einführung · 2016. 12. 14. · der flötist und komponist filippo ruge wurde um 1725 in rom...

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G284 II Einführung Die Musik ist noch immer der wohlgewählteste Zeitvertreib gewesen „Die Musik ist noch immer das Vergnügen vortrefli- cher Prinzen, und der wohlgewählteste Zeitvertreib der gesittesten Höfe gewesen. […] Man setze noch hinzu, daß in einer gesitteten Nation schwerlich eine Familie seyn wird, die nicht ihre Flöte, Geige, Clavier, oder Zither habe; daß sie zur Arbeit Munterkeit giebt, die Schmerzen lindert; und dadurch der Menschheit noch wohlthätiger wird, daß sie uns von der Grausam- keit entwöhnt, oder auch die Last der Sorgen erleich- tert.“ 1 Auch auf die im Fürstbistum Osnabrück auf Gut und Schloss Ledenburg lebende Familie des Hannoverschen Rittmeisters Ernst von Grothaus und seiner Frau Anna Friederike (einer geborenen Freiin von Oldeshausen) traf diese Feststellung Burneys zu, und bildende Kunst, Musik, Literatur und Wissenschaften prägten den Geist des Hauses. In dieser Atmosphäre wuchs die am 10. Ap- ril 1734 geborene Tochter Eleonore von Grothaus heran. „Unter den redenden Künsten stand … die Musik an ers- ter Stelle, und viele handgeschriebene Noten für Klavier, Viola d’amour [recte: Viola da Gamba], Flöte und Ge- sang gehörten zum Repertoire, das Händel und Tele- mann krönten. Die neuesten Arien erklangen, und Eleo- nore schrieb manches Gedicht in dieser Form oder nach vorhandenen Melodien. […] In Eleonore gesellte sich zur Musik die Poesie.“ 2 1759 wurde Eleonore dem Freiherrn Georg Hermann Heinrich von Münster, Drosten des Amts Iburg, ange- traut. Ihre handschriftlich überlieferten Dichtungen im Geiste der Epoche des Sturm und Drang fanden erst 1928 Beachtung, und zusammen mit den Musikalien, mit Zeichnungen und diversen Archivalien des Gutes Ledenburg kamen sie im Jahre 2000 als Depositum in das Niedersächsische Landesarchiv – Standort Osna- brück. Dem französischen Musikwissenschaftler Fran- çois-Pierre Goy, der mich im März 2015 auf die Musi- kalien hinwies und zu weiterer Untersuchung anregte, bin ich zutiefst zu Dank verpflichtet. Die überwiegend durch Abschriften zusammengetra- gene private Notenbibliothek (von mir Ledenburg- Sammlung genannt) besteht in ihrer jetzigen Form na- hezu ausschließlich aus Literatur für Viola da Gamba, und allem Anschein nach war es die Dichterin selbst, die dem Gambenspiel in Leidenschaft zugeneigt war. Das 1 Charles Burney, Tagebuch einer Musikalischen Reise (Hamburg 1772), Einleitung, S. XII. 2 Walter Schwarze, Eleonore von Münster (Osnabrück 1929), S. 18f. 3 Georg Philipp Telemann, Zwölf Fantasien für Viola da Gamba solo, TWV 40:26–37 (Heidelberg: Güntersberg, 2016), G281. seiner Entstehung nach vermutlich früheste Werk der Sammlung ist ein Exemplar von Georg Philipp Tele- manns 1735 im Eigenverlag veröffentlichten Fantasien für Viola da Gamba 3 , die Generationen von Musiklieb- habern als das verschollene Bernstein-Zimmer der solis- tischen Gambenmusik galten. Von nicht geringerer Be- deutung ist die Entdeckung bislang unbekannter Gam- benwerke (Sonaten und Trios) Carl Friedrich Abels in der Sammlung. Sonaten, Trios und Konzerte – teils ano- nym, unvollständig oder erkennbar als Transkription überliefert – prägen das Bild einer privaten Notenbiblio- thek, über deren Bezugsquellen wir derzeit nur spekulie- ren können. Bemerkenswert ist der Anteil von Werken italienischer Komponisten an der Sammlung. 4 Thomas Fritzsch Freyburg (Unstrut), Februar 2016 Der Flötist und Komponist Filippo Ruge wurde um 1725 in Rom geboren. In den 1750er Jahren veröffentlichte er in London bei J. Walsh fünf Sammlungen mit Kammer- musik für Flöte, bevor er um 1753 mit seiner Frau, einer Sängerin, nach Paris kam, wo er bis zu seinem Tode nach 1767 blieb. Ruge und seine Frau spielten in der Mitte des 18. Jahrhunderts in Paris eine bedeutende Rolle bei der Verbreitung italienischer Musik. Ruge schrieb Vokalmusik, Sinfonien, Flötenkonzerte, größ- tenteils jedoch Kammermusik mit Flöte 5 . Unsere Ausgabe beruht auf den folgenden Quellen: F. Ruge, Sonata G-Dur D-OSa 6 Dep 115b Akz. 2000/002 Nr. 527.10. Manu- skript in der Ledenburg-Sammlung mit der Titelseite Vi- ola di Gamba | Solo. et Basso | del Sigr: Ruge:, Titelseite und 6 Notenseiten, Partitur mit Melodiestimme im Alt- schlüssel und unbeziffertem Bass. Der Schreiber ist nicht bekannt. Anonym, Sonata G-Moll D-OSa Dep 115b Akz. 2000/002 Nr. 527.5. Anonymes Manuskript in der Ledenburg-Sammlung mit der Titel- zeile Sonata, 3 Notenseiten, Partitur mit Melodiestimme 4 Siehe auch Günter von Zadow, Die Gambenwerke in der Leden- burg-Sammlung (Heidelberg 2016), www.guentersberg.de, in Vor- bereitung. 5 Musik in Geschichte und Gegenwart, Personenteil Bd 14 (Kassel 2005), Spalte 656. 6 Niedersächsisches Landesarchiv – Standort Osnabrück.

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  • G284

    II

    Einführung Die Musik ist noch immer der wohlgewählteste Zeitvertreib gewesen

    „Die Musik ist noch immer das Vergnügen vortrefli-cher Prinzen, und der wohlgewählteste Zeitvertreib der gesittesten Höfe gewesen. […] Man setze noch hinzu, daß in einer gesitteten Nation schwerlich eine Familie seyn wird, die nicht ihre Flöte, Geige, Clavier, oder Zither habe; daß sie zur Arbeit Munterkeit giebt, die Schmerzen lindert; und dadurch der Menschheit noch wohlthätiger wird, daß sie uns von der Grausam-keit entwöhnt, oder auch die Last der Sorgen erleich-tert.“1

    Auch auf die im Fürstbistum Osnabrück auf Gut und Schloss Ledenburg lebende Familie des Hannoverschen Rittmeisters Ernst von Grothaus und seiner Frau Anna Friederike (einer geborenen Freiin von Oldeshausen) traf diese Feststellung Burneys zu, und bildende Kunst, Musik, Literatur und Wissenschaften prägten den Geist des Hauses. In dieser Atmosphäre wuchs die am 10. Ap-ril 1734 geborene Tochter Eleonore von Grothaus heran. „Unter den redenden Künsten stand … die Musik an ers-ter Stelle, und viele handgeschriebene Noten für Klavier, Viola d’amour [recte: Viola da Gamba], Flöte und Ge-sang gehörten zum Repertoire, das Händel und Tele-mann krönten. Die neuesten Arien erklangen, und Eleo-nore schrieb manches Gedicht in dieser Form oder nach vorhandenen Melodien. […] In Eleonore gesellte sich zur Musik die Poesie.“2

    1759 wurde Eleonore dem Freiherrn Georg Hermann Heinrich von Münster, Drosten des Amts Iburg, ange-traut. Ihre handschriftlich überlieferten Dichtungen im Geiste der Epoche des Sturm und Drang fanden erst 1928 Beachtung, und zusammen mit den Musikalien, mit Zeichnungen und diversen Archivalien des Gutes Ledenburg kamen sie im Jahre 2000 als Depositum in das Niedersächsische Landesarchiv – Standort Osna-brück. Dem französischen Musikwissenschaftler Fran-çois-Pierre Goy, der mich im März 2015 auf die Musi-kalien hinwies und zu weiterer Untersuchung anregte, bin ich zutiefst zu Dank verpflichtet.

    Die überwiegend durch Abschriften zusammengetra-gene private Notenbibliothek (von mir Ledenburg-Sammlung genannt) besteht in ihrer jetzigen Form na-hezu ausschließlich aus Literatur für Viola da Gamba, und allem Anschein nach war es die Dichterin selbst, die dem Gambenspiel in Leidenschaft zugeneigt war. Das 1 Charles Burney, Tagebuch einer Musikalischen Reise (Hamburg

    1772), Einleitung, S. XII. 2 Walter Schwarze, Eleonore von Münster (Osnabrück 1929), S. 18f. 3 Georg Philipp Telemann, Zwölf Fantasien für Viola da Gamba solo,

    TWV 40:26–37 (Heidelberg: Güntersberg, 2016), G281.

    seiner Entstehung nach vermutlich früheste Werk der Sammlung ist ein Exemplar von Georg Philipp Tele-manns 1735 im Eigenverlag veröffentlichten Fantasien für Viola da Gamba3, die Generationen von Musiklieb-habern als das verschollene Bernstein-Zimmer der solis-tischen Gambenmusik galten. Von nicht geringerer Be-deutung ist die Entdeckung bislang unbekannter Gam-benwerke (Sonaten und Trios) Carl Friedrich Abels in der Sammlung. Sonaten, Trios und Konzerte – teils ano-nym, unvollständig oder erkennbar als Transkription überliefert – prägen das Bild einer privaten Notenbiblio-thek, über deren Bezugsquellen wir derzeit nur spekulie-ren können. Bemerkenswert ist der Anteil von Werken italienischer Komponisten an der Sammlung.4

    Thomas Fritzsch Freyburg (Unstrut), Februar 2016

    Der Flötist und Komponist Filippo Ruge wurde um 1725 in Rom geboren. In den 1750er Jahren veröffentlichte er in London bei J. Walsh fünf Sammlungen mit Kammer-musik für Flöte, bevor er um 1753 mit seiner Frau, einer Sängerin, nach Paris kam, wo er bis zu seinem Tode nach 1767 blieb. Ruge und seine Frau spielten in der Mitte des 18. Jahrhunderts in Paris eine bedeutende Rolle bei der Verbreitung italienischer Musik. Ruge schrieb Vokalmusik, Sinfonien, Flötenkonzerte, größ-tenteils jedoch Kammermusik mit Flöte5.

    Unsere Ausgabe beruht auf den folgenden Quellen:

    F. Ruge, Sonata G-Dur D-OSa6 Dep 115b Akz. 2000/002 Nr. 527.10. Manu-skript in der Ledenburg-Sammlung mit der Titelseite Vi-ola di Gamba | Solo. et Basso | del Sigr: Ruge:, Titelseite und 6 Notenseiten, Partitur mit Melodiestimme im Alt-schlüssel und unbeziffertem Bass. Der Schreiber ist nicht bekannt.

    Anonym, Sonata G-Moll D-OSa Dep 115b Akz. 2000/002 Nr. 527.5. Anonymes Manuskript in der Ledenburg-Sammlung mit der Titel-zeile Sonata, 3 Notenseiten, Partitur mit Melodiestimme

    4 Siehe auch Günter von Zadow, Die Gambenwerke in der Leden-burg-Sammlung (Heidelberg 2016), www.guentersberg.de, in Vor-bereitung.

    5 Musik in Geschichte und Gegenwart, Personenteil Bd 14 (Kassel 2005), Spalte 656.

    6 Niedersächsisches Landesarchiv – Standort Osnabrück.

  • G284

    III

    im Altschlüssel und unbeziffertem Bass. Der Schreiber ist nicht bekannt.

    Obwohl die Sonate von Ruge im Manuskript als „Viola da Gamba Solo“ bezeichnet wird, erscheint es im Kon-text der Ledenburg-Sammlung naheliegend, dass es sich um die Transkription einer Flöten-Sonate handelt, die auf der Gambe eine Oktave tiefer klingt. Der Tonumfang der Gambenstimme d–b2 spricht ebenfalls für diese An-nahme. Allerdings ist uns der Nachweis einer entspre-chenden Originalkomposition für Flöte nicht gelungen.

    Ob es sich bei der anonymen Sonata G-Moll um eine Originalkomposition oder ebenfalls um eine Transkrip-tion handelt, ist nicht zweifelsfrei zu ermitteln. Die Flöte

    als Originalinstrument scheidet jedenfalls aus, denn die Stimme enthält einige zweistimmige Passagen und liegt auch zu tief. Interessant sind zwei Passagen im Allegro

    (Takte 20–21 und 23–24), in denen die Gambenstimme vorübergehend in das untere System wechselt, während der Bass Pause hat. Diese Noten hätten genauso gut in der oberen Zeile im Altschlüssel notiert werden können. Der Wechsel in das untere System kann nur bedeuten, dass die betreffenden Noten eine Oktave tiefer gespielt werden sollen, und so haben wir sie auch notiert. Dann ergibt sich allerdings ein Tonumfang von C bis es3.

    Wir folgen den Quellen so genau wie möglich. Unsere Zusätze und Änderungen sind durch Parallelstellen oder den musikalischen Kontext gerechtfertigt. Sie werden durch eckige Klammern (Triller, Vorschlagsnoten) und Strichelung (Bögen) gekennzeichnet. Vorzeichen, die wir abweichend von der Vorlage vorschlagen, stehen in Klammern. Alle Änderungen, die so nicht erfasst werden konnten, sind im Kritischen Bericht aufgeführt.

    Wir danken Christiane und Hans Christoph Homann von Gut Ledenburg und Isabelle Guerreau vom Nieder-sächsischen Landesarchiv für Ihre Unterstützung, und wir danken François-Pierre Goy, Peter Holman und Andrew Ashbee dafür, dass sie unsere Aufmerksamkeit auf die Ledenburg-Sammlung gelenkt haben.

    Günter von Zadow Heidelberg, Dezember 2016

    Filippo Ruge, Titelseite der Sonata G-Dur, Ledenburg-Sammlung

    Filippo Ruge, title page of the Sonata in G major, Ledenburg Collection

    Anonym, Sonata G-Moll, Allegro, Takte 23 und 24