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TRANSCRIPT
1EINFACH ≠ EINFACH
Querspur Das Zukunftsmagazin des ÖAMTCAusgabe 07/2015
EINFACH ≠ EINFACH
Was ist der Lotus-Eff ekt?
Lotus- oder Lotos-Eff ekt
wird die geringe Benetzbarkeit einer
Oberfl äche bezeichnet, wie sie bei der
Lotospfl anze vorkommt. Das Prinzip der sich
selbst reinigenden Lotosblume wurde schon
1972 vom deutschen Botaniker und Bioniker
Wilhelm Barthlott beschrieben:
Wasser perlt ab und nimmt dabei auch alle
Schmutzpartikel auf der Oberfl äche mit.
Erst 27 Jahre später brachte die Sto AG 1999
die Fassadenfarbe Lotusan® auf den Markt,
die mit diesem Prinzip arbeitet.
Sie hält das Patent am
Lotus Eff ekt®.
Gibt es geniale Erfi nder wirklich?
„Genie ist zu einem Prozent Inspiration
und zu 99 Prozent Transpiration“, sagte
Erfi nder und Unternehmer Th omas Alva Edison.
Und der Tausendsassa wusste, wovon er sprach:
Mehr als 1000 Erleichterungen des Alltags gehen
auf den Amerikaner und seine zahlreichen Partner
und Mitarbeiter zurück. Mit dem Kohlekörner-
mikrofon bereiteten seine Labors beispielsweise
den Weg für das Telefon, die 35-Millimeter-
Filmtechnik und auch die Erfi ndung der
Glühbirne wird ihnen zugeschrieben.
Edison gilt als Erfi nder der
industriellen Forschung, er war
kein Einzeltäter.
Wie viele E-Mails erhält der
durchschnittliche User?Dass E-Mails einmal den Brief ersetzen
werden und damit schnelle (meist kostenlose)
Kommunikation möglich machen, hätte bis vor
ein paar Jahrzehnten niemand gedacht. Die US-
amerikanische Marktforschungsagentur Radicati
hat erhoben, dass ein Nutzer durchschnittlich
74 E-Mails pro Tag erhält, 13 davon sind
nicht gewollte. 75 % der E-Mails sind private Mails,
der Rest geschäft liche. Die schrift liche
Kommunikation hat somit enorm
zugenommen: Ein durchschnittlicher
Postkunde kam wohl zu keiner Zeit
auf 74 Briefe pro Tag
im Postkasten.
Wohin reisen die meisten Menschen?
Laut der Welt Tourismus
Organisation UNWTO verreisen jährlich
935 Millionen Menschen. Die am
meisten besuchten Länder sind Frankreich
und die USA. Bis 2030 werden die meisten
internationalen Reisenden jedoch nicht
mehr in den Industrieländern, sondern
in den heute als Schwellenländer
bezeichneten Destinationen
unterwegs sein.2
Lexikon oder Such-
maschinen-Abfrage?Wie viele Menschen heute (noch)
ein Lexikon aufschlagen, ist unbekannt,
die Suchauft räge auf Google werden
hingegen genau gezählt:
2,9 Milliarden sind es täglich.
Pro Sekunde verzeichnet Google
33 564 Anfragen. Google ist damit die
am meisten genutzte Suchmaschine. Um
an Spezialinformationen zu gelangen,
bleibt das Buch bis heute jedoch
unumstritten.1
Komplex oder kompliziert?
Das Wort „kompliziert“ stammt vom
lateinischen complicare, und bedeutet
soviel wie „verwickelt, undurchsichtig“.
Komplexität kommt von complexus – „fl echten,
umfassen“. Der Unterschied der beiden Wörter
wird vor allem auf der subjektiven Ebene klar:
Etwas erscheint als kompliziert, wenn man
nicht über das Wissen oder das Können
verfügt, eine Sache zu verstehen, die
möglicherweise einen hohen Grad
an Komplexität, also
Vielschichtigkeit,
aufweist.
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Mitarbeiter dieser Ausgabe Dipl.-Bw. Maren Baaz, Catherine Gottwald, Ulrich Herbst,
Margit Hurich, Mag. (FH) Christian Huter, Mag. Claudia Kesche, Mag. Astrid Kuffner,
Dr. Gertraud Leimüller, MMag. Ursula Messner, Dr. Ruth Reitmeier, Katrin Stehrer, BSc,
MSc, Theresia Tasser, Mag. Christina Tropper, DI Anna Várdai,
Silvia Wasserbacher-Schwarzer, BA, MA
Fotos Karin Feitzinger; Umschlag: Karin Feitzinger
Grafi k Design, Illustrationen Drahtzieher Design & Kommunikation, Barbara Wais, MA
Korrektorat Mag. Christina Preiner, vice-verba
Druck Hartpress
Blattlinie Querspur ist das zweimal jährlich erscheinende Zukunftsmagazin des ÖAMTC.
Ausgabe 07/2015, erschienen im Juni 2015
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Impressum und Offenlegung
Medieninhaber und Herausgeber
Österreichischer Automobil-, Motorrad- und Touring Club (ÖAMTC),
Schubertring 1-3, 1010 Wien, Telefon: +43 (0)1 711 99 0www.oeamtc.at
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Vereinszweck ist insbesondere die Förderung der Mobilität unter
Bedachtnahme auf die Wahrung der Interessen der Mitglieder.
Rechtsgeschäftliche Vertretung
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Mag. Christoph Mondl, stellvertretender Verbandsdirektor
Konzept und Gesamtkoordination winnovation consulting gmbh
Chefredaktion Mag. Gabriele Gerhardter (ÖAMTC),
Dr. Gertraud Leimüller (winnovation consulting)
Chefi n vom Dienst Silvia Wasserbacher-Schwarzer, BA, MA
EINFACH ≠ EINFACHEinfach ≠ einfach?
Oft mals ist hohe Komplexität Grundlage
der Einfachheit von Prozessen oder
Produkten. Beispielsweise kommt der
große Erfolg von Apple’s iPad auch daher,
dass das Tablet für den User einfach zu bedienen
ist. Dahinter steckt jedoch ein hochkomplexes,
intelligentes Computersystem. Einfach ≠ einfach
steht für einfache bzw. einfach erscheinende
Lösungen (Produkte, Prozesse), die einen
hochkomplexen Unterbau besitzen, woraus
wiederum die hohe Qualität für den User
entsteht. Albert Einstein formulierte es so:
„Alles sollte so einfach wie
möglich gemacht sein,
aber nicht einfacher.“
3EINFACH ≠ EINFACH
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HeuteEinfach komplexHeute ist der Alltag hoch komplex.
Dennoch war das Leben früher nicht
leichter.
Von Ruth Reitmeier
Alltag mit HürdenWie Einkaufen mit Zwillingen zur Heraus-
forderung wird und warum ein Italiener
nicht in der Wiener Vorstadt parkt.
Von Christina Tropper und Ruth Reitmeier
Architektur darf nicht nur Kunst seinDie Architektin Elke Delugan-Meissl über
reduziertes Design und Nutzererlebnisse.
Von Catherine Gottwald
Keine einfache KopiervorlageBionik ist nicht die eierlegende
Wollmilchsau.
Von Astrid Kuffner
Gutes Design führt durch komplexe ProzesseService-Design hat sein Ziel erreicht,
wenn die User keine Beschreibung lesen
müssen. Das New Yorker Designduo
antenna im Interview.
Von Ruth Reitmeier
Wenn der Strom ausfälltWarum ein großfl ächiger Stromausfall ein
realistisches Szenario ist.
Von Ulrich Herbst
Vernetzt in alle RichtungenWelche Services werden uns in 20 Jahren
das Leben erleichtern?
Von Gertraud Leimüller
Einfach unterwegsEin einfacher Service kann in
der Entwicklung ganz schön
herausfordernd sein.
Von Theresia Tasser
Ich bin, was ich erlebeNeo-Individualtouristen inszenieren sich
an den Urlaubsorten. Internet sei Dank.
Von Catherine Gottwald
Start-UpsSpannende Ideen zum Thema
Einfachheit und Komplexität.
Von Katrin Stehrer
Was hinter den Dingen des Alltags stecktDie Wissenschaft beweist, was
der Hausverstand vermuten lässt.
Von Silvia Wasserbacher-Schwarzer
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Einfach komplex
5EINFACH ≠ EINFACH
Was ist Einfachheit? Machen wir es
uns doch einfach und geben diese
Frage in die Suchmaschine ein.
Wikipedia bietet folgende Defi nition:
Einfachheit, auch Schlichtheit, ist
ein Zustand, der sich dadurch aus-
zeichnet, dass nur wenige Faktoren
zu seinem Entstehen oder Bestehen
beitragen, und dadurch, dass das Zu-
sammenspiel dieser Faktoren durch
nur wenige Regeln beschrieben wer-
den kann. Damit ist Einfachheit das
Gegenteil von Komplexität. Nun, der
letzte Satz dieser Defi nition sollte
gestrichen werden.
Einfachheit ist nicht das Gegenteil
von Komplexität, zumal auch das Ein-
fache hochkomplex sein kann. An-
schauliche Beispiele dafür gibt es zu-
hauf, etwa aus der Diagnostik, wenn
Patienten im plötzlich auftretenden
gesundheitlichen Ausnahmezustand
von Facharzt zu Facharzt pilgern. Am
Ende solcher Leidensgeschichten ist
dann oft bereits der Termin beim Psy-
chiater ausgemacht, doch dann er-
kennt endlich jemand, dass die höl-
lischen Schmerzen etwa von einer
Borreliose in Folge eines Zeckenbis-
ses herrühren – einer simplen und
häufi gen Infektion also.
Wer komplex denkt, sieht das große
Ganze. Doch das ist gar nicht so ein-
fach. Denn das menschliche Gehirn
bevorzugt eher lineares, analoges
Denken, was einem schrittweisen
Vorgehen entspricht. Der Mensch
passt sich also nach und nach an seine
Umwelt an und macht sie so begreif-
und nutzbar. Komplexität bedeutet
aber nicht zuletzt, dass der nächste
Schritt bereits in eine ganz andere
Richtung weisen kann. Denn es liegt
in ihrer Natur, dass immer etwas
nachkommt. Das gilt es zu begreifen.
Wer Komplexität meistern will, muss
ihr mit ebensolcher begegnen. Iris
Bosich, engagierte Unternehmerin
aus Wien, betreibt seit dem Vorjahr
unter der Marke Vitolerance ein Ge-
schäft samt Online-Shop für Men-
schen mit Nahrungsmittelunverträg-
lichkeiten. Die Businessidee kam
Bosich, als sie beobachtete, wie All-
ergiker ratlos vor den Supermarktre-
galen standen. Sie dachte, dass man
ihnen den Einkauf erleichtern sollte.
Vitolerance tut genau das, bietet eine
große Auswahl an Lebensmitteln, die
Regale sind klar organisiert, und je-
des Produkt ist umfassend gekenn-
zeichnet. Im Geschäft fi nden sich
mehrere Meter Regalfl äche mit glu-
tenfreien Lebensmitteln, außerdem
führt Vitolerance laktose-, fruktose,
hefe- und weizenfreie Lebensmittel.
Doch kaum hatte das Geschäft eröff-
net, war klar, dass diese Kundschaft
mehr als ein perfekt durchdachtes
Warenangebot benötigte, sie braucht
fundierte ernährungswissenschaftli-
che Beratung. „Einige Kunden kom-
men mit ihren Befunden zu uns ein-
kaufen“, sagt Bosich. Sie engagierte
umgehend eine Diätologin, die an den
starken Einkaufstagen direkt im Ge-
schäft berät. Dieser besondere Ser-
vice rundet das Geschäftsmodell ab
und sorgt für Kundenbindung.
Kennzeichnung und Gütesiegel bieten
Konsumenten Orientierung in einer
immer komplexer werdenden Waren-
welt. Diese Lösung ist zwar einfach,
aber nicht perfekt und hinterlässt ih-
rerseits Lücken im System, die wiede-
rum zu neuen Produkt- und Geschäfts-
ideen führen können. Jeder kennt
Bio-Marmelade, doch der vielleicht
ökologisch konsequenteste süße Brot-
aufstrich ist Zero Waste Jam. Trägt
Marillenmarmelade ein Bio-Güte-
siegel, so muss der ökologische An-
bau der Früchte kontrolliert werden.
Die Marillen werden zumeist angelie-
fert, denn Früchte, die etwa in den zur
Marmeladenfabrik nahegelegenen pri-
vaten Obstgärten wachsen, werden
zwar fast immer pestizidfrei angebaut,
doch sie sind nicht zertifi ziert und
qualifi zieren sich deshalb nicht für ein
Produkt mit Bio-Garantie. Im schlimm s -
ten Fall verrotten diese lokalen Früchte
unverzehrt, während teures, weitge-
reistes Obst verarbeitet wird.
Das Sozialunternehmen Zero Waste
Jam, das sich dem Ziel der Abfallver-
meidung und optimalen Ressourcen-
nutzung verschrieben hat, schließt
diese Lücke. Wer etwa einen Garten
im Raum Wien, Graz oder im Wald-
viertel besitzt, wo mehr Früchte
gedeihen als er verbraucht, kann
sein Obst einfach spenden und so-
mit einen Beitrag gegen die Lebens-
mittelverschwendung leisten. Die
Fruchtspende wird abgeholt, von den
Zero-Waste-Jam-Produktionspartnern
zu Konfi türe verarbeitet und schließ-
lich professionell vertrieben.
Der moderne Alltag ist ein komplexes
System. Mit Patentlösungen kommt
man da nicht weiter, zumal sich Lebens-
entwürfe immer unterschiedlicher
DAS LEBEN WAR ZWAR FRÜHER NICHT LEICHTER, ABER EINFACHER. VERÄNDERUNGEN VOLLZOGEN SICH NUR LANGSAM. DER MODERNE ALLTAG HINGEGEN IST HOCHKOMPLEX. UND DAS IST GUT SO. Von Ruth Reitmeier
ZERTIFIZIERUNG SCHAFFT LÜCKEN
DAS GEHIRN BEVORZUGT LINEARES DENKEN
INDIVIDUELLE LÖSUNGEN SCHAFFEN DURCHBLICK
HINTER EINFACHEN ERGEBNISSEN STEHEN OFT KOMPLEXE PROZESSE
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gestalten. Werden heute bei einem
Maturatreffen von Mitvierzigern die
Kinderfotos herumgereicht, so sind
dies Bilder von Menschen zwischen
zwei und zwanzig Jahren. Arbeit, Kin-
der und andere (familiäre) Verpfl ich-
tungen unter einen Hut zu bringen ist
alles andere als einfach, verlangt nach
Multitasking und Improvisations kunst.
Steigen die Anforderungen im System
Familie, so muss wie in einem Unter-
nehmen eine entsprechend gute
Organisationsstruktur und faire
Arbeits aufteilung unter Einbeziehung
freiwilliger und eventuell auch bezahl-
ter Hilfe her. Das „Familienprogramm“
wird zudem regelmäßige Updates
brauchen, um mit den sich ändernden
Bedingungen übereinzustimmen. Die
Komplexität des Alltags, die Gesamt-
heit und der Zusammenhang der
zu bewältigenden Aufgaben wird
schließlich um ein paar Termine und
Pläne reduziert werden müssen:
Das Konzertabonnement, die Über-
stunden, den Baby-Englischkurs, den
Elternsprechtag, den Zweitwohnsitz.
Trotz Abstrichen bleibt in der so ge-
nannten Rushhour des Lebens, also
in jener Phase, wo sich die Aufgaben
und Anforderungen türmen, noch
immer genug zu tun.
Vor diesem Hintergrund stehen auch
Unternehmen vor neuen Herausforde-
rungen. Die Organisationskunst der
Manpower reicht heute längst über
die Grenzen des Betriebs hinaus ins
Private. Immer deutlicher zeigt sich
der Trend zur individualisierten Perso-
nalarbeit. Programme nach dem Top-
Down-Prinzip über große Teile der
Belegschaft zu stülpen, ist nicht mehr
zeitgemäß. Heute werden die Mitar-
beiter zunehmend einbezogen, wer-
den angehalten, ihren Arbeitsplatz zu
bewerten und Stressfaktoren beim
Namen zu nennen.
Der Zeitgeist verlangt es, unermüdlich
Unternehmer seiner selbst zu sein
und auch das kann ganz schön an-
strengend werden. Manchmal will
man auch nur Instandhalter seines
Lebens sein. In der Überfl uss- und
Leistungsgesellschaft ist deshalb die
Sehnsucht nach Vereinfachung die
andere Seite der Medaille, die (ge-
dankliche) Flucht in eine Idylle des
Schlichten; eine Art Entschleuni-
gungsrefl ex.
All das ist freilich nicht neu. Weg-
lassen, dann wird alles besser, ist
der Grundgedanke vieler Heilslehren.
Mehrere christliche Orden haben sich
bereits vor Jahrhunderten dem ein-
fachen Leben verschrieben. Schein-
heiliger war wohl die Sehnsucht der
Aristokratie des Barock nach ideali-
sierter Einfachheit, die in nachgebau-
ten Bauernhäusern neben ihren pom-
pösen Schlössern Landleben spielten.
Die heutigen Downshifter sind neben
rein ökonomischen Beweggründen
geistige Nachfahren der Aussteiger
der 1960er und 70er Jahre, die die
vermeintlich sinnentleerten Wohl-
standsideale der Mittelschicht in
Frage stellten.
Diese Suche nach dem Einfachen ist
jedoch im Grunde ein Luxus – ein
Luxusproblem. Extremes Aufräumen,
das „Entmüllen“ sämtlicher Lebens-
bereiche, bewusster Konsum; um
diese Fragen ist längst eine Indus-
trie entstanden. Ein Standardwerk
zum Reduktionstrend ist der Mega-
seller „Simplify your Life“, mit dem ein
evangelischer Pfarrer und ein Zeit-
management-Experte bereits um die
Jahrtausendwende einen Vereinfa-
chungs-Guide vorlegten und damit
den Nerv der Zeit trafen. Das Buch
gibt klare, einfache Anweisungen, wie
man in sämtlichen Lebensbereichen
drastisch reduziert. Das Programm
verläuft von außen nach innen, von
Stufe 1: „Vereinfachen Sie Ihre
Sachen“, über die Finanzen, Zeit,
Gesundheit, Beziehungen, die
Partnerschaft bis letztlich mit abge-
schlossener Stufe 7 das Ziel erreicht
ist: „Vereinfachen Sie sich selbst.“ Da
muss man kurz schlucken. Ist die Ultima
ratio, ein Einfaltspinsel zu werden?
Wie unterkomplex, wie einfach ge-
strickt, dürfen wir sein, um im Jetzt
zu leben und die Chancen unserer
Zeit wahrzunehmen? Selbst wenn der
Alltag komplexer geworden ist und
Stressoren dazugekommen sein mö-
gen, der Mensch wächst an seinen
Aufgaben. Mit der Modernisierung der
Welt modernisiere sich eben auch das
Seelenleben des modernen Menschen,
argumentieren etwa die Psychologen
Martin Dornes und Martin Altmeyer
in der deutschen Wochenzeitung
„Die Zeit“. Beschleunigung, Globali-
sierung, berufl iche Mobilität, Plural-
ismus der Werte und Lebensstile
sowie Flexibilität sind nicht nur Anfor-
derungen, sondern bieten vor allem
neue Möglichkeiten der Lebensge-
staltung und Erweiterung des Hori-
zonts. Die moderne Arbeitswelt ist
mit ihren Ansprüchen zur Teamfähig-
keit, Eigeninitiative und Selbstorgani-
sation zweifellos fordernder als einst,
doch sollte man der Monotonie aus-
laufender Berufswelten deshalb nach-
trauern?
„Komplex ist nahezu ein Synonym für
intelligent“, betont Kybernetikerin
Maria Pruckner. Die Kybernetik ist
die Wissenschaft der Steuerung und
Regelung in Maschinen, lebenden
Organismen und sozialen Organisatio-
nen und wird auch als die Kunst des
Steuerns beschrieben. Sie hilft zu ver-
stehen, wie Eigendynamiken und das
Funktionieren an sich funktionieren.
Die Systemwissenschaft Kybernetik
spielt insbesondere in der Manage-
mentlehre eine immer wichtigere Rolle.
„Komplexität gab es auch früher, doch
DER WUNSCH NACH DEM EINFACHENLEBEN WAR IMMER WIEDER EN VOGUE
ÜBERFLUSS WECKT DAS BEDÜRFNIS NACH DEM EINFACHEN
DER MENSCH WÄCHST AN DER HERAUSFORDERUNG
KOMPLEXITÄT IST KEINE NEUERFINDUNG. NEU IST DIE GESCHWINDIGKEIT, MIT DER SIE STEIGT
WORK-LIFE-BALANCE MEHR DENN JE GEFRAGT
7EINFACH ≠ EINFACH
durch die moderne Daten- und Kom-
munikationstechnik nimmt sie rasant
zu, und alles ändert sich viel schneller.
Dadurch erhöht sich auch die Unsicher-
heit und Ungewissheit in vielen Situa-
tionen“, betont Pruckner.
Wenn scheinbar unlösbare Probleme
belasten, wird oftmals die Komplexität
dafür verantwortlich gemacht und sie
wird dabei als Überdosis an Informa-
tion (miss-)verstanden. Das zentrale
Problem ist aber nicht ein Zuviel an
Information. Geraten die Dinge außer
Kontrolle, ist das Gegenteil der Fall.
„Das Problem ist immer das Fehlen
relevanter Information“, betont
Pruckner. Die Kybernetikerin hat
diese Mechanismen in ihrem Buch
„Die Komplexitätsfalle“ anhand von
Beispielen beschrieben. Das zugrunde-
liegende Muster ist immer das gleiche:
Durch mangelnde Information entste-
hen Probleme, die weitere Konfl ikte
erzeugen. Fehlt der Durchblick, so
stellen sich Angst und Stress ein, was
wiederum zu Fehlleistungen führt. So
wird aus einem Problem schnell ein
Riesenproblem. Pruckner zeigt, wie
die Komplexitätsfalle zuklappt und
Krisen eskalieren können. Sie zeigt
auch Auswege aus der Komplexitäts-
falle, etwa indem Informationslücken
rechtzeitig geschlossen werden.
Vor dem Hintergrund einer komplexer
werdenden Welt sollte demnach das
Herzstück jeder Bildungsreform ei-
ne auf komplexe Systeme bezogene
Denkschule sein, um zu lernen, wie
man an noch nie dagewesene Situa-
tionen souverän herangeht. Denn wer
Komplexität beherrschen will, muss
sie in seinem Kopf erzeugen können.
Komplexität ist nur mit ebenso hoher
Komplexität zu begegnen. Beim Mili-
tär, in der Kriminalistik oder der Me-
dizin wird seit jeher so vorgegangen:
Man verschafft sich zunächst einen
Überblick, stellt gezielte Fragen. Keine
Entscheidung fällt ohne sorgfältige
Lagebeurteilung.
Wer jedoch in der Komplexitätsfalle
sitzt, arbeitet sich immer am falschen
Problem ab. Entscheidend ist also,
dass das tatsächliche Problem iden-
tifi ziert wird, zumal es die Lösung in
sich trägt. In der Praxis bedeutet das:
In einer Krise geht es darum, sich die
relevanten Informationen zu beschaf-
fen und/oder Hilfe zu holen – also je-
manden hinzuzuziehen, der über das
erforderliche Fach-, System und auch
Insiderwissen verfügt. Pruckner:
„Eine goldene Regel der Kybernetik
lautet: Lass dich von dem führen, der
am besten Bescheid weiß.“ �
www.mariapruckner.com
www.vitolerance.at
www.zerowastejam.com
Das Gehirn bevorzugt lineares Denken. Durch schrittweise Annäherung an die Herausforderungen meistert es der Mensch trotzdem,
sich in einer Welt zunehmender Komplexität zurecht zu fi nden.
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ZU VIEL AN INFORMATION WIRD ALS ÜBERFORDERUNG WAHRGENOMMEN
DAS FEHLEN RELEVANTER INFORMATION BEDEUTET KONTROLLVERLUST
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Kennen Sie eigentlich Sisyphos? Den armen Kerl, der stän dig
einen Stein den Berg hinaufrollen musste, nur um kurz vor
dem Ziel zu scheitern? Das ist mein Leben! Seit ich Zwillinge
habe, wird es zu einer Vormittag füllenden Aufgabe, zwei Liter
Milch zu kaufen. Bis man die Kinder für einen Mini-Einkauf
fertig hat, ist die Milch im Geschäft schon sauer. Gibt es viel-
leicht deswegen die „Länger-frisch-Milch“?
Prinzipiell hat eine Mutter ja drei Möglichkeiten, mit zwei
gleichaltrigen Babys einmal einkaufen zu gehen: Entweder
die Mutter ist verwegen, dann verwendet sie das Auto. Mit
anderen Worten: Kinder wickeln, füttern, anziehen und dann
Stück für Stück ins Auto tragen. Während man also Kind A
ins Auto bringt, brüllt Kind B. Holt man dann Kind B, dann
tut Kind A seinen Unmut kund. So wissen auch die Nach-
barn, dass es zu einem Milch-Engpass gekommen ist. Wich-
tig: Kinderwagen nicht vergessen. Der ist nicht nur schwer,
sondern auch äußerst sperrig. Die Einkaufsliste sollte dem-
nach relativ kurz sein, da der Kofferraum bereits vom Wagen
besetzt ist. Und von jenen Dingen, die jede Mutter eben so
mithaben muss: Windeln, Feuchttücher und einen Liter Bal-
drian. Zum Eigengebrauch, versteht sich …
Die zweite Möglichkeit, an frische Milch zu kommen, sind die
öffentlichen Verkehrsmittel: Da sind Geschick und vor allem
Diplomatie gefragt. „Och – sind das Zwillinge?“, ist die am
häufi gsten gestellte Frage. Obwohl es mir auf der Zunge liegt
zu sagen: „Nein, die sind zufällig gleich angezogen und sehen
sich zufällig ähnlich“, antworte ich höfl ich: „Ja – Zwillinge!
Was für ein Segen!“ Währenddessen brüllt Kind A aus voller
Kehle und Kind B beginnt verdächtig streng zu riechen. Aber
was soll’s: Es sind ja nur noch fünf Stationen.
Kommen wir also zur dritten Möglichkeit, endlich frische
Milch zu kaufen: per pedes. Wir erinnern uns: Kinder sind satt,
sauber und glücklich. Den sperrigen Zwillingskinderwagen
habe ich die Treppen hinunter getragen, begleitet von den lieb-
lichen Stimmen des Nachwuchses, der lauthals seinen Un-
mut kundtut. Optimisten könnten es auch Anfeuerungsrufe
nennen. Ich stopfe also die Kinder in den Wagen und schnappe
die Wickeltasche, die gefühlte 200 Kilo wiegt. Schweiß geba-
det winke ich den Nachbarn zu, die ob dieses Schauspiels den
eigenen Kinderwunsch stark überdenken. Wir schleppen uns –
also eigentlich schleppe ich alle – in den Supermarkt und raffe
dort in Windeseile alles, was man eben so braucht, an mich.
Natürlich in einem Sicherheitsabstand zu den Regalen. Denn
auch kurze Arme können fl ink sein.
So stehe ich nun – egal für welche der drei Varianten ich
mich entschieden habe – an der Kassa: Der Zwillingswagen
passt leider nicht durch, was vor allem die fünf Leute hinter
mir freut. Man öffnet uns also die Kassa für Rollstuhlfahrer
und Kind A nutzt den Tumult, um noch schnell einen Schoko-
riegel zu klauen.
Als ich endlich bezahlt habe, fällt es mir wie Schuppen von
den Augen: Verdammt, ich habe die Milch vergessen!
Zweifach ist gar
nicht so einfach
Alltag
mit Hürden
Ich habe zwei Im-Mobilien. Zwei Kinder, um genau zu sein. Seit ich Mutter von
Zwillingen bin, wird das Verlassen des Eigenheims zur Schwerarbeit. Von Christina Tropper
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9EINFACH ≠ EINFACH
Alles begann im Oktober 2012, als das Parkpickerl erst-
mals im Bezirk Hernals eingeführt wurde. Doch nicht überall.
Manche Zonen, wie auch mein Grätzel, waren zunächst
noch ausgenommen. Kämpfe um die noch gebührenfreien
Parkplätze wurden 2013 abgedreht, als man die erste
Zonen erweiterung beschloss. Seither bin auch ich Pickerl-
Kleberin.
Weil diese Angelegenheit nicht so einfach ist wie vermutet,
war eine weitere Ausweitung der Anrainerzonen nötig. Dies-
mal kam eine zusätzliche Dimension dazu: Die beiden Stra-
ßenseiten der Savoyenstraße, die in die Gebührenzone ein-
gegliedert wurde, liegen in unterschiedlichen Bezirken.
Rechts 17. Bezirk und links 16., oder umgekehrt. Natürliche
Überlappungszone nennt sich das. In der Praxis bedeutet es,
dass man dort mit den Pickerln beider Bezirke parken darf.
Dies hatte sich allerdings zunächst nicht zu den Organen der
Parkraumüberwachung durchgesprochen, deren Ortskennt-
nis dem profunden Wissen der Anrainer hinterher hinkte.
Die Parksheriffs mussten es sich also gefallen lassen, den
exak ten Grenzverlauf erklärt zu bekommen, um mit wasser-
dichten Argumenten vom Strafzettelschreiben abgehalten
zu werden.
Der Geschichte noch kein Ende: Sobald sich die ersten Pri-
meln zeigen, bringen die Schrebergärtner Saisonpickerl (!)
auf ihren Gefährten an. Dann weiß man, dass der Winter-
schlaf vorbei und es an der Zeit ist, wieder in Form zu kom-
men – mental wie körperlich. Zunächst prägt man sich bes-
ser ein, wo man sein Auto zuletzt abgestellt hat – das kann
mitunter etwas weiter entfernt sein. Auch sollte man gut zu
Fuß und nicht allzu ängstlich sein. Mein User-Tipp: Bitte fes-
tes Schuhwerk und Taschenlampe im Auto mitführen. Denn
mit Sicherheit fi ndet man erst im einen Kilometer entfernten
Waldgebiet einen Stellplatz.
Das System ist einfach komplex und Komplexität bedeutet
nicht zuletzt, dass immer noch etwas nachkommt. Vor diesem
Hintergrund entstehen selbst rund zweieinhalb Jahre nach
der Pickerl-Ersteinführung spontan Guerilla-Selbsthilfegrup-
pen, wie etwa jüngst in einer Trafi k in der Güpferlingstraße um
neun Uhr am Morgen, als ein Italiener einen geschäftlichen
Termin in der City sowie die blendende Idee hatte, sein Auto
doch einfach in der Vorstadt abzustellen und von dort aus
mit den Öffi s bequem ins Stadtzentrum zu fahren. Nur dar-
aus wurde leider nichts. In der Trafi k ging es plötzlich zu wie
in einer neapolitanischen Bar. Die Trafi kantin und vier ihrer
Kunden versuchten in broken English und heftig gestikulie-
rend, dem Italiener die Vielschichtigkeit des Problems aus-
einanderzusetzen: Ihn in eine der nächstgelegenen Garagen
mit Anbindung ans U-Bahnnetz zu schicken, erschien un-
verantwortlich, denn diese bieten um diese Uhrzeit nur sel-
ten freie Plätze. In den angrenzenden pickerlfreien 18. Bezirk
(Währing) wollten sie einen Fremden nun auch nicht schicken,
das erschien zu kompliziert – und vielleicht wollte man es sich
auch einfach ersparen, erklären zu müssen, wie er hinkommt,
von dort in die Innenstadt und wieder zurück. Der Italiener
folgte der aufgedrehten Diskussion staunend und ließ sich
schließlich überzeugen, doch einfach mit dem Auto zu fahren.
Warum einfach,
wenn’s auch
kompliziert geht
Ich wohne hinter Wiener Bergen unter Gartenzwergen, in einer entlegenen Ecke der Stadt,
in einer Straße, die viele Taxifahrer ohne Navi nicht fi nden. Parkplatzprobleme kannten wir nicht.
Bis das Parkpickerl zu uns kam und so manche verwirrende Veränderung brachte. Von Ruth Reitmeier
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10
querspur: Ihre Gebäude rufen
auf den ersten Blick ein Gefühl
der Schwerelosigkeit und des Fließens
hervor. Reduzierte Formen, die
wahrscheinlich in einem komplexen
Prozess entstanden sind.
Delugan-Meissl: Um diese Ergebnisse
zu erzielen und auch zu realisieren,
bedeutet es, in der Entwicklung und
Umsetzung großes Engagement und
Überzeugungskraft zu investieren.
Welchen Stellenwert hat reduziertes
Design in Ihrer Architektur?
Delugan-Meissl: Reduziertes
Design ist kein Qualitätskriterium.
Die Komplexität liegt in der Vision,
in den Parametern, die den Entwurf
bestimmen. Dies erfordert einen
refl exiven Prozess, der unterschiedli-
che Perspektiven miteinbezieht.
Warum sind einfache Formen in
der Architektur so beliebt?
Delugan-Meissl: Sind die einfachen
Formen tatsächlich so beliebt? In
diesem Zusammenhang fi nde ich die
Bezeichnung „einfach“ nicht adäquat.
In der Architekturgeschichte gibt und
gab es immer wieder Strömungen,
architektonische Richtungen, welche
sich der Sachlichkeit verpfl ichtet
fühlen. Auch die Entwicklung von
reduzierter Architektur oder reduzier-
tem Design erfordert aufwändige
Entwurfsprozesse.
Was bedeutet der Dualismus Komplexi-
tät/Einfachheit in der Architektur?
Delugan-Meissl: In der Architektur
fungieren Einfachheit und Komplexi-
tät wie zwei Pole, die einander ergän-
zen können, jedoch nicht ausschließen
müssen. Voraussetzung für die Reali-
sierung von anspruchsvoller Architek-
tur und Design ist in hohem Maße ein
Beobachtungs- und Refl exionsvermö-
gen sowie die Vision, stets an neuen
Lösungsansätzen zu arbeiten. Am
Ende dieses vielschichtigen, komple-
xen kreativen Prozesses entsteht letzt-
lich ein Produkt, welches dieser Dua-
lität entspricht.
Neben dem Sehen gibt es ein Erleben
von Architektur. Ganz konkret:
Wie kann der Nutzer Einfachheit in der
Architektur erleben?
Delugan-Meissl: Für mich impliziert
die gelebte Einfachheit auch die räum-
liche Erfahrbarkeit durch den Nutzer.
In einem Gebäude kann man genau
beobachten, wie sich der Nutzer im
Raum bewegt, orientiert und sich in
den gegebenen Strukturen zurecht-
fi ndet.
FÜR DEN NUTZER IST EINFACHHEIT IN DER ARCHITEKTUR EIN ERLEBNIS
FASZINIERENDE RAUMANGEBOTE ZU KONZIPIEREN, DIE DEM NUTZER EINEHOHE AUFENTHALTSQUALITÄT UND SPANNENDE ERLEBNISSE BIETEN, ABER AUCH FUNKTIONAL ENTSPRECHEN, IST EINE HERAUSFORDERUNG.DAS ÖSTERREICHISCHE ARCHITEKTURBÜRO DELUGAN MEISSL ASSOCIATED ARCHITECTS FOKUSSIERT DAHER SCHON ZU BEGINN SEINE ENTWURFS-PROZESSE AUF EBEN DIESE PARAMETER. Das Gespräch führte Catherine Gottwald
„ARCHITEKTUR DARF NICHT NUR KUNST SEIN“
11EINFACH ≠ EINFACH
Elke Delugan-Meissl, geboren in Linz, ist
Gründerin und Partnerin des Architekturbüros
Delugan Meissl Associated Architects.
Sie und ihr Mann sind Träger des Großen
Österreichischen Staatspreises 2015.
Das Architektenbüro realisiert seine Entwürfe
weltweit. Das 2012 gebaute Festspielhaus
der Tiroler Festspiele brachte Delugan Meissl
Associated Architects 2015 eine Nominierung
für den Mies van der Rohe-Preis, den Preis für
zeit genössische europäische Architektur.
Nichts bereitet der passionierten Architektin
Delugan-Meissl mehr Freude, als „wenn ihre
Objekte von den Nutzern angenommen
werden.“
USABILITY KONKURRIERT IN DER ARCHITEKTUR MIT ANDEREN PARAMETERN
RAHMENBEDINGUNGEN SIND MASSGEBLICH FÜR EINEN ENTWURF
Sie haben Projekte wie das Porsche-
Museum in Stuttgart oder das EYE
Film Institut in Amsterdam umgesetzt.
Wie wichtig ist in der Architektur die
Usability, also Nutzerfreundlichkeit
im Verhältnis zu anderen Zielen,
beispielsweise der Ästhetik?
Delugan-Meissl: Die Nutzerfreund-
lichkeit spielt sicherlich eine entschei-
dende Rolle. Erst durch die Nutzung
wird ein Gebäude lebendig. Oft ist es
eine Herausforderdung, allen Para-
metern, die zur Entwicklung eines
qualitätsvollen Ergebnisses beitragen,
gerecht zu werden.
Öff entliche Gebäude müssen die
Ansprüche einer heterogenen Nutzer-
gruppe erfüllen. Wie integriert man
die oft mals unterschiedlichsten User-
perspektiven optimal in einen Entwurf?
Delugan-Meissl: In unserer Entwurfs-
methodik nähern wir uns dem Ergeb-
nis über drei wichtige Abschnitte.
Die architektonische Analytik ermög-
licht es uns im ersten Schritt, die
spezifi sche Ausgangslage (wie u. a.
die Topographie, den städtebaulichen
Kontext, die zukünft ige Nutzung
und funktionale Anforderungen)
zu beurteilen und zu analysieren,
um auf sie in einem zweiten Schritt –
der architektonischen Imagination –
zu reagieren und unseren architekto-
nischen Ansatz zu entwickeln. Dabei
steht die Frage nach der unmittelbar,
körperlich erfahrbaren Wirkung von
Räumen im Mittelpunkt aller unserer
Projekte, d. h. der Versuch, jedem Ge-
bäude die seinem Zweck und seinem
Kontext entsprechenden Raumwir-
kungen zu verleihen.
Architektur ist Kunst – wie viel
User perspektive erlaubt eine
architektonische Vision überhaupt?
Delugan-Meissl: Ich sehe Architektur
nicht als reine Kunst, die losgelöst von
Rahmenbedingungen agieren kann. In
der Entwurfs- und Konzeptionsphase
sind funktionale, wirtschaft liche,
technische etc. Aspekte zu berücksich-
tigen. Qualitative Architektur ist auch
eine nutzerorientierte.
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Neue Projekte in historische Städte
wie zum Beispiel Wien zu integrieren
stelle ich mir anspruchsvoll vor ...
Delugan-Meissl: Unser Anspruch
ist es, die Qualität des Ortes zu analy-
sieren und diese durch die bauliche
Intervention zu stärken. Ein Beispiel
dafür ist ein Dachaufb au im 4. Bezirk
in Wien, den wir in den Kontext der
urbanen Dachlandschaft unter Beibe-
haltung unserer architektonischen
Vision integriert haben.
Wenn Sie an die Stadt der Zukunft
denken: Welche Bedeutung hat
Zwischenraum und was fordert der
User von der Architektur der Zukunft ?
Delugan-Meissl: Stadtentwicklung
erfolgt heute in inhaltlicher, wie auch
maßstäblicher Hinsicht allzu oft
selbstreferenziell und rein additiv.
Die fehlende Einbeziehung übergeord-
neter Konzepte sowie mangelnde Ver-
netzung mit dem öff entlichen Raum,
dem Zwischenraum, widersprechen
zukunft sorientierten Prozessen.
Europäische Städte laufen Gefahr,
zunehmend als museale, unveränder-
liche Strukturen wahrgenommen zu
werden. Ein adäquates Mittel, dieser
Entwicklung gegenzusteuern, stellen
u. a. Um- und Zwischennutzungen
von bestehender Bausubstanz dar.
Sie fördern städtische Identität und
fungieren als Katalysator für eine
dynamische Entwicklung. Neben
der Vielfalt räumlicher Sequenzen
verleihen auch unterschiedliche –
oft unvorhergesehene – Nutzungen
dem urbanen Kontext Lebendigkeit
und Attraktivität.
Der römische Architekt Renzo Piano
hat etwas ganz Ähnliches über die
Transformation der verarmten Vor-
städte von Rom gesagt. Man müsse
der Zersiedelung ein Ende bereiten,
die ohne urbane Qualität errichteten
Vororte als Teil des städtischen
Potenzials wahrnehmen und in
das Stadtbild Roms integrieren …
Delugan-Meissl: Es gilt, keine Mono-
funktionen oder Ghettos zu schaff en,
sondern eine polyzentrische und poly-
funktionale Entwicklung zu ermögli-
chen. Dies bedingt allerdings das Zu-
sammenwirken mehrerer Kräft e sowie
den politischen Willen. Wir sehen die
Stadt als einen lebendigen Organismus,
von den Bewohnern geprägt, off en für
zukünft ige Entwicklung. �
UNVORHERGESEHENE RAUMNUTZUNG WIRKT IN STÄDTEN ATTRAKTIV
DIE STADT ALS LEBENDIGER ORGANISMUS
Klare, moderne Formen als Kontrast zum traditionellen, geschichtsträchtigen Wien: Die Messingwand in der
Touristeninformation am Albertinaplatz in Wien wurde nach dem Entwurf des Architektenbüros Delugan-Meissl Associated Architects
umgesetzt.
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13EINFACH ≠ EINFACH
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WENN DER STROM AUSFÄLLT
DIE GÄNSEBRATENSPITZE, WIE EINST ZUR WEIHNACHTSZEIT DER PEAK AN STROMVERBRAUCH GENANNT WURDE, WEIL ALLE ÖFEN GLEICHZEITIG HOCHGEFAHREN WURDEN, BEREITET DEM STROMNETZ HEUTE KEINE PROBLEME MEHR. EIN GROSSFLÄCHIGES BLACKOUT WÜRDE HEUTE DURCH ANDERE URSACHEN AUSGELÖST. Von Ulrich Herbst
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////// PLÖTZLICH BLACKOUT //////////////////////////////Ein Blackout ist heute mehr denn je ein realistisches Szenario: Strom ist in Europa keine natio nale
Angelegenheit, sondern durch ein eng vernetztes europäisches Verbundsystem geregelt. Neben
der Sicherheit, dass der Ausfall eines Kraftwerkes durch die anderen im System aufgefangen
werden kann, birgt das das Risiko, dass eine Großstörung Auswirkungen auf das Gesamtnetz
hat. Daher wäre es durchaus möglich, dass ein Blackout nicht in Österreich ausgelöst wird,
Österreich aber massiv davon betroffen wäre. Zur Instabilität tragen auch erneuerbare
Energie träger bei, die je nach Wetterlage Energie produzieren: „Je höher der Anteil an schwan-
kender Strom einspeisung aus Windkraft am gesamten Stromaufkommen wird, desto robuster
muss das Stromnetz sein, welches diese Schwankungen abfangen kann“, sagt Markus Pederiva
von der Austrian Power Grid AG (APG), die für das hochrangige Stromnetz in Österreich verant-
wortlich ist. Soll heißen: Nicht nur zu wenig Strom kann gefährlich sein, sondern auch zu viel. Ei-
ne Überdosis kann die Leitungen überlasten und zu einem Zusammenbruch des Systems führen.
Die genaue Wahrscheinlichkeit eines Blackouts lässt sich laut Experten nicht abschätzen, weil
eine Vielzahl an Parametern dazu beiträgt. Fest stehe, dass der Ausfall innerhalb weniger Sekun-
den und vor allem ohne Vorwarnung passiere. Deshalb ginge es vor allem darum, Vorsorgemaß-
nahmen direkt in der Bevölkerung zu treffen, so Herbert Saurugg, Initiator der zivilgesellschaftli-
chen Initiative Plötzlich Blackout. Denn ist der Strom einmal weg, sind Retter gleichzeitig Opfer-,
und Standardverfahren also obsolet. www.ploetzlichblackout.at
////// DIE GOLDENE STUNDE BEIM STROMAUSFALL ///Ein Blackout, ein Stromausfall, der länger als acht Stunden dauert, würde das Leben lahmlegen.
Experten gehen davon aus, dass nach sechs Stunden die Mobilfunknetze zusammengebrochen
wären, nach zwölf Stunden müssten Firmen den Betrieb einstellen und es könnte nicht mehr ge-
heizt werden. Nach 20 Stunden würde kein Bus mehr fahren und kein Flugzeug fl iegen, die Ver-
sorgung mit Lebensmitteln wäre in Gefahr. Spätestens nach zwei Tagen würden Läden geplün-
dert und möglicherweise Seuchen ausbrechen. Deshalb ist im Notfall die erste Stunde – die
Golden Hour – so wichtig: um Maßnahmen zu veranlassen, solange die technischen Kommuni-
kationsmittel funktionieren.
////// STROM – IM NOTFALL AUS DEM AUTO ////////////Notstromaggregate, die aus Diesel-Verbrennungsmotoren zur Erzeugung von Energie bestehen,
sind vor allem in Krankenhäusern, Feuerwehren oder Rechenzentren elementar, um die Strom-
versorgung jederzeit aufrecht zu erhalten. Experten bezweifeln jedoch, dass bei einem größe-
ren Ausfall tatsächlich eine ausreichende Dieselversorgung für die Notstromaggregate gewähr-
leistet ist; auch deshalb, weil Tankstellen ohne Strom nicht funktionieren und nur wenige selbst
über ein Notstromaggregat verfügen. Künftig könnten aber Autos vermehrt in die Stromver-
sorgung einbezogen werden. Japanische Autohersteller sind für diese Idee Vorreiter. Weil Ja-
pans Stromnetz als veraltet gilt und es immer wieder zu Ausfällen kommt, wurden Autos entwi-
ckelt, die als fahrende Notstromaggregate konzipiert sind. So liefert etwa ein voll getankter (!)
Mitsubishi Geländewagen über zwei separate Anschlüsse im Heck mit laufendem Motor zehn
Tage Strom für einen Haushalt. Daihatsu hat dieses Prinzip als Wasserstoff-Auto umgesetzt:
In Brennstoffzellen reagiert gasförmiger Wasserstoff mit Sauerstoff und erzeugt Energie, die
wiederum die Batterie des Elektromotors speist. Der Strom kann im Haus verbraucht werden.
Ebenso kann die Batterie des Autos als Zwischenspeicher für die in der hauseigenen Solaran-
lage gewonnene Energie dienen.
14
Einfach unterwegs
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15EINFACH ≠ EINFACH
Logisch, geordnet und extrem leicht
zu bedienen sollte sie sein: „mobito“,
ein Onlinetool mit dem Ziel, Auto-
mobilität einfach zu organisieren.
Konzipiert und entwickelt wurde sie
in den letzten achtzehn Monaten in
einem Entwicklerteam von ÖAMTC,
dem Unternehmen asoluto (Spezia-
listen für Online-Interaktion und
Kommunikation) sowie openForce
(IT-Infra struktur). Im Juni wird die
Plattform, die am PC genauso wie am
Smartphone funktioniert, der Öffent-
lichkeit präsentiert und dabei sowohl
ÖAMTC-Mitglieder als auch Nicht-
Mitglieder in wesent lichen Punkten
ihrer Automobilität unterstützen.
Die Idee zu mobito entstand, weil so-
wohl Mobilitätsverhalten, als auch de-
ren Organisation individuell geregelt
werden. Menschen in der Stadt wie
auch auf dem Land dabei zu unter-
stützen, sei dem ÖAMTC ein wichti-
ges Anliegen. Ebenso, dass Mobilität
für alle leistbar und so ressourcen-
schonend wie möglich ist.
Die Leistungen von mobito reichen
vom digitalen Fahrtenbuch bis zur
Organisation der gemeinsamen Nut-
zung eines Autos. Zwei voneinander
getrennte Bereiche stehen zu Beginn
zur Verfügung: my.mobil und co.mobil.
mobito verzichtet auf jeden Ballast an
Zusatzfunktionen: „Es ist kein Face-
book, sondern ein praktisches Instru-
ment“, erklärt Gabriele Gerhardter
vom ÖAMTC die bewusste Beschrän-
kung auf ein sehr funktionelles,
schlankes, schnelles Werkzeug.
Im Bereich my.mobil fi ndet man zum
Beispiel die Funktion „Fahrzeug stand-
ort“. Es war eines der ersten wichtigen
Tools, das entwickelt wurde. Und ei-
nes, „das schon für sich allein Sinn
machen würde“, meint Mustafa Alic
von asoluto. Jeder Städter, der sein
Fahrzeug nicht täglich benutzt und
es nach längerer Standzeit in den
Straßen rund um seine Wohnung
sucht, dürfte die Sinnhaftigkeit des
Tools erkennen. Wird das Auto auch
noch mit anderen geteilt, und sei es
nur innerhalb der Familie, wird diese
Funktion essenziell. „Sie zeigt mit
einem Knopfdruck den Standort des
Fahrzeugs an – und den Weg dort-
hin“. my.mobil enthält aber auch ein
Fahrtenbuch, das so angelegt ist,
dass es das Finanzamt akzeptiert,
ein Erinnerungsservice, wenn das
nächste Pickerl fällig ist und eine
Übersicht über den Spritverbrauch
und alle Kosten rund um das Auto.
Umfassender ist die mobito-Funktion
co.mobil angelegt. „Diese hilft einer
Gruppe an Personen, Mobilität
möglichst einfach zu organisieren“,
fasst Gerhardter zusammen, „sprich
ein Fahrzeug gemeinsam zu nutzen,
aber auch alle Kosten und Zeiten
zu erfassen.“ co.mobil wendet
sich vor allem an Familien, Freunde
und Nach barn. Auch für Vereine,
die ein Auto gemeinsam nutzen,
verschiedene Fahrer haben und
eventuell ein Fahrtenbuch brauchen,
ist es hilfreich.
Die Applika tion schlägt etwa Modelle
vor, wie sich eine Gruppe die Kosten
für ihr Auto aufteilen kann. Und bietet
dazu auch einen Mustervertrag.
Darüber hinaus ist diese Funktion
mit einem Nachrichten- und Kalender-
dienst verbunden – Fahr zeug-Sharer
können Terminabsprachen und
Reservierungen machen, ein gemein-
sames Fahrtenbuch führen, Neben-
kosten erfassen. Oder Aufgaben
eintragen, wann etwa das Frost-
schutz mittel nachzufüllen ist oder
das Auto neue Winterreifen braucht.
„In der Entwicklung war co.mobil
sicher der komplexeste Teil, weil es
sehr viel Interaktion zwischen den
Teilnehmern ermöglichen muss“, meint
Otto Meinhart von openForce, jenes
Unternehmen, das die technische
Umsetzung der Plattform übernahm.
Beispielsweise wurde lange darüber
getüftelt, wie eine pünktliche Übergabe
LÖSUNGEN FÜR DIE TÜCKEN DES ALLTAGS FINDEN
MOBITO: EINFACH HEISST KEINE UNNÖTIGEN FEATURES
NEUE MÖGLICHKEITEN DIE EIGENE MOBILITÄT ZU ORGANISIEREN
UNTER FAMILIENMITGLIEDERN ODER FREUNDEN EIN AUTO TEILEN, DAS IM DSCHUNGEL DER GROSSSTADT VERGESSENE AUTO NIE MEHR SUCHEN MÜSSEN, EIN RASCH ERSTELLTES FAHRTENBUCH FÜR DAS FINANZAMT: DAS NENNT SICH „MOBITO“, DIE NEUE ONLINE-PLATTFORM FÜR PRIVATPERSONEN, ENTWICKELT VOM ÖAMTC. SIE MACHT USERN DAS LEBEN EINFACHER UND IST GENAU DESHALB HOCHKOMPLEX. Von Theresia Tasser
www.mobito.at
mobito ist ein kostenloses Angebot des ÖAMTC für alle, die sich
rund um die Organisation ihrer Automobilität ein einfach zu bedie-
nendes Tool wünschen.
Getüftelt daran haben drei unterschiedliche Unternehmen und zwölf
verschiedene Professionen mit dem Ziel, einen einfachen Service zu
gestalten.
ÖAMTC: Gabriele Gerhardter, Christian Huter,
Harald Kalleitner, Patrick Büchler, Jakob Pfl egerl.
asoluto: Martin Verdino, Philipp Affenzeller,
Mustafa Alic, Nils Jürgens.
openForce: Otto Meinhart, Christian Macher,
Bernhard Schauer
16
des Autos zwischen zwei Nutzern
eingehalten werden kann. Die Lösung
war, zwischen den Leihzeiten frei
wählbare Minuten als tote Zeit
einzuführen – in dieser Zeit kann
das Auto nicht gebucht werden.
Hinsichtlich der Datensicherheit
waren die Projektpartner speziell
gefordert, denn eine solche Plattform
müsse sehr vertrauensvoll und sicher
sein, wie Harald Kalleitner vom
ÖAMTC betont. „Wir konnten uns
auch nicht an etwas Vergleichbaren
orientieren, weil es ein Tool in dieser
Form unseres Wissens nach nicht gibt.“
Von der Idee bis zur fertigen Web-
und Mobile-Applikation dauerte es
eineinhalb Jahre. Wobei ein derart
komplexes Produkt nie ganz fi nal sein
wird, weil es laufend Weiterentwick-
lungen impliziert.
Mit diesem Zeitraum hatten nicht alle
Beteiligten gerechnet – man dachte
eher, ein Modul nach dem anderen
entwickeln zu können. Und erlebte in
der Praxis, dass vieles parallel ent-
stehen muss und sich die Fragen mit
jedem abgehakten Task potenzieren.
Synchron wurde entwickelt, designt,
getestet. Aber auch verworfen und
neu strukturiert.
In einer ersten Ideenwerkstatt galt es
in offener Runde das Big Picture, das
große Ganze, zu defi nieren: „Die Idee
war klar: Wir möchten Mobilität einfa-
cher machen! Doch was könnte das
überhaupt für ein Produkt sein?, Was
passt zum ÖAMTC?“, schildert Martin
Verdino von asoluto die Ausgangsfrage.
Bis die Idee einer größeren Mobili-
täts-Toolbox geboren wurde; an die
15 Module hatte man sich überlegt.
Jedoch zu viele, um die Struktur be-
dienungsfreundlich, logisch und
selbsterklärend zu halten, wie sich
später in der Umsetzung und in Tests
erweisen sollte. „Wir hatten jede Idee
hineingepackt. Dadurch wurde es in
der Entwicklung schwierig, all die
Tools in ihren Abhängigkeiten zusam-
menzufassen. Wir hatten viele Puzzle-
steine“, schildert Verdino. „Wie inter-
agieren sie? Und welche Quer schnitt-
funktionen braucht es?“ Das Fahrten-
buch ließ sich vielleicht noch als Ein-
heit entwickeln. Was aber, wenn zu-
sätzlich ein Kalender, ein Kostenmodul
oder eine Aufgabenliste entwickelt
werden, die bei my.mobil und bei
co.mobil auch noch ineinander grei-
fen? Dann wird die Entwicklung eine
hochkomplexe Angelegenheit und
man ist dann plötzlich weiter denn je
entfernt vom ursprünglichen Vorsatz:
„Fertig ist man, wenn man nichts mehr
weglassen kann.“
Sehr früh galt es, nachvollziehbare
Artefakte und ansprechende Designs
zu verwirklichen, damit man sich
etwas Konkretes vorstellen könne.
Viel hinge davon ab zu sehen, wie
sich ein Produkt anfühlt, wie man
darin navigiert und scrollt, meint Alic.
Dazu braucht es laufend den Gegen-
check mit dem Nutzeralltag. Auch ein
Mobilitätsprojekt, das so nah an der
Lebenswirklichkeit ist wie dieses:
Wie werden Dinge im täglichen
Leben verwendet? Welche Muster
hat der Nutzer? Wie würde man mit
der App seine eigene Mobilität orga-
nisieren? Man geht vieles immer
wieder im Kopf durch, erzählt das
Team. Und spielt dann schon auch
einmal mit kleinen Matchbox-Autos.
Oder probiert zumindest Car-Sharing
realiter aus. Was auf dem Papier und
auf dem Screen noch recht schlüssig
ist, muss das nicht in der Anwendung
sein.
Zweifel kommen in einer Produktent-
wicklung, die länger dauert, automa-
tisch, fast so, als gehörten sie dazu,
damit etwas glückt. Sie können sich
einschleichen, wenn der zeitliche
Rahmen nicht auszureichen scheint.
„Natürlich fragt man sich, ob man zu
naiv ins Projekt gegangen ist“, resü-
miert das Team und verneint es um-
gehend. Oder, ob man die Komplexität
nicht schon im Vorhinein hätte erken-
nen können. Auch das sei schwierig
– aus der Retrospektive des geglück-
ten Projekts: „Der amerikanische An-
satz wäre, mit einem Skateboard an-
zufangen, dann einen Roller zu
entwickeln, dann ein Fahrrad, ein Mo-
torrad, ein Luxusauto zu realisieren.“
Aber mobito beziehungsweise das
Team ist kein Start-up und der
ÖAMTC keine junge, unorthodoxe
Einheit. „So musste das Fundament,
auf dem sich das Produkt weiterent-
wickeln soll, enorm stabil sein. Das
ist dem ÖAMTC als gewachsener
Struktur geschuldet“, meint Kalleitner.
Auch die Wahl der Arbeitsmittel er-
gibt sich aus der Praxis. Für derart
komplexe Aufgaben brauche es
„Werkzeuge, die Zusammenarbeit
stark unterstützen“, meint Meinhart.
Nur so ist jeder in einer Gruppe von
zwölf Personen, die örtlich meist ge-
trennt arbeiten und verschiedenen
Professionen angehören, auf dem
gleichen Wissensstand.
Bei jeder komplexen Entwicklung
tauchen automatisch auch Fragen
des Datenschutzes und der Security
auf. In diese Sicherheit investierte
das Team besonders viel Einsatz und
zog zudem weitere Experten hinzu.
So kann der ÖAMTC die Sicherheit
der Daten gewährleisten. Und was
noch hinzukommt: Dass die App so-
wohl kosten- als auch werbefrei ist.
Dem User entstehen keine Aufwände
und er kann sich darauf verlassen,
dass seine Daten in Österreich blei-
ben. Auch das gehört zu der Einfach-
heit, die dem ÖAMTC bei der Idee zu
mobito vorschwebte. �
www.mobito.at
EINFACHHEIT IST DAS ERGEBNIS
ENTWICKELN IN GEWACHSENEN STRUKTUREN BEDEUTET BESONDERE HERAUSFORDERUNGEN
DER PROTOTYP ZEIGT OB DIE RICHTUNG DER ENTWICKLUNG STIMMT
NICHT ALLES WAS MACHBAR IST, IST SINNVOLL FÜR DEN NUTZER
17EINFACH ≠ EINFACH
querspur: Ihr Unternehmen antenna ist
auf User-zentriertes Design spezialisiert.
Ich will es „design for all“ nennen. Design,
das also für die breite Masse funktio-
niert, von jedermann verstanden und an-
genommen wird. Eine Ihrer aktuellsten
Arbeiten ist das LinkNYC, eine Multi-
mediastation mit Highspeed-Internet
und zahlreichen weiteren kostenlosen
Funktionen (siehe Bildtext Seite 18),
die in New York City gerade das alte
Pay Phone (Telefonzelle) ersetzt.
Das ist ein völlig neues öff entliches
Kommunikationskonzept, wo man als
Designer vermutlich nur begrenzt auf
Erfahrungen zurückgreifen kann.
Möslinger: Wir sind schon sehr ge-
spannt, wie es angenommen wird.
Denn das Pay Phone wird ja heute
kaum noch genutzt. Wir sind deshalb
davon ausgegangen, dass die Telefonie
in Zukunft nur eine kleine Rolle spie-
len wird. Ob sich die Menschen beim
LinkNYC verabreden werden und wie
die gänzlich kostenlosen Datenservices
genau genutzt werden, zeigt sich dem-
nächst, sobald die ersten 300 aufge-
stellt sind.
Sie haben das Exterior Design des
LinkNYC gestaltet?
Udagawa: Genau, und dies ist wiede-
rum ein Bereich, wo wir viel Erfah-
rung haben. Wenn es also darum geht,
Dinge so robust wie möglich zu gestal-
ten. Denn dieses Problem stellt sich
bei öff entlichen Einrichtungen grund-
sätzlich immer: Sie müssen vor allem
vandalismussicher sein.
Das Info-Kit zum LinkNYC trägt den
Titel: „Gigabit Wi-Fi. And that’s just the
beginning“. Das ist also kein statisches
Ding wie das alte Pay Phone, es ist
wandel- und erweiterbar …
QUERSPUR SPRACH MIT SIGI MÖSLINGER UND MASAMICHI UDAGAWA VOM NEW YORKER DESIGN-UNTERNEHMEN ANTENNA ÜBER „DESIGN FOR ALL“ – DESIGN, DAS FÜR ALLE UND JEDEN FUNKTIONIERT. EINE DER ZENTRALEN ERKENNTNISSE DES DESIGNER-DUOS: MENSCHEN LESEN NICHT, DINGE MÜSSEN SICH DESHALB SELBST ERKLÄREN. Das Gespräch führte Ruth Reitmeier
„Gutes Design führt die Menschen sicher durch komplexe Prozesse“
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LinkNYC IST KEIN STATISCHES DING
18
Möslinger: Das LinkNYC ist als
Open Architecture gestaltet, also für
Upgrades off en. Denn es wird erwartet,
dass das LinkNYC auch als eine Art
lokale Datenstation dienen wird.
Messfühler werden laufend Informa-
tionen über die Luft qualität oder das
Wetter sammeln oder etwa wie viele
Menschen am Link vorbeigehen.
Einer Ihrer ersten großen Auft räge war
das Design der Ticketautomaten für die
New Yorker U-Bahn in den ausgehen-
den 1990ern. Seither ist so einiges pas-
siert, allen voran die Digitalisierung.
Udagawa: Als wir Ende der 90er die
Ticketautomaten designten, hatten
nur sehr wenige Menschen Erfahrung
mit dem Touchscreen. Das ist natür-
lich heute ganz anders. Allerdings ha-
ben sie zugleich sehr konkrete Vor-
stellungen davon, wie ein Touchscreen
zu funktionieren hat. Für gelungenes
Schnittstellendesign ist es also enorm
wichtig, zu wissen, was sich in den
Köpfen der Menschen abspielt.
Möslinger: Aber es gibt nicht nur
technologische, sondern vor allem
gesellschaft liche Veränderungen,
die das Design der nächsten U-Bahn-
Generation betrifft . Sie muss rad-
fahrerfreundlicher werden, denn in
New York sind heute deutlich mehr
Menschen mit dem Rad unterwegs
als etwa vor fünfzehn Jahren.
Um die Jahrtausendwende designten Sie
die New Yorker U-Bahnzüge, zwölf Jahre
später dann jene für Washington D.C.
Worin langen die Ähnlichkeiten und wo
die Unterschiede dieser beiden Auft räge?
Udagawa: Es gab naturgemäß Ähn-
lichkeiten, aber auch einige Unter-
schiede. Beim „Railcar“ für die
Washington Metropolitan Area haben
wir das Interieur etwas soft er gestaltet
und es waren Dinge möglich, die in
New York nicht funktioniert hätten.
In Washington konnten wir gepolsterte
Sitze planen, weil es dort nicht üblich
ist, in öff entlichen Verkehrsmitteln
zu essen. Auch Vandalismus ist in
Washington D.C. kein großes Problem,
sodass wir Glasabtrennungen verwen-
den konnten. In New York wäre das zu
riskant gewesen, dort muss alles sicher
vor Zerstörung sein.
In Washington wurde, wie ich höre,
die Öff entlichkeit stärker einbezogen.
Udagawa: Ja, die Verkehrsbetriebe
führten eine Kundenbefragung durch,
die sich etwa auf die Wahl der Farben
im Wageninneren auswirkte. Denn
das Management wollte für
Washington D.C. ein einzigartiges
Design, das keinesfalls an die New
York Subway erinnern sollte.
Möslinger: Wir schlugen ein modernes
Braun vor. Es sollte an die Eleganz
der Innenausstattung von Autos der
Luxusklasse erinnern. Zu unserer
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SELBST BEI U-BAHN-ZÜGEN HÄNGT VIELES VON DEN LOKALEN USERN AB
DIE EINBEZIEHUNG DER NUTZER ERHÖHT DIE ZUFRIEDENHEIT
Der LinkNYC – Viel intelligenter als die
alten Telefonzellen in New York City:
Demnächst werden die ersten
300 LinkNYCs aufgestellt, insgesamt
sind 10.000 für die fünf New Yorker
Bezirke geplant.
Die Nutzung der Multimedistation ist
kostenlos. Das LinkNYC ist ein Public-
Private-Partnership-Projekt des Büros
des Bürgermeisters, dem NYC Department
of Information and Technology und einem
Unternehmens-Konsortium. Es fi nanziert
sich aus Werbeeinnahmen.
LinkNYC auf einen Blick:
• Super-Highspeed Internet rund um
die Uhr
• schnellen Zugang zur Notrufnummer 911
• einen Touchscreen zu städtischen
Services und Einrichtungen
• einen kleineren Touchscreen für lokale
Informationen
• eine Handy-Ladestation
• freie Telefonate in den USA
• digitale Werbung.
19EINFACH ≠ EINFACH
Überraschung empfanden die Men-
schen aus Washington das jedoch als
Rückschritt. Sie wollten etwas anderes,
etwas Neues.
In diesem Fall war die Einbeziehung
der Passagiere wertvoll, denn diese
Entscheidung konnten im Grunde nur
die Ortsansässigen selbst treff en.
Udagawa: Genau. Und es ist ein gutes
Beispiel dafür, dass selbst wenn man
etwas gestaltet, das für alle funktionie-
ren soll, es dennoch darauf ankommt,
um welchen Teil von „alle“ es sich
handelt.
Wir haben über die Digitalisierung
und die damit einhergehenden Verän-
derungen gesprochen, gibt es denn auch
Bereiche, die sich nicht ändern, wenn
man etwa Service-Maschinen für eine
breite Nutzerschicht entwickelt.
Möslinger: Eine Sache, die wir früh
erkannt haben: Menschen lesen nicht.
Es ist also sinnlos Instruktionen rund
um den Bildschirm anzubringen,
weil die User das ignorieren und
einfach loslegen. Umso wichtiger ist
es deshalb, wie das Display gestaltet
ist und wie die Maschine den Men-
schen leitet.
Die Dinge müssen also direkt mit den
Menschen kommunizieren. Wie gehen
Sie an so eine Aufgabenstellung heran?
Udagawa: Am Beginn eines Projekts
machen wir uns mit dem Kontext
vertraut und stellen Hypothesen auf,
wie das Neue funktioniert und verwen-
det werden wird. Oft produzieren wir
möglichst rasch einen Prototyp und
testen das Design, überprüfen also,
ob unsere Hypothesen korrekt waren
oder ob wir uns in einem Punkt geirrt
haben. Der Designer kann nicht
alles wissen.
Was ist in dieser Phase wichtiger:
die Menschen zu befragen oder sie
bei der Anwendung zu beobachten?
Möslinger: Eindeutig das Beobachten,
denn es gibt einen großen Unterschied
zwischen dem, was Menschen glauben
zu tun und was sie tatsächlich machen.
Wohin geht die Entwicklung, welches
sind die großen Design-Trends?
Möslinger: Es gibt zwei parallel lau-
fende Entwicklungen: einerseits eben
„Design for all“, das für jeden funktio-
niert und jeder versteht, und zugleich
diese andere Strömung zu Produkten
für immer spezifi schere Kundengrup-
pen. Im Service-Design sehen wir die-
sen Trend zum superindividuellen An-
gebot bereits heute ganz stark. Deshalb
haben ja immer mehr Unter nehmen
Kundenkarten und -bindungspro-
gramme. Sie wollen ihre Klientel und
deren Kaufverhalten genau kennenler-
nen, um Produkte und Services anbie-
ten zu können, die möglichst genau auf
sie zugeschnitten sind.
Udagawa: Und die Spitze dieser
Design-Entwicklung ist die Hyper-
Individualisierung, wie etwa exakte
Kopien von Zähnen oder Knochen, die
durch neue Produktionstechnologien
individuell hergestellt werden können.
Sie sprechen vom 3D-Drucker?
Udagawa: Nicht nur, auch die Biotech-
nologie wird in Zukunft eine Schlüs-
selrolle spielen. Stammzellen werden
dazu verwendet werden, quasi „Er-
satzteile“ für den menschlichen Körper
herzustellen; sie werden aus menschen-
eigenem Zellmaterial geschaff en
werden. Diese Entwicklungen gehen
freilich weit über die traditionellen
Bereiche des Produktdesigns hinaus.
Zurück zum „Design für alle“: Gibt es
denn Regeln, damit Design von mög-
lichst vielen Menschen verstanden und
angenommen wird? Wie lädt uns etwa
eine Maschine ein, sie zu benutzen?
Udagawa: Die Menschen müssen den
Nutzen, den Sie aus einem Objekt zie-
hen, sofort verstehen. Denn wir dürfen
nicht vergessen: Etwas Neues auszu-
probieren bedeutet für den Menschen
immer eine Investition – eine psycho-
logische oder auch eine fi nanzielle.
Deshalb muss das Neue den Menschen
überzeugen, dass sich diese Investition
auch lohnt. Und natürlich muss es den
versprochenen Nutzen liefern. Das
Design muss also funktionieren.
Möslinger: Es muss zudem seine
Funktion direkt kommunizieren und
die Menschen anleiten, wie es benutzt
werden soll. Nachdem wir wissen, dass
die Menschen keine Instruktionen le-
sen, müssen die Dinge selbsterklärend
sein. Dies ist zudem die große Heraus-
forderung für den Designer:
komplexe Dinge auseinanderzubre-
chen und in einen logischen Prozess
aufzuteilen, der sich schrittweise voll-
zieht. Denn gelingt dies nicht, wenden
sich die Menschen ab, brechen etwa
eine Transaktion an einem Bestell-
terminal ab. Die Maschine muss den
Menschen souverän durch den kom-
plexen Prozess führen. �
MENSCHEN LESEN KEINE INSTRUKTIONEN
SERVICE-DESIGN WIRD IM BEREICH DER BIOTECHNOLOGIE EINE ROLLE SPIELEN
DAS NEUE AUSZUPROBIEREN MUSS SICH FÜR DEN USER LOHNEN
Das New Yorker Designbüro antenna wurde 1997 von der Österreicherin Sigi Möslinger und dem Japaner Masamichi Udagawa ge-gründet. Die beiden haben seither ein beein-druckendes Portfolio von großen Design-Auf-trägen erarbeitet und zahlreiche Aus zeichnun -gen erhalten. Sie fi nden sich routinemäßig un-ter den einfl ussreichsten New Yorkern gereiht, zumal antenna das Stadtbild der Metropole nachhaltig geprägt hat.
In ihrer Kindheit in Oberösterreich gestaltete Sigi Möslinger zunächst Möbel & Interieurs für ihre Puppen. Später kam eine Faszination für Gerätschaften wie die Espressomaschine in der elterlichen Küche hinzu. Als Teenager gestaltete sie ihr Zimmer als Gegenentwurf zu den allgegenwärtigen Bauernmöbeln. Von dort aus startete Möslinger eine bemerkenswerte Designkarriere, die über Studien in Linz, der Schweiz und Kalifornien nach New York führte.
Der Tokioter Masamichi Udagawa machte sich als kleiner Bub seine Spielsachen selbst, ein wenig später kam eine Leidenschaft für den Modellbau von Flugzeugen und Kriegs-gerät dazu. Die Liebe zum Tüfteln und Gestal-ten führte ihn zum Designstudium in Tokio, da-nach zu Apple ins Silicon Valley; und von dort ging es nach New York.
www.antennadesign.com
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21EINFACH ≠ EINFACH
Man muss sich 2035 in etwa so
vorstellen wie 2015. Das Tempo
wird genauso hoch sein, wenn nicht
noch höher, sodass man mitunter
das Gefühl hat, zwischen Frühstück
und am Abend ins Bett fallen lägen
bloß drei Stunden. Nicht weniger
Multitasking, sondern zwanzig
Aufgaben parallel. Und doch wird
Marlene, heute Volksschülerin und
dann womöglich eine vielbeschäf-
tigte Biologin, eines gar nicht erleben:
die Diskussion um den Segen und
Fluch der Digitalisierung, die in der
Erwachsenenwelt anno dazumal für
jeden Schrecken herhalten musste:
Werteverfall, Vereinsamung und
Individualisierung, Arbeitslosigkeit,
Abwanderung von Fabriken, was
wurde damals nicht alles vorherge-
sagt. Die allvernetzte Computerwelt
als Krake gesehen, die sich alles
greift. Genauso, wie in den 1990er-
Jahren die Globalisierung als Sün-
denbock für alles und jedes galt.
2035 werden Staunen und Empö-
rung nicht nur verebbt, sondern ver-
gessen sein: Von Digitalisierung und
Industrie 4.0 wird niemand mehr
reden, weil online und offline im
Alltag stark verwoben und somit
Normalität sind: Marlenes Zahnarzt
wird Behandlungstermine über ein
Online-Portal vergeben. Sie selbst
muss ihrem elektronischen Assis-
tenten am Handgelenk nur sagen,
dass ein Termin fällig ist, schon
gleicht dieser Marlenes Kalender
mit dem des Arztes ab und schlägt
selbstständig Termine vor. Würde sie
mehr Wert auf Techno-Chic legen,
könnte sie sich dafür wie manche
ihrer Kollegen auch einen Chip
unter die Haut pflanzen lassen. In
der Telefon-Warteschleife der Arzt-
ordination zu hängen wird jeden-
falls Vergangenheit sein. Die Warte-
zimmer der meisten Ärzte sind nur
noch sehr klein und meistens leer,
weil Patienten generell nicht mehr
warten. Viele Ärzte teilen sich Or-
dinationsräume und Assistenz, weil
vieles von intelligenter Software er-
ledigt wird und Arzt und Patient on-
line in engem Austausch sind. Ge-
sundheitsberufe unterschiedlicher
Art sind auf Professional Social
Networks eng miteinander vernetzt
und tauschen sich über Diagnosen
und Therapien mit ihren Peers aus.
Das erspart den Patienten die Ren-
nerei von Arzt zu Arzt und bringt
mehr Qualität in das Gesundheits-
wesen. Allerdings verlangen diese
modernen Services auch Offenheit
von Medizinern und das Eingeständ-
nis, selbst nicht alles zu wissen.
Ähnlich wie bei der Software, die
aufgrund der Symptome eines Pa-
tienten Vorschläge für eine wahr-
scheinliche Diagnose erstellt und
die standardmäßig in Spitälern
eingesetzt wird, um treffsicherere
Diagnosen zu stellen als in der Zeit
vor der Digitalisierung: Bei Tausen-
den von unterschiedlichen Erkran-
kungen, wie soll ein Arzt jede einzelne
im Kopf haben und auch noch er-
kennen?
Bevor Marlene ihren Arbeitsplatz
verlässt und zum Zahnarzt geht,
erhält sie eine Push-Mitteilung über
eine aktuelle Verspätung des Arztes.
Sie fährt also erst später los, um
Zeit zu sparen. Wäre es nicht ge-
rade der Zahnarzt, der ein Loch im
MARLENE WIRD DIESEN SOMMER ACHT. 2035 WIRD SIE 28 SEIN, WOMÖGLICH EINE SEHR BESCHÄFTIGTE FRAU, DENN BIOLOGIE IST SCHON HEUTE IHR DING. WIRD SIE DANN NOCH NACH BÜROSCHLUSS IN DEN SUPERMARKT HETZEN MÜSSEN, UM EINKÄUFE ZU ERLEDIGEN? IN DER TELEFONISCHEN WARTESCHLEIFE DES FACHARZTES HÄNGEN, UM EINEN TERMIN ZU ERGATTERN? DIE CHANCEN STEHEN GUT, DASS SIE NEUE SERVICES NÜTZT, DIE IHR ALLTAGSLEBEN EINFACHER MACHEN ALS DAS DER HEUTIGEN GENERATION. Von Gertraud Leimüller
DER KUNDE ERHÄLT INSTANT-INFORMATIONEN ZUR BESSEREN PLANUNG
TELEMEDIZIN WIRD NICHTS BESONDERES MEHR SEIN
Vernetzt in alle Richtungen
22
Zahn füllen müsste, würde sie über-
haupt im Büro oder zu Hause blei-
ben: Puls-, Temperatur- und Blut-
druckmessungen, ein Blick in die
Augen, Ohren und Rachen, all das
geht bereits von daheim aus. Die
Aufnahmen landen auf Knopfdruck
beim Arzt. Intelligente Messgeräte
von der Größe einer elektrischen
Zahnbürste, welche den Patienten
und ihren Familien einen Do-it-your-
self-Erstcheck von Vitalparametern
ermöglichen, sind fast in jedem
Haushalten vorhanden. Persönliche
telemedizinische Beratungen via In-
ternet werden von jeder öffentlichen
Krankenversicherung bezahlt. Sie er-
sparen den Patienten, sich in krankem
Zustand in eine Praxis oder Ambu-
lanz zu schleppen und dem System
damit manch unnötigen Behand-
lungsfall. Denn die Messungen zu
Hause ermöglichen dem Online-
(Haus-)Arzt, bei schwereren Erkran-
kungen schneller zu reagieren und
Patienten gleich an die richtige Stelle
weiter zu routen. Gerade auf dem
Land, wo der nächste Arzt oder das
nächste Spital mitunter mehr als eine
Stunde Fahrzeit entfernt sind, sind
Online-Ordinationen stark frequen-
tiert und helfen insbesondere älteren
Menschen, möglichst lange in den
eigenen vier Wänden zu bleiben.
Marlenes Großeltern, beide um die
80, nutzen Telemedizin-Services
intensiv, weil ihnen Termine in der
Stadt schon zu beschwerlich sind.
Beide lieben das Leben am Land.
Dennoch haben sie den Garten rund
um das Haus herum längst in ein
Community Farming Projekt einge-
bracht. Das hat den Vorteil, dass sie
sich im Alter nicht mehr selbst dar-
um kümmern müssen und trotzdem
Äpfel, Zwetschken, Salat und Kar-
toffeln frisch geerntet direkt vor der
Haustür landen. Die Community aus
privaten Familien, Bauern und klei-
nen Lebensmittelerzeugern wie Kä-
semachern, Fleischern und Bäckern
versorgt sich selber rund ums Jahr
mit regionalen Lebensmitteln. Was
angebaut und produziert wird, ent-
scheiden die Mitglieder gemeinsam,
wie viel sie selbst mitarbeiten, können
sie ebenfalls selbst bestimmen. Ent-
sprechend dem gewählten Paket
bekommen die Mitglieder selbst
einen Teil der Ernte, der Rest wird
an Nicht-Mitglieder in der Region
verkauft. Ein ausgeklügeltes und
schnelles Crowdlogistik-System
zeigt den Beteiligten online an, was
gerade vom Feld oder Baum geholt
wurde und weitertransportiert wer-
den sollte. Wer gerade in der Nähe
ist, nimmt die Lieferung die nächste
Etappe mit, bis sie schließlich nach
mehreren Stationen am Ende direkt
vor der Haustür von Mitgliedern und
Kunden landet.
Ähnliches gibt es auch in der Stadt,
in der Marlene wohnt. 100-prozentige
Selbstversorgung, ohne auf globa-
le Wertschöpfungsketten und da-
mit unkontrollierbare Produktions-
umstände angewiesen zu sein, ist
für viele Konsumenten erstrebens-
wert: Eine Mitgliedschaft in einem
Vertical-Farming-Projekt ist mitunter
Arbeit, weil man mitarbeiten muss,
um sich die Lebensmittel leisten zu
können, doch sie bringt auch Auto-
nomie und ermöglicht lokale Ener-
gie- und Stoffkreisläufe. Da in der
Stadt die freien Flächen in der Hori-
zontale fehlen, findet Landwirtschaft
in der Vertikalen statt, konkret in
den vielen Stockwerken der Verti-
cal-Farming-Gewächshäuser, die
in vielen Städten betrieben werden.
Paprika, Tomaten, Bohnen, ja sogar
Fisch aus Aquakulturen kann
man dort anbauen, kaufen oder
wöchentlich abonnieren. Städter
können sich auf diese Weise mit
Lebensmitteln aus nächster Nach-
barschaft versorgen. Das ist kein
Massenbedürfnis, doch eine wach-
sende Nische, die aus der Urban-
Farming- und Do-it-yourself-Bewe-
gung entstanden ist: Die Konsumen-
ten wollten neue Lösungen und ha-
ben daher die ersten Projekte selbst
initiiert. Später haben Unternehmen
weitere Vertical-Farming-Häuser er-
öffnet, jedoch in der Konzept- und
Planungsphase bereits potenzielle
spätere User eingebunden. Was
wie in welcher Qualität produziert
und verkauft wird, wurde schon in
gemeinsamen Workshops vor Bau-
beginn festgelegt.
Ein generell weit verbreiteter Service
ist die Hauszustellung von Waren
aller Art. Ähnlich wie die Arztpraxen
sind deshalb auch die Supermärkte
kleiner geworden. Viele Menschen
lassen sich Milch, Mineralwasser,
Brot, Käse, Wasch- und Toiletten-
artikel nur noch direkt nach Hause
liefern. In Supermärkte geht man nur
noch zum Stöbern und Ausprobieren
von Neuem. Längst haben Fahrrad-
boten und Mini-Elektromobile den
wachsenden Markt der „sauberen“
Hauszustellung für sich erobert.
Zudem gibt es Online-Plattformen,
an denen wiederum sehr viele klei-
ne Spezialhersteller hängen, mit
komplexen Filtermöglichkeiten, die
es den Usern ganz einfach machen,
Lebensmittel einzukaufen, die
gleichzeitig vegan, glutenfrei und
aus der Region im Umfeld von
100 Kilometern stammen. Wer Un-
verträglichkeiten oder Allergien hat,
bekommt auf Wunsch auch Online-
Fachberatung in Sachen Einkauf
und Essen.
Die Reduktion von überbordenden
Auswahlmöglichen ist 2035 ge-
nerell ein großes Konsumentenan-
liegen: Viele sind des ständigen
Vergleichens von Produkten über-
drüssig geworden und lassen sich
daher, entsprechend ihren Vorlieben
GRÜNE SKYLINE: GEWÄCHSHÄUSER STRECKEN SICH IN DER STADT ÜBER STOCKWERKE
DER SUPERMARKT WIRD ALS PROBIERZONE DIENEN
WENIGER AUSWAHL, DAFÜR GEZIELTE VORAUSWAHL AN PRODUKTEN
SELBSTVERSORGUNG DURCH DIE COMMUNITY
23EINFACH ≠ EINFACH
und gewünschtem Preisniveau, nur
noch eine kleine Auswahl vorschla-
gen. Wer will, kann sogar Rezepte
samt dazugehörigen, exakt abgewo-
genen Zutaten direkt nach Hause
liefern lassen. Das lästige „Was ko-
che ich heute?“ samt Raserei in den
Supermarkt zwischen Büroschluss
und Abendessen ist damit hinfällig.
Wer es noch bequemer mag, kann
auch vorher individuell ausgewählte
Abos aus fix fertig gekochten Mahl-
zeiten in hoher Qualität abonnieren.
Das ist der Gegenpol zur Selbstver-
sorger-Mentalität der regionalen
Food Communities, aber nicht not-
wendigerweise ein Widerspruch:
Viele Familien, sofern sie es sich
leisten können, haben beides. Geld
ist überhaupt ein gutes Stichwort:
Dieses wird kaum noch sichtbar sein,
weil das Bargeld weitgehend ver-
schwunden sein und durch digitales
Bezahlen ersetzt worden sein wird.
Marlene selbst muss jeden Euro
zweimal umdrehen. Der Lebensstil,
der mit dem Leben in interessanten
Städten verbunden ist, also Wohnen,
Energie, Essen und Mobilität, kostet
sehr viel Geld. Nach vier Jahren in
einem Pharmaunternehmen bildet
sich die Biologin zur Expertin für
biogene Rohstoffe weiter. Das kos-
tet Geld, sowie auch die Entschei-
dung, diesen Schritt überhaupt zu
tun: Berufswechsel sind so häufig
geworden, dass professionelle Um-
stiegscoaches gute Umsätze machen.
Auch Marlene hatte einen, der ihre
Kenntnisse und Interessen mit dem
Bedarf der Wirtschaft verglich und
dann letztlich auf die Idee mit bio-
genen Rohstoffen kam. Denn diese
werden intensiv nachgefragt, seit
die rasche Abbaubarkeit von Kunst-
stoffen auf Druck der Bevölkerung
zur gesetzlichen Pflicht erhoben
wurde und viele der alten Kunst-
stoffe ersetzt werden müssen.
Um sich die Ausbildung finanzieren
zu können, muss Marlene sparen.
Ihr elektronischer Finanz-Manager
wacht darüber, dass sie die selbst
gesetzten Ausgabelimits einhält
und belohnt sie spielerisch, wenn
ihr das gelingt. Voraussichtlich wird
sich diesen Sommer nur ein Billig-
urlaub ausgehen – in einem Hotel,
in dem an der Rezeption und auf der
Etage menschenähnliche Roboter
arbeiten, stets freundlich und zuvor-
kommend, doch ohne Sinn für Humor.
Einerlei, sie kommt mit Freunden
aus Fleisch und Blut. Mit ihnen
gibt es immer etwas zu lachen.
Ganz einfach in Echtzeit.�
BARGELDLOS MIT CHIP ODER KARTE
DAS LEBEN IN ATTRAKTIVEN STÄDTEN KOSTET VIEL GELD
ELEKTRONISCHER FINANZMANAGER BELOHNT ERFOLG
Ein heute acht-jähriges Mädchen wird in 20 Jahren von High- und Lowtech-Services profi tieren. Etwa wird es keine unnötigen
Wartezeiten mehr beim Arzt geben. Lebensmittel werden durch neue Logistik-Systeme vom eigenen Feld direkt nach Hause geliefert.
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24
Wenn Fabian Holzer die Piazza Navona
in Rom überquert, hat er für die
Schönheit von Berninis Vierströme-
brunnen keine Augen. Auch die Fon-
tana del Moro oder der Neptunbrun-
nen sind ihm schnuppe. Sein Ziel
ist der berühmteste Pizza-al-Taglio-
Bäcker der ewigen Stadt. Dort be-
kommt er hauchdünne Pizzaschnitten
mit verschiedenen Belägen. Ge-
schätzte 5 300 derartige Pizza-Läden
gibt es in Rom, der 36-Jährige glaubt
ausgerechnet hier, auf der Piazza
Navona, den König der Bäcker aus-
fi ndig gemacht zu haben. Zeit, das
nahe gelegene Pantheon zu besich-
tigen, bleibt auch nicht, da ums Eck
noch schnell der angeblich köstlichste
Espresso Italiens konsumiert werden
muss.
Mindestens 15 kulinarische Hot-Spots
stehen in Rom auf seiner persönlichen
Entdeckerliste, die er in zweieinhalb
genussvollen Tagen abarbeiten will.
Sehenswürdigkeiten, für die andere
Touristen extra anreisen, spielen für den
Fernsehmacher und seine Freundin
Erika Kósa eine untergeordnete Rolle.
Abweichungen von touristischen
Trampelpfaden sind beim ihm Pro-
gramm, fast sogar ein Manifest:
„Ich möchte ganz bewusst gegen
NEO-INDIVIDUALREISENDE HABEN IHRE EIGENEN VORSTELLUNGEN VOM URLAUBSGLÜCK. SIE WOLLEN BEI SICH SELBST ANKOMMEN UND ALS AVANTGARDISTEN WAHRGENOMMEN WERDEN. DAFÜR NEHMEN SIE EINE UMFANGREICHE REISEPLANUNG IN KAUF. IM GEGENSATZ ZUM BACKPACKER DES VORIGEN JAHRHUNDERTS BRAUCHEN SIE KEINEN REISEFÜHRER.DAS SMARTPHONE GENÜGT. Von Catherine Gottwald
Ich bin, was ich erlebe
SIGHTSEEING MACHEN WIR DANN, WENN WIR ALT SIND! Erika Kósa 27, Foodistin
25EINFACH ≠ EINFACH
den Strom schwimmen und das, was
in Reiseführern oder auf dem Online-
Bewertungsportal TripAdvisor steht,
ignorieren. Land und Leute möchte
ich eben auf meine Weise entdeckten.
Darin liegt ja der Reiz“, erklärt Holzer.
„Klassisches Sightseeing können wir
auch machen, wenn wir alt sind!“ er-
gänzt Kósa. Beide sind leidenschaftli-
che Foodisten, Schatzsucher in
Sachen Geschmack, und haben sich
auf ihren Reisen im In- und Ausland
ganz und gar der Erkundung von
regionalen Spezialitäten verschrieben.
Holzer und die gebürtige Ungarin Kósa
sprechen zusammen fünf Sprachen.
Reichen diese bei den Reisevorberei-
tungen nicht aus, um beispielsweise
Speisekarten auf Niederländisch zu
durchforsten, dann wird die Online-
Übersetzung Google Translate heran-
gezogen. Mehrsprachige Recherche
auf Insider-Foren, Flug-, Hotel- und
Restaurantreservierungen, Vorabge-
spräche mit Herstellern, permanente
Preisvergleiche und Abchecken von
Museums- und Ladenöffnungszeiten.
Der administrative Aufwand der durch
und durch individuellen Reise scheint
enorm und ganz schön anspruchsvoll.
Aber genau das ist es, was den Reiz
ausmacht. In der wochenlangen
Vorbereitungsphase stellen sich
Glücksgefühle ein: „Es ist wie beim
Aussuchen und Verpacken von Weih-
nachtsgeschenken – ein großer Teil
der Freude ist die Vorbereitung von
dem, was du machen willst“, begrün-
det Holzer seine Bereitschaft, sich
intensiv mit der Materie auseinander
zu setzen. Die ganze Kommunikation
läuft digital ab. „Offl ine wäre diese
Art zu reisen überhaupt nicht möglich.“
Die digitale Infrastruktur, die weltweit
vor allem in den letzten Jahren enorm
ausgebaut wurde, wird sowohl in der
Vorbereitung, während des Aufent-
halts als auch bei der Nachbereitung
in sozialen Netzwerken und Blogs
genützt. Ein Reiseführer in Form
eines Buches wird so obsolet. Und
ganz nebenbei: Wer seine Reise
von A bis Z selbst organisiert und
die Preise im Blick hat, kann mitunter
schon zwischen 30 und 50 Prozent
der Reisekosten einsparen, sagen
erfahrene Praktiker.
Der Markt für individuelle (online)
Reisegestaltung steigt. Laut Reise-
analyse 2015 der FUR (Forschungs-
gemeinschaft für Urlaub und Reisen)
beträgt der Anteil der Urlaubsreisen,
die in Deutschland als Pauschal-
oder Bausteinreisen mithilfe von
Reisever anstaltern organisiert werden,
40 Prozent. 2009 waren es noch
50 Prozent (Quelle: Zahlen und Fak-
ten zum deutschen Reisemarkt 2009).
„De-Touristifi cation“ heißt das Phäno-
men, das gleichzeitig die Neo-Indivi-
dualtouristen defi niert: Eine neue Ge-
neration von Individualtouristen nimmt,
losgelöst von der bisherigen Vorstel-
lung und Defi nition eines Touristen,
das Organisieren von Reiseelementen
selbst in die Hand. Es ist ein Phä-
nomen, bei dem der Reisende nicht
mehr als einer von vielen anonymen
Touristen wahrgenommen werden
möchte, sondern als Individuum.
Er ignoriert bewusst den Lockruf der
Reiseveranstalter und Zielgebiets-
agenturen mit ihren bequemen Ur-
laubspaketen. Mobilität und Unterkunft
werden komplett selbst organisiert.
Bewiesen wird der Erfolg der Do-it-
yourself-Reise übrigens nicht beim
klassischen Dia-Abend, sondern in
sozialen Netzwerken und Blogs, wo
man sich vor viel größerem Publikum
inszenieren kann. Virtuelle Reise-
begleiter wie auch reale Nachahmer
sind herzlich willkommen. Aber: Im
Gegen satz zum Backpacker bereisen
Neo-Individualtouristen keine vorge-
gebenen Routen – auch nicht die aus
Szene-Reiseführern wie Lonely Planet.
„De-Touristifi cation beschreibt die
Avantgarde“, erklärt die Tourismus-
expertin und Strategieberaterin
Susanne Eckes, Autorin des vom
Zukunftsinstituts herausgegebenen
Tourismusreport 2015: „Die neo-
individualtouristischen Millenials,
Generation-Y-Mitglieder und Digital
Natives sind gerade dabei, das Tou-
rismusgeschäft selbst zu überneh-
men. Sie organisieren, empfehlen,
bewerten und teilen untereinander
alles über Sharing- und Bewertungs-
plattformen und ortsansässige Buddy
Apps. Das ist eine Technik, die im
Augenblick nur eine kleine Gruppe
beherrscht und nicht jedermanns
Geschmack ist.“
In der Folge verlagern sich Touris-
musgüter und -dienstleistungen ins
Private und stellen die Branche vor
neue Herausforderungen. Etwa dass
der Neo-Individualtourist kein Stamm-
kunde ist. Zweimal dieselbe Route zu
nehmen passt nicht in sein Konzept.
„Zahlenmäßig handle es sich bei der
neuen Form der Individualtouristen
heute noch um eine kleine Gruppe.
Maximal zehn Prozent schwimmen
tatsächlich gegen den Strom und
erkunden die Welt auf eigene Faust“,
so Susanne Eckes. Ob und wie Neo-
Individualtouristen den Tourismus der
Zukunft prägen werden, lasse sich
laut Susanne Eckers erst in zehn oder
20 Jahren abschätzen. Eine lange
Zeit. Fabian Holzer und Erika Kósa
werden dann schon wieder ganz
andere Wege gehen. �
REISETIPPS KOMMEN AUS DER COMMUNITY
EIN DIA-ABEND IST FÜR DIESE GRUPPE AUSGESCHLOSSEN
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DIE NEUEN INDIVIDUAL-TOURISTEN ALS GAME CHANGER?
DIE KOMPLETTE REISE IM DO-IT-YOURSELF-MODUS
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26
////// FAHRRADPARKEN IM UNTERGRUND ////////////// Platz ist kostbar – vor allem in Japans Großstädten. In Tokyo wird nun mit dem
ECO Cylce, ein vom Ingenieursbüro Giken Seisakusho entwickeltes platzsparen-
des Fahrrad-Parksystem, errichtet, welches Fahrräder diebstahls- und erdbeben-
sicher im Untergrund verwahrt. Der Fahrradfahrer schiebt dazu sein Fahrrad auf
eine Art Förderband, an dessen Ende sich Lifttüren befi nden, die sich durch ei-
nen im Fahrrad eingebauten Chip öffnen. Nach Betätigen des Startknopfes zum
vollautomatischen Verladen des Fahrrades ist der Parkvorgang für den Nutzer er-
ledigt. Dann übernimmt ein komplexes Logistiksystem im Untergrund die Park-
platzsuche und Verstauung. Beim Abholen legt der User seine persönliche Chip-
karte an das Kartenlesegerät und schon wird das Fahrrad vollautomatisch gebracht.
giken.com/en/developments/eco_cycle
////// BLIND ANS ZIEL ///////////////////////////////////////Um die Orientierung in Gebäudekomplexen wie Universitäten, Einkaufszentren oder
Museen für sehbehinderte Menschen zu vereinfachen, entwickelte das Team von
Touch Graphics gemeinsam mit der Universität von Buffalo (New York, USA) multi-
sensorische 3D-Karten. Durch die Berührungen von Gebäuden, Wegen oder an-
deren Punkten auf der Karte wird ein Audio-Feedback ausgelöst, welches zum Bei-
spiel Gebäude- und Personalnamen oder Himmelsrichtungen nennt. Auch komplette
Wegbeschreibungen können abgerufen werden. Die 3D-Karte bietet aber auch Men-
schen mit intaktem Sehvermögen Orientierungshilfe. Etwa können Lichtprojektionen
aktiviert werden, durch die ein komplexeres Areal für den (sehenden) User verständli-
cher wird. touchgraphics.com
////// KÜHLSCHRANK OHNE STROM ///////////////////// In den ländlichen Gegenden Nigerias können wegen der schlechten Infrastruktur
keine elektrischen Kühlgeräte verwendet werden. Lebensmittel verderben, was so-
wohl Krankheiten nach sich zieht als auch den Verlust von Einkommensquellen, da
Lebensmittel recht rasch unverkäufl ich werden. Um die Situation zu ändern, nutzt
der nigerianische Lehrer Mohammed Bah Abba traditionelle afrikanische Tontöpfe
für ein einfaches, kostengünstiges, und gleichsam höchst effektives Kühlsystem:
Zwei unterschiedlich große Tontöpfe werden ineinander gestellt, der Zwischenraum
mit Sand befüllt und dieser mit Wasser übergossen. Ein Deckel sorgt dafür, dass die
kühle Luft, die im inneren Topf entsteht, nicht entweichen kann. Die Haltbarkeit von
z. B. Melanzani kann so von zwei auf bis zu 27 Tage erhöht werden. Die Idee der „Pot-
in-Pots“ ist mittlerweile weltweit in Entwicklungsländern in Verwendung.
rolexawards.com/profi les/laureates/mohammed_bah_abba
START-UPSIN
NO
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SPANNENDE IDEEN ZUM THEMA EINFACHHEIT UND KOMPLEXITÄT. Von Katrin Stehrer
27EINFACH ≠ EINFACH
////// VOLLAUTARKER WOHNRAUM //////////////////////Wie viel Platz braucht man eigentlich zum Leben? 25m2 – wenn es nach Theresa Stei-
ninger und Christian Frantal geht, den beiden Gründern des österreichischen Start-
ups WW Wohnwagon GmbH. Das Naturholz-Gefährt ermöglicht ein nahezu voll-
autarkes Leben und bietet Raum zum Wohnen und Arbeiten mit Photovoltaikanlage,
Regenwasser- und Brauchwasserfi lterung mittels Sumpfpfl anzen, Solar-Holz-Was-
serboiler sowie Biotoilette (ermöglicht die Herstellung von Dünger). Die Einsatzmög-
lichkeiten der individuell zugeschnittenen Wohnwagons sind vielfältig: Vom Zweit-
wohnsitz bis zum Schauraum, vom fahrenden Restaurant bis zum Hotelzimmer. Die
Idee fi ndet Anklang: Über 170 Interessenten haben sich schon gemeldet. Die Kos-
ten pro Wohnwagon liegen bei 40 000 bis 80 000 Euro. Mit der Produktion wurde
bereits begonnen. wohnwagon.at
////// PAKETLIEFERUNG ZU JEDER ZEIT //////////////////Wer kennt das nicht? Die heiß ersehnte Online-Bestellung wird garantiert dann ge-
liefert, wenn man gerade außer Haus ist. Dazu hat sich das belgische Lieferservice
Cardrops etwas ausgedacht: Es liefert das Paket direkt in den Kofferraum des eige-
nen Autos. Durch Verwendung eines GPS-Senders spielt es keine Rolle, ob sich das
Auto zuhause oder am Firmenparkplatz befi ndet. (Um zu vermeiden, dass der Lieferant
dem Auto hinterherfahren muss, wird – sofern nicht vom User deaktiviert – das Auto
über eine längere Dauer getrackt, um zu ermitteln, wo sich das Auto üblicherweise
längerfristig aufhält.) Zu einem Preis von 99 Euro wird eine kleine Signalstation in
das Auto eingebaut, mit deren Hilfe es geortet sowie der Kofferraum über Funk ge-
öffnet wird. Pro Lieferung werden 4,99 Euro verrechnet. Der Lieferstatus wird per
SMS geschickt. www.cardrops.com
Eine andere Idee ist der Paketbutler, eine Innovation der deutschen Telekom. Die Be-
stellung wird direkt an der Haustür abgeladen, auch wenn man bei der Anlieferung
nicht zu Hause ist. Der Paketbutler ist eine faltbare Schachtel, die mittels Gurt zwi-
schen Türrahmen und Haustüre befestigt ist und die gelieferte Ware diebstahlsicher
aufbewahrt. Derzeit werden die ersten Paketbutler mit ausgewählten Berliner Zalan-
do-Kunden getestet. paketbutler.com
////// TANZEN BEI ROT //////////////////////////////////////Rote Ampeln werden von Fußgängern immer wieder ignoriert und die Straße trotz
Gehverbot überquert. Der Autohersteller Smart erkannte nun, wie man Fußgänger
dazu bringen kann, diese Verkehrsregel einzuhalten – und zwar mit Unterhaltung.
Passanten an einer viel befahrenen Kreuzung in Lissabon können in einer Kabine ihre
Lieblingsmusik auswählen und einfach lostanzen. Die Bewegungen werden überdi-
mensional auf der Außenseite der Kabine als tanzendes, rotes Ampelmännchen dar-
gestellt und bei Rotlicht auch gleichzeitig auf die echte Fußgängerampel dieser Kreu-
zung übertragen. Laut Smart konnte die Anzahl der auf grün wartenden Fußgänger
während des Projekts um insgesamt um 81 Prozent gesteigert werden.
int.smart.com/en/en/index/smart-campaigns/whatareyoufor/for-a-safer-city.html
////// HOTEL ALS SPRUNGBRETT /////////////////////////Das im Februar 2015 am Wiener Prater eröffnete magdas Hotel, ein Social Business
der Caritas Wien, gibt Menschen mit Fluchthintergrund Arbeit und damit eine Chance
auf Normalität. Das Besondere ist, dass auch Flüchtlingen, die noch keinen positi-
ven Asylbescheid haben, eine Perspektive geboten werden kann. Weil Ausbildung
auch ohne Asylzuerkennung erlaubt ist, können insgesamt fünf junge Asylwerber im
magdas Lehrberufe wie Koch und Kellner erlernen. Neben Profi s aus der Hotellerie
und freiwilligen Helfern sollen insgesamt bis zu 30 junge Menschen mit Fluchthinter-
grund beschäftigt werden. Derzeit wird auf crowdfunding.at noch nach weiteren
Crowdinvestoren für das Social Business gesucht. magdas-hotel.at
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Keine einfache Kopiervorlage
29EINFACH ≠ EINFACH
Wir müssen das Rad nicht neu erfi n-
den“, rät ein Sprichwort für jene Fälle,
in denen es bereits eine Lösung gibt.
Das Rad gilt als genuin menschliche
Erfi ndung. Seine Benutzung setzt
ebene, befestigte Wege voraus, wie
sie in der Natur kaum vorkommen. Es
repräsentiert auch die erste und viel-
leicht wichtigste Beobachtung, warum
Ideen nach dem Vorbild der Natur noch
nicht fl ächendeckend im Einsatz sind:
Einmal etablierte Lösungen werden
nur in Ausnahmefällen ernsthaft hin-
terfragt, verdrängt oder radikal erneu-
ert. Viel eher wird Bestehendes opti-
miert, an der Form gefeilt oder das
Material verbessert (erstes Prinzip).
Für Werner Nachtigall, einen der
deutschen Pioniere in dem Bereich,
ist Bionik ein Werkzeug, keine Heils-
lehre. Sie sollte geduldig und ohne
übersteigerte Erwartung gehandhabt
werden. Für ein Forschungsfahrzeug –
das so genannte Bionic Car – suchte
Mercedes Benz 2005 gezielt nach
Vorbildern in der Natur für Leichtbau
und Aerodynamik. Nachtigall empfahl
dem Autobauer für das Bionic Car
den Eselspinguin. Einen Vogel, der zu
den besten Schwimmern mit einem
sehr niedrigen Widerstandsbeiwert
gehört (Cw-Wert 0,07 vgl. Ferrari
Cw-Wert 0,3). Die Entwicklungsab-
teilung entschied sich jedoch für den
Kofferfi sch. Der langsam manövrie-
rende Riffbewohner in Kastenform ist
aerodynamisch ideal gebaut und zeigt
ebenfalls gute Strömungswerte
(Cw-Wert 0,19). Für die Karosserie
des experimentellen Kompaktwagens
wurden Anregungen aus der material-
sparenden Bauweise des Fisches
umgesetzt. Auf der Straße begegnet
einem das Bionic Car dennoch nicht,
da an dem Konzeptfahrzeug Systeme
DIE NATUR HAT EINEN VORSPRUNG VON 3,4 MILLIARDEN JAHREN
FEDERN ERFÜLLEN VIELE AUFGABEN. IHR BAUMATERIAL ABER IST EINFACH KONSTRUIERT
VOGEL ALS VORBILD FÜR EIN AUTO
OPTIMALE SYSTEME ENTWICKELN IHRE EINZELTEILE NICHT ISOLIERT
nur erprobt werden. Aktuell wird der
autonom fahrende F015 präsentiert.
Das Auto wurde vor rund 130 Jahren
erfunden. Die belebte Natur hat in
Sachen Fortbewegung also einen rie-
sigen Vorsprung. 3,4 Milliarden Jahre
Leben auf der Erde bedeuten ebenso
viel Zeit, um ungeeignete Entwürfe
einzustampfen. Was wir heute an Ar-
tenvielfalt sehen, ist das jeweils best-
geeignete Ergebnis von knallharten
Bewährungsproben. Im Unterschied
zum Menschen plant die Natur nicht.
Sie würfelt und prüft. Ihr Werkzeug
heißt Evolution (zweites Prinzip). Diese arbeitet mit langen Zeiträumen
und zufälligen Mutationen in Material,
Form und Bauplan. Antonia Kesel,
Leiterin des Studiengangs Bionik
an der Hochschule Bremen, nennt es
„Leben am Limit“. Für eine geniale
Konstruktion, die wir zum Vorbild
nehmen könnten, wurden etliche Ver-
suche aussortiert. Hier zeigt sich die
belebte Natur verschwenderisch und
gnadenlos. Von tausend und mehr
Nachkommen überleben nur wenige
und geben das Erbgut an die nächste
Generation weiter. Das gilt für Pfl an-
zensamen ebenso wie für menschliche
Spermien. Gleichzeitig wird auf diese
Weise bewahrt, was sich bewährt.
Der schrittweise Evolutionsprozess
kann am Computer simuliert werden.
Das passiert aktuell nur bei sehr spe-
zifi schen Aufgabenstellungen, soge-
nannten kombinatorischen Optimie-
rungsaufgaben.
Synonym für eine kombinatorische
Optimierungsaufgabe könnte auch ein
Synonym für „Überleben in freier Wild-
bahn“ sein. Am Beispiel eines Vogels
zeigt sich, warum es nicht einfach ist,
die Natur zu kopieren. Er fl iegt nicht nur.
Er muss sich auch selbst ernähren, mit
der zugeführten Energie haushalten,
bei jedem Wetter draußen sein, ein
Nest bauen, einen Partner fi nden und
Junge großziehen. Im Lauf der Evolu-
tion wurde jeweils das Gesamtsystem
immer besser an die Lebensaufgaben
eines Vogels angepasst (drittes Prin-zip). Die Einzelteile wie Schnabel, Fuß
oder Flügel wurden nicht isoliert opti-
miert, wie es bei der gezielten Planung
eines Vogels wohl der Fall wäre.
Für Antonia Kesel macht Beobach-tung Nummer vier die belebte
Natur zur Inspirationsquelle und
Herausforderung: „Lebewesen zei-
gen, dass es möglich ist, multifunktio-
nale Anforderungen zu vereinen.“ Ein
Beispiel dafür sind Federn. Dieses
variable Bauteil hilft seit 140 Millionen
Jahren beim Fliegen. Federn halten
aber gleichzeitig warm, sparen Ener-
gie und sind ein optisches Signal.
So bunt die Vielfalt der belebten
Natur, so auffallend ist ihre Selbstbe-
schränkung bei den Werkstoffen.
Federn erfüllen vielfältige Aufgaben
und bestehen aus einem einzigen
Material namens Keratin. Dieses wird,
wie alle anderen Stoffe, die Leben
ausmachen, aus einem Set von nur
zwanzig Aminosäuren gebaut. So
vielfältig der Mensch Stahl, Aluminium
oder Beton auch einsetzt, all diese
Werkstoffe bestehen im Vergleich
dazu aus endlichen Ressourcen und
werden mit hohem Energieeinsatz
hergestellt.
SCHON DIE BERÜHMTEN SKIZZEN DES RENAISSANCEGENIES LEONARDO DA VINCI ZUM VOGELFLUG ZEIGEN, DASS GENAUE BEOBACHTUNG AM BEGINN JEDER INSPIRATION AUS DER NATUR FÜR DIE TECHNIK STEHT. QUERSPUR STELLT SIEBEN BEOBACHTUNGEN AN, WARUM DIE BELEBTE NATUR BIS HEUTE DENNOCH NICHT EINFACH ZU KOPIEREN IST. Von Astrid Kuffner
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IM BIONIC LEARNING CENTER WIRD VON DER NATUR ABGESCHRIEBEN
NACHHALTIGES WIRTSCHAFTEN IST FÜR DIE NATUR KEIN PROBLEM
UM DIE ECKE ZU DENKEN BRINGT NICHT IMMER DEN GEWÜNSCHTEN ERFOLG
Hätten Sie es gewusst? Von der Natur inspiriert: Stahlbeton (Stützgewebe der Blätter eines Kakteengewächses), Klettverschluss (Klettfrüchte),
Stacheldraht (Dornstrauch Osage), Winglets (Spitzen von Vogelfl ügeln), Festo Bionic Tripod mit Fin-Grippe (Schwanzfl osse von Fischen).
Mit dieser Vorgehensweise ist auch
das fünfte Prinzip der belebten
Natur nicht vereinbar. „So viel wie nötig,
so wenig wie möglich“ heißt die Devise,
wenn es um den Verbrauch von Energie
und Ressourcen geht. Die Energie der
Sonne treibt Organismen an. Licht und
Wärme sind zudem wichtige Taktgeber
und Muntermacher. Organismen, die
Sonnenlicht in Biomasse verwandeln,
stehen im Zentrum komplexer Nah-
rungsnetze, in denen Bakterien, Pilze,
Tier- und Pfl anzenarten verwoben und
voneinander abhängig sind.
Zudem sind biologische Strukturen
nur begrenzt haltbar und werden nach
ihrem Ableben recycelt. Menschge-
macht bedeutet dagegen oft: Immer
mehr Verbrauch und für die Ewigkeit
gebaut. Bei der (Rück-)Besinnung auf
eine Kreislaufwirtschaft stehen wir noch
am Anfang. Konstrukteure von Robo-
tern kennen das sechste Prinzip
gut. Nicht nur die Fortbewegung for-
dert viel Hirnschmalz, sondern auch
die Steuerung der Fortbewegung.
Regenwurm, Spinne, Qualle, Pinguin,
Gepard, Möwe oder Känguru kommen
ganz unterschiedlich voran, haben
aber eine gemeinsame Erfolgsformel.
Auf einen „Muskel“ zur Fortbewegung
kommen zehn „Sensoren“, die Um-
weltparameter erfassen und verarbei-
ten und somit das Steuern ermögli-
chen. Dieses Prinzip ist im Vergleich
zu Schaltkreisen und Batterien vor-
bildhaft klein, leicht und vielfältig ver-
wirklicht.
Wie das gehen kann, zeigen tierische
Maschinen des deutschen Spezialis-
ten für Fabrik- und Prozessautomation
Festo, der ein eigenes Bionic Learning
Center betreibt. Auch bei funktio nalen
Oberfl ächen fassen bionische Lösun-
gen langsam Fuß. Das Paradigma
„glatt ist gut“ (siebtes Prinzip) wurde in den vergangenen Dekaden
durch immer bessere Bildgebung
gestürzt. Natürliche Oberfl ächen
erfüllen ihre Funktion oft durch eine
gewisse Rauigkeit: Pinguine fl itzen in
einem Mantel aus Luftbläschen dahin,
die sie mit ihren Federn unter die
Wasseroberfl äche mitnehmen, das
Lotusblatt ist unbenetzbar dank
3D-Wachskristallen auf der Ober-
fl äche und die Schuppen von Haien
haben in Längsrichtung kleine Rillen
(Riblets), die den Widerstand vermin-
dern. Die Haifi schhaut ist ein gutes
Beispiel für die letzte Beobachtung:
Es lohnt sich, um die Ecke zu denken.
Nahe liegend war es, einen Anzug zu
entwickeln, der Schwimm-Assen im
Wettkampf wenige Hundertstel Vor-
sprung verschafft. Einen breiteren
Nutzen versprachen Tests auf Treibstof-
feinsparung im Transportwesen. Aller-
dings erreichten Autos mit Riblet-Folie
im Stau oder Stadtverkehr fast nie die
erforderliche Geschwindigkeit, die nö-
tig ist, um Sparpotenziale auszunutzen.
Bei Flugzeugen musste beispielsweise
die Folie bei jeder Wartung abgezogen
werden, was die Standzeiten unrenta-
bel verlängert. Das Haihaut-Prinzip
wird heute aber erfolgreich auf
Schiffsrümpfen angewandt. Dabei
geht es weniger um Geschwindigkeit
oder Einsparung, denn um das Fern-
halten von Seepocken, Algen & Co.
(Anti-Fouling) ohne giftigen Lack.
Weniger Gift im Wasser lässt auch die
vielen winzigen Wasserorganismen am
Leben, die sich mit einer rotierenden
Bakteriengeißel fortbewegen. So zei-
gen sie uns weiterhin vor, dass selbst
das Rad mit Kugellager und Achse
keine menschliche Erfi ndung ist. �
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31EINFACH ≠ EINFACH
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WAS HINTER DEN DINGENDES ALLTAGS STECKTDie Wissenschaft macht das Leben einfacher – sagen 86 Prozent der Österreicher und 79 Prozent der US-Amerikaner1.
Welche Komplexität hinter so manch einfach erscheinendem Alltagsphänomen steht und wie die Waschmaschine der
Zukunft aussehen könnten. Von Silvia Wasserbacher-Schwarzer
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Phänomen: Ein Obsthändler stapelt
seine Orangen in versetzten Reihen
in Form einer Pyramide übereinander.
Erklärung: Dadurch bringt er die
meisten Orangen auf vorhandenem
Platz unter (74 % Raumnutzung). Die
Vermutung dazu stellte schon Johannes
Kepler vor 400 Jahren an (Keplerschen
Vermutung). Den Beweis lieferte der
US-Mathe matiker Thomas C. Hales 1998.
Phänomen: Es heißt, die Waschmaschine gehöre zu
jenen Erfi ndungen, die das Leben im letzten Jahrhundert
am meisten vereinfacht hat. Aus Sicht der Nutzer schon:
Brauchte man bis ca. 1960 mehrere Tage und bis zu
15 Arbeitsschritte, um die Wäsche zu waschen, sind
es seither nur einige Minuten zum Befüllen der Wasch-
maschine. Auf Seiten der Waschmaschinenerzeuger
gibt es die one-fi ts-all Lösung jedoch nicht.
Erklärung: Sie müssen sich an die weltweit
unterschiedlichen Waschvorlieben anpassen:
Spanier waschen ihre Wäsche am liebsten kalt, Griechen
heiß. In Frankreich befüllt man die Maschine von oben,
in Deutschland von vorn. Russen mögen schmale Geräte,
Amerikaner große. Chinesen haben gleich zwei Maschinen
im Haushalt, weil sie zwischen Männer- und Frauenklei-
dung trennen.3
Phänomen: Zwar sind zum Wäschewaschen im Vergleich zu früher
heute nur mehr minimale menschliche Anstrengungen nötig, natürliche
Ressourcen werden jedoch weiter bemüht: Ein Waschgang, der
ein bis zwei Stunden dauert, braucht rund 60 Liter (Trink-)Wasser.
Ressourcen, die durch eine komplexe Erfi ndung womöglich bald nicht
mehr verbraucht werden.
Erklärung: Die französische Industriedesignerin Elie Ahovi
entwickelte „Orbit“, die Waschmaschine der Zukunft. Ein Waschgang
dauert fünf Minuten und verbraucht keinen Tropfen Wasser: Während
des Waschvorgangs schwebt eine (tragbare) Trommel aus supraleiten-
dem Metall in einem Ring. Dieser besteht aus einer Batterie, die Strom
leitet. Sobald der elektrische Widerstand auf Null fällt, gleitet die
Trommel im Ring. Um den Schmutz zu lösen, wird der Wäsche Trockeneis
(Kohlenstoffdioxid) hinzugefügt, das mit dem Schmutz reagiert und
diesen auswäscht; ein Vorgang, der auch in der Industrie zur
Oberfl ächenreinigung gebräuchlich ist.3
Phänomen: Beim Kauf von
Staubsaugerbeuteln das richtige
Modell zu erwischen, ohne es sich
zuvor notiert zu haben, liegt die
Wahrscheinlichkeit bei unter einem
Promille.
Erklärung: Für ca. 42.000
Staubsaugermodelle, die es am
Markt gibt, liegt eine Auswahl
von 1.120 verschiedenen Beutel-
Modellen vor.2
Phänomen: In einem Fast-Food-Restau-
rant, in dem der Kunde sein Sandwiches
individuell zusammenstellen lassen kann,
ist so manch einer überfordert.
Erklärung: Die Zutaten sind auf den ersten
Blick überschaubar: Art des Brotes (4 Brotsor-
ten, wahlweise getoastet), seine Größe (15 oder
30 cm), der Belag (13 Fleisch- und 3 Käsesor-
ten, 8 Beläge wie z.B. Tomaten) und die Sauce
(7 Saucen). Hochgerechnet erlauben sie doch
1.113.840 Kombinationsmöglichkeiten.2
32
Querspur Das Zukunftsmagazin des ÖAMTC
KettenreaktionBei einer Kettenreaktion
genügt ein einfacher Anstoß für einen großen Eff ekt:
Eine Reihe einander bedingende Reaktionen
werden ausgelöst. Das bekannteste Beispiel
ist der sogenannte Dominoeff ekt.