einführung in die soziologie ii: die sozialstruktur...

Prof. Dr. Beat Fux

Professur für Soziologie, ETHSoziologisches Institut, Universität Zürich

Einführung in die Soziologie II:Die Sozialstruktur moderner Gesellschaften

Programm der Lehrveranstaltung1 17. Feb. 2009 Was heisst Sozialstruktur (Einführung)2 24. Feb. 2009 Zur Entwicklung der Sozialstruktur3 3. März 2009 Bevölkerung und Demographie4 10. März 2009 Generationen5 17. März 2009 Familien und Haushaltstrukturen6 24. März 2009 Bildung (z.B. PISA)7 31. März 2009 Arbeit8 7. April 2009 Arbeit (Fortsetzung)9 21. April 2009 Einkommen, Wohlstand, Armut

10 28. April 2009 Ausländer und Integration11 5. Mai 2009 Technik12 12. Mai 2009 Umwelt13 18. Mai 2009 Die Schweiz im heutigen Europa14 26. Mai 2009 Test

2Fux: Einführung in die Soziologie II: Die Sozialstruktur moderner Gesellschaften FS 2009

„Auslösende Faktoren“ für sozialen Wandel

• Technologische Innovationen(Rad, Pflug, Schrift, Dampfkraft, Elektrizität, Eisenbahn,Auto, Flugzeug, Computer etc.

• Ökonomische Regime(Übergang von der Autarkie zu arbeitsteiligen Produk-tionsformen, Taylorismus, Rationalisierung)

• Demographische und sozialstrukturelle Entwicklung(Migration, „generativen Verhaltens“, Schichtung,Ungleichheiten)

• Kulturelle Entwicklung(Werte, Normen, Ideologien, Wissen)

3 Fux: Einführung in die Soziologie II: Die Sozialstruktur moderner Gesellschaften FS 2009

Soziotechnisches System

Definition „Technik“Technik = Gesamtheit derjenigen kreativ und kunstfertig hervorgebrachten Verfahren und Einrichtungen, die in Handlungszusammenhängen als Vermittler eingesetzt werden,um Tätigkeiten in ihrer Wirksamkeit zu steigern,um Wahrnehmungen in ihrem Potential zu erweitern undund Abläufe in ihrer Verlässlichkeit zu sichern (Rammert 2004)

Fux: Einführung in die Soziologie II: Die Sozialstruktur moderner Gesellschaften FS 20094

Technik

Artefakt

Enger Tech-nikbegriff

Handlungs-form

Weiter Tech-nikbegriff

=+

Techniksoziologische Fragestellungen

Historische Entwicklung (Technologisierung) der Gesellschaft: Ursachen und ErklärungenGesellschaft und die Genese der Gestalten von Technik z.B. “Social Construction” oder “Social Shaping” oder TechnikgeneseforschungTechnik und ihre Folgen für die Gesellschaft z.B. Technikfolgenabschätzung, RisikoforschungWandel in der Konstellationen von Technik und Gesellschaft z.B. soziotechnische Konstellations-analysen von Risikosystemen, Actor-Network-Analysis


Sachvergessenheit

gelungene technische Integrationen gefährden nicht-technische (Technokratie-These)Verlagerung eigener, ungenauer, wirkungsschwächerer und mühsamer Tätigkeiten mit unsicherem Ausgang auf fremde, genaue, wirkungsstarke und bequeme Sachmit-tel mit berechenbarem Ausgang (Entlastungs-These)Alternative Integrationen werden unwahrscheinlicher (Sachzwang-These)

Folge: Technisierungsspirale = wechselseitige Steige-rung u. Verkettung institutionalisierte Technostrukturen


Ausgangsproblem


In der gegenwärtigen Mainstream-Soziologie wird die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Sach- und Sozialstruk-turen nicht oder zu wenig thematisiert.

Die wissenschaftliche Selbstverständnis der Soziologie gründet auf dem DURKHEIM-WEBERschen Axiom:„Soziales darf/kann nur durch Soziales erklärt werden.“

Damit wurde die materielle Welt systematisch aus dem Interessenspektrum der Soziologie weitgehend eliminiert.

Folgen dieser Festlegung


• „Sachblindheit“ der Soziologie

• Schwierigkeiten, technologische und ökologische Fragen sowie die materielle Welt insgesamt zu thematisieren

• Gesellschaft wird als System rekursiver symbolischer Kommunikation gedeutet. Die materielle Umwelt wird bestenfalls als externer Störfaktor wahrgenommen

• die Körperlichkeit des Menschen wird weitgehend ignoriert

Naturalistisch-materialistische vs. kulturalistisch-konstruktivistische Deutung der (sozialen) Welt

Entweder - oder / sowohl - als auch


Wir können dieGraphik entwederals Hasen- oderals Entenkopf se-hen, niemals abergleichzeitig alsbeides!

Vgl. L. WITTGENSTEIN, 1984, Philosophische Unter-suchungen. Werkausgabe Bd. 1, S. 519

„Sozialökologische Interaktionsmodelle“

Nach M. FISCHER-KOWALSKI u. H. WEISZ, 1999, verändert

„Kultur“, Sinn-konstitution,rekursive symbolische Kommuni-kation

„Natur“,Öko-systeme

GESELLSCHAFT

Population

Kolonisierung:Artefakte, Settings

Aneignung,Arbeit

Physisch-materielle Welt

„Hybride Systeme“„Gesellschaft“im Verständnisder Soziologie

Metabo-lismus

?

?

„ökologischeDoktrin“

„ökol. Regime“

Nicht-dichotomes Verständnis vonNatur und Kultur!


Technik als soziale Tatsache (Durkheim)

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Technisierung

Hämmern und Nähen als Prozesse (Techniken)Hammer und Nähmaschine als sachliche Artefakte

1. Idealisierung/Vereinfachung von Abläufen2. Mediatisierung/Abstraktion von Sinnbezügen3. Schematisierung/ Fixierung von Operationen und

Sequenzen4. Kombination zur Steigerung der WirkungFunktionen:

Entlastung von Kraft und SinnbezügenVerstärkung von Wirkungen


Technisierung der GesellschaftKörper: Herzschrittmacher, künstliche GelenkeErnährung: künstliche LebensmittelFortpflanzung: Empfängnisverhütung, PIDKommunikation: Telefon, Fernsehen, GPSMobilität: Auto, FlugzeugFamilie: Haushalttechnologien, Staubsauger, MikrowelleErziehung: Pädagogik, eLearningusw.Mensch ist durch soziale u. technische Evolution geprägtTechnische Zivilisation wird zur zweiten „Natur“Technik ist grundsätzlich ambivalent

(Entlastung, Schutz vs. neue Abhängigkeiten und RisikenFux: Einführung in die Soziologie II: Die Sozialstruktur moderner Gesellschaften FS 2009

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TECHNOSTRUKTUR:Handwerk als BasisVervollkommnung technischer WerkzeugeEinsatz von Kraftmaschinen (einzeln, z.B. Mühlen)Zerlegung eines Handwerks in TeiloperationenSpezialisierung und Förderung des Detailgeschicks

SOZIO-ÖKONOMISCHE STRUKTUR:zeitliche Kontinuität u. sachliche Gleichförmigkeit führt zuRegelmässigkeit und BerechenbarkeitIntensivierung der Arbeit (Verdichtung der Zeit)Entqualifizierung und Verbilligung der Arbeitskräfte


Zusammenhang technischer Fortschritt und gesellschaftlicher Wandel (Marxsche Tradition)

Technische Entwicklung gründet nicht in den Ideen von Erfindern, sondern hat ihre Grundlage in sozialer und experimenteller PraxisTechnische Entwicklung ist nicht Ersatz menschlicher Handlungsfunktionen sondern verweist auf gesellschaft-liche Projekte verschiedener sozialer AkteureTechnische Entwicklung ist nicht lineare Abfolge einzelner technischer Artefakte sondern evolutionäre Veränderung soziotechnischer Konstellationen


Was bestimmt die Anwendung der Technik?Z.B Spinnmaschine (Marx)1. Technischer Fortschritt

Entlastung von körperlicher Arbeit,Freisetzung von Energie,Substitution menschlicher Arbeitskraft durch Maschinen

2. ökonomische Strukturlogik der Kapitalverwertungwo Arbeitskräfte teuer sindMechanisierungslücken

3. politische Logik der Herrschaft und KontrolleBrechen des Widerstands qualifizierter ArbeiterKontrolle über Arbeitsprozesse

4. MachtkonstellationenOrganisierung, Handlungsdynamik der Interessen

16Fux: Einführung in die Soziologie II: Die Sozialstruktur moderner Gesellschaften FS 2009

Pole der Entwicklung

Produktivkräfte - Produktionsverhältnisse (K. MARX)

Technostruktur - Sozialstruktur (D. BELL)

System - Lebenswelt (J. HABERMAS)Arbeit – InteraktionInstrumentelles Handeln - Kommunikatives Handeln


TECHNOSTRUKTUR(„Produktivkräfte“)

SOZIALSTRUKTUR („Produktionsverhältnisse“)

I Vorindustrielle KonstellationHandwerkliches KönnenGewinnung von Naturpro-duktenArbeitskraftInstrumententechnik„Kooperation“ Erfahrungs-wissen

Hierarchie der StändePersönliche Abhängig-keitsbeziehungenOligarchiereligiöses Weltbild




II Industrielle KonstellationFabrikorganisationMaschinenentwicklungKünstliche EnergieMaschinentechnikIngenieurwissenArbeitsteilung

Klassenspaltung, Lohnar-beitMarkt für Güter und Ar-beitskräftekonkurrierende Weltbilder:Religion, Wissenschaft,FortschrittFunktionaleDifferenzierung




III Postindustrielle KonstellationWissensbasierte InnovationAusbau von Dienstleistun-gen und KonsumIntellektuelle Technolo-gienWissenschaftliches WissenVerteiltes u. vernetztes Kooperieren

Auflösung alter Klassenla-gen in soziokulturelle Mi-lieusneue soziale Bewegungensoziale Netzwerkeindividualisierte WeltbilderVertrauen


Sachzwangpolitik (normative Kraft des Faktischen)1. gesell. Anwendung und Folgen neuer Techniken

(Atomenergie, Atomwaffen, Automation Fabrik/Büro)2. Eigendynamik und Grenzen techn. Fortschritts

(Technokratie, Grenzen des Wachstums, Umweltbe-lastung)

3. Alternativen der Technikentwicklung(Humanisierung der Arbeit, angepasste Technologie, Nachhaltigkeit)

Technik = (neutrales) Mittel für (beliebige) ZweckeMittel unter Kontrolle der MenschenWissen über Funktionsweisen des Mittels


GrundkonstellationenTechnologischer DeterminismusTechnologie als hinreichende Bedin-gung ges. EntwicklungW.F. Ogburn: „cultural lag“J. Ellul: „Technik hat eigenes Leben ausserhalb menschlicher Kontrolle“


Technik Gesellschaft



Gesellschaftlicher DeterminismusTechnik als abh.VariableGesellschaftliche Werte als Motor technologischen WandelsJ. Ellul: „Technik hat eigenes Leben ausserhalb menschlicher Kontrolle“

Interdependenzmodell Technik und Gesellschaft als kom-plexes Interdependenzsystem

Konträre Positionen

1. Menschen haben Macht über TechnikEinwände:

Wie genau kennen die Menschen heute ihre jeweiligen Techniken?(Spezialisierung, Experten, Verwissenschaftlichung)

In welchem Ausmass kontrollieren die Menschen noch die Techniken?(Komplexität, Systemcharakter, Verselbständigung)


Konträre Positionen

2. Technik hat Macht über unsTechnik als autonome verselbständigte Entwicklung, d.h. Verlust der Kontrolle („technics-out-of-control“ (Jacques Ellul); Mittel werden zu Zielen; Sachzwänge statt polit. Entscheidungen; Trend zur Totalisierung

3. Die Macht der Sachen ist von Menschen gemacht„Large technological systems contain messy, complex, problem-solving components. They are both socially constructed and socially shaped” (T.P. HUGHES)System interagierender und kontrollierter Komponenten (Artefakte, Organisationen, wissenschaftliche Fakten, Gesetze, natürliche Ressourcen)


Kontroversen über Nutzen der TechnikMaschinenstürmer (ab 1760)(Titanic 1912)Atombombe (1945)AKW-Debatte (1970er)Experten und LaienPolitisierung der WissenschaftTechnikfolgenabschätzung(Bhopal 1984)(Tschernobyl 1986)(Sandoz 1986)(Exxon Valdez 1988)(Untergang der Estonia 1994)(Raumfähre Columbia 2003)



Genschutz-initiative


Akzeptanz Gentechnologie in der Medizin

Akzeptanz Gentechnologie in der Landwirtschaft

Akzeptanz Gentechnologie Lebensmittel Wichtigkeit Informationen


Technikbewertung u. Technikfolgenabschätzung

Wie entstehen neue Techniken?These 1:Keine technische Eigendynamik, sondern soziale Dynamikmaterielles Artefakt kulturelles Artefakttechnische Konstruktion soziale KonstruktionBeste Problemlösung Interpretative Flexibilität

These 2:Kein einzelnes Ereignis, sondern mehrstufiger Prozess

These 3:Kein linearer Prozess, sondern rekursiv und interaktivTechnischer Fortschritt Projekte div. AkteureTechnische Perfektion Akzeptierte Konstellation



J. Weyer 2004

Diffusion von Innovationen


1. Phase:Anfangs-investitionen

2. Phase:Massen-produktion

3. Phase:Markt-Sättigung

Schumpeters Innovationstheorie(Theorie des dynamischen Unternehmens)


Innovationen alsWachstumsmotor

Umsetzung vonInnovationen

Preissenkung

Zyklenmodell technischer Evolution


Technikentwicklung als soziopolitischer Prozess


Netzwerktheoretische Ansätze

mehrstufiger Prozess der sozialen Konstruktion von Technik

Abfolge von Öffnung und Schliessung (Alternativen)getragen von sozialen Netzwerken

drei Phasen (idealtypisch):Entstehung, Stabilisierung, Durchsetzung

Innovationsprozesse sind zielgerichtet (Sequenz)keine chaotische Ansammlungjede Phase erbringt spezifische Leistungen


Phasenmodell der Technikgenese


J. Weyer 2004

Soziales Netzwerk

• „... eine eigenständige Form der Koordination von Interaktionen ..., deren Kern die vertrauensvolleKooperation autonomer, aber interdependenter ... Akteure ist, die für einen begrenzten Zeitraum zusammenarbeiten und dabei auf die Interessendes jeweiligen Partners Rücksicht nehmen, weil sie auf diese Weise ihre partikularen Ziele besser realisieren können als durch nicht-koordiniertesHandeln.“ (Weyer 2000: 11)


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