifizierung der Ver-

pflichtungen (des Torahlesens) und die Verteilung von Ehrenverrichtun-gen auch an andere; die Ehrenverrichtungen an Festtagen und an be-sonderen Terminen, wie Matnat Jad und Chatan Bereschit-Haftarot, sinddem Rabbiner reserviert; sowie verschiedene Aufgaben laut den Ritual-

38 Althebräischer Ausdruck; stammt aus der Zeit des Zweiten Tempels.39 Der Vorstand bestand aus sieben Stadtältesten (Tove Hair), davon drei aktive Vor-

stände, welche aus ihrer Mitte den sogenannten Monats-Vorsitzenden wählten.

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230 MEIR HILDESHEIMER

gesetzen. Das fünfte Kapitel, die §§ 22-25 – die Verwaltung – enthältEinzelheiten über die Synagogen-Kommission, ihre Zusammensetzung,deren Autorität und Pflichten.

Die „Synagogen-Ordnung der Synagogen-Gemeinde zu Halberstadt“,

welche am 10. Elul 5688 (1927) veröffentlicht wurde, enthielt 26 Para-graphen und einen Anhang mit „Bestimmungen über das Kaddisch-Ge-bet“, das 9 Paragraphen enthielt. Die Ordnungen der Jahre 5633 und 5688waren fast in allen Regelungen identisch, außer in den „Ehrenverrichtun-gen“. In der späteren Ordnung heißt es im § 17 – „Zu allen Ehrenverrich-tungen, sofern sie nicht von Chijuvim in Anspruch genommen werden,sind alle Mitglieder der Gemeinde gleichmäßig nach der aufgestelltenReihenfolge berechtigt.“ Ebenso ist der Anhang über das Kaddisch-Ge-

bet ausschließlich in der späteren Ordnung zu finden.Die drei Synagogen-Ordnungen von 5501, 5639 und 5688 lassen zweiTendenzen erkennen: 1. Das Festhalten an der Tradition; 2. Eine Anpas-sung von Erscheinung und Ordnung in der Synagoge an den Zeitgeist.Das Festhalten an der Tradition kam in solchen Punkten zum Ausdruckwie: Aufruf zur Thora, in welcher die Chijuvim Vorrecht hatten. Ein klei-ner Unterschied ist in den späteren Ordnungen bemerkbar und zwar, daßeiner der zum Dankgebet verpflichtet ist, auch zu den Chijuvim zählt.Das Kaufen der Ehrenverpflichtung wurde nur in der Ordnung 5688 er-

wähnt. Aufgaben und Stand des Rabbiners in der Synagoge wurdenstrengstens gehütet. Eine unbedeutende Änderung erfuhr die Ordnungbezüglich der Ehrenpflichten. In der spätesten Ordnung wurde bestimmt,daß der Spender für drei Wohlfahrtsvereinigungen oder für Eretz-Israelspenden solle.

Details in puncto Erscheinung und Ordnung werden in der Synago-gen-Ordnung 5501 wenig erwähnt. Ausnahmen bilden Vorschriften wieetwa: bescheidene Erscheinung, um in der christlichen Umgebung nichtaufzufallen; Unbefugte durften sich nicht auf dem Almemor aufhalten.In den späteren Synagogen-Ordnungen wurden der Erscheinung und derOrdnung ein größerer Teil gewidmet, um die Lebensweise und das Be-nehmen dem Zeitgeist anzupassen. Ein Zeichen für das Eindringen derMode in die Synagoge war der Wechsel vom bis dahin üblichen Hutmo-dell zum Zylinder.

Es zeigt sich also, daß in Halberstadt die jüdische Tradition im We-sentlichen streng beibehalten wurde. In den Gebeten wurden keine Än-derungen vorgenommen, und die alten Bräuche – Chijuvim und Ver-

kauf der Ehrenverpflichtungen – wurden bewahrt. Die Rücksichtnahmeauf den Zeitgeist tasteten den Gottesdienst und das Synagogenbrauch-tum nicht an.

V. Konflikte und Auseinandersetzungen

Die Homogenität der Halberstädter Gemeinde wurde durch verschiede-ne Erscheinungen in Frage gestellt, teils durch religiöse Indifferenz oder

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231Die jüdische Gemeinde in Halberstadt im 19. und 20. Jahrhundert

durch die sich im deutschen Judentum ausbreitenden Reformtenden-zen40 und teils durch mangelnde Konsequenz der Behörden gegenüberden jüdischen Gemeinden  sowie finanzielle Krisen der Gemeinden.

Die ersten Risse im bis dahin homogenen Gefüge wurden in den Jah-

ren 1808-1814, d.h. in der Zeit des Westfälischen Konsistoriums, of-fenbar. Ihr Präsident, Israel Jacobson41 , war entschlossen, im Religi-onswesen der westfälischen Gemeinden Reformen einzuführen. Um dieszu erreichen, wurde am 4. September 1809 eine sogenannte „Verfü-gung des Königlichen Konsistoriums – Bekanntmachung wegen besse-rer Einrichtung des Gottesdienstes in den Synagogen“ erlassen. DieseOrdnung breitete sich in den Gemeinden erst nach einem Jahr, am 29.September 1810, aus.42 Die Ordnung enthielt 45 Paragraphen, die ver-

schiedene Änderungen bezüglich der Synagogenbräuche und Gebetevorschrieben, darunter: Annullierung der Chijuvim, Pijutim u.a.; Än-derungen im „Mi-Scheberach“, „Jiskor“ und anderen Gebeten.

Die Reaktionen der Gemeindemitglieder in Halberstadt waren nichteinheitlich. Der Grund dafür lag in den ambivalenten Beziehungenzwischen der Gemeinde und Israel Jacobson. Er selbst stammte ausHalberstadt; hier war er geboren und hier hatte er seine Jugend ver-bracht. Aron Hirsch Göttingen war ein Jugendfreund von ihm. Die Ge-meindemitglieder, ihre Rabbiner und Führer schätzten und verehrten

seinen Vater, Israel Jacob, einer der Würdenträger der Gemeinde, derim Memorbuch verewigt wurde.43 In diesem Sinne wandelte er in denSpuren seines Vaters, und er war den Bedürfnissen der Gemeinde ge-genüber stets offen. Anderseits verletzte jedoch sein energisches Ein-treten für religiöse Reformen die Gesinnung der großen Mehrheit derGemeindemitglieder. Der Einspruch von elf Gemeindemitgliedern ge-gen die oben erwähnte Synagogen-Ordnung, welche am 24. Dezemberdem Gemeindevorstand übergeben wurde, sind in diesem Zusammen-hang zu sehen.44 Am 24. Januar wurden diese Einwendungen dem Kon-sistorium zur Einsicht und Entscheidung vorgelegt. Damit die Synago-gen-Ordnung für die ganze Gemeinde annehmbar sein könne, seien inihr einige Änderungen vorzunehmen: die Zeit des Morgengebets anFasttagen sei zu ändern; das Gebet „Schomer Israel“ nach dem Gebet„Tachnun“ am Montag und Donnerstag sei zu erlauben; die „Pijutim“nach dem Gebet „Mismor schel Jom“ an Wochentagen sollten nichtabgeschafft werden; die Gemeindemitglieder sollten auch weiterhin mit

40 Über die Probleme und Konflikte, die der Reformierungsprozeß hervorrief, vgl. J.H. Schoeps, Tradition und Neubeginn: Innerjüdische Reform 1750-1870, in: Menora,Jahrbuch für deutsch-jüdische Geschichte, 12 (2001), S. 15-37.

41  Vgl. J. R. Marcus, Israel Jacobson. The Founder of the Reform-Movement inJudaism, Cincinnati 1972.

42 Sulamith (wie Anm. 37).43  Gemeindebuch der Gemeinde Halberstadt, genannt „Memorbuch“, S. 59, aufbe-

wahrt in CAHJP, HM 1899.44 CJA, Ha2, 3520, S. 21.

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232 MEIR HILDESHEIMER

ihren Vor- und Vatersnamen zur Thora aufgerufen werden; das Gebet„Av Harachamim“ und die „Pijutim“ am Sabbat vor dem Laubhütten-fest und am Sabbat vor dem 9. Av sollten nicht aufgehoben werden;alle Bußgebete sollten unverändert bleiben; die Bräuche der Hosianna,

die in der Gemeinde länger als 100 Jahre üblich waren, seien nicht auf-zuheben. Obwohl diese Bemerkungen in einem versöhnlichen Tonabgefaßt waren und Verständnisbereitschaft erkennen ließen, lehnte dasKonsistorium in seiner Antwort vom 8. Februar 1811 alle diese Vor-schläge kategorisch ab. Der Gemeindevorstand wurde aufgefordert, dieMitglieder vor einer Einmischung in Angelegenheiten zu warnen, diesie nichts angingen.45

Den Höhepunkt erreichte der Konflikt, als ein ungenanntes Gemein-

demitglied im Auftrage der „Repräsentanten der Gemeinde“ einen de-nunzierenden Brief an die Behörden sandte.46 In der Beschwerde wur-den die Mitglieder Levin Hildesheimer47, Aron Meier, Wolf Natan, AronHirsch Göttingen der andauernden Untergrabung der Autorität des Kon-sistoriums bezichtigt, und zwar durch öffentliche Kundgabe vonUnzufriedenheit und den Versuch, andere Mitglieder zu beeinflussen,sich ihrer Gruppe anzuschließen. Sie hätten die Grenze des Erlaubtenüberschritten, als sie am Laubhüttenfest in einer Privatwohnung einenGottesdienst nach dem altüberkommenen Brauch abhielten. Aron Hirsch

Göttingen hätte diese Tat im voraus geplant, wie die Erwerbung einerThorarolle, die eigens zu diesem Zweck bestimmt war, beweise. DerBeschwerdeführer betonte, daß falls ihm ein Teil der den Gesetzüber-tretern auferlegten Strafgelder zustehe, er diese Summe den Armen derStadt spenden wolle, um nicht als Denunziant zu gelten. Die Beter wur-den zu einer Strafe von 1.000 Talern verurteilt, die von Aron Hirschsofort bezahlt wurde. Es ist uns nicht bekannt, ob noch mehrere Zusam-menkünfte dieser Art stattfanden .

Obwohl im § 1 der Synagogen-Ordnung 1809 festgesetzt war, daß jede Gemeinde nur eine Synagoge besitzen dürfe, wurde eine Inspekti-on erst im Januar 1812 durchgeführt.48 Am 26. Februar 1813 wurde derGemeinde-Vorstand aufgefordert, die „Klaus“-Synagoge zu schließen.Rabbiner Akiba Eger49, ein entschiedener Gegner der Reformen desKonsistoriums, beeilte sich nicht, den Befehl auszuführen. Erst als diePolizei ihm im Verweigerungsfalle mit schweren Strafen drohte,beschloß er schweren Herzens, den Schlüssel abzuliefern. Noch amselben Tage wurde jedoch bekannt, daß die Preußen die Franzosen im

45 CJA, Ha2, 3520, S. 23.46 CJA, Ha2, 3507, S. 18, datiert mit: Juni 1812.47 Sein früherer Name war Jehuda Leib Glei. Vgl. Sinai, 45 (5724/1964), S. 4, Anm. 1.48 CJA, Ha2, 3507, S. 5.49 Rabbiner Akiba Eger (Geburtsort und Datum unbekannt) war Sohn des Rabbiners

Wolf Eger, Rabbiner der Gemeinde Leinick. Er fungierte anscheinend vom Jahre 5544(1784) als „Klaus“-Rabbiner in Halberstadt und nach einigen Jahren als Vorsitzender desGerichts. Vom Jahre 5574 (1814) amtierte er bis zu seinem Tode am 1. Marcheschvan5584 (1823) als Gemeinderabbiner. Vgl. Hildesheimer (wie Anm. 17) S. 245.

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233Die jüdische Gemeinde in Halberstadt im 19. und 20. Jahrhundert

Freiheitskrieg 1812-1813 besiegt hätten, und damit waren Befehle desKonsistoriums null und nichtig.50

Nach der Auflassung des Konsistoriums glätteten sich die Wogen inder Gemeinde. Zwei Jahre später, im Oktober 1915, veröffentlichte der

Gemeindevorstand eine Bekanntmachung in Angelegenheit des Beneh-mens in der Synagoge, was auf Ordnungsstörungen wie Anwesenheitkleiner Kinder und Säuglinge sowie Jugendliche in unpassender Klei-dung hindeutet.51 Bis zu den vierziger Jahren werden keine außerge-wöhnlichen Ereignisse verzeichnet. Im September 1841 beschwerte sichWolf Böhme, ein notorischer Oppositioneller, über die Bräuche in derSynagoge und daß er während des Gottesdienstes persönlich und öf-fentlich beleidigt worden sei.52 Er verlangte, die „Klaus“-Synagoge zu

schließen und strenge Schritte zu unternehmen, damit solche Fälle nichtwieder vorkämen. Wenn die erste Forderung nicht akzeptiert würde,verlangte er, daß in beiden Synagogen nur auf Deutsch gepredigt wer-de. Er reichte sogar eine Beschwerde bei den Behörden ein. Die An-schuldigung der Beleidigung war gegen Aron Hirsch Göttingen gerich-tet, der am 18. Elul 5601 (1841) die Predigt gehalten hatte. Ferner wur-de derselbe bezichtigt, er habe die Vorschriften des Konsistoriums nichtbefolgt und damit gegen die Gesetze des Staates verstoßen.53 Darüberhinaus übte Böhme Kritik an den „veralteten“ religiösen Bräuchen und

an den im Budget für 1842 auferlegten Steuern. Daraufhin antworteteder Gemeindevorstand, das wahre Motiv für Böhmes Beschwerden seisein Wunsch, seinen Steuernschulden zu entgehen.54 Wegen der hohenSteuerschätzungen in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts wurdenunzufriedene Stimmen über die finanzielle Verwaltung der Gemeinde laut.Rabbiner Esriel Hildesheimer55  widerlegte diese Argumente in seiner

50 Auerbach ( wie Anm. 8), S. 140.51 CJA, Ha2, 3520, S. 38-39, datiert v. 10. Oktober 1815.52

 CJA, Ha2, 3536, S. 58-59, datiert v. 8. September 1841.53 Die Vorschriften des Konsistoriums waren offiziell noch in Kraft, obwohl die preu-ßischen Behörden sie nicht anwandten.

54 CJA, Ha2, 3536, S. 66, datiert v. 4. Oktober 1841.55 Rabbiner Esriel Hildesheimer wurde am 27. Ijar 5580, 20. April (1920) als Sohn des

Rabbiners Jehuda Leib Glei und Golda geb. Goslar in Halberstadt geboren. Er lernte beiseinem Vater und gleichzeitig, von 1826-1833, an der „Hascharat Zwi“-Schule. Er vervoll-kommnete seine religiöse Ausbildung beim Gemeinderabbiner Mattitjahu Levian und beiden „Klaus“-Rabbinern. 1833 ging er nach Altona und lernte dort im Laufe von mehr als vierJahren an der Jeschiva des Rabbiners Jacob Ettlinger. In den Jahren 1843-1846 erwarb erakademische Bildung an den Universitäten Berlin und Halle. 1846 kehrte er nach Halber-stadt zurück, fungierte dort als Sekretär und heiratete Henriette geb. Hirsch. 1851 wurde erzum Rabbiner der Gemeinde Eisenstadt in Ungarn (heute Österreich) ernannt. Im Oktober1869 übersiedelte er nach Berlin und fungierte dort als Rabbiner der Gemeinde „Adass Isroel“.1873 gründete er dort ein Rabbinerseminar. Er veröffentlichte Forschungen, Bücher undArtikel über die jüdische Lehre. Aus seinem Nachlaß wurden seine gesammelten Gutachtenund Talmudnovellen publiziert. Vgl. Hildesheimer (wie Anm. 17), S. 229-235; M. Hildes-heimer, Abriß des Porträts von Rabbi Esriel Hildesheimer (zum 90-jährigen Bestehen desBerliner Rabbinerseminars, Neumond Marcheschwan 5634), Sinai, 54 (5724/1974) (heb.),S. 67-93; Jeschurun, 7 (1920), 5/6. Das ganze Heft ist seinem Andenken gewidmet.

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234 MEIR HILDESHEIMER

Broschüre „Die Verwaltung der Jüdischen Gemeinde Halberstadt“. Ersah darin als Ursachen der finanziellen Schwierigkeiten die hohe Steu-erlast, die der Gemeinde von den Behörden in vergangenen Jahren undbesonders im 18. Jahrhundert aufgelegt worden war. Er wies auch auf 

die Schritte des Gemeindevorstandes zur Konsolidierung des Gemein-debudgets hin.56

Die Zwistigkeiten innerhalb der Halberstädter Gemeinde kamen auchin den jüdischen Zeitschriften zum Ausdruck. Ende 1840 erschien im„Orient“ die Nachricht, Aron Hirsch Götingen habe den Auftritt einesgemischten Chores zu Ehren des Geburtstages des Königs verhindert,obwohl der Sekretär Rabbiner Hildesheimer und der Gemeinde-Vor-stand damit einverstanden waren.57  Ende 1841 erschien in derselben

Zeitung eine anonyme Nachricht mit der Überschrift „Echte Freunde“.Darin war unter anderem zu lesen, daß es für die Gemeindemitgliederwünschenswert wäre, eine Prüfungskommission zu beantragen, welchedie Mißstände in der Gemeindeverwaltung untersuchen und prüfen sol-le, ob die Verwaltungsmaßnahmen zeitgemäß seien. Die Kommissionsollte auch die Entlassung sämtlicher Angestellten verfügen.58

Im Jahre 1843 brachte Böhme eine Klage über Emanuel Meir,Jehudah Alexaner, Lipman Heimann und einige andere ein und bezeich-nete sie als die Verantwortlichen für den Tumult während des Gottes-

dienstes am Simchat Thora 5604. Die Ursachen dafür sind uns nichtbekannt. In einem Brief an den Gemeindevorstand drohte er, eine Be-schwerde an die Behörden zu senden, sollten seine Forderungen nichterfüllt werden. Er forderte folgendes: die Entlassung Rabbiner Hildes-heimers, der für die Unruhen verantwortlich gemacht worden war; dieAbschaffung des „Segan“-Amtes sowie die Errichtung einer bevollmäch-tigten Untersuchungskommission.59 Zwar ist die Reaktion der Gemein-de nirgends belegt, doch dürften die Forderungen Böhmes nicht akzep-tiert worden sein, denn Rabbiner Hildesheimer blieb weiterhin im Amt.

Gegen Ende des fünften Jahrzehnts mehrten sich die inneren Strei-tigkeiten in der Gemeinde. Sie hatten innere wie äußere Ursachen. DieHauptlast der äußeren Auseinandersetzungen trug in dieser Zeit derGemeindesekretär Rabbiner Hildesheimer. Die Ursache des Disputszwischen ihm und Rabbiner Ludwig Philippson60 war eine vom 20.-21.Oktober 1847 von der Magdeburger Gemeinde einberufene Versamm-lung, die über entsprechende Schritte aus Anlaß der bevorstehendenVeröffentlichung des „Gesetzes über die Verhältnisse der Juden vom

56 Hildesheimer (wie Anm. 9), S. 3-23. Die Indentität der Beschwerdeführer ist nichtangegeben.

57  Diese Nachricht ist sehr unglaubhaft, denn zwischen den beiden herrschten diebesten Beziehungen.

58 Orient, 2 (1841), 9, S. 70.59 CJA, Ha2, 3536, S. 153-154.60 Ludwig Philippson war ein Reformrabbiner (1811-1889). Er gründete 1837 die weit-

verbreitete „Allgemeine Zeitung des Judenthums“ und fungierte als Rabbiner der Gemein-de Magdeburg. Vgl. M. Kayserling, Ludwig Philippson: eine Bibliographie, Leipzig 1898.

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235Die jüdische Gemeinde in Halberstadt im 19. und 20. Jahrhundert

23. Juli 1847“ beraten sollte. Auf der Tagesordnung standen die Gren-zen der einzelnen Gemeindebezirke sowie die Anpassung der Statutenan die gesetzlichen Forderungen. An Stelle dessen legte Philippson ei-nen Plan zur Gründung eines an der Reform ausgerichteten Konsistori-

ums vor. Die Einwände Rabbiner Hildesheimers gegen diesen Vorschlagwurden verworfen. Als man ihm das Recht auf Wortmeldung verwei-gerte, verließen die Abgeordneten der Gemeinde Halberstadt die Ver-sammlung.61

Der Zeitgeist machte sich auch in der Halberstädter Gemeinde be-merkbar. Die Errichtung eines gemischten Chors im Jahre 1847 erregteden Zorn der Rabbiner Levian62 und Josaphat. Es sangen darin Männerund Frauen unter der Leitung von Kantor David Jaretzki. Die Rabbiner

verwarnten den Kantor, daß wenn er diese Tätigkeit nicht einstelle, sieihm den Status des Schächters entziehen würden. Zwar unterstützte mehrals die Hälfte der Gemeindemitglieder den Liederkreis Jaretzkis, dochrieten sie ihm zugleich, diese Tätigkeit aufzugeben, um seine Einkom-mensquelle nicht zu verlieren.63 In derselben Zeit verstärkten sich dieUnruhen und die religiöse Indifferenz in der Gemeinde. 1847 sind dreiFälle verzeichnet, die darauf hinweisen. Am 28. März beschwerte sichder Lehrer Gerson Lasch über Ruhestörungen in der Synagoge.64 Am14. Juli verlangten die Gelehrten, an jedem Wochentag einen Minjan in

der „Klaus“-Synagoge zu bilden. Wegen der zu geringen Zahl der Syn-agogenbesucher kam ein solches jedoch nicht zustande.65 Am 17. Okto-ber beschwerte sich Rabbiner Levian über Störungen während des Got-tesdienstes und verlangte auch, daß der Gemeindevorstand Sorge füreinen täglichen Minjan trage.66 Am 17. August 1848 wurde in der Sit-zung des Gemeindevorstandes vorgeschlagen, eine Kommission zu er-nennen, die die religiöse Indifferenz bekämpfen sollte. Ebenso sollteein Aufruf veröffentlicht werden.67 Es ist uns nicht bekannt, ob dieseBeschlüsse ausgeführt wurden. Fälle dieser Art sollten später charakte-ristisch werden.

Im Zusammenhang mit den Unruhen in den Jahren 1848-1849 werdenzum ersten Mal zwei Gruppen erwähnt – Konservative und Neuerer.68 Inder Kontroverse kamen drei Punkte zur Sprache: die Wahlen zum Ge-

61 I. Hildesheimer, Protest gegen Reformumtriebe, Orient, 5 (1847), 44, S. 357-360; Au-erbach, (wie Anm. 4), S. 127.

62 Rabbiner Mattitjahu Levian wurde im Jahre 5548 (1788) in Polen geboren. Als jun-ger Mann zog er nach Halberstadt, um bei den Gelehrten in der „Klaus“-Synagoge zulernen. Im Jahre 5584 (1812), nach dem Tode des Rabbiners Akiba Eger, wurde er zumRabbiner der Gemeinde ernannt. Er starb am 22. Av 5622 (1862). Vgl. Hildesheimer (wieAnm. 17) S. 247.

63 AZJ, 10 (1846), 19, S. 260-261.64 CAHJP, Kge 3/5 (3), S. 21.65 Ebd., S. 46.66 Ebd., S. 65.67 Ebd., (4), S. 38.68 Der Treue Zionswächter , 5 (1849), S. 60.

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236 MEIR HILDESHEIMER

meindevorstand seien manipuliert, weswegen die Neuerer in der Min-derheit blieben; der Budgetausschuß stehe unter religiösem Einfluß undbenachteilige die Reformanhänger; unter Einfluß der Neuerer hatte dieMehrheit in der Stiftungs-Kommission beschlossen, die Zinsen der Stif-

tungen, die zum größten Teil den Gelehrten gewidmet waren, aufzuhe-ben oder drastisch zu verringern. Die Behauptung der Traditionsanhän-ger, daß die Zinsen laut Gesetz nicht zu ändern seien, wurde von denNeuerern nicht akzeptiert. Nachdem beide Gruppen keine Übereinkunfterzielen konnten, beschlossen acht der Neuerer, die Gemeinde zu ver-lassen.

Auf den ersten Blick schien dieser Austritt wirtschaftliche Gründezu haben, Doch Rabbiner Hildesheimer war der Meinung, dies sei le-

diglich ein Vorwand. Der wirkliche Grund sei religiös begründet undliege am Widerstand der Erneuerer gegen die in der Gemeinde üblicheorthodoxe Lebensweise.69 Nach den Gesetzen des Landes bedeutete derAustritt aus der Gemeinde auch den Austritt aus dem Judentum. DerStatus der Ausgetretenen wurde im Jahre 1848 in einem Brief des Rab-biners Levian und in der Antwort des Rabbiners Hildesheimer erörtert.70

Rabbiner Levian kam aufgrund verschiedener Quellen zu dem Schluß,daß die Ausgetretenen nicht zum Minjan zu zählen seien, nicht zur Thoraaufgerufen werden könnten, keinen Kiddusch sagen dürften und auch

nicht auf dem jüdischen Friedhof begraben werden könnten. In derAntwort an seinen Lehrer und Meister zweifelte Rabbiner Hildeshei-mer die Relevanz der genannten Quellen zum Thema an, zeigte sichaber mit den Schlußfolgerungen gänzlich einverstanden. Es liege keinBeweis vor, daß die Ausgetretenen die ganze Thora verworfen hätten;ebenso könne man sie nicht der „Entweihung des göttlichen Namens“bezichtigen. Es gebe keine Beweise dafür, daß sie aus Angst vor Demü-tigungen und Verfolgung aus der Gemeinde ausgeschieden seien. Eshandle sich daher um Leute, die das Judentum verlassen hätten, unddaher sei seine Entscheidung identisch mit der von Rabbiner Levian.

Vierzig Jahren später, Anfang 1883, wurden Nachrichten über Un-ruhen in der Gemeinde veröffentlicht. Die reformorientierte Zeitschrift„Israelitische Wochenschau“ erwähnte Rabbiner Aviesri Selig Auerbachim Zusammenhang mit dem Verbot des Hausierens. In der Meldungheißt es:

„Anstatt daß der Rabbiner die Kaufleute verteidigt, soll er sich um dieGemeinde und die Fleischverteilung sorgen, damit Familien nicht ohne

koscheres Fleisch an den Feiertagen bleiben.“71

In einer späteren Meldung in demselben Organ wurde die Hegemonieder Familien Hirsch und Auerbach als Grund der Unterdrückung derMinderheit bezeichnet. Diese Minderheit hätte einen eigenen Schäch-

69 Hildesheimer (wie Anm. 9), S. 3.70 E. Hildesheimer, Scheelot und Teschuvot Rabbi Esriel, Orach Chajim, Kap. 7.71 Israelitische Wochenschau, 14 (1883), 34/35, S. 207.

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237Die jüdische Gemeinde in Halberstadt im 19. und 20. Jahrhundert

ter (der auch als Lehrer fungierte) angestellt, um dem Terror bei derFleischverteilung ein Ende zu bereiten.72 In dieser Zeit organisierte sicheine ungefähr 25 Mitglieder zählende Gruppe, meistens wohlhabendeGemeindemitglieder, aus Protest gegen die Politik der Gemeinde in Fra-

gen der Schächtung und der Erziehung. Die Gruppe nannte sich„Tolerantija“, um ihre Duldsamkeit zu betonen. Ihre Mitglieder erklär-ten, sie hätten keineswegs vor, aus der Gemeinde auszutreten, sondernwollten lediglich Mißstände beseitigen. Der Schächter erklärte auf An-weisung des Rabbiners zuviel Fleisch als völlig ungeeignet. In der Er-ziehung benachteilige der Gemeindevorstand die Schüler der allgemei-nen Schulen im Religionsunterricht, offensichtlich weil die Eltern dieallgemeinen Schulen der „Hascharat Zwi“-Schule vorgezogen hatten.

Der Religionsunterricht werde in vier Wochenstunden zusammen mitden Schülern der „Hascharat Zwi“-Schule erteilt, die bedeutend bessermit der Materie bekannt seien. Infolge dessen könnten die erstgenann-ten Schüler den Lehrstoff nicht erfassen.73 Der Zorn der „Tolorantija“-Gruppe wandte sich hauptsächlich gegen Rabbiner Joseph Nobel.74 Siewaren der Ansicht, daß dieser streng orthodoxe Mann einen unheilvol-len Einfluß auf Rabbiner A. S. Auerbach ausübte, denn seit seinem Ein-treffen in Halberstadt habe sich die Fleischversorgung sehr verschlech-tert, da die guten Fleischstücke für die Familien Hirsch und Auerbach

reserviert blieben. Die „Tolerantija“-Gruppierung brachte ihre Ankla-gen gegen den Gemeindevorstand vor und verlangte: eine bessere Ge-schäftsführung; eine Revision der Gemeindestatuten; die Abhaltung vonNeuwahlen in der Gemeinde, wobei vier Sitze in der Repräsentanten-versammlung75 den Vertretern der Minderheit reserviert bleiben soll-ten. Die Mitglieder der „Tolorantija“-Gruppe drohten mit der Anstel-lung eines eigenen Schächters und Lehrers, falls ihre Forderungen nichtangenommen würden.76 Der Gemeindevorstand lehnte alle Vorschlägeab, weil er prinzipiell nicht mit Fraktionen, sondern nur mit einzelnenGemeindemitgliedern verhandelte. Außerdem wurde betont, daß die For-derungen auf religiöser Ignoranz beruhten. Dagegen war man bereit, denReligionsunterricht in die Fächern Bibel und Gebete zu trennen. Forde-rungen, die abgelehnt wurden, waren: die Abgangssteuer, mit der Perso-

72 Ebd., 14 (1883), 75, S. 405.73 Jeschurun, 16 (1883), S. 859-860.74 Rabbiner Joseph Nobel wurde in Totis in Ungarn am Chanuka 5598 (1838) geboren.

Er lernte bei seinem Großvater Abraham Kutner, dem Rabbiner der Gemeinde Totis, undbei Rabbiner Esriel Hildesheimer in Eisenstadt. Auch war er in der deutschen Sprache undder klassischen deutschen Literatur bewandert. Sein erstes Rabbineramt war in Zongradund sein zweites in Navi Atad, beide in Ungarn. Im Jahre 1880 nahm er die Stelle eines„Klaus“-Rabbiner in Halberstadt an und bekleidete dieses Amt bis zu seinem Tode am 28.Elul 5677 (1917). Er war in Deutschland und im Ausland als großer Gelehrter bekannt undveröffentlichte zahlreiche Bücher und Artikel. Vgl. Hildesheimer (wie Anm. 9), S. 253.

75 Die Repräsentantenversammlung war eine Körperschaft, die in Gemeindeangele-genheiten Beschlüsse faßte. Sie bestand aus neun gewählten Mitgliedern, und es waren inihr sämtliche Gemeindemitglieder vertreten.

76  Israelitische Wochenschau, 14 (1883), 87/88, S. 506-507.

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nen belegt wurden, die die Gemeinde verließen sowie die Hochzeits-teuer; die Abhaltung einer Neuwahl und die Reservierung von vier Sit-zen für die Minderheit. Als Reaktion beschloß die „Tolerantija“-Grup-pe, einen Schächter und Lehrer anzustellen.77

Im Jahre 1890 formierte sich in der Gemeinde wiederum eine Frak-tion mit anderen Forderungen. Diese hatte kleinere Ausmaße als dieerste.78 Sie betonte die unbedingte Notwendigkeit, die religiösen Bräu-che in der Gemeinde zu ändern und sie dem Zeitgeist anzupassen. DieGruppe namens „Kleine Sobranja“ – nach dem selbständigen Parlamentin Bulgarien – forderte eine entsprechende Vertretung in der Reprä-sentantenversammlung. Tatsächlich wurde Moses Helft als Vertreter derliberalen Minderheit gewählt. Er war jedoch nicht energisch genug, und

so konnte die Gruppe die gewünschten Reformen nicht durchbringen.79

Die Konflikte in der Gemeinde im 19. Jahrhundert waren zum größ-ten Teil durch die Auseinandersetzungen mit dem Zeitgeist entstanden.Doch gelang es der Gemeinde, ihren orthodoxen Charakter im großenund ganzen zu bewahren – nicht zuletzt dank der Entschlossenheit ihrerRabbiner und Führer.

VI. Wirtschaftliche Veränderungen

Die wirtschaftliche Entwicklung der Halberstädter Gemeinde ist engmit den Veränderungen der wirtschaftlichen, politischen und gesell-schaftlichen Lage der deutschen Juden verbunden. Die deutsche Wirt-schaft ging in dieser Zeit vom merkantilen zum kapitalistischen Sys-tem über; außerdem begann am Ende des 19. Jahrhunderts die Industri-alisierung.80 Das politische System veränderte sich in diesem Jahrhun-dert radikal. In den Jahren 1808-1814 hatte Halberstadt unter dem Re-gime des französischen Königs Jérôme gestanden und fiel danach wiederan Preußen. Die Revolution von 1848, die Reaktion in den fünfziger

Jahren, die Reichsgründung 1871 sowie der Antisemitismus und diepolitischen Unruhen im 20. Jahrhundert beeinflußten die politische Stel-lung der Juden in Halberstadt stark. Im sozialen Bereich waren der Zeit-geist und die Verbreitung der in vielen Gemeinden eingeführten religi-ösen Reformen für die abnehmende Einheitlichkeit der Gemeinde undin gewissem Maße für Veränderungen in demographischer Hinsicht undim Hinblick auf die berufliche Stellung verantwortlich.81

Die Veränderungen in der Wirtschaftsstruktur waren in Halberstadtprinzipiell dieselben wie in den anderen jüdischen Gemeinden Deutsch-

77 Ebd., 14 (1883), 93/94, S. 538-539; 95/96, S. 9-550; 97/98, S. 561; 100, S. 572.78 Die Anzahl der Mitglieder ist nicht angegeben.79 Auerbach (wie Anm. 4), S. 152.80 A. Barkai, The German Jews at the Start of Industrialisation, Structural Change-

and Mobility 1860-1930, in: W. Mosse/A. Paucker/R. Rürup (Hg.), Revolution and Evo-lution 1848 in Jewish History, Tübingen 1981, S. 124.

81 K. Zielenziger, Juden in der deutschen Wirtschaft, Berlin 1930, S. 10-11.

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239Die jüdische Gemeinde in Halberstadt im 19. und 20. Jahrhundert

lands. Und doch stand die Halberstädter Gemeinde in gewisser Hin-sicht einzigartig da: 1. die Metallwerke „Hirsch & Sohn“, die die Aus-beutung und Bearbeitung von Kupfererzen aus den Bergwerken im Harzund später auch aus Norddeutschland betrieben; 2. die moderne Dru-

ckerei der Familie Meyer, die in ganz Deutschland bekannt war; 3. eineverhältnismäßig große Anzahl von Beamten; 4. der Zuzug von ortho-doxen Jugendlichen, die hier Arbeit finden konnten, ohne den Sabbathzu entheiligen. Wie überall im deutschen Judentum, so führte auch inHalberstadt die Entwicklung zu einem Anwachsen der Beschäftigten inakademischen Berufen und zum Übergang vom Hausierhandel zum eta-blierten Handel und in einigen Fällen zur Industrie.

Von der Gemeinde Halberstadt sind nur lückenhafte Angaben zur

Berufsstruktur dokumentiert. Die Zahlen aus dem Jahre 1850 enthaltennur Steuerpflichtige.82 Vom Anfang des 20. Jahrhunderts an existierenvollständigere Daten, welchen die Erwerbstätigkeit aller Mitglieder derGemeinde entnommen werden können.83

Die Berufsstruktur war im Jahre 1908 vielseitiger als 1850, und dieGemeindemitglieder waren in zahlreicheren Berufen beschäftigt. Voneinigen Ausnahmen abgesehen, war in den meisten Berufen die Zahlder Beschäftigten 1908 größer als 1850. In den freien Berufen war dieZahl der Beschäftigten viermal so groß, prozentuell gab es aber keinen

Unterschied. Dies lag anscheinend in der Tatsache, daß von den sechsim Jahre 1850 erwähnten Lehrern nur zwei vollberuflich tätig waren;die anderen unterrichteten nur einige Stunden wöchentlich. Zur Rubrik„Handel“ ist zu vermerken, daß sich im Jahre 1908 noch 18 Beschäf-tigte vom Kleinhandel ernährten. Dies ist auf die Einwanderung derOstjuden am Ende des 19. Jahrhunderts zurückzuführen. Eine gewisseZahl von ihnen kam auch nach Halberstadt, wo sie in der ersten ZeitSchwierigkeiten hatten, sich hier ins Berufsleben einzufügen.84 Die Er-richtung von Großkaufhäusern war der Grund für die Zunahme der Zahlder Angestellten. Das Anwachsen der Zahl der Handwerker in Jahre1908 ist eine Folge der Tatsache, daß 1850 in der uns zur Verfügungstehenden Quelle nur Steuerpflichtige angeführt wurden. Die Abnahmeder Zahl der Beschäftigten im „Gemeindedienst“ 1908 ist auf die Än-derungen bezüglich des Koscherfleischverkaufs (s.u.) zurückzuführen,wonach weniger Personal damit beschäftigt wurden als 1850.

Die Untersuchung der Berufsstruktur der Gemeinde Halberstadtwurde an Hand eines Vergleichs mit den Angaben von anderen Ge-

meinden in Preußen und jenen der allgemeinen Bevölkerung in Deutsch-land Mitte des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts durchgeführt. DerVergleich war mit gewissen Schwierigkeiten verbunden, worunter diegrößte die unterschiedliche Einbeziehung der einzelnen Berufsgruppen

82 Stadtarchiv Halberstadt, 2.11.005.83 R. Grünwald, Adressbuch von Halberstadt für 1908, 51. Jahrgang, Halberstadt 1908.84 Auerbach (wie Anm. 4), S. 311.

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240 MEIR HILDESHEIMER

darstellte. So wurden in Kassel und Frankfurt am Main beispielweiseauch Bettler, Arme und Berufslose aufgenommen. Um eine mehr oderweniger einheitliche Basis zu schaffen, wurden in der Tabelle II dieseAngaben nicht aufgenommen.

Tabelle II 85: Vergleich der Berufsstruktur in den Jahren 1850-1854

Tabelle II weist auf mehrere Unterschiede hin. In Frankfurt am Mainwaren über 80% der Erwerbstätigen in Handel und Banken beschäftigt,in Halberstadt und in Kassel hingegen nur 50%. Dies mag bedeuten,daß die Frankfurter Juden bedeutend besser situiert waren als die Judenin Halberstadt und besonders jene in Kassel. Dort waren 16% der Er-werbstätigen in niedriger eingestuften Berufen tätig. Der hohe Prozent-satz von Gemeindebediensteten in Halberstadt war eine Folge der bereitserwähnten in Halberstadt üblichen Methode des Koscherfleischverkaufs,

die zahlreiche Arbeiter erforderte.

85  J. Toury, Soziale und politische Geschichte der Juden in Deutschland 1847-1871,Düsseldorf 1977, S. 366, 377; H. Silbergleit, Die Bevölkerungs- und Berufsverhältnisseder Juden im Deutschen Reich I, S. 80, 81; Lestschinski (wie Anm. 11), S. 38.

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241Die jüdische Gemeinde in Halberstadt im 19. und 20. Jahrhundert

Tabelle III 86 : Vergleich der Berufsstruktur in den Jahren 1907, 1908

Tabelle III zeigt, daß die Unterschiede, welche die Berufsstruktur inder ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts charakterisiert hatten, fast gänz-lich verschwunden waren. Die Juden Halberstadts waren im 20. Jahr-hundert ein integraler Teil im Wirtschaftswesen des deutschen Juden-tums, welches sich von der Berufsstruktur der allgemeinen Bevölke-rung unterschied.

Die wirtschaftliche Struktur der Gemeinde Halberstadt weist, wiebereits erwähnt, einige Besonderheiten auf:

1) Die MetallbrancheIhr Anfang ist auf das Jahr 1806 zurückzuführen, als Aron Hirsch Göt-tingen begann, mit Silber und Kupfererzen zu handeln, die in den Berg-werken im Harzgebirge gewonnen wurden. 1820 errichtete er ein Kup-ferhammerwerk in Werne. 1823 wurde er Teilhaber eines ähnlichenBetriebes in Ilsenburg. Beide Orte befinden sich im Harz in der NäheHalberstadts. Nach einigen Jahren wurde Aron Hirsch Göttingen der

Alleininhaber des Werkes in Ilsenburg. Seit den dreißiger Jahren, alssein Sohn Josef der Firma beitrat, trug die Firma den Namen „Hirsch &Sohn“. Das Werk in Ilsenburg war das Zentrum für die Bearbeitung,das Schmieden und die Gewinnung von gediegenem Kupfer. Nach demTode des Firmengründers im Jahre 1842 traten noch drei Söhne und

86 Ebd., S. 87; A. Prinz, Juden im deutschen Wirtschaftsleben. Baerb. u. hrsg. v. A.Barkai, Tübingen 1984, S. 167.

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242 MEIR HILDESHEIMER

später auch andere Familienmitglieder der Firma bei, unter denen Ben- jamin Hirsch der hervorragendste war. 1863 erwarb die Firma das Me-tallwerk in Hegemünde bei Eberswalde am Finowkanal in Norddeutsch-land. Dieses Werk spezialisierte sich auf die Bearbeitung von Messing.

Mit der Ausdehnung ihrer Tätigkeit ins Ausland entwickelte sie sich zueinem internationalen Konzern. Um die weltumspannenden Geschäfteleiten zu können, gründeten die Inhaber einige Tochterfirmen, die 1906in einer Aktiengesellschaft namens „Hirsch, Kupfer-und Messingwer-ke A.G.“ vereinigt wurden. Der Erste Weltkrieg und die Krisen derNachkriegsjahre waren ein schwerer Schlag für die Firma. Wirtschafts-krisen und Inflation verhinderten den Wiederaufbau des Unternehmens.Um die Betriebskosten zu verringern, wurde die Leitung der Firma im

Jahre 1927 nach Berlin verlegt. Das war ein schwerer Schlag für dieHalberstädter Gemeinde und für die Stadt, die dadurch einen großenErwerbsverlust erlitten. Doch auch dieser Schritt konnte die Firma nichtretten. 1932 wurde sie aufgelöst. Im selben Jahr gründete Dr. Emil Hirscheine neue Firma unter dem Namen „Erze und Metalle, Hirsch A.G.“,der angesichts der bevorstehenden Machtergreifung der Nazis keineChance auf Erfolg beschieden sein sollte.87

Außer dieser Firma waren noch zwei andere in der Metallbranchetätig. Eine wurde von Herz Meyer gegründet, der aus einer alten Hal-

berstädter Familie stammte. Ihre Vorväter lebten schon im 17. Jahrhun-dert in Halberstadt.88 In den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts grün-dete Herz Meyer zusammen mit seinen Söhnen Louis und Moritz denMetallwarenhandel „H. Meyer & Söhne“ in der Voigtstraße 6. Offen-sichtlich spaltete sich die Firma nach dem Tode des Gründers, denn imstädtischen Adreßbuch Jahrgang 1908 wurden zwei Metallfirmen unterden Namen „Meyer“ erwähnt: „H. J. Meyer: Metall-, Bergwerk undHüttenprodukte“, Voigtstraße 6, Eigentümer: Luis und Ferdinand Meyer;und „B. J. Meyer: Metall-, Bergwerk und Hüttenprodukte“, Kaiserstra-ße 56, Eigentümer: Witwe Henriette Meyer.89 Im September 1938 be-stand nur noch eine Firma, und zwar in der Voigtstraße im Besitz vonHermann Rosenbaum.90

Eine weitere Firma, die sich mit Metallhandel beschäftigte, war„Samuel Baers Söhne“, gegründet von den Söhnen des Lehrers SamuelBaer – Josef und Emil. Im Jahre 1877 gründeten sie die Metallwaren-

87 Hirsch (wie Anm. 18), S. 57-58, 60; Zielenziger (wie Anm. 81) 199-205; S. Auer-bach, Jews in the German Metal Trade, LBIB, 10 (1965), S. 190-191; B. H. Auerbach, DieUranfänge der Firma ‘Hirsch Kupfer-und Messigwerke A.G.’ In: Zeitschrift für die Ge-schichte der Juden (=ZGJ), 9 (1972), S. 65-70; W. Mosse, Integration through Apartheit.The Hirschs of Halberstadt. In: Leo Baeck InstitutYear Boock (=LBIYB), XXXV (1900),S. 133-150.

88 S. M. Meyer, Chronik der Familie Meyer, (Handschrift), datiert 13. Juli 1887, ausder Sammlung des Herrn Jizchak Meir, Moschav Chemed.

89 Auerbach (wie Anm. 4), S. 147; Grünwald (wie Anm. 83), S. 192.90  W. Hartmann, Geschichte, Ende und Spuren einer ausgelieferten Minderheit III,

Halberstadt 1995, S. 13.

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243Die jüdische Gemeinde in Halberstadt im 19. und 20. Jahrhundert

firma in der Bakenstraße 28. Nach einigen Jahren traten ihre Brüder Gus-tav und Max der Firma bei. Der Betrieb bestand bis zum Herbst 1938.91

2) Druckereibranche

Der erste Versuch, eine Druckerei zu eröffnen, wurde im Jahr 1741 un-ternommen. Der Gemeindevorstand wandte sich an die Behörden mitder Bitte, die Gründung einer Druckerei unter Leitung des DruckersIsrael Abraham aus Jessnitz im Kreise Anhalt zu gestatten. Die Bittewurde abgeschlagen.92 Die erste Buchdruckerei wurde in Halberstadterst 60 Jahre später errichtet. Fischel Hirsch aus Polen ließ sich in Hal-berstadt im Jahre 1800 nieder. Er druckte seltene und vergriffene Bü-cher, und von 1830 an nur noch hebräische Bücher.93

Die Druckereibranche erfuhr durch das Druckhaus der Familie Meyereinen großen Aufschwung. 1861 gründete Hermann Meyer, ebenfalls einNachfahre der oben erwähnten Familie, eine kleine Druckerei am Dom-platz 7 und später am Düsterngraben. Sein Sohn Julius trat 1881 der Fir-ma bei. Er wurde 1857 in Magdeburg geboren und dort erzogen. DasDruckereihandwerk erlernte er in dem berühmten Verlag und Druckhaus„F.A. Brockhaus“ in Leipzig von der Pike auf. Mit seinem Eintritt in dieFirma seines Vaters sorgte er für ihre Erweiterung. 1883 kamen zu derDruckerei eine Buchbinderei und eine Litographie-Abteilung hinzu. Im

selben Jahr starb sein Vater Hermann. Als das Betriebsareal 1891 zu kleinwurde, erwarb Julius ein Grundstück von 1000 m2 in der Lindenstraße.Nach einem Jahr wurde das Areal nochmals um 1500 m2 erweitert unddie Buchbinderei, der Maschinensaal und die Lagerräume wurde dorthinverlegt. 1923 waren dort 90 Druckpressen in Betrieb. Die Firma hattesich einen guten Ruf erworben, und ihre Kundschaft kam aus dem gan-zen Land. Während des Ersten Weltkrieges erlitt die Firma einen Nieder-gang. Nach dem Krieg erholte sich die Firma zwar, florierte aber nichtmehr so wie in den Vorkriegsjahren. Für die Jahre 1923-1938 wurdenkeine Daten angegeben. Die Druckerei war bis zu ihrer Enteignung imJahre 1938 in Betrieb.94

3) GemeindebediensteteDer entscheidende Grund für die große Anzahl der Gemeindebeamten imJahre 1850 in Halberstadt lag in der zentralisierten Methode der Behand-lung und des Verkaufs des koscheren Fleisches. Ziel der Methode war es,die Versorgung der Gemeinde mit streng koscherem Fleisch zu garantie-

ren. Alle Stufen der Vorbereitung, vom Schächten bis zum Verkauf, wur-den unter den wachsamen Augen der Aufseher im „Scharren“95 vollzo-gen. Hierbei waren zwei Schächter, zwei bis drei Hilfsschächter, ein

91 Hirsch (wie Anm. 18), S. 8092 Köhler (wie Anm. 2), S. 21.93 Eschwege (wie Anm. 5), S. 295-296.94 Hartmann (wie Anm. 90), I, S. 39.95 „Scharren“ bedeutet eigentlich Scheune. Hier ist es eine Halle zum Fleischverkauf.

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244 MEIR HILDESHEIMER

Diener, der für die Sauberkeit sorgte, und zwei Aufseher beschäftigt.96

Die Änderung dieser Methode des Fleischverkaufs um die Jahrhundert-wende verursachte eine Abnahme der Zahl der Gemeindebediensteten.Außerdem waren 1850 wie 1908 in den zwei Synagogen – der Großen-

und der Klaussynagoge – mehrere Beamte notwendig. In jeder fungier-ten ein Kantor, ein Synagogendiener und ein Hilfsdiener.

4) Orthodoxe Jugend Die Halberstädter Gemeinde war aus zwei Gründen für die traditionelleingestellte Jugend attraktiv: erstens konnten Jugendliche leicht eineAnstellung bekommen, wo sie ungestört den religiösen Bräuche nach-kommen konnten und zweitens war es ihnen möglich, bei berühmten

Gelehrten Thorastudien zu betreiben. Ihre Anwesenheit trug entschei-dend zum Wirtschaftsleben der Stadt bei, denn sie waren fleißige undgefügige Arbeitskräfte. Auch bereicherten sie das geistlichen Leben derGemeinde durch ihre Thorastudien frühmorgens vor der Arbeit unddurch ihre Teilnahme an allen Gottesdiensten.97

VII. Gesellschaftliche VeränderungenDie gesellschaftlichen Veränderungen verliefen langsamer als die wirt-schaftlichen, und erst nach der Verbesserung der Rechtslage der Juden

wurden diese sichtbar. Der Wandel begann schon am Anfang des 18. Jh.,wurde aber erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts voll spürbar.Während der Jahrhundertwende waren die Halberstädter Juden noch einegeschlossene Gesellschaft und hatten mit ihrer nichtjüdischen Umgebungkaum Umgang. Die Ideen der Aufklärung, die sich in vielen Gemeindenverbreiteten, konnten in den orthodoxen Gemeinden noch keinen Fußfassen. Noch im Jahre 1809 wurden nachts die Tore des Judenviertelsgeschlossen.98 Es gab indes einige Wohlhabende in der Gemeinde, diesich in Kleidung und Manieren den reichen Christen angleichen wollten.Gegen diese Tendenzen erließen die Gemeindeführer im Jahre 177699 undRabbiner Jehuda Leib Eger100 noch Anfang des 19. Jahrhunderts strengeVorschriften. In der Synagoge und den örtlichen Wohlfahrts- und Lern-gesellschaften fanden die Halberstädter Juden Muße von ihrer täglichenMühsal. Ein beliebter Zeitvertreib für jung und alt waren Ausflüge inden Harz.101 Mit der Verbreitung der deutschen Sprache auf Kosten des

96 CAHJP, Kge 3/47, S. 12-23.97 Hirsch (wie Anm. 18), S. 67.98 M. Gabriel, Schabbat Schalom in Halberstadt, Halberstadt o.J., S. 9.99 J. Levinski, Statut zum Beschneidungsmahl in der Gemeinde Halberstadt 5536 (He-

bräisch), Reschumot, neue Auflage I, S. 142-150.100 Rabbiner Jehuda Leib Eger, Sohn des Rabbiners Akiba Eger (kein Geburtstermin

angegeben). Er amtierte als Rabbiner der Gemeinde in den Jahren 1775-1813 und starb am27 Tevet 5574 (1813). Vgl. Hildesheimer (wie Anm. 18), S. 244.

101H. Eschwege, Erinnerungen, (Handschrift), aufbewahrt im Leo Baeck Archiv, NewYork, ME 584, S. 54; K Kalvari, Erinnerungen, (Handschrift), aufbewahrt im Leo BaeckArchiv, New York, ME 80, S. 29

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245Die jüdische Gemeinde in Halberstadt im 19. und 20. Jahrhundert

Jüdisch-Deutschen wuchs das Interesse an der Politik und Kultur derNichtjuden. An der Revolution von 1848 nahmen einige HalberstädterJuden teil. Josef Hirsch, der Inhaber der Firma „Aron Hirsch & Sohn“,stand auf Seite der Regierung und diente in der Bürgermiliz. Ein na-

mentlich nicht erwähnter Jude schloß sich den Revolutionären an undmußte später nach England fliehen.102 Langsam wuchs das Interesse amTagesgeschehen. A. S. Auerbach, der wie erwähnt 1873-1901 als Rab-biner der Gemeinde amtierte, pflegte in seinen Vorträgen am Ausgangdes Sabbats häufig aktuelle Themen einzuflechten.103

Ein wichtiger Schritt zur Akkulturation war die Gründung der „Beh-rend Lehmann Loge“ und des „Behrend Lehmann Vereins“ im Rahmendes internationalen Verbandes der „Bnai-Brith“ am 14. März 1887 in

Halberstadt.104

 Loge und Verein standen im Zentrum des gesellschaftli-chen Lebens der Gemeinde. Zu ihren Aufgaben gehörte die Förderungder ideellen Bestrebungen der Gemeinde; die Fürsorge für die jungenAngestellten, die nach Halberstadt kamen, um in den jüdischen Firmenund Kaufhäusern zu arbeiten, sowie die Förderung des kulturellen Le-bens in der Gemeinde.

Im Jahre 1903 errichtete die Loge ein Vereinsgebäude, das soge-nannte „Casino“, das 120.000 Mark kostete. Das Gebäude enthielt ei-nen großen Versammlungssaal, ein Restaurant und verfügte über Räu-

me für den „Verein jüdischer junger Kaufleute“, ein Verein unter Ägi-de der Loge, mit dem Zweck, für das Wohlergehen der jungen Ange-stellten zu sorgen. Auch wurden im „Casino“ Kurse für Fremdspra-chen,105 Konzerte, Vorträge und Vergnügungsabende abgehalten. AuchChanukka wurde dort gefeiert, worauf das Programm vom Jahre 1910hinweist, sowie ein Maskenball am Purimfest.106 Während des ErstenWeltkrieges diente das „Casino“ zeitweilig als Lazarett.107 In den zwan-ziger Jahren wurden öfters sogenannte „Bunte Abende“ veranstaltet, indenen Schulkinder Musik, Lieder, Turnübungen und Tänze vorführten.108

Im 19. Jahrhundert waren die Gemeindemitglieder auf politischemGebiet nicht sehr aktiv. Die Mehrheit neigte den Liberalen zu. Um dieJahrhundertwende wurden in Halberstadt mehrere Vereine ins Lebengerufen. 1894, ein Jahr nach der Gründung des „Centralvereins deut-

102 Auerbach (wie Anm. 4), S. 131.103 A. S. Auerbach, Avi Hanachal, Chidusche Sugijot Bemasechatot Pessachim, R”H,

Joma, Suka (hebräisch), Frankfurt a/M 5621 (1861), S. 11.104 Bnai-Brith war eine jüdische Freimaurerloge, die 1843 in den USA gegründet wor-

den war. Zweck des Bundes ist es, jüdische Gemeinden zu unterstützen. Vgl. Ha-Enziklopedia Ha-Ivrit, 9, col. 120-123, ‘Bnai- Brith’; über Akkulturation vgl. S. Volkov,Uniqueness and Assimilation: The Paradox of Jewish Identity in the Second Reich, in: M.Zimmerman (Hg.), Crises of German National Consciousness in the 19th and 20th Centuries(hebräisch), Jerusalem 1983, S. 169-185.

105 Auerbach (wie Anm. 4), S.151-152.106 Hartmann (wie Anm. 90), II, S. 20.107 Ebd. S. 17.108 Ebd. S. 20.

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scher Staatsbürger jüdischen Glaubens“109, wurde in Halberstadt eineFiliale unter Führung Julius Josephs, einem Sohn des RechenlehrersHirsch Joseph, eröffnet. 1895 hatte die Filiale 19 Mitglieder und 1908– 25, darunter Gemeinderabbiner Isak Auerbach, angesehene und wohl-

habende Gemeindemitglieder, die Familien Hirsch, Bär, Meyer,Redelmeyer und Silberberg.110 Anfang des 20. Jahrhunderts wurden zweiSektionen jüdischer Jugendverbände in Halberstadt gegründet: der „Jü-dische Turnverein“ und der „Jüdische Pfadfinderbund“. Die meistenMitglieder des Turnvereins waren ältere Jugendliche. Zwölf von ihnenfielen im Ersten Weltkrieg. An der Spitze der Halberstädter Sektionstand der Rechtsanwalt Paul Sussmann.111 Die Mitglieder der Pfadfin-der waren zum größten Teil Schüler der höheren Schulen. Dieser Bund

gehörte dem 1909 gegründeten „Verband der jüdischen Jugend Deutsch-lands“ an,112 dessen lokaler Sektion Günter Helft in den dreißiger Jah-ren vorstand.113

In der Weimarer Zeit und während des Nazi-Regimes waren HansFreundlich sowie Lena und Oskar Schweiger aktive Kommunisten. Siewurden von den Nazis gefaßt und hingerichtet.114

Die traditionelle Sehnsucht nach Eretz-Israel kam in der Tätigkeitder Rabbiner zum Ausdruck. Rabbiner Z. B. Auerbach und sein SohnRabbiner A. S. waren beide Funktionäre der „Pekidim und Amarkalim

der israelitischen Gemeinden im Heiligen Land“.115

Die Zionistische Bewegung war auch in Halberstadt vertreten – trotzdes Widerstandes der Gemeinderabbiner und Vorsteher.116 Im Oktober

109 Der Centralverein sah seine hauptsächliche Aufgabe in der Bekämpfung des Anti-semitismus. Über den Centralverein vgl. J. Reinharz, Fatherland or Promisedland. TheDilemma of the German Jew, 1893-1914, Michigan 1975, S. 37-89.

110 Centralverein deutscher Staatsbürger Jüdischen Glaubens, Mitteilungsblätter 1895,S. 36-37; 1908, S. 144.

111

 Hartmann (wie Anm. 90), I, S. 30.112  Ebd., II, S. 15; über den „Verband der jüdischen Jugend“ vgl. H. Strauss, TheJugendverband, LBIYB, VI (1961), S. 206-255.

113  Zentralwohlfahrtsstelle der Deutschen Juden (Hg.), Führer durch die jüdischeGemeindeverwaltung und Wohlfahrtspflege in Deutschland (=Führer 1932-33), Berlin1932-33, S. 538.

114 Eschwege (wie Anm. 5), S. 301.115 M. Eliav, Love of Zion and Men of Hod, Germany Jewry and the Settlement of 

Erez-Israel in the 19 th Century (hebräisch), Tel-Aviv 1970, S. 125, Anm. 11.116 Rabbiner Aviesri Selig Auerbach war einer der fünf Protestrabbiner, welche 1897

den Aufruf gegen den Zionismus und den ersten zionistischen Kogreß unterschrieben hat-ten. Vgl. J. Zur, Die jüdische Orthodoxie und ihr Verhältnis zur jüdischen Organisationangesichts des Zionismus (hebräisch), Dissertation an der Universität Tel-Aviv 1982, S.145. Die Führer der Gemeinde und hauptsächlich die Familie Hirsch waren zwar gegenden Zionismus, taten jedoch viel für die Juden in Eretz-Israel. Zum Andenken an das Fa-milienmitglied Schalom errichteten sie 1865 in Jerusalem vier Wohnungseinheiten, ge-nannt „Neve Schalom“, auf dem Gelände der „Bate Machseh“. Auch sorgten sie in densiebziger Jahren dafür, daß die Gelder der „Chaluka“ konstruktiven Zwecken zukamen.Vgl. Israelit, 18 (1877), 16, S. 369-371; Hirsch (wie Anm. 18), S. 35; Eliav (wie Anm.115), S. 272.

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247Die jüdische Gemeinde in Halberstadt im 19. und 20. Jahrhundert

1912 gründeten acht junge Burschen, alle Büroangestellte und Ver-käufer, in Halberstadt den „Herzl Klub“. Obwohl die jungen Leutenicht aus alten Halberstädter Familien stammten, herrschte im Klubeine religiöse Atmosphäre.117  Vor ihnen wurden zwei zionistische

Klubs gegründet, einer 1907 in Berlin und ein zweiter 1911 in Ham-burg. Am 6. Dezember 1912 versammelten sich in Halberstadt Ver-treter der drei genannten Vereine und schlossen sich im „Herzl-Bund“zusammen.118  Eisik Jizchak Feuering aus Halberstadt fungierte alsVorsitzender der Versammlung, und Georg Freund war der zweiteVertreter des Halberstädter Klub.119 Jizchak Feuering, der Gründer desörtlichen Klubs, wurde zu einer zentralen Figur im „Herzl-Bund“.120

Diese Vereine waren hauptsächlich für junge jüdische Verkäufer und

Bürobeamte bestimmt. Laut Statut konnten Akademiker und Mitglie-der des Centralvereins nicht Mitglieder werden. Während der Grün-dung gehörten dem Halberstädter Klub acht Mitglieder an; nach ei-nem Jahr waren es schon sechzehn. Während des Ersten Weltkriegeskam die Tätigkeit des Klubs zum Erliegen. Fünf Mitglieder wurdenmobilisiert, und einer von ihnen fiel im Krieg. 1915, mit nur nochvier Mitgliedern, endete die Tätigkeit des Klubs völlig; 1919 wurdesie in Halberstadt und in fünf anderen Klubs im Lande erneuert. Nach-dem die meisten Mitglieder nach Eretz-Israel zogen, hörte der Verein

endgültig zu existieren auf.121

Die Jugendorganisation der „Agudas-Isroel“ wurde in der Versamm-lung der „Agudat-Isroel“ Halberstadt am 15. Kislev 5674 (1913) ge-gründet.122 Ihre Aufgabe war die Erziehung der Jugend im Sinne derTradition, in der Förderung von religiösen Studien und in der Abhal-tung von Spendensammlungen zugunsten der Institute der „Agudas-Isroel“. 1932 zählte die Bewegung in Deutschland 29 Filialen mit Tau-senden von Mitgliedern. Die Zahl der Mitglieder in Halberstadt istunbekannt. In demselben Jahr leitete Philipp Kohn den HalberstädterBurschen- und Frau Addi Schwab den Mädchen-Verein.123

VIII. Zusammenfassung

In allen der vier obengenannten Bereichen – Erziehung, Religion, Wirt-schaft und Gesellschaft – fanden tiefgreifende Wandlungen statt,darunter solche, die großen Einfluß auf die Lebensweise der Juden inHalberstadt hatten, und kleinere, die aber in der Summe zur Eingliede-

117  W. Goldstein, Chronik des Herzel-Bundes 1912-1962. Die Geschichte einerZionssehnsucht, Tel-Aviv 1962, S. 18.

118 Ebd. S. 82.119 Ebd., S. 16-23, 35.120 Über Feuering und seine zentrale Stellung vgl. Ebd., S. 81-82, 199-200, 210.121 Ebd., S. 48, 65-66, 72-73, 118, 122-123.122 B. H. Auerbach, Halberstadt als Sitz- und Tagungsort jüdischer Verbände. In: Zeit-

schrift für die Geschichte der Juden (=ZGJ), 6 (1969), S. 155-158.123 Führer 1932-33 (wie Anm. 113), S. 532-533.

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rung der Gemeindemitglieder in die Lebensweise und Kultur der Um-gebung beitrugen. In der Halberstädter Gemeinde hatten die Verände-rungen in den Bereichen Religion und Wirtschaft einen doppeltenEinfluß. So wie in der Vergangenheit die Hofjuden, welche Geschäfte

an den Höfen der Herrscher führten, ihre traditionelle Lebensweise hü-teten, so behielten auch Halberstädter Juden, die weltweite Geschäfteführten, ihre orthodoxe Lebensweise bei. Ohne Zweifel erweiterten dieneuen Ideen des 19. Jahrhunderts ihren Horizont. Es sei bemerkt, daßsich in einigen der Firmen124 und großen Banken125  jüdischer Eigentü-mer besondere Gebetsräume befanden, in denen Beamte und Verkäuferbeten konnten. Die positive Einstellung der Geschäftsleute gegenüberden religiösen Bedürfnissen der Angestellten machte die Stadt zum

Anziehungspunkt für die religiöse Jugend, die nach Halberstadt kam,um die Thora zu studieren und Geld zu verdienen.Einige dieser jungen Leute wurden bekannte Schriftsteller, Politiker

und Akademiker: der Schriftsteller Sami Gronemann,126 der Zionisten-führer Jizchak Feuering,127 der Publizist Wilhelm Kober,128 oder der His-toriker Herman Schwab.129 Auch von den gebürtigen Halberstädtern er-langten einige Berühmtheit; unter ihnen: der Historiker Professor FritzBär,130 der Soziologe Dr. Max Hirsch,131 der Regisseur Max Mark132 oderder Musiker Dieter Kober.133

Wie erwähnt hatten die äußeren Ereignisse einen großen Einfluß auf die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen. Man darf  jedoch die inneren Entwicklungen, die ebenfalls Wandlungen beding-ten, nicht übersehen. Einer dieser Faktoren war der Wille der Gemein-demitglieder, die Kultur der Umgebung kennenzulernen und die deut-sche Sprache zu erlernen. Die in Halberstadt tätigen jüdischen Ärztehatten freundschaftliche Beziehungen zur christlichen Bevölkerung. Vonden Ärzten sind zu nennen: Dr. Moses Böhm,134 Dr. Moritz Kron,135 Dr.

124  Das Warenhaus Willi Kohn, die Konfektionsgeschäfte Adolf Epstein und JosephReichenbach und das Schuhgeschäft Adolf Kober. Vgl. Hartmann (wie. Anm. 90), II, S.11, 12, 34.

125 Es handelt sich um die Banken, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts von BermanIssachar Bär am Lindenweg und von Eisik Nußbaum in der Sternstraße eröffnet wurden.Vgl. Hirsch (wie Anm. 18), S. 79; Hartmann (wie Anm. 90), II, S. 39.

126 S. Groneman, Erinnerungen eines ‘Jecke’ (hebräisch), Tel-Aviv 1946, S. 58-77.127 Goldstein (wie Anm. 117).128 Hartmann (wie. Anm. 90), II, S. 16.129 Memoiren (Handschrift), S. 27-52, aufbewahrt im Leo Baeck Archiv, New York,

ME 584.130 Ha-Enziklopeia Ha-Ivrit, 9. col, 387-387, ‘Jizchak Baer’; Hartmann (wie Anm. 90),

I, S. 30.131  Jüdisches Lexikon II, Berlin 1928, kol. 1617-1618 ‘Max Hirsch’; Hartmann (wie

Anm. 90), I, S. 36-37.132 Ebd., S. 38-39.133 Ebd., S. 37-38.134 Auerbach (wie Anm. 8), S. 115-116.135 Hartmann (wie Anm. 90), I, S. 30-31.

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249Die jüdische Gemeinde in Halberstadt im 19. und 20. Jahrhundert

Hirsch Auerbach136 und Dr. Edit Goldschmidt.137 Der zweite und wichti-gere Faktor war die Eröffnung der „Hascharat Zwi“-Schule am Endedes 18. Jahrhunderts. Es war die erste Schule in einer orthodoxen Ge-meinde, an der nebst religiösen Fächern auch Allgemeinbildung ver-

mittelt wurde. Die Verbreitung von Allgemeinbildung war ein wichti-ger Faktor zur Eingliederung der Jugend in Wirtschaft und Gesellschaft.Besonders wichtig war dies für Jugendliche von niedrigerem wirtschaft-lichen Status, denen vorher die Aneignung von Bildung nicht möglichgewesen war.

Trotz der Wechselbeziehungen zwischen den oben genannten Be-reichen verlief die Entwicklung eines jeden einzelnen verschiedenschnell: in Wirtschaft und Erziehung geschahen die Veränderungen

plötzlich, teils gefördert von äußeren Faktoren, während im Bereichder Religion und Gesellschaft, infolge von inneren Veränderungen undden Auswirkungen der Neuzeit, die Entwicklung langsamer vor sichging.

Schnell, ja vielleicht sogar turbulent, entwickelte sich die Wirtschaft.Die Änderungen in der Rechtsstellung der Juden, d.h. der Übergangvom Schutzjuden zum Staatsbürger, wenn auch vorerst ohne volle Rech-te, führten zum schnellen Aufstieg vom Kleinhändler und einfachenHandwerker zu angesehenen Geschäftsleuten und handwerklichen Fach-

kräften. In der Gemeinde Halberstadt gab es auch einige fähige Unter-nehmer mit florierenden Betrieben, was letztendlich der ganzen Stadtzugute kam.

Die Eröffnung der schon oben erwähnten „Hascharat Zwi“-Schule,war eine umwälzende Neuerung in der Gemeinde und weist auf einevollkommen neue Einstellung zur Erziehung hin. Zwar war der Fort-schritt nach den ersten Schritten langsamer, doch wurden die Änderun-gen im Lehrplan in verhältnismäßig kurzer Zeit durchgeführt.

Wandlungen auf dem Gebiet der Religion gingen nur langsam von-statten. In einer Zeit, in welcher sich die Reformen in vielen Gemein-den Deutschlands ausbreiteten und radikale Änderungen in den religiö-sen Bräuchen eingeführt wurden, gingen die Rabbiner und Führer derHalberstädter Gemeinde mit doppelter Vorsicht vor. Die Änderungenin den Synagogenordnungen betrafen fast nur Fragen zur Ordnung undDisziplin in der Synagoge. Sie waren zwar vom Zeitgeist beeinflußt,erfüllten jedoch den Gottesdienst mit einer festlicher Pracht. EinigeGemeindemitglieder wurden von den neuen Ideen beeinflußt. Die Kon-

flikte, die daraus entstanden, gefährdeten die Einigkeit der Gemeinde,doch die Traditionellen konnten der Gefahr trotzen, und so blieb dieGemeinde ihrem orthodoxen Weg bis zu ihrer Zerstörung treu.

Im gesellschaftlichen Bereich verliefen die Wandlungen in einemsehr gemäßigten Rhythmus. Der Übergang von der Isolation zur Ak-

136 Ebd., S. 29-30; Auerbach (wie Anm. 4), S. 380.137 Ebd., II, S. 22, III, S. 11.

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kulturation war langsam. Gegen Mitte des 19. Jahrhunderts erlangteJoseph Hirsch, der Vorsitzende des Gemeindevorstandes, eine führen-de Stellung in der Stadt sowie auch einen gewissen Einfluß auf denStadtrat selbst.138  Im Laufe der Zeit vergrößerte sich der Einfluß der

 jüdischen Bürger auf die Magistratsabgeordneten, was sie nicht zuletztihrer wirtschaftlichen Stärke zu verdanken hatten. Die ihnen 1869 ver-liehene Emanzipation war ein Schritt zur vollen Gleichberechtigungund Anpassung.139 Die Eröffnung der „Behrend Lehmann Loge“ am Endedes 19. Jahrhunderts versinnbildlicht diesen Akkulturationsprozeß, derungefähr 100 Jahre früher begonnen hatte. Die Errichtung von Sektio-nen politischer Vereine war nur noch ein weiterer Schritt auf demsel-ben Pfad. Der mäßige Rhythmus war Folge von innerlichen und äußer-

lichen Faktoren. Innerlich wirkten der Verdacht vor Verletzung derTradition der Eingliederung entgegen, und äußerlich der Judenhaß undder moderne Antisemitismus.140 Die destruktive Intensität dieses letz-ten Faktors konnten die Halberstädter Juden, deren Treue zu Deutsch-land nie in Frage stand, nicht voraussehen.

138 Auerbach (wie Anm. 4), S. 131.139 Über den Emanzipationsprozeß und seine Schwierigkeiten vgl. J. H. Schoeps, Mußte

die Emanzipation mißlingen? Zur Geschichte des deutsch-jüdischen Verhältnisses, in: L.Heid/J. H. Schoeps (Hg.), Juden in Deutschland. Von der Aufklärung bis zur Gegenwart,München 1994, S. 11-18.

140 Vgl. Hep-Hep Unruhen 1919. Stadtarchiv Halberstadt, Polizeiprotokolle, S. 8-11;B lä i Mi d J h h d Ebd S 18 f A i i i E d d 19