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Skriptum zur Vorlesung Einf ¨ uhrung in die Analysis von Bernhard Kr¨ on Version vom 02.02.2014 Sommersemester 2013 VO LV-Nr.: 250053, 5 ECTS UE LV-Nr.: 250054, 4 ECTS http://homepage.univie.ac.at/bernhard.kroen/Analysis.html

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Skriptum zur Vorlesung

Einfuhrung in die Analysis

von Bernhard Kron

Version vom 02.02.2014

Sommersemester 2013VO LV-Nr.: 250053, 5 ECTSUE LV-Nr.: 250054, 4 ECTShttp://homepage.univie.ac.at/bernhard.kroen/Analysis.html

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort 1Zum Vorlesungsaufbau 1Einleitung 4

Kapitel 1. Zahlen und Folgen 71.1. Konstruktion und Axiomatik 71.2. Naturliche Zahlen 71.3. Ganze Zahlen 81.4. Zur Konstruktion der Zahlenbereiche 91.5. Rationale Zahlen 101.6. Folgen 121.7. Konvergenz und geometrische Folgen 141.8. Cauchy-Folgen und Grenzwertsatze 171.9. Intervallschachtelungen 201.10. Reelle Zahlen 211.11. Erweiterte reelle Zahlen 241.12. Vollstandigkeit der reellen Zahlen 251.13. Haufungswerte und Haufungspunkte 271.14. Wurzeln 291.15. Komplexe Zahlen 311.16. Konvergenzkriterien fur Reihen 321.17. Das Cauchy-Produkt von Reihen 371.18. Die Exponentialreihe 39

Kapitel 2. Stetigkeit 412.1. Metrische Raume 412.2. Stetigkeit in metrischen Raumen 412.3. Stetigkeit reeller Funktionen 462.4. Stetige Umkehrabbildungen 492.5. Limiten zu Exponentialfunktion und Logarithmus 502.6. Trigonometrische Funktionen 51

Kapitel 3. Differentiation 573.1. Differenzierbarkeit 573.2. Erste Ableitungsregeln 58

Literaturverzeichnis 63

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Vorwort

Auch wenn mehrere Personen einen langeren mathematischen Text genau korrigierthaben, werden sich beim erneuten Lesen wieder Fehler finden lassen. In diesem Sinne bitteich Sie, dieses Skriptum aufmerksam zu studieren; berichten Sie mir Fehler, auch wenn es sichnur um Tippfehler handelt. Ich bin auch an kritischen Anmerkungen jeder Art zu Aufbau,fehlenden Beispielen oder zu unverstandlichen Argumenten interessiert. Ihre Kommentarewerde ich laufend einarbeiten und immer wieder aktualisierte Fassungen des Skriptumsauf http://homepage.univie.ac.at/bernhard.kroen/Analysis.html online stellen undzwar in zwei Versionen: mit Zeilennummerierung, die Ihnen helfen, auf Fehler hinzuweisen,und ohne Zeilennummerierung, fur eine optisch ungestorte Lekture. Herzlichen Dank anLukas Hobel, Stefanie Hofbauer, Andreas Kalb, Florian Konig, Doris Laßnig, Peter Leitner,Christine Neuhuber, Christine Punner, Katrin Schonegger, Tobias Slowiak und StephanWastyn fur die Korrektur zahlreicher kleiner Fehler.

Beispiele zu den Ubungen finden Sie im Text am Ende der Kapitel und noch einmal ingesammelter Form. Auch am Ende jedes Kapitels sind sogenannte Theoriefragen formuliert,die Ihnen bei der Vorbereitung zur Prufung helfen sollen.

Ich halte mich im Aufbau an kein bestimmtes Lehrbuch. W. Rudins “Principles ofMathematical Analysis” [10] (nicht zu verwechseln mit seinem Buch “Real and ComplexAnalysis”) ist ein Standardwerk im englischsprachigen Raum und auf Deutsch als “Analy-sis” [8] erschienen (nicht zu verwechseln mit “Reelle und Komplexe Analysis”). Der deutscheKlassiker von H. Heuser [2] ist ausfuhrlich geschrieben und enthalt viele Beispiele. In derLiteraturliste finden Sie weitere wichtige Lehrbucher zur Analysis, die meisten stammenaus dem deutschsprachigen Raum. Zu empfehlen ist auch das Vorlesungsskriptum [3] vonG. Hormann und D. Langer, sowie als Nachschlagwerk zum Kurs “Einfuhrung in das mathe-matische Arbeiten” das gleichnamige Buch [11] von H. Schichl, R. Steinbauer. Dieser Kurswird in der Vorlesung vorausgesetzt.

Zum Vorlesungsaufbau

Die folgenden Gedanken zum Aufbau der Lehrveranstaltung richten sich an die mathe-matisch erfahrenere Leserschaft. Im Weiteren setze ich nur die Lehrveranstaltung “Einfuhrungin das mathematische Arbeiten” voraus.

Es gibt unzahlige Unterlagen und einfuhrende Bucher zur reellen Analysis und trotzdemhabe ich mich entschlossen, ein neues Vorlesungsskriptum zu verfassen. Die Frage, wie dieVorlesung zur Analysis aufgebaut sein soll und insbesondere, wie reelle Zahlen eingefuhrtwerden, beschaftigt die universitare Lehre seit dem ausgehenden 19. und fruhen 20. Jahr-hundert, als die Mathematik auf ein strenges formales Fundamet gestellt wurde. EdmundLandau schreibt 1929 im Vorwort zu seinen “Grundlagen der Analysis” [6]:

“Dies Buchlein ist eine Konzession an die (leider in der Mehrzahl befindlichen) Kollegen,welche meinen Standpunkt in der folgenden Frage nicht teilen.

Auch wer Mathematik hauptsachlich fur die Anwendungen auf Physik und andere Wis-senschaften lernt, also vielfach sich selbst weitere mathematische Hilfssatze zurechtlegenmuß, kann auf dem betretenen Pfade nur dann sicher weiterschreiten, wenn er gehen gelernthat, d.h. zwischen falsch und wahr, zwischen Vermutungen und Beweisen (oder, wie mancheso schon sagen, zwischen unstrengen und strengen Beweisen) unterscheiden kann.

Darum finde ich es (. . . ) richtig, daß der Studierende bereits im ersten Semester lernt,auf welchen als Axiomen angenommenen Grundtatsachen sich luckenlos die Analysis auf-baut und wie dieser Aufbau begonnen werden kann. Bei der Wahl der Axiome kann manbekanntlich verschieden verfahren; ich erklare es also nicht etwa fur falsch, sondern fur mei-nem personlichen Standpunkt fast diametral entgegengesetzt, wenn man fur reelle Zahlenzahlreiche der ublichen Rechengesetze als Axiome postuliert.”

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Ganz ahnlich sieht das Charles Chapman Pugh in [7, Section 1.2] “The current mathe-matics teaching trend treats the real number system R as a given — it is defined axiomati-cally. Ten or so of its properties are listed, called axioms of a complete ordered field, and thegame becomes: deduce its other properties from the axioms. This is something of a fraud,considering that the entire structure of analysis is built on the real number system. For whatif a system satisfying the axioms failed to exist? Then one would be studying the empty set!However, you need not take the existence of the real numbers on faith alone — we will givea concise mathematical proof of it.”

Landau geht von den Peano-Axiomen aus, wohingegen Pugh naturliche Zahlen ohneAxiomatik als gegeben annimmt. Wenn wir eine Mathematik betreiben wollen, in der Men-gen verwendet werden (und das wollen wir), dann stellt sich eine weitere Frage: Gibt es die(oder eine) Menge naturlicher Zahlen? Gibt es eine Menge, die die Peano-Axiome der naturli-chen Zahlen erfullt? Auch diese Frage muss beantwortet werden, auch wenn die Antworteinfach und kurz ist: Die Existenz einer solchen Menge folgt aus dem Unendlichkeitsaxiomder Zermelo-Fraenkelschen Mengenlehre. Und gibt es uberhaupt eine Menge? Eine solcheFrage ist als mathematische Frage nicht ganz richtig gestellt, weil ein Objekt offenbar außer-halb der formalen Theorie in der realen Welt gesucht wird. Die Frage musste lauten: Ist dasAxiomensystem der Mengenlehre widerspruchsfrei? Hier wird die Sache etwas komplizier-ter: Godel hat gezeigt, dass jedes hinreichend große widerspruchsfreie formale System dieeigene Widerspruchsfreiheit nicht zeigen kann. Dies trifft auch auf die Zermelo-FraenkelscheMengenlehre zu. Das heißt, wenn wir mit ihr arbeiten, konnen wir nicht beweisen, dass siewiderspruchsfrei ist, auch wenn sie es wohl doch ist, woran niemand zweifelt.

“Bei der Wahl der Axiome kann man bekanntlich verschieden verfahren;” (Landau, sieheoben). Man muss sich nur bewusst werden, welche die axiomatische Basis ist. Grundsatzlichware es moglich, eine rein arithmetische Mathematik zu betreiben (zum Beispiel in derZahlentheorie), in der es keine Mengen und auch keine Geometrie gibt, dann genugen diePeano-Axiome oder andere.

Ein besonderes Axiom der Mengenlehre ist das Auswahlaxiom (axiom of choice), weiles die Existenz von Objekten impliziert, die nicht konstruktiv beschreibbar sind, weswegenes von manchen Mathematiker/innen vermieden oder gar abgelehnt wird. Mit ZFC wird dieZermelo-Fraenkelsche Mengenlehre (ZF) zusammen mit dem Auswahlaxiom (C) bezeichnet.Sie hat sich als machtige Grundlage der Mathematik etabliert. Zusammen mit der Pradika-tenlogik im Hintergrund lasst sich mit ihr die gesamte Mathematik in einer Theorie vereinen,das macht ZFC so attraktiv.

Die fur uns relevanten Zahlenbereiche lassen sich aus ZF ableiten. Weder die Peano-Axiome noch die Axiome der reellen Zahlen als vollstandig geordneter Korper sind fur unsalso eine Grundlegung der Zahlenbereiche, sondern nutzliche Charakterisierungen. Das heißt,sie helfen uns, Theoreme folgender Art zu formulieren: Die aus der Zermelo-FraenkelschenMengenlehre konstruierten Zahlenbereiche (insb. die naturlichen und die reellen Zahlen)erfullen (zusammen mit den darauf definierten Rechenoperationen) eine bestimmte Liste vonAxiomen und jedes andere Objekt, das diese Axiome auch erfullt, ist isomorph zu den aus derMengenlehre konstruierten Zahlenbereichen. Auch wenn die Axiomatiken der Zahlenbereichekeine Grundlegungen darstellen, dienen sie als Basislager auf halber Hohe des Berges, vondem aus wir den Gipfel besteigen konnen. Unten im Tal befinden sich Logik und Mengenlehreals Ausgangspunkt.

Das erste Problem bei der von Landau empfohlenen Vorgehensweise ist der enormeZeitaufwand, der notig ist um dies rigoros und vollstandig zu tun. Ich beschranke michdaher bei der Konstruktion der Zahlenbereiche aus der Mengenlehre auf wenige wesentlicheSchritte und verzichte auf die in der Analysis sonst erforderliche Vollstandigkeit.

Nachdem Rudin 1953 in [9] die reellen Zahlen zunachst rigoros uber Dedekindschnitteeingefuhrt hat, schreibt er in seinem Vorwort zur dritten Auflage [10] von 1976 uber daszweite, namlich das mathematisch-didaktische Problem bei der Konstruktion reeler Zahlen:

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“Experience has convinced me that it is pedagogically unsound (though logically correct) tostart off with the construction of the real numbers from the rational ones. At the beginning,most students simply fail to appreciate the need for doing this.”

Die Vollstandigkeit ist die wichtigste der Eigenschaften, die die reellen von den rationalenZahlen unterscheidet. Um sich der Bedeutung dieser Eigenschaft bewusst zu werden, habe ichgerade aus didaktischen Grunden nicht auf eine Konstruktion der reellen Zahlen verzichtet.Allerdings stelle ich diese nicht wie sonst ublich an den Beginn der Vorlesung, sondernarbeite erst eine Zeit nur mit rationalen Zahlen und behandle Konvergenz, Cauchy-Folgenund Grenzwertsatze bis wir an einen Punkt kommen, wo sich die Konstruktion der reellenZahlen zwingend und gleichzeitig auf naturliche Weise ergibt. Allerdings muss man bei dieserVorgehensweise spater an einer Stelle festhalten, dass vieles, was zuvor uber rationale Folgengesagt wurde, nun auch fur reelle Zahlen gilt. Dies trifft auf alle Aussagen zu, die nur aus denKorperaxiomen abgeleitet wurden und die Eigenschaft rationaler Zahlen, dass sie Quotientenganzer Zahlen sind, nicht verwenden.

Anstatt den Aufbau der Mathematik auszublenden, sollte begrundet werden, warumes notwendig ist, ihn zu kennen. Gerade in allgemein bildenden Schulen sollte auch Platzfur Reflexionen uber das Fach an sich sein. Das mathematische Theoriegebaude dient alsBeispiel einer Wissenschaft und hilft das Wesen der Wissenschaft besser zu verstehen. Es istwichtig, auch in der Schule uber Moglichkeiten und Grenzen einer naturwissenschaftlichenTheorie nachzudenken und unterscheiden zu lernen zwischen Phanomenen der realen Weltund erklarenden Thesen, zwischen Wissenschaft und Pseudowissenschaft, zwischen Glaube,Spekulation, Empirie und - wie im Fall der Mathematik - einer formalen Theorie. Deswegensollten Lehrkrafte zumindest eine grobe Vorstellung davon haben, was das TheoriegebaudeMathematik ist, auch wenn Grundlagen der Mathematik in der Schule nicht standardmaßigunterrichtet werden.

Wir mussen davon ausgehen, dass die meisten Studierenden spater nie eine Lehrveran-staltung uber Mengenlehre oder Grundlagen der Mathematik belegen werden und dass dieAnalysis ihre einzige Chance ist, einen Einblick in dieses Theoriegebaude zu bekommen.

Die verbreitetsten Konstruktionen der reellen Zahlen sind jene mit Cauchy-Folgen undjene mit Dedekind-Schnitten. Man kann reelle Zahlen auch direkt uber Dezimalbrucheeinfuhren. Dedekind-Schnitte sind intuitiv leicht zu verstehen, das ist ihr Vorteil. Ein Nach-teil ist wohl, dass sie abgesehen von der Konstruktion der reellen Zahlen kaum eine Verwen-dung finden. Das heißt, es wird Zeit und Energie fur eine kleine Theorie investiert, dereneinziger Zweck die Konstruktion der reellen Zahlen ist. Ich habe mich fur die Konzepte derCauchy-Folgen und Intervallschachtelungen entschieden, weil diese auch im spateren Aufbauder Analysis von großer Bedeutung sind. Bis wir zu dem Punkt gelangen, wo wir reelle Zah-len als Aquivalenzklassen von Cauchy-Folgen definieren, muss viel gearbeitet werden. DieseArbeit ist aber nicht umsonst, denn das Kapitel uber Folgen und Konvergenz wird im Laufedieser Konstruktion bereits großteils abgearbeitet. Auch bekommen wir wichtige Satze wiejenen von Bolzano-Weierstrass im Zuge der Konstruktion praktisch geschenkt.

Ich will mit dieser Vorlesung zeigen, wie die Konstruktion der reellen Zahlen auf naturli-che Weise motiviert und in den Aufbau der Analysis integriert werden kann, ohne den Um-fang der Lehrveranstaltung zu erhohen.

Potenzen mit reellen Exponenten konnen bequem uber Exponentialfunktion und Lo-garithmus eingefuhrt werden. Wenn dafur erst Umkehrfunktionen und stetige Funktionenbehandelt werden mussen, bedeutet das, dass die Exponentialfunktion erst relativ spat be-handelt wird. Die Exponentialreihe selbst spielt in verschiedenen Bereichen der Mathematikeine ganz zentrale Rolle. Aus diesem Grund behandle ich die Exponentialfunktion schon rela-tiv fruh im Kapitel uber Reihen. Um zu zeigen, dass ihre Umkehrfunktion auf allen positivenreellen Zahlen definiert ist, verwende ich den Zwischenwertsatz. Daher wird der Logarith-mus erst spater eingefuhrt. Wir wollen jedoch schon zu einem fruheren Zeitpunkt Wurzelnziehen, zum Beispiel beim Wurzelkriterium fur Reihen. Wurzeln und rationale Exponenten

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werden daher schon fruher direkt uber die Vollstandigkeit der reellen Zahlen definiert. Andieser Stelle konnten durch einen Grenzubergang direkt reelle Exponenten eingefuhrt wer-den (siehe z.B. [4, 2]), worauf ich aus Zeitgrunden in den Kapiteln zu Reihen verzichte, weilwir irrationale Exponenten ohnehin erst ab den Kapiteln zur Stetigkeit brauchen.

Einleitung

0.0.1. Die Frage nach dem “Was” und das Fundament. Was ist eine Funktion?Eine Funktion ist eine Relation. Und was ist eine Relation? Eine Relation ist eine Mengevon Paaren. Egal bei welchem mathematischen Objekt wir die Frage nach dem “Was” stel-len, am Ende landen wir immer bei den Mengen. Mathematik beschaftigt sich nicht mitder Wirklichkeit, sondern mit formalen Modellen. Mengen haben sich als Einheitsmodellbewahrt. Mengen mit bestimmten Eigenschaften bekommen Namen, zum Beispiel “Funkti-on”. Die Frage, was in der realen Welt tatsachlich eine Funktion ist, stellt sich uns nicht. Furontologische Diskussionen ist in der Mathematik kein Platz, das ist Sache der Philosophieund auch dort ist umstritten, ob sie sinnvoll sind.

Die zweite Zutat, mit der wir das Fundament der Mathematik errichten, ist die Logik.Moderne hohere Mathematik ist das Treffen von Aussagen uber Mengen, sonst nichts. Men-gen sind die Objekte, Logik ist die Sprache. So wie die Chemiker ihre Welt aus Atomenaufbauen, so bauen Mathematiker ihre Welt aus Mengen und Logik.

Nun gibt es auch Kernphysiker, die nicht wissen wollen, was man aus Atomen bauenkann, sondern die auf der Suche nach dem Ursprung der Dinge Atome in moglichst kleineEinzelteile zerlegen. Wie sieht das in der Mathematik aus? Was passiert, wenn wir die Fragenach dem “Was” weiter treiben? Was ist eine Menge? Was ist eine Ausage? Was ist dasUrteilchen der Mathematik? Irgendwann mussen wir ein Zeichen auf ein Papier machen, ein“x” oder ein “t”, ohne dabei sagen zu konnen, was das sein soll. Am Ende baut auch diestrengste aller Wissenschaften auf etwas auf, das unsicher und unklar ist, uber das wir nichtswissen und nichts sagen konnen. Das letzte Urteilchen der Mathematik gibt es nicht. Ab derersten Grundsteinlegung ist die Mathematik allerdings zu hundert Prozent sicher und, wennwir so wollen, “wahr”. Das ist, was diese Wissenschaft vor allen anderen auszeichnet.

Wie das Gebaude der Analysis auf das Fundament aus Mengenlehre und Logik aufgebautwird, ist Inhalt dieser Vorlesung. Im ubertragenen Sinn: Dies ist eine Vorlesung uber Chemieund nicht uber Kernphysik.

Die Kernphysik der Mathematik wird in Vorlesungen zu Mengenlehre und Logik behan-delt. Einige Aspekte daraus sind auch fur uns relevant. Ich will insbesondere dazu anregen,folgende Fragen zu geeigneten Zeitpunkten immer wieder zu stellen.

(1) Wir konnen zwei Arten von Axiomensystemen unterscheiden: solche, die bis auf Iso-morphie ein eindeutiges Objekt bestimmen, von jenen Systemen, die eine moglichstallgemeine Klasse von Objekten bestimmen. Was sind Beispiele solcher Axiomen-systeme und worin besteht der Vorteil einer solchen Axiomatik?

(2) Was besagen die Godelschen Unvollstandigkeitssatze und welche Auswirkungenhaben sie fur die Mathematik?

(3) Welche Folgen hat das Auswahlaxiom? Wie sind Objekte beschaffen, deren Exi-stenz mit dem Auswahlaxiom aber nicht ohne das Auswahlaxiom gezeigt werdenkann?

(4) Welche Probleme konnen sich ergeben, wenn Mathematik ohne axiomatisches Fun-dament betrieben wird und welche Probleme sind in fruheren Jahrhunderten auf-grund fehlender Axiomatiken aufgetreten?

(5) In welchen Studienrichtungen sollten Logik, Mengenlehre oder zumindest die dar-auf basierende Konstruktion der Mathematik behandelt werden?

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0.0.2. Mathematik von Menschenhand oder naturgegeben? Die reelle Analy-sis ist Ergebnis einer Entwicklung, die sich vom 17. Jahrhundert bis in das 19. Jahrhun-dert gezogen hat. Manche fundamentalen Erkenntnisse zu den Grundlagen der modernenMathematik konnten erst im 20. Jahrhundert erlangt werden (z.B. die Godelschen Unvoll-standigkeitssatze). Ob Mathematik naturgegeben existiert und wir sie Schritt fur Schrittentdecken, oder ob Mathematik etwas ist, das der Mensch erschafft, ist eine philosophischeund keine mathematische Frage. Unbestritten ist, dass es auch historische Grunde dafurgibt, dass das Gebaude der modernen Analysis ist so, wie es ist. Es konnte genauso gut ganzanders aussehen. Der Aufbau der heutigen Mathematik ist, uberspitzt formuliert, nur einevorherrschende Lehrmeinung, die sich durchgesetzt hat. In der Nichtstandardanalysis wirdbeispielsweise mit unendlich kleinen Großen gerechnet und in der konstruktiven Mathematikauf das Auswahlaxiom verzichtet, denn es impliziert die Existenz von Objekten, die insofernpathologisch sind, als sie nicht genau beschrieben werden konnen. Die “vorherrschende Lehr-meinung” die in dieser Vorlesung prasentiert wird, behandelt “gewohnliche” reelle Zahlen(nicht jene der Nichtstandardanalysis) und verwendet bei Bedarf das Auswahlaxiom.

Aber nicht nur wie die Analysis aufgebaut ist, sondern auch die Gestalt ihrer Grund-lagen (Mengenlehre und Logik) ist ein zum Teil zufalliges Produkt einer historischen Ent-wicklung. In diesem Sinn ist klar, dass die Mathematik als Theoriegebaude ein Werk vonMenschenhand ist. Dass hingegen das Verhaltnis aus Kreisumfang und Kreisdurchmesserals Grenzwert von verschiedenen schonen Zahlenreihen auftritt, ist nicht uns Menschen zuverdanken, sondern das ist ein Wunder der Natur. In der aktuellen Forschung der reinenMathematik haben gerade jene Teilgebiete, die die spektakularsten Erkenntnisse liefern unddie meisten Forscherinnen und Forscher in ihren Bann ziehen, auch immer wieder verbluffen-de Anwendungen außerhalb der Mathematik bzw. tragen diese Teilgebiete externe (d.h. derrealen Welt zuzurechnende) Inputs in sich. Es ist interessant danach zu fragen, ob dies daranliegt, dass tiefe Mathematik etwas Naturgegebenes ist, oder ob das eine Folge des Umstan-des ist, dass unsere Hirne Maschinen unserer Welt und unserer Korper sind und somit vonNatur aus kaum andere interessante Modelle beschreiben konnen, als solche, die in unsererWelt Anwendung finden.

0.0.3. Was ist Analysis? Das zentrale Objekt dieser Vorlesung sind reelle Funktio-nen, also Funktionen von R nach R. In weiteren Lehrveranstaltungen zur Analysis werdenauch Funktionen in mehreren Veranderlichen betrachtet. In der komplexen Analysis (auch“Funktionentheorie” genannt) wird mit komplexen anstatt reellen Zahlen gearbeitet.

Reelle Funktionen sind ein absolut unverzichtbares Modell in Naturwissenschaft, Technikund praktischen Anwendungen aller Art. Um als Mathematiker sinnvoll mit ihnen arbeitenzu konnen, mussen wir sie im “unendlich Kleinen” betrachten und verstehen, das heißt,wir zoomen mit einem Mikroskop immer tiefer und tiefer an einer Stelle hinein. Das ist dieherausragende Eigenschaft der reellen Zahlen: Egal wo wir uns mit dem Mikroskop unendlichtief hineinzoomen, immer wird dort, wo wir das tun, am Ende etwas zu sehen sein, einPunkt und kein Loch. Die Menge der reellen Zahlen ist aber nicht mit dieser Eigenschaftvom Himmel gefallen, sondern eben so konstruiert, dass sie diese Eigenschaft hat, dass sieeben keine “Locher” hat. Die Mathematiker nennen das Vollstandigkeit.

Das sich-beliebig-nahe-Annahern heißt in der Mathematik Konvergenz. Sie steckt in al-len zentralen Begriffen der Analysis: in der Stetigkeit, der Ableitung, im Integral usw. DamitKonvergenz funktioniert, brauchen wir Zahlenbereiche, die keine “Locher” haben, die ebenvollstandig sind. Um die zentralen Begriffe der Analysis wirklich zu begreifen, ist es alsohilfreich, schon die reellen Zahlen zu begreifen und zu verstehen, warum Analysis mit ganz-zahligen Bruchen alleine nicht funktionieren kann, denn die Menge der ganzzahligen Bruche(die Menge der rationalen Zahlen) hat sehr wohl “Locher”. Betrachten wir die rationalenZahlen als Zahlenstrahl und zoomen uns mit dem Mikroskop an jener Stelle in die Tiefe,wo die Zahlen, deren Quadrat großer 2 ist, auf die Zahlen treffen, deren Quadrat kleiner als

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2 ist, dann zeigt sich an dieser Stelle ein Loch. Es gibt keinen ganzzahligen Bruch, dessenQuadrat gleich 2 ist.

Eine offene Kugel ist die Menge aller Punkte, die zu einem bestimmten Punkt (demMittelpunkt) einen Abstand haben, der kleiner als der gegebene Radius ist. Im dreidimen-sionalen Raum, sind Kugeln das, was wir uns gemeinhin unter Kugeln vorstellen. In derEbene sind offene Kugeln Kreisscheiben ohne Randlinie und am Zahlenstrahl sind Kugelnoffene Intervalle (ohne Randpunkte). Ein innerer Punkt einer Menge ist ein Punkt, der Mit-telpunkt einer Kugel (bzw. eines Intervalls) ist, welche ganz in der Menge enthalten ist. ImGegensatz zu den inneren Punkten beruhren Randpunkte einer Menge den Bereich außer-halb der Menge. Wenn eine Menge nur aus inneren Punkten besteht, nennen wir sie offen.Beispiele sind offene Intervalle aber auch Vereinigungen von offenen Intervallen. Offene Men-gen sind Gegenstand der Topologie, der Lehre von der Gestalt von Objekten und Raumen.In der Topologie werden offene Mengen nicht uber Kugeln sondern allgemeiner durch eineAxiomatik definiert.

Begriffe wie offene Mengen, Kompaktheit, Konvergenz oder Stetigkeit sind Grundbegriffeder Topologie. Wenn Studierenden die Analysis beigebracht wird, gibt es zwei Ansatze:Entweder man geht der Terminologie der Topologie soweit wie moglich aus dem Weg undjongliert stattdessen vermehrt mit kleinen Parametern (meist ε und δ), oder man versucht,diese manchmal technisch erscheinenden Rechnungen mit Parametern zu vermeiden undgreift auf die Terminologie der Topologie zuruck. Topologische Grundbegriffe im Kontextreeller Zahlen zu begreifen, bedeutet zwar, eine gewisse Abstraktion vollziehen zu mussen,dies ist jedoch ohnehin notwendig, um die notigen Grundvorstellungen zu entwickeln. Istdieser Schritt der topologischen Abstraktion einmal getan, werden die Grundbegriffe besserverstandlich und mit ihnen zu arbeiten wird leichter.

Die Analysis ist gepragt durch das Aufeinandertreffen von Arithmetik und Topologie,von konkreten Rechnungen und abstrakten Uberlegungen, in deren Mittelpunkt der Grenz-wertbegriff steht.

0.0.4. Bevor wir beginnen. Kommen Sie nicht in Versuchung, zu glauben, dass esausreicht, sich beim Studieren auf die rechnerischen Aspekte der Analysis zu beschranken.Ihre wichtigste Aufgabe ist es, die theoretischen Grundbegriffe gut zu verstehen und sie inBeweisen anwenden zu konnen. Lernen Sie nichts auswendig, sondern bemuhen Sie sich zuverstehen.

Es ist in diesem Kurs nicht moglich, das Semester auch nur ein paar Wochen ohne inten-sive Arbeit vorruber ziehen zu lassen, um dann vor der Prufung punktuell den versaumtenStoff nachzuholen. Der Stoff ist aufbauend. Sie mussen theoretische Konzepte verinnerlichenund sich mit ihnen aktiv auch im Rahmen der Ubungen auseinandersetzen, um Sicherheitzu gewinnen. Das erfordert viel Zeit. Ein oder zwei Vorlesungen zu versaumen und den Stoffnicht nachzuholen, kann bereits dazu fuhren, dass Sie den Anschluss verlieren.

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KAPITEL 1

Zahlen und Folgen

1.1. Konstruktion und Axiomatik

Von der Schule kommend mussen wir uns davon verabschieden, Zahlen als etwas bloßNaturgegebenes zu behandeln. Jeder weiß zwar, wie man Schafe zahlt, 1, 2, 3,. . . , aber wasist diese Eins, was ist dieser Zweier? Im Alltagsgebrauch ist es nicht notwendig, den Begriffeiner Zahl zu prazisieren, aber in der hoheren Mathematik hat sich eine rein anschaulicheHerangehensweise als nicht praktikabel erwiesen. Wenn wir ohne klare Definitionen komplexeMathematik betreiben wollen, entstehen schnell Missverstandnisse und Widerspruche.

Naturliche, ganze, rationale, relle und komplexe Zahlen sowie ihre grundlegenden Ei-genschaften sind Stoff der Lehrveranstaltung “Einfuhrung in das mathematische Arbeiten”.Die Konstruktionen der Zahlen werden in dieser Einfuhrung in die Analysis in kurzgefassterForm dargestellt und nur einzelne Punkte genauer besprochen. Fur eine ausfuhrlichere Dar-stellung sei auf [11, Kapitel 6] verwiesen. Auch die im Folgenden erwahnten Axiomensystemekonnen dort nachgelesen werden.

Die Zahlenbereiche benotigen keine axiomatische Grundlegung, sondern werden aufMengenlehre und Pradikatenlogik aufgebaut und danach axiomatisch charakterisiert. Wich-tig sind vor allem die Peano-Axiome der naturlichen Zahlen sowie die Axiome eines vollstandiggeordneten Korpers fur die reellen Zahlen.

1.2. Naturliche Zahlen

Das Fundament, auf das wir aufbauen, besteht aus Mengenlehre und Logik. Mengen wer-den heute meistens durch das sogenannte Zermelo-Fraenkelsche Axiomensystem eingefuhrt,welches Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelt wurde.

Die leere Menge, die mit { } oder ∅ bezeichnet wird, ist ein Urteilchen der hoherenMathematik. Das Unendlichkeitsaxiom ist eines der Zermelo-Fraenkelschen Axiome und be-sagt, dass es eine Menge M gibt, die die leere Menge als Element enthalt, und die mit jedemihrer Elemente x auch die Menge x∪{x} enthalt. Eine Menge, die das Unendlichkeitsaxiomerfullt, enthalt die leere Menge ∅ und somit auch ∅ ∪ {∅} = {∅}. Da sie {∅} enthalt, musssie nach dem Unendlichkeitsaxiom auch {∅} ∪ {{∅}} = {∅, {∅}} enhalten, usw. Die Mengeder naturlichen Zahlen inklusive der Null ist definiert als der Durchschnitt aller Mengen,die das Unendlichkeitsaxiom erfullen:

N0 := {∅, {∅}, {∅, {∅}}, {∅, {∅}, {∅, {∅}}}, . . .},

das ist die Menge die nur das enthalt, was sie enthalten muss um das Unendlichkeitsaxiomzu erfullen - und nicht mehr. Fur x in N0 heißt x ∪ {x} der Nachfolger von x, er wird mitx′ bezeichnet.

Definition 1.2.1. Die Abbildung + : N0 × N0 → N0 ist rekursiv gegeben durch

(1.2.1.1) +(x, ∅) = x und

(1.2.1.2) +(x, y′) = +(x, y)′.

Den Elementen von N0 geben wir Namen. Wir schreiben 0 statt ∅, 1 statt 0′ = {∅},2 statt 0′′ = {∅, {∅}}, 3 statt 0′′′ = {∅, {∅}, {∅, {∅}}} usw. Außerdem schreiben wir x + y

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8 1. ZAHLEN UND FOLGEN

statt +(x, y). Also entspricht (1.2.1.1) der Identitat x + 0 = x und (1.2.1.2) entsprichtx+ (y + 1) = (x+ y) + 1 bzw. x+ y′ = (x+ y)′.

Wieviel ist 1 + 1 bzw. +(0′, 0′)? Aus (1.2.1.2) folgt +(0′, 0′) = +(0′, 0)′ und (1.2.1.1)impliziert +(0′, 0)′ = (0′)′ = 0′′ = 2. Also ist 1+1 = 2. Es ist 0′′ nur eine andere Schreibweisefur (0′)′, das ist also der Nachfolger des Nachfolgers von 0, den wir mit 2 bezeichnen.

Die Multiplikation naturlicher Zahlen wird uber wiederholte Addition definiert. Kom-mutativitat und Distributivgesetze lassen sich Induktiv zeigen, was wir aus Zeitgrundennicht durchfuhren wollen.

Die Multiplikation naturlicher Zahlen ergibt sich durch wiederholte Addition. Fur naturli-che Zahlen x, y schreiben wir x < y, wenn x ∈ y ist. Zum Beispiel ist 0 < 2 weil ∅ ∈ {∅, {∅}}ist. Diese Relation ist eine totale Ordnung auf N0.

Das Prinzip der vollstandigen Induktion lasst sich ebenfalls aus Axiomen der Mengen-lehre ableiten, insbesondere mithilfe des Unendlichkeitsaxioms: Wenn fur alle n ∈ N0 eineAussage A(n) die Aussage A(n+ 1) impliziert und die Aussage A(0) wahr ist, dann ist dieAussage A(n) fur alle n ∈ N0 wahr.

Die Peano-Axiome, welche die naturlichen Zahlen charakterisieren, sind etwas alter alsdie Zermelo-Fraenkelschen Axiome der Mengenlehre. Dass die oben mengentheoretisch ein-gefuhrten naturlichen Zahlen die Peano-Axiome erfullen, ist fur alle, die mit Mengen arbeitenwollen, ein zu beweisendes Theorem und nicht die Grundlegung der naturlichen Zahlen.

Beispiel 1.2.2 (Ubungsbeispiel 1). Zeigen Sie 3 + 2 = 5 bzw. +(0′′′, 0′′) = 0′′′′′ unterVerwendung der Definition der Addition naturlicher Zahlen.

1.2.3 (Theoriefrage 1). Was besagt das Unendlichkeitsaxiom und wie kann damit dieMenge der naturlichen Zahlen definiert werden?

1.3. Ganze Zahlen

Wir schreiben (a, b) ∼ (c, d), wenn a+ d = b+ c ist. Das ist eine Aquivalenzrelation aufN0 × N0.

Definition 1.3.1. Die Menge der ganzen Zahlen Z ist definiert als Quotientenmenge(N0×N0)/∼. Verknupfungen Summe ⊕ : Z×Z→ Z und Produkt � : Z×Z→ Z definierenwir durch

[(a, b)]⊕ [(c, d)] := [(a+ c, b+ d)],

[(a, b)]� [(c, d)] := [(ac+ bd, ad+ bc)].

Zum Beispiel entspricht die Aquivalenzklasse

{(0, 2), (1, 3), (2, 4), (3, 5), (4, 6), . . .}.der ganzen Zahl -2 in unserem naturlich-anschaulichen Zahlenverstandnis. Die Zahl 3 ent-spricht z.B. [(3, 0)] oder [(5, 2)]. Die Summe 3 + (−2) ist formal [(5, 2)] ⊕ [(0, 2)] = [(5, 4)].Der Aquivalenzklasse [(5, 4)] entspricht die Zahl 1 in unserer Anschauung. Die Definitiondes Produkts wird verstandlicher durch die Identitat

ac+ bd− ad− bc = (a− b)(c− d).

Um zu zeigen, dass die Summe von [(a, b)] und [(c, d)] wohl definiert ist, muss gezeigt wer-den, dass [(a + c, b + d)] nicht von der Wahl der Reprasentanten (a′, b′) ∈ [(a, b)] und(c′, d′) ∈ [(c, d)] abhangt. Es seien also (a′, b′) ∈ [(a, b)] und (c′, d′) ∈ [(c, d)] zwei beliebigeReprasentanten. Wegen (a′, b′) ∼ (a, b) und (c′, d′) ∼ (c, d) ist a′+b = a+b′ und c′+d = d′+c.Daraus folgen a′ + c′ + b + d = a + c + b′ + d′ und somit (a + c, b + d) ∼ (a′ + c′, b′ + d′)und [(a + c, b + d)] = [(a′ + c′, b′ + d′)]. Also erhalten wir unabhangig von der Wahl derReprasentanten immer die gleiche Summe, was zu zeigen war.

Ganze Zahlen mit einem Reprasentanten (n, 0), n ∈ N, nennen wir positiv, die mit einemReprasentanten (0, n) negativ und die ganze Zahl, die (0, 0) enthalt, nennen wir die Null.

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1.4. ZUR KONSTRUKTION DER ZAHLENBEREICHE 9

Fur zwei naturliche Zahlen m, n ist [(m, 0)] ⊕ [(n, 0)] = [(m + n, 0)]. Das heißt, wenn wirnaturliche Zahlen n durch [(n, 0)] ersetzen und die Addition + der naturlichen Zahlen durchdie Addition ⊕ der ganzen Zahlen ersetzen, sehen wir, dass die naturlichen Zahlen zusammenmit ihrer Addition sich als Teil der ganzen Zahlen darstellen lassen. Im Folgenden betrachtenwir N0 daher als Teilmenge von Z und schreiben auch + und · statt ⊕ und �. Wir haltenfest, dass (Z,+, ·) ein Ring ist, ohne alle Rechengesetze zu uberprufen.

Die Ordnung der ganzen Zahlen konstruieren wir mithilfe der Ordnung der naturlichenZahlen, indem wir [(a, b)] < [(c, d)] schreiben, falls a+ d < b+ c ist.

Beispiel 1.3.2 (Ubungsbeispiel 2). Zeigen Sie x ·2 = x+x, fur alle x ∈ Z bzw. [(2, 0)]�[(a, b)] = [(a, b)]⊕ [(a, b)] unter Verwendung der Definition von Addition und Multiplikationganzer Zahlen.

Beispiel 1.3.3 (Ubungsbeispiel 3). Zeigen Sie das Distributivgesetz fur ganze Zahlen,also

[(a, b)]� ([(c, d)]⊕ [(e, f)]) = [(a, b)]� [(c, d)]⊕ [(a, b)]� [(e, f)],

fur alle [(a, b)], [(c, d)] und [(e, f)] in Z.

1.3.4 (Theoriefrage 2). Wie ist die Menge der ganzen Zahlen definiert? Definieren SieAddition und Multiplikation ganzer Zahlen und zeigen Sie, dass die Addition wohl definiertist.

1.4. Zur Konstruktion der Zahlenbereiche

Bevor wir weitere Zahlenbereiche definieren, wollen wir das Prinzip beschreiben, das hin-ter diesen Konstruktionen steht. Ganze Zahlen sind Aquivalenzklassen von Paaren naturli-cher Zahlen. Naturliche Zahlen werden also verwendet, um Ganze Zahlen zu konstruieren,gleichzeitig sehen wir naturliche Zahlen auch als ganze Zahlen an. Welche ist nun die rich-tige naturliche Zahl 2, jene Zahl 2 = {∅, {∅}}, die wir durch das Unendlichkeitsaxiom ausder Mengenlehre erhalten haben, oder die Aquivalenzklasse [(2, 0)] = [({∅, {∅}}, {})], die einElement von Z ist?

Die fur uns relevanten Zahlenbereiche N, Z, Q, R und C konnen alle axiomatisch charak-terisiert werden, siehe [11, Kapitel 6]. Das heißt, sie erfullen jeweils eine Liste an Axiomenund je zwei Zahlenbereiche, die diese Axiome erfullen, sind zueinander isomorph in dem Sinn,dass sie strukturell gleich sind. Isomorphe Zahlenbereiche sind bis auf die Bezeichnung ihrerElemente gleich. Formal: Wenn +1 : M1×M1 →M1 und +2 : M2×M2 →M2 zwei Abbildun-gen (Verknupfungen) sind, dann nennen wir (M1,+1) und (M1,+2) isomorph, wenn es eineBijektion f : M1 →M2 gibt, fur die x+1 y = z genau dann gilt, wenn f(x) +2 f(y) = f(z)ist.

Es sei N = N0 \ {0} = {1, 2, 3, . . .} und Z+ = {[(n, 0)] ∈ Z | n ∈ N}. Dann ist

f : N→ Z+, n 7→ [(n, 0)],

ein Isomorphismus (N,+)→ (Z+,⊕), weil

k +m = n ⇐⇒ [(k, 0)]⊕ [(m, 0)] = [(n, 0)].

Strukturell sind (N,+) und (Z+,⊕) also gleich, nur ihre Elemente sehen anders aus. Da wiruns nur fur die strukturellen (algebraischen) Eigenschaften der Zahlenbereiche interessierenund nicht fur das Aussehen ihrer Elemente, sprechen wir auch nicht von diesen und jenennaturlichen Zahlen, sondern nur von den naturlichen Zahlen.

Andere Axiomensyteme sind hingegen so formuliert, dass sie moglichst allgemein gehal-ten sind, das heißt, dass sie moglichst viele Mengen umfassen. Beispiele sind die Axiomen-systeme fur Halbgruppen, Gruppen, Ringe oder Korper. Die ganzen Zahlen zusammen mitihrer Addition bilden zum Beispiel eine Gruppe. Es gibt jedoch noch viele andere Grup-pen, die sich strukturell wesentlich voneinander unterscheiden. Sich mit diesen Gruppen zubefassen, ist eine eigene wichtige Teildisziplin der Mathematik: die Gruppentheorie.

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10 1. ZAHLEN UND FOLGEN

Die naturlichen Zahlen sind ein Beispiel einer Halbgruppe, die ganzen Zahlen mit ihrerAddition und Multiplikation sind ein Beispiel eines Rings und die rationalen, reellen undkomplexen Zahlen sind Beispiele von Korpern, vergleiche [11, Kapitel 5].

1.4.1 (Theoriefrage 3). Was bedeutet es, dass (Z+,⊕) und (N,+) isomorph sind?

1.5. Rationale Zahlen

Wir schreiben ab statt a · b fur ganze Zahlen a, b und (a, b) ≈ (c, d), wenn ad = cb.

Lemma 1.5.1. Die Relation ≈ auf Z× N ist eine Aquivalenzrelation.

Beweis. Reflexivitat und Symmetrie sind klar. Angenommen, es ist (a, b) ≈ (c, d) und(c, d) ≈ (e, f), also ad = cb und cf = ed. Dann ist adf = cbf , cfb = edb und daher adf = edb,woraus af = eb bzw. (a, b) ≈ (e, f) folgt. Das heißt, die Relation ist auch transitiv. �

In diesem Beweis haben wir nur mit ganzen Zahlen gerechnet. Daher durfen wir keineDivision verwenden.

Die Menge der rationalen Zahlen definieren wir als

Q := (Z× N)/≈ .Statt (a, b) schreiben wir auch

a

boder a/b.

Zum Beispiel sind1

2und

3

6

Elemente der selben ≈-Aquivalenzklasse. Es ist (1, 2) 6= (3, 6) aber [(1, 2)] = [(3, 6)]. Manbeachte, dass per Definition die Nenner dieser Bruche stets positiv sind.

Lemma 1.5.2. Jede rationale Zahl enthalt genau ein Paar (x, y) mit ggT(x, y) = 1.Umgekehrt, wenn ggT(x, y) = 1 und (x, y) ≈ (a, b), dann gibt es ein n ∈ N0, sodass (a, b) =(nx, ny).

Beweis. Es sei q eine rationale Zahl und (a, b) ∈ q. Wenn wir a und b in ihrer eindeu-tigen Primfaktorzerlegung (siehe [11, Satz 5.3.45]) anschreiben und gemeinsame Faktorenstreichen, erhalten wir (x, y) mit ggT(x, y) = 1.

Es sei (x′, y′) ein beliebiges Paar in q mit ggT(x′, y′) = 1. Aus (x, y) ≈ (x′, y′) folgtxy′ = x′y. Jeder Primfaktor von y′ teilt y, weil er x′ nicht teilt, folglich ist y′|y. Umgekehrtfolgt mit dem gleichen Argument y|y′. Da y und y′ naturliche Zahlen sind, ist y = y′. Somitist auch x = x′. Also ist (x, y) = (x′, y′) und (x, y) eindeutig.

Es sei ggT(x, y) = 1 und (x, y) ≈ (a, b). Aus (x, y) ≈ (a, b) folgt xb = ay und ggT(x, y) =1 impliziert x|a und y|b. Also gibt es naturliche Zahlen m,n mit a = mx und b = ny. In xb =ay eingesetzt ergibt das nxy = mxy und daher m = n beziehungsweise (a, b) = (nx, ny). �

Die Verknupfung � : Q×Q→ Q sei definiert durch

[(a, b)] � [(c, d)] := [(ad+ bc, bd)]

Es ist zu zeigen, dass diese Abbildung wohl definiert ist, dass also die Wahl des Reprasen-tanten der Aquivalenzklasse keine Auswirkung auf das Ergebnis der Verknupfung hat. NachLemma 1.5.2 gibt es (a′, b′) ∈ [(a, b)] und (c′, d′) ∈ [(c, d)] mit

ggT(a′, b′) = ggT(c′, d′) = 1,

(a, b) = (ma′,mb′) und (c, d) = (nc′, nd′). Die Gleichung

[(a, b)] � [(c, d)] = [(ad+ bc, bd)] = [(ma′nd′ +mb′nc′,mb′nd′)] =

[(mn(a′d′ + b′c′),mn(b′d′))] = [(a′d′ + b′c′, b′d′)] = [(a′, b′)] � [(c′, d′)]

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1.5. RATIONALE ZAHLEN 11

besagt, dass die Verknupfung � fur beliebige Reprasentanten (a, b), (c, d) immer dasselbeErgebnis wie die eindeutig bestimmten relativ primen Reprasentanten (a′, b′), (c′, d′) liefert.Somit ist die Wahl der Reprasentanten (a, b), (c, d) unerheblich und die Verknupfung wohldefiniert.

Wenn wir z.B. von der rationalen Zahl 23 sprechen, meinen wir deren Aquivalenzklasse.

Wir schreiben2

3=

4

6

und meinen damit, dass die Aquivalenzklassen dieser Bruche ident sind, auch wenn (2, 3)und (4, 6) verschiedene Elemente von Z× N sind. Statt

−1

2kann − 1

2

geschrieben werden, auch wenn dieser Ausdruck nicht die Form

a

b

mit a ∈ Z und b ∈ N hat.Aus der Ordnungsrelation auf Z erhalten wir eine Ordnungsrelation auf Q, indem wir

[(a, b)] ≤ [(c, d)] schreiben, falls ad ≤ bc ist. Fur diese Relation auf Q muss gezeigt werden,dass sie wohl definiert ist und die Axiome einer Ordnungsrelation erfullt. Die rationalenZahlen bilden mit ihrer Addition, ihrer Multiplikation und dieser Ordnungsrelation einengeordneten Korper, siehe [11, Kapitel 6.3].

Definition 1.5.3. Wir sagen, dass zwei Mengen gleich machtig sind, bzw. gleich vieleElemente haben, wenn sie bijektiv aufeinander abgebildet werden konnen. Eine Menge heißtunendlich abzahlbar wenn sie gleich viele Elemente wie N hat und abzahlbar, wenn sie endlichoder unendlich abzahlbar ist.

Anschaulich ist eine Menge abzahlbar, wenn alle ihre Elemente in einer Reihe aufge-schrieben werden konnen: Es wird ein erstes Element gewahlt, dann ein zweites, drittes usw.und zwar so, dass jedes Element der Menge in dieser Aufzahlung einmal vorkommt. DieBijektion bildet das erste Element der Aufzahlung auf die naturliche Zahl 1 ab, das zweiteauf die Zahl 2 ab usw.

Satz 1.5.4. Die Mengen Z und Q sind abzahlbar.

Beweis. Die ganzen Zahlen konnen abgezahlt werden durch

0, 1,−1, 2,−2, 3,−3, . . .

Die ganzzahligen Bruche ordnen wir nach folgendem Diagonalschema an, wobei kurzbareBruche weggelassen werden. Die verbleibenden nicht kurzbaren Bruche sind Reprasentantender positiven rationalen Zahlen.

1/1 → 1/2 1/3 → 1/4 1/5 →↙ ↗ ↙ ↗

2/1 2/2 2/3 2/4↓ ↗ ↙ ↗

3/1 3/2 3/3↙ ↗

4/1 4/2↓ ↗

5/1

Nehmen wir die Null und die negativen Zahlen hinzu, erhalten wir folgende Abzahlungder rationalen Zahlen Q (bzw. ihrer gekurzten Reprasentanten):

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12 1. ZAHLEN UND FOLGEN

0,1

1, −1

1,

1

2, −1

2,

2

1, −2

1,

3

1, −3

1,

1

3, −1

3,

1

4, −1

4,

2

3, −2

3, . . .

Beispiel 1.5.5 (Ubungsbeispiel 4). Zeigen Sie, dass die Verknupfung � : Q × Q → Qmit

[(a, b)] � [(c, d)] := [(ac, bd)]

wohl definiert ist.

Beispiel 1.5.6 (Ubungsbeispiel 5). Zeigen Sie, dass es fur jede nicht leere endliche MengeM eine Bijektion zwischen der Menge der Teilmengen von M mit gerader Machtigkeit undder Menge der Teilmengen von M mit ungerader Machtigkeit gibt.

Beispiel 1.5.7 (Ubungsbeispiel 6). Es sei M eine nicht leere Menge und F die Mengealler Funktionen M → {0, 1}. Zeigen Sie, dass es keine Bijektion zwischen M und F gebenkann und leiten Sie daraus ab, dass die Potenzmenge einer Menge stets mehr Elemente alsdie Menge selbst hat.

Hinweis: Angenommen es gabe eine Bijektion f : M → F , dann betrachten Sie dieFunktion g : M → {0, 1}, die jedes m ∈M abbildet auf

g(m) =

{1, falls f(m)(m) = 0

0, falls f(m)(m) = 1.

1.5.8 (Theoriefrage 4). Konstruieren Sie die Menge der rationalen Zahlen aus den gan-zen und den naturlichen Zahlen uber eine Relation. Zeigen Sie, dass diese Relation eineAquivalenzrelation ist. Definieren Sie Addition und Multiplikation rationaler Zahlen.

1.5.9 (Theoriefrage 5). Zeigen Sie, dass Q abzahlbar ist.

1.6. Folgen

Definition 1.6.1. Ein Folge in einer Menge ist eine Abbildung von den naturlichenZahlen in diese Menge.

Eine Folge f : N→M bezeichnet man oft mit (xn)n∈N, wobei xn = f(n) ist. Wir nennenf(n) = xn das n-te Folgenglied und n den Index von xn. Wenn klar ist, dass die Folge denIndex n hat und dieser N durchlauft, dann schreiben wir auch kurz (xn) statt (xn)n∈N.

Beispiel 1.6.2.

1. Es ist f : N→ Z mit f : n 7→ 2n− 3 eine Folge in Z. Die alternative Schreibweiseist (2n− 3)n∈N. Gliedweise angeschrieben ist diese Folge

−1, 1, 3, 5, 7, . . .

2. Die Folge f : N→ Q mit f : n 7→ (−1)n3n ist in den anderen Schreibweisen ( (−1)n

3n )n∈Nbzw.

−1

3,

1

6,−1

9,

1

12, . . .

3. Fur M = { D, 7,♥, ∗} ist f : N→M mit

f(n) =

{ D n = 1, 2

♥ n ≥ 3

eine Folge in M . Gliedweise angeschrieben ergibt das

D, D,♥,♥,♥,♥,♥, . . .

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1.6. FOLGEN 13

Definition 1.6.3. Ein Folge (xn)n∈N ist konstant, wenn xm = xn fur alle m und n ist.Ein rationale Folge heißt nach oben (bzw. nach unten) beschrankt, wenn es eine rationale

Zahl c gibt, sodass xn ≤ c (bzw. c ≤ xn) fur alle n in N ist. Eine Folge heißt beschrankt,wenn die Folge ihrer Betrage (|xn|)n∈N nach oben beschrankt ist.

Die Folge (xn)n∈N heißt monoton steigend (bzw. monoton fallend) wenn xn ≤ xn+1

(bzw. xn ≥ xn+1) ist fur alle n ∈ N. Eine Folge, die entweder monoton steigend odermonoton fallend ist, heißt monoton. Gilt < statt ≤ oder > statt ≥, nennen wir die Folgestreng monoton.

Fur eine (Vorzeichen-)alternierende Folge (xn)n∈N gilt entweder x2n > 0 und x2n+1 < 0fur alle n oder x2n < 0 und x2n+1 > 0.

Wir sagen, dass (xn)n∈N eine Eigenschaft ab einer Stelle (oder ab einem Index ) hat,wenn es ein N ∈ N gibt, sodass die Folge

(xn)n≥N = xN , xN+1, xN+2, . . .

diese Eigenschaft hat. Fast alle Elemente einer Menge sind alle Elemente bis auf endlichviele.

Anstatt zu sagen, eine Folge habe eine Eigenschaft ab einer Stelle, konnen wir auchsagen, dass fast alle ihre Glieder diese Eigenschaft haben.

Die erste Folge in Beispiel 1.6.2 ist streng monoton steigend, sie ist nach unten, jedochnicht nach oben beschrankt. Die zweite Folge ist alternierend, beschrankt und nicht monoton.Fur die dritte Folge macht es keinen Sinn, nach Monotonie oder Beschranktheit zu fragen,da unsere entsprechenden Definitionen nur fur Folgen rationaler Zahlen gelten. Diese Folgeist aber ab einer Stelle konstant.

Folgen werden sowohl als Abbildung als auch als Menge ihrer Bildpunkte betrachtet,also ohne die Indices der Folgenglieder zu berucksichtigen. Zum Beispiel sagen wir “DieFolge ( 1

n )n∈N ist in [0, 1] enthalten” wobei die Folge als Abbildung ja keine Teilmenge desEinheitsintervalls [0, 1] ist, sondern die Menge ihrer Bildpunkte

{1, 1

2,

1

3,

1

4, . . .}

in [0, 1] enthalten ist. Diese Ungenauigkeit in der Terminologie akzeptieren wir, solangedadurch keine Missverstandnisse entstehen.

Eine Abbildung N0 →M bezeichnen wir ebenfalls als Folge. Manchmal ist es praktischer,Folgenglieder mit x0, x1, x2 . . . zu bezeichnen anstatt mit x1, x2, x3 . . .

Beispiel 1.6.4 (Ubungsbeispiel 7). Finden Sie rekursive Darstellungen (mit Anfangs-bedingung) und explizite Darstellungen der Folgen

(1) 5, 7, 9, 11, 13, 15 . . .

(2) −2, 1,− 12 ,

14 ,−

18 ,

116 ,−

132 , . . .

(3) 4, 1, 0, 1, 4, 9, 16, 25, 36, . . .

Beispiel 1.6.5 (Ubungsbeispiel 8). Ist die Folge (xn) mit

xn =n− 1

n2 + 2

ab einer Stelle monoton oder alternierend? Wenn ja, ab welcher Stelle? Ist die Folge be-schrankt? Hinweis: Berechnen Sie die ersten Glieder der Folge, leiten Sie daraus Vermutun-gen ab und beweisen Sie diese Vermutungen dann.

Beispiel 1.6.6 (Ubungsbeispiel 9). Eine rationale Folge ist rekursiv gegeben durchxn+1 = xn

2 + 1.

(1) Fur welche Werte von x0 ist diese Folge monoton steigend, monoton fallend, kon-stant, beschrankt bzw. alternierend?

(2) Bestimmen Sie xn explizit (nur in Abhangigkeit von x0).

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14 1. ZAHLEN UND FOLGEN

Beispiel 1.6.7 (Ubungsbeispiel 10). Wie Ubungsbeispiel 9 nur mit xn+1 = −2xn + 1.

Beispiel 1.6.8 (Ubungsbeispiel 11). Die Fibonacci-Zahlen sind rekursiv definiert durchF0 = 0, F1 = 1 und Fn = Fn−1 + Fn−2. Es sei

xn =Fn+1

Fn.

Bestimmen Sie das Monotonieverhalten der Folgen (x2n)n∈N0und (x2n+1)n∈N0

.Hinweis: Berechnen Sie die ersten Werte und leiten Sie daraus eine Vermutung ab. Diesebeweisen Sie dann z.B. indem sie die Rekursionsgleichung im Zahler der Folgenglieder an-wenden. Sollten Sie bereits etwas uber Konvergenz von Folgen wissen: Das werden wir auchfur diese Folge zu einem spateren Zeitpunkt behandeln.

1.6.9 (Theoriefrage 6). Was ist eine Folge? Was bedeutet es, dass eine Folge eine Eigen-schaft ab einer Stelle besitzt? Stellen Sie zu gegebenen Folgen fest, ob diese ab einer Stellekonstant, beschrankt, alternierend oder (streng) monoton steigend bzw. fallend sind.

1.7. Konvergenz und geometrische Folgen

Mit Q+ bezeichnen wir die Menge der positiven rationalen Zahlen {x ∈ Q | x > 0}.Der folgende Hilfssatz ist sehr einfach. Wir formulieren ihn trotzdem als solchen, weil erinsbesondere fur die axiomatische Charakterisierung der reellen Zahlen, welche wir nochnicht definiert haben, wichtig ist.

Lemma 1.7.1 (Archimedische Eigenschaft der rationalen Zahlen).Fur alle ε ∈ Q+ gibt es ein n ∈ N mit 1

n < ε. Fur alle x, y ∈ Q+ gibt es ein n ∈ N, sodassnx > y ist.

Beweis. Es sei ε = ab aus Q+. Dann ist fur n = b + 1 die erste Ungleichung 1

n < ε

erfullt. Insbesondere gibt es also fur ε = xy ein n ∈ N mit 1

n < xy und somit auch y < nx,

wodurch auch die zweite Ungleichung gezeigt ist. �

Wir definieren n0 = 1 fur alle n ∈ N0. Potenzen mit Exponenten aus N ergeben sich ausder Definition der Multiplikation.

Satz 1.7.2 (Ungleichung von Bernoulli). Wenn x ∈ Q, x ≥ −1, und n ∈ N0, dann ist

(1 + x)n ≥ 1 + nx.

Beweis. Wir beweisen die Aussage mit Induktion nach n. Fur n = 0 erhalten wir 1 ≥ 1und somit ein wahre Aussage. Nach der Induktionsannahme (I.A.) ist die Ungleichung furn erfullt; dann ist

(1 + x)n+1 = (1 + x)n(1 + x) I.A.≥ (1 + nx)(1 + x)

= 1 + (n+ 1)x+ nx2 ≥ 1 + (n+ 1)x,

womit der Indutionsschritt von n nach n+ 1 bewiesen ist. �

Definition 1.7.3. Ein offenes rationales Intervall ist eine Menge der Form

(a, b) := {x ∈ Q | a < x < b}oder

(a,∞) := {x ∈ Q | a < x} bzw. (−∞, b) := {x ∈ Q | x < b}.Ein abgeschlossens rationales Intervall ist ein Menge

[a, b] := {x ∈ Q | a ≤ x ≤ b}.Eine Umgebung in Q einer rationalen Zahl a in Q ist eine Menge U ⊂ Q, fur die es einε ∈ Q+ gibt, sodass (a− ε, a+ ε) in U enthalten ist.

Eine Menge rationaler Zahlen heißt offen, wenn sie Umgebung jedes ihrer Punkte ist.

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1.7. KONVERGENZ UND GEOMETRISCHE FOLGEN 15

Beispiel 1.7.4. Jedes offene Intervall I ist Umgebung in Q jedes seiner Punkte, dennwenn ε der kleinere der Abstande von x zu den Randpunkten von I ist, dann ist ε > 0,x ∈ (x − ε, x + ε) ⊂ I und (x − ε, x + ε) eine Umgebung von x in I. Ein abgeschlossenesIntervall [a, b] ist Umgebung aller Punkte aus (a, b), aber keine Umgebung der Randpunktea und b. Eine Menge ganzer Zahlen ist keine Umgebung in Q irgendeines ihrer Punkte.

Lemma 1.7.5. Eine Menge rationaler Zahlen ist genau dann offen, wenn sie eine Verei-nigung von offenen Intervallen ist.

Beweis. Es sei O ⊂ Q Umgebung jedes ihrer Punkte. Fur jedes x ∈ O gibt es einε(x) > 0 mit (x− ε(x), x+ ε(x)) ⊂ O. Dann ist

O =⋃x∈O

(x− ε(x), x+ ε(x))

und somit eine Vereinigung offener Intervalle.Umgekehrt, wenn O ⊂ Q eine Vereinigung offener Intervalle ist, gibt es fur jedes x ∈ O

eines dieser Intervalle I mit x ∈ I ⊂ O und dieses I ist nach Beispiel 1.7.4 eine Umgebungvon x in O. �

Definition 1.7.6. [Konvergenz einer Folge – topologische Formulierung]Eine Folge konvergiert gegen einen Punkt, wenn sie in jeder offenen Umgebung des Punktesab einer Stelle enthalten ist. So ein Punkt heißt Grenzwert oder Limes der Folge.

Wenn x Grenzwert der Folge (xn)n∈N ist, schreiben wir

limn→∞

xn = x,

oder wenn klar ist, welcher der Index ist, dann auch limxn. Wenn wir limxn = x schreiben,ohne das weiter zu kommentieren, dann sind damit zwei Aussagen gemeint: Erstens, dassdie Folge (xn)n∈N konvergent ist und zweitens, dass ihr Grenzwert x ist.

Gelegentlich sagt man auch, die Folge (xn)n∈N geht gegen x. Folgen, die nicht konvergentsind, heißen divergent.

Die Folge, der Grenzwert und die Umgebungen mussen in einer vorher festgelegtenGrundmenge liegen. Was unter einer offenen Menge zu verstehen ist, hangt von der Grund-menge ab. In Q sind das offene Intervalle, in der Ebene offene Kreisscheiben (ohne Rand).Die allgemeinste Definition einer Umgebung findet sich in der Topologie. Dort werden of-fene Umgebungen uber allgemeine offene Mengen definiert, die bestimmte Axiome erfullenmussen.

Verbreitet in der Literatur ist folgende Definition, die fur rationale Folgen aquivalent zuDefinition 1.7.6 ist.

Definition 1.7.7. [Konvergenz einer Folge – ε-Formulierung]Eine Folge (xn)n∈N rationaler Zahlen konvergiert gegen x ∈ Q, wenn es fur alle ε > 0 einn0 ∈ N gibt, sodass |xn − x| < ε fur alle n ≥ n0.

Satz 1.7.8. Eine Folge rationaler Zahlen hat hochstens einen Grenzwert.

Beweis. Angenommen (xn)n∈N hat zwei verschiedene Grenzwerte a und b, wobei wirmit a den großeren der Grenzwerte bezeichnen. Dann sind(

b− a− b2

, b+a− b

2

)und

(a− a− b

2, a+

a− b2

)zwei disjunkte Umgebungen dieser Grenzwerte; siehe Abbildung 1. Eine Folge kann abernicht ab einer Stelle in einer Menge und zugleich ab einer Stelle in einer dazu disjunktenMenge liegen. Daher fuhrt die Annahme, dass es zwei verschiedene Grenzwerte gibt, aufeinen Widerspruch. �

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16 1. ZAHLEN UND FOLGEN

( )( )a−b2

ba−b2

a−b2

aa−b2

Abbildung 1. Eindeutigkeit des Grenzwerts

Definition 1.7.9. Eine Folge, die gegen 0 konvergiert, heißt Nullfolge. Die Folge ( 1n )n∈N

heißt harmonische Folge und (qn)n∈N0geometrische Folge.

Beispiel 1.7.10 (Konvergente rationale Folgen).(1) Eine Folge, die ab einer Stelle konstant ist, ist konvergent.(2) Die harmonische Folge ist eine Nullfolge.(3) Fur |q| < 1 ist die geometrische Folge (qn)n∈N0

eine Nullfolge.

Beweis. Die Konvergenz einer Folge, die ab einer Stelle konstant ist, folgt unmittelbaraus der Definition der Konvergenz.

In jedem Intervall (−ε, ε) liegt die harmonische Folge ab einer Stelle, siehe dazu Lem-ma 1.7.1.

Fur q 6= 0 sei x = 1|q| − 1, also |q| = 1

1+x . Wegen |q| < 1 ist x > 0. Nach der Ungleichung

von Bernoulli (Satz 1.7.2) gilt

|q|n =1

(1 + x)n≤ 1

1 + nx

fur alle n ∈ N0. Es sei (−ε, ε) eine beliebig kleine Umgebung von 0. Die Ungleichung

1

1 + nx< ε

ist aquivalent zu1− εεx

< n.

Fur alle n > 1−εεx ist also

|q|n =1

(1 + x)n≤ 1

1 + nx< ε.

Daher ist die Folge (|q|n)n∈N0fur jedes ε > 0 ab einer Stelle in (−ε, ε), was zu zeigen war. �

Beispiel 1.7.11 (Ubungsbeispiel 12). Aus der Vorlesung wissen wir, dass eine Mengerationaler Zahlen genau dann offen ist, wenn sie eine Vereinigung von offenen Intervallen ist.Daher ist die Vereinigung von beliebig vielen offenen Mengen offen. Gilt dies auch fur denDurchschnitt? Wenn nicht, geben Sie eine Gegenbeispiel an.

Beispiel 1.7.12 (Ubungsbeispiel 13). Es sei

xn =n+ (−1)n

n+ 1

und

Ui = (1− 1

10i, 1 +

1

10i).

Finde fur i = 1, 2, 3 jeweils ein N(i), sodass xn ∈ Ui fur alle n ≥ N(i).Anmerkung: Die N(i) mussen nicht minimal gewahlt werden.

Beispiel 1.7.13 (Ubungsbeispiel 14). Zeigen Sie, dass die Folge (xn) mit

xn =

(1− 28

n2

)ngegen 1 konvergiert, indem Sie mit Ihren Argumenten von der Definition der Konvergenzausgehen. Hinweis: Beroulli-Ungleichung fur genugend große n.

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1.8. CAUCHY-FOLGEN UND GRENZWERTSATZE 17

Beispiel 1.7.14 (Ubungsbeispiel 15). Zeigen Sie, dass die Folge ((−1)n)n∈N nicht kon-vergent ist. Hinweis: Sie konnen z.B. einen indirekten Beweis fuhren, indem Sie eine Zahla als Grenzwert annehmen, dann ein geeignetes ε > 0 wahlen und einen Widerspruch zurDefinition der Konvergenz ableiten.

1.7.15 (Theoriefrage 7). Formulieren und beweisen Sie die Ungleichung von Bernoulli.

1.7.16 (Theoriefrage 8). Zeigen Sie, dass eine konvergente rationale Folge nur einenGrenzwert hat.

1.7.17 (Theoriefrage 9). Zeigen Sie die Konvergenz der geometrischen Folge (zum Bei-spiel mithilfe der Ungleichung von Bernoulli).

1.8. Cauchy-Folgen und Grenzwertsatze

Definition 1.8.1. Eine Folge rationaler Zahlen ist eine Cauchy-Folge, wenn fur allerationalen ε > 0 ab einer Stelle die Abstande der Folgenglieder zueinander kleiner als ε sind.

Formal: Es ist (xn)n∈N eine Cauchy-Folge, wenn es fur alle ε > 0 ein N ∈ N gibt, sodass|xm − xn| < ε fur alle n,m mit n,m ≥ N .

Satz 1.8.2. Jede konvergente Folge ist Cauchy-Folge.

Beweis. Um zu zeigen, dass eine gegen x konvergente Folge (xn)n∈N eine Cauchy-Folgeist, wahlen wir ein beliebiges ε > 0. Da die Folge konvergent ist, liegt sie ab einer Stelle in(x − ε/2, x + ε/2). Daher gilt auch |xm − xn| < ε ab dieser Stelle und die Folge ist somiteine Cauchy-Folge. �

Satz 1.8.3. Jede Cauchy-Folge ist beschrankt.

Beweis. Wenn (xn) eine Cauchy-Folge ist, gibt es ein N , sodass |xm − xn| < 1 fur allem,n ≥ N . Insbesondere ist |xm − xN | < 1 fur alle m ≥ N . Daraus folgt, dass die ganzeFolge in der beschrankten Menge

{x0, x1, . . . , xN−1} ∪ [xN − 1, xN + 1]

enthalten und somit selbst beschrankt ist. �

Korollar 1.8.4. Jede konvergente Folge ist beschrankt.

Satz 1.8.5. Wenn (xn) und (yn) konvergent sind, dann konvergieren auch (xn + yn)und (xnyn) und es ist

lim(xn + yn) = limxn + lim yn,(1.8.5.1)

lim(xnyn) = limxn lim yn.(1.8.5.2)

Beweis. Es sei x := lim(xn) und y := lim(yn). Fur jedes ε > 0 sind |(xn − x)| und|(yn − y)| ab einer Stelle kleiner als ε/2. Also ist ab einer Stelle

|(xn + yn)− (x+ y)| = |(xn − x) + (yn − y)| ≤ |(xn − x)|+ |(yn − y)| < ε

2+ε

2= ε.

Somit konvergiert (xn + yn) gegen den Grenzwert x+ y. Fur das Produkt der Folgen gehenwir ahnlich vor:

|xnyn − xy| = |xnyn − xny + xny − xy| = |xn(yn − y) + (xn − x)y|≤ |xn||yn − y|+ |xn − x||y|.

Letzterer Term geht mit wachsendem Index n gegen Null, weil |yn − y| und |xn − x| gegenNull gehen, weil |xn| beschrankt und y eine Konstante ist. Also ist auch |xnyn − xy| eineNullfolge und somit lim(xnyn) = xy.

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18 1. ZAHLEN UND FOLGEN

Wenn wir die Großen benennen, sieht dieser Beweis so aus: Nach Korollar 1.8.4 ist(xn)n∈N beschrankt. Daher ist auch (|xn|)n∈N von einer positiven Zahl c nach oben be-schrankt. Es sei K := max{c, y} und ε > 0 beliebig. Es gibt ein N sodass |yn− y| < ε/(2K)und |xn − x| < ε/(2K) fur alle n ≥ N . Nun ist

|xnyn − xy| ≤ |xn||yn − y|+ |xn − x||y| ≤ Kε

2K+K

ε

2K= ε

fur alle n mit n ≥ N und somit lim(xnyn) = xy. �

Korollar 1.8.6. Wenn lim(xn) = x und c eine Zahl ist, dann ist

lim(cxn) = cx.

Beweis. Fur yn := c folgt aus Satz 1.8.5:

lim(cxn) = lim(ynxn) = lim(yn) lim(xn) = lim(c) lim(xn) = cx.

Satz 1.8.7 (Sandwich-Theorem). Wenn lim(xn) = lim(zn) = a, und xn ≤ yn ≤ zn furfast alle n, dann ist auch lim(yn) = a.

Beweis. Fur jedes ε > 0 ist ab einer Stelle

a− ε < xn ≤ yn ≤ zn < a+ ε

und daher

−ε < yn − a < ε

beziehungsweise

|yn − a| < ε.

Somit ist lim yn = a. �

Lemma 1.8.8. Wenn lim(xn) = 0 und (yn) beschrankt ist, dann ist

lim(xnyn) = 0.

Beweis. Wenn a ≤ yn ≤ b fur alle n, dann ist axn ≤ xnyn ≤ bxn fur alle n. AusKorollar 1.8.6 folgen lim axn = 0 und lim bxn = 0. Nach dem Sandwich-Teorem 1.8.7 ist nunauch limxnyn = 0. �

Satz 1.8.9. Wenn (xn) und (yn) konvergent sind, yn 6= 0 fur alle n und lim(yn) 6= 0,dann ist

limxnyn

=limxnlim yn

.

Beweis. Es sei limxn = x und lim yn = y. Wir betrachten erst die Folge ( 1yn

)n∈N:∣∣∣∣ 1

yn− 1

y

∣∣∣∣ =

∣∣∣∣y − ynyny

∣∣∣∣ =1

|yn|︸︷︷︸beschr.

1

|y|︸︷︷︸konst.

|y − yn|︸ ︷︷ ︸→0

.

Der erste Faktor der rechten Seite ist beschrankt, der zweite konstant und der dritte strebtgegen Null. Nach Korollar 1.8.6 ist |y − yn|/|y| eine Nullfolge und nach Lemma 1.8.8 auchder ganze letztere Term, also strebt 1/yn gegen 1/y. Aus 1.8.5.2 folgt

lim(xn1

yn) = limxn lim

1

yn= x lim

1

yn,

was nach dem soeben Gezeigten gleich x/y ist. �

Beispiel 1.8.10 (Ubungsbeispiel 16). Ist die Folge (xn) konvergent? Wenn ja, wohinkonvergiert sie? Sie durfen Satz 1.8.5 und Korollar 1.8.6 verwenden.

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1.8. CAUCHY-FOLGEN UND GRENZWERTSATZE 19

(1) xn =(1− 4n2)2

(1 + 2n)(1− 2n)(4n+ 4)2

(2) xn =n3

(n+ 1)2

Beispiel 1.8.11. Fur Zahlen a0, a1, . . . , ak, b0, b1, . . . , bl, ak 6= 0, bl 6= 0, ist

limn→∞

a0 + a1n+ a2n2 + . . .+ akn

k

b0 + b1n+ b2n2 + . . . blnl=

{akbl

falls k = l,

0 falls k < l.

wobei wir annehmen, dass ak, bl und der ganze Nenner stets ungleich 0 sind.

Beweis. Wenn k = l, dann ist obiger Term gleich

(1.8.11.1)a0 + a1n+ a2n

2 + . . .+ aknk

b0 + b1n+ b2n2 + . . . bknk=

a0nk

+ a1nk−1 + a2

nk−2 + . . .+ ak−1

n + akb0nk

+ b1nk−1 + b2

nk−2 + . . .+ bk−1

n + bk.

Nach Beispiel 1.7.10.2 ist lim 1n = 0. Aus Satz 1.8.5.2 folgt

lim1

n2=

(lim

1

n

1

n

)=

(lim

1

n

)(lim

1

n

)= 0.

Mittels Induktion sehen wir, dass

limn→∞

1

ni= 0

ist fur alle naturlichen i ≥ 1. Nach Korollar 1.8.6 ist

limn→∞

ai1

ni= 0

und Satz 1.8.5.1 impliziert, dass der Zahler der rechten Seite der Gleichung 1.8.11.1 gegenak strebt und der Nenner gegen bk. Aus Satz 1.8.9 folgt schließlich die Aussage. �

Beispiel 1.8.12 (Ubungsbeispiel 17). Ist die Folge (xn) konvergent? Wenn ja, wohinkonvergiert sie? Verwenden Sie Lemma 1.8.8.

(1) xn =(−1)nn2

(n+ 3)3

(2) xn =(−1)nn

1 + n

Beispiel 1.8.13 (Ubungsbeispiel 18). Zeigen Sie, dass die Folge(n3/2n

)n∈N eine Null-

folge ist.Hinweis: Es folgt n3/2n ≤ 1/n aus n4 ≤ 2n. Zum Induktionsschritt: Fur ausreichend

große n, ist der Faktor, der n4 in (n+ 1)4 umwandelt, kleiner als 2.

1.8.14 (Theoriefrage 10). Zeigen Sie, dass jede konvergente Folge eine Cauchy-Folge istund dass jede Cauchy-Folge beschrankt ist.

1.8.15 (Theoriefrage 11). Zeigen Sie, dass der Grenzwert der Summe bzw. des Produkteszweier Folgen gleich der Summe bzw. dem Produkt der Grenzwerte ist.

1.8.16 (Theoriefrage 12). Zeigen Sie, dass der Grenzwert des Quotienten zweier Folgengleich dem Quotienten der Grenzwerte ist. Was muss fur die Folge im Nenner des Quotientenvorausgesetzt werden?

1.8.17 (Theoriefrage 13). Formulieren und beweisen Sie das Sandwich-Theorem.

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20 1. ZAHLEN UND FOLGEN

1.9. Intervallschachtelungen

Definition 1.9.1. Die Lange `(I) eines offenen Intervalls I = (a, b) oder abgeschlosse-nen Intervalls I = [a, b] ist definiert als |b−a|. Eine Folge von Mengen (Mn) heißt abnehmendeoder fallende Mengenfolge, wenn Mn ⊃Mn+1 ist fur alle n.

Eine abnehmende Mengenfolge abgeschlossener Intervalle heißt Intervallschachtelung,wenn ihre Langen gegen Null gehen. Eine Folge liegt in einer Intervallschachtelung, wenn siein jedem der Intervalle ab einer Stelle enthalten ist.

Beispiel 1.9.2. Die Folge (1/n)n∈N liegt in ([0, 1/2n])n∈N.

Um die Aussage des Beispiels zu beweisen, ist fast nichts zu zeigen; wir mussen beachten,dass nicht zweimal der selbe Buchtabe “n” verwendet werden darf, wenn der Index derIntervallschachtelung mit dem Index der Folge verglichen wird, denn das Folgenglied 1/nliegt nicht im Intervall [0, 1/2n]. Zum Beispiel liegt 1 nicht in [0, 1/2] und 1/2 nicht in [0, 1/4].

Beweis von Beispiel 1.9.2. Die Archimedische Eigenschaft fur rationale Zahlen (Lem-ma 1.7.1) impliziert, dass es fur alle ε = 1/2m ein N ∈ N gibt mit 1/N < ε. Fur alle n ≥ Ngilt also 1/n ∈ [0, 1/2m], das heißt, die Folge liegt in jedem der Intervalle [0, 1/2m] ab einerStelle. �

Satz 1.9.3. Eine Folge ist genau dann Cauchy-Folge, wenn sie in einer Intervallschach-telung liegt.

Beweis. Wir nehmen an, die Folge (xn)n∈N liegt in einer Intervallschachtelung (In)n∈N.Es sei ε > 0 beliebig und IN eines der Intervalle mit `(IN ) ≤ ε. Die Glieder xn liegen ab einerStelle in IN . Daher ist |xm−xn| < ε fur alle m,n ab einer Stelle und (xn) eine Cauchy-Folge.

Es sei umgekehrt (xn)n∈N eine Cauchy-Folge. Dann gibt es fur jedes k ∈ N ein N(k),sodass |xm − xn| < 1

k ist fur alle m,n ≥ N(k). Daraus folgt insbesondere |xN(k) − xn| < 1k

fur alle n ≥ N(k). Das heißt, dass

Jk :=

[xN(k) −

1

k, xN(k) +

1

k

]alle Folgenglieder ab xN(k) enthalt. Es ist im Allgemeinen nicht Jk+1 ⊂ Jk, aber fur

Ik = J1 ∩ J2 ∩ . . . ∩ Jkgilt Ik ⊃ Ik+1. Außerdem ist `(Ik) ≤ 2/k und jedes Ik enthalt fast alle Glieder der Folge,weil auch jedes der Jk fast alle Folgenglieder enthalt. Also ist (Ik) eine Intervallschachtelung,in der die Folge liegt. �

Satz 1.9.4. In einer Intervallschachtelung liegen entweder nur konvergente Folgen, odernur Cauchy-Folgen, die nicht konvergent sind.

Im ersten Fall enthalt der Durchschnitt aller Intervalle der Intervallschachtelung genaueinen Punkt und die Folgen, die in der Intervallschachtelung liegen, sind genau jene, diediesen Punkt als Grenzwert haben. Im zweiten Fall ist der Durchschnitt der Intervalle leer.

Beweis. Dass im Durchschitt aller Intervalle einer Intervallschachtelung nicht zwei ver-schiedene Punkte liegen, folgt daraus, dass die Langen der Intervalle gemaß der Definitioneiner Intervallschachtelung eine Nullfolge bilden.

Wenn der Durchschnitt aller Intervalle nur einen Punkt x enthalt, dann sind in jederUmgebung (x− ε, x+ ε) alle Intervalle enthalten, deren Langen kleiner als ε sind, und dassind fast alle. Somit enthalt eine beliebig kleine Umgebung (x − ε, x + ε) von x fast alleGlieder einer jeden Folge, die in der Intervallschachtelung liegt. Das heißt, alle Folgen, diein der Intervallschachtelung liegen, konvergieren gegen x.

Nehmen wir nun an, der Durchschnitt der Intervalle sei leer. Wenn eine Folge, die inder Intervallschachtelung liegt, einen Grenzwert x hat, dann muss es ein Intervall IN geben,das x nicht enthalt. Da x von IN einen positiven Abstand ε hat, ist (x − ε, x + ε) eine

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1.10. REELLE ZAHLEN 21

Umgebung von x, die mit IN disjunkt ist. Es liegen fast alle Glieder der Folge in IN undnicht in (x− ε, x+ ε), das ist ein Widerspruch zur Konvergenz. Also sind die Folgen in derIntervallschachtelung nicht konvergent. �

Um zu erkennen, dass es Cauchy-Folgen gibt, die nicht konvergieren, stellen wir zunachstein paar Uberlegungen zu Potenzen rationaler Zahlen an:

Beispiel 1.9.5. Wenn x in Q \ Z ist, dann liegt auch xk in Q \ Z fur alle k ∈ N.

Beweis. Es sei x = ab aus Q+ \ N mit ggT(a, b) = 1 (siehe Lemma 1.5.2), wobei b ≥ 2,

da x /∈ N. In ihrer eindeutigen Primfaktorzerlegung [11, Satz 5.3.45] haben a und b keinenFaktor gemeinsam. Dasselbe gilt fur die eindeutigen Primfaktorzerlegung von ak und bk.

Das bedeutet, dass ak

bknicht gekurzt werden kann und (ab )k keine ganze Zahl ist. �

Korollar 1.9.6. Es gibt keine rationale Zahl, deren k-te Potenz in

N \ {nk | n ∈ N}ist, fur k ≥ 2. Das heißt, es gibt in Q keine k-te Wurzel einer naturlichen Zahl, es sei denndie Wurzel ist ganzzahlig.

Beispiel 1.9.7. Es sei I0 = [a0, b0] = [1, 2]. Wir definieren rekursiv

In+1 = [an+1, bn+1] :=

{[an,

an+bn2 ] falls (an+bn2 )2 ≥ 2,

[an+bn2 , bn] falls (an+bn2 )2 < 2.

Die ersten drei Intervalle der Folge sind I1 = [1, 1.5], I2 = [1.25, 1.5] und I3 = [1.375, 1.5].Mit Induktion folgt, dass a2n < 2 < b2n fur alle n. Es ist `(In) = 1

2n eine Nullfolge undIn+1 ⊂ In, das heißt, diese Intervalle bilden eine Intervallschachtelung.

Angenommen, die Folgen (an)n∈N und (bn)n∈N sind konvergent, dann haben sie densel-ben Grenzwert, und nach Satz 1.8.5.2 ist

lim a2n = (lim an)2 = (lim bn)2 = lim b2n.

Wegen a2n < 2 < b2n ist nach dem Sandwich-Theorem 1.8.7 dieser Wert gleich lim 2 = 2. Einerationale Zahl, deren Quadrat gleich 2 ist, gibt es aber nach Korollar 1.9.6 nicht. Also sinddie Folgen (an)n≥0 und (bn)n≥0 Cauchy-Folgen, weil sie in einer Intervallschachtelung liegen(Satz 1.9.3), die jedoch nicht konvergent sind, weil sie keinen Grenzwert in Q haben.

1.9.8 (Theoriefrage 14). Zeigen Sie, dass jede Folge, die in einer Intervallschachtelungliegt, eine Cauchy-Folge ist.

1.9.9 (Theoriefrage 15). Zeigen Sie: Wenn eine konvergente (rationale) Folge in einer(rationalen) Intervallschachtelung liegt, dann besteht der Durchschnitt aller Intervalle ausgenau einem Punkt, namlich dem Grenzwert der Folge.

1.9.10 (Theoriefrage 16). Zeigen Sie, dass es ganze Zahlen gibt, die in Q keine Qua-dratwurzel haben und leiten Sie daraus ab, dass es in Q Cauchy-Folgen gibt, die nichtkonvergieren.

1.10. Reelle Zahlen

Definition 1.10.1. Wir schreiben (xn) ∼ (yn), wenn lim |xn − yn| = 0.

Lemma 1.10.2. Die Relation aus Definition 1.10.1 ist eine Aquivalenzrelation auf derMenge der rationalen Folgen.

Beweis. Es seien (xn), (yn), (zn) beliebige rationale Folgen.Aus lim |xn − xn| = 0 folgt (xn) ∼ (xn) fur alle Folgen (Relfexivitat).Wenn lim |xn − yn| = 0, dann ist auch lim |yn − xn| = 0, also folgt y ∼ x aus x ∼ y

(Symmetrie).

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22 1. ZAHLEN UND FOLGEN

Wegen der Dreiecksungleichung ist

|zn − xn| = |(zn − yn) + (yn − xn)| ≤ |zn − yn|+ |yn − xn|.

Daher ist (xn) ∼ (zn) falls (xn) ∼ (yn) und (yn) ∼ (zn). �

Mit C bezeichnen wir die Menge aller rationalen Cauchy-Folgen.

Definition 1.10.3. Die Menge der reellen Zahlen ist definiert als Quotientenmenge

R := C/ ∼ .

Jede rationale Zahl q wird auch als reelle Zahl aufgefasst, namlich als jene Aquivalenz-klasse von rationalen Cauchy-Folgen, die die konstante Folge (q)n∈N enthalt.

Lemma 1.10.4. Die Intervalle von Intervallschachtelungen, in denen die Cauchy-Folgenunterschiedlicher reeller Zahlen liegen, haben ab einer Stelle einen positiven Abstand von-einander.

Beweis. Abgeschlossene Intervalle, die keinen positiven Abstand voneinander haben,haben ein gemeinsames Element. Falls die Intervallschachtelungen keinen positiven Abstandhaben, gibt es also eine Folge, die in beiden liegt, was der Annahme widerspricht, das in denIntervallschachtelungen die Cauchy-Folgen unterschiedlicher reeller Zahlen liegen. �

Wir haben bereits in Satz 1.8.5 gesehen, dass der Grenzwert von Summe oder Produktkonvergenter Folgen wieder gleich der Summe bzw. dem Produkt der Grenzwerte ist. Umzu zeigen, dass reelle Zahlen addiert und multipliziert werden konnen, mussen wir einenanalogen Satz fur Cauchy-Folgen zeigen:

Satz 1.10.5. Wir nehmen an, es liegt (xn)n∈N in der Intervallschachtelung ([an, bn])n∈Nund (yn)n∈N in der Intervallschachtelung ([cn, dn])n∈N.

Dann ist ([an + cn, bn + dn])n∈N eine Intervallschachtelung, in der (xn + yn)n∈N liegt.Wenn an > 0 und cn > 0, fur alle n dann liegt (xn · yn)n∈N in der Intervallschachtelung([an · cn, bn · dn])n∈N.

Beweis. Aus an ≤ an+1 < bn+1 ≤ bn und cn ≤ cn+1 < dn+1 ≤ dn folgt an + cn ≤an+1 + cn+1 < bn+1 + dn+1 ≤ bn + dn, also ist

[an+1 + cn+1, bn+1 + dn+1] ⊂ [an + cn, bn + dn].

Nach Satz 1.8.5 ist

lim(bn − an) + lim(dn − cn) = lim((bn + dn)− (an + cn)) = 0.

Das heißt, die Langen der Intervalle [an + cn, bn + dn] gehen gegen Null. Also ist gezeigt,dass ([an + cn, bn + dn])n∈N eine Intervallschachtelung ist.

Fur jedes n sind ab einem Index N die Glieder xm in [an, bn] und die Glieder ym in[cn, dn] enthalten und somit an+cn ≤ xm+ym ≤ bn+dn fur alle m ≥ N . Also liegt (xn+yn)in ([an + cn, bn + dn])n∈N.

Fur das Produkt ist

bndn − ancn = (bn − an)dn + (dn − cn)an.

Weil (an)n∈N und (dn)n∈N beschrankt und (bn − an)n∈N und (dn − cn)n∈N Nullfolgen sind,ist nach Lemma 1.8.8

lim(bn − an)dn = lim(dn − cn)an = 0

und somit nach Satz 1.8.5

lim(bndn − ancn) = 0.

Außerdem ist

[an+1cn+1, bn+1dn+1] ⊂ [ancn, bndn]

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1.10. REELLE ZAHLEN 23

und wieder gibt es fur jedes n ein N , sodass fur alle m ≥ N gilt: xm ∈ [an, bn] , ym ∈ [cn, dn]und weil beide linken Intervallgrenzen positiv sind, folgt

xmym ∈ [ancn, bndn]

fur alle m ≥ N . �

Satz 1.10.5 gilt auch fur Produkte beliebiger (nicht notwendigerweise positiver) Zahlen,es mussen nur die Vorzeichen angepasst werden. Sind z.B. beide Folgen ab einer Stellenegativ, dann sind die linken Intervallgrenzen an und cn auch alle negativ, und aus an <xn < 0 und bn < yn < 0 folgt −anbn < −xnyn < 0, daher sind −anbn die gesuchten linkenIntervallgrenzen fur das Produkt.

Korollar 1.10.6. Summen von beliebigen und Produkte von positiven Cauchy-Folgensind wieder Cauchy-Folgen.

Definition 1.10.7. Fur x, y ∈ R definieren wir

(1.10.7.1) x+ y := {(xn + yn)n∈N | (xn)n∈N ∈ x, (yn)n∈N ∈ y},

(1.10.7.2) x · y := {(xn · yn)n∈N | (xn)n∈N ∈ x, (yn)n∈N ∈ y}.Wenn x 6= 0, definieren wir

(1.10.7.3)1

x:= {(zn)n∈N | (znxn)n∈N ∼ (1)n∈N fur eine Folge (xn)n∈N ∈ x}.

Nach der Definition reeller Zahlen, ist die reelle Zahl 0 genau die Mengen aller ratio-nalen Nullfolgen. In 1.10.7 bedeutet x 6= 0 also, dass die Aquivalenzklasse x nicht jene derNullfolgen ist.

Lemma 1.10.8. Die Verknupfungen aus Definition 1.10.7 sind Abbildungen R×R→ R.

Beweis. Nach Korollar 1.10.6 bestehen die Mengen in 1.10.7.1 und 1.10.7.2 aus Cauchy-Folgen, die zueinander aquivalent sind. Noch zu zeigen ist, dass diese Mengen tatsachlich alleFolgen dieser Aquivalenzklassen enthalten. Wenn (zn) aus dieser Aquivalenzklasse ist, wennalso (zn) ∼ (xn+yn) mit (xn) ∈ x und (yn) ∈ y, dann ist (zn−yn) ∼ (xn+yn−yn) = (xn).Also ist

(zn)n∈N = (zn − yn)n∈N + (yn)n∈N

die Summe aus zwei Folgen, von denen die erste Element von x und die zweite Element vony ist. Somit ist (zn)n∈N in x+y, was zu zeigen war. Der Beweis fur 1.10.7.2 lauft analog. �

Definition 1.10.9. Fur x, y ∈ R schreiben wir x ≤ y, wenn es eine Folge (xn) in x undeine Folge (yn) in y gibt mit xn ≤ yn fur alle n. Wir schreiben x < y, wenn x ≤ y und x 6= y.Ist 0 < x, dann heißt x positiv, wenn x < 0 ist, dann heißt x negativ.

Lemma 1.10.10. Es ist (R,≤) eine total geordnete Menge.

Beweis. Wenn (xn) ∈ x, (yn) ∈ y und x 6= y, dann sind zwei rationale Intervallschach-telungen, die diese Folgen enthalten, ab einer Stelle disjunkt. Daraus ergibt sich entwederx < y oder y < x. Reflexivitat, Antisymmerie und Transitivitat ubertragen sich von denentsprechenden Eigenschaften der Ordnung von Q. �

Reelle Zahlen konnen in eindeutiger Weise durch sogenannte Dezimalbruche darge-stellt werden. Das heißt, zu jeder reellen Zahl x ∈ [0, 1) gibt es eine Folge (an)n∈N in{0, 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9}, sodass die Folge (sn)n∈N mit

sn = a11

10+ a2

1

102+ a3

1

103+ . . .+ an

1

10n

gegen x konvergiert. Wir konnen dann 0.a1a2a3 . . . statt x schreiben. Wenn wir den Fall,dass (an) ab einer Stelle nur aus Ziffern 9 besteht ausschließen, dann ist diese Dezimalbruch-darstellung eindeutig, was wir erkennen, wenn wir Intervallschachtelungen mit halboffenen

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24 1. ZAHLEN UND FOLGEN

Intervallen betrachten: Wir teilen [0, 1) in 10 gleich große Intervalle. Liegt x im ersten dieserIntervalle, ist a1 = 0, liegt es im zweiten ist a2 = 1 und so fort. Nun teilen wir jenes Intervall,in dem x liegt, wieder in zehn halboffene Intervalle und bestimmen so a2. Auf diese Weisebestimmen wir die Folge (an). Sollte jedoch x einmal am linken Randpunkt eines der In-tervalle liegen, brechen wir diesen Algorithmus ab und stellen x als endlichen Dezimalbruchdar, also durch eine endlich Folge in {0, 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9}. Der Fall, dass ab einer Stellealle an = 9 sind, kann nicht eintreten, denn dann ware x gleich dem rechten Randpunkt vonjenem halboffenen Intervall, ab dem alle an = 9 sind.

Definition 1.10.11. Mengen, die nicht abzahlbar sind, nennen wir uberabzahlbar.

Satz 1.10.12. Die Menge der reellen Zahlen ist uberabzahlbar.

Beweis. Angenommen R hatte eine Abzahlung, dann hatte auch [0, 1) eine Abzahlungy1, y2, y3,. . . mit

y1 = 0. x1,1 x1,2 x1,3 x1,4 . . .y2 = 0. x2,1 x2,2 x2,3 x2,4 . . .y3 = 0. x3,1 x3,2 x3,3 x3,4 . . .y4 = 0. x4,1 x4,2 x4,3 x4,4 . . ....

......

......

Wir wahlen nun zn ∈ {0, 1} so, dass zn 6= xn,n ist. Dann ist z = 0.z1z2z3 . . . in (0, 1] undunterscheidet sich von jedem der yn in mindestens einer Ziffer. Wegen der Eindeutigkeitder Dezimalbruchentwicklung ist z verschieden von allen yn. Das ist ein Widerspruch dazu,dass eine Abzahlung alle Elemente der Menge enthalt. Also ist [0, 1) und somit auch Ruberabzahlbar. �

1.10.13 (Theoriefrage 17). Wie werden die reellen Zahlen mithilfe rationaler Cauchy-Folgen konstruiert?

1.10.14 (Theoriefrage 18). Zeigen Sie, dass die Summe zweier rationaler Cauchy-Folgenwieder eine Cauchy-Folge ist.

1.10.15 (Theoriefrage 19). Zeigen Sie, dass die Menge der reellen Zahlen uberabzahlbarist.

1.11. Erweiterte reelle Zahlen

Definition 1.11.1. Wenn eine Folge ab einer Stelle großer (bzw. kleiner) als jede be-liebig gewahlte reelle Zahl ist, nennen wir sie bestimmt divergent gegen +∞ (sprich: “plusUnendlich”), bzw. bestimmt divergent gegen −∞ (sprich: “minus Unendlich”).

Formal: Wenn (xn) eine Folge ist und es fur jedes x ∈ R ein N ∈ N gibt, sodass xn > xbzw. xn < x ist fur alle n > N , nennen wir (xn) bestimmt divergent gegen +∞ bzw. bestimmtdivergent gegen −∞ und schreiben lim an = +∞ bzw. lim an = −∞.

Wenn limxn =∞ und lim yn ∈ R, dann ist

lim(xn + yn) = lim(xn − yn) =∞.

Wenn y > 0, ist außerdem

lim(xnyn) = lim(xn/yn) =∞.

Wenn auch lim yn =∞ ist, dann gilt

lim(xn + yn) = lim(xnyn) =∞.

Fur das Konvergenzverhalten der Folgen (xn − yn)n∈N und (xn/yn)n∈N gibt es in diesemFall jedoch keine allgemeinen Regeln.

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1.12. VOLLSTANDIGKEIT DER REELLEN ZAHLEN 25

Beispiel 1.11.2 (Ubungsbeispiel 19). Finden Sie jeweils ein Beispiel fur Folgen (xn)und (yn) mit lim(xnyn) = 0 und

(1) limxn =∞ (2) limxn ∈ R \ {0} (3) (xn) divergent, aber nicht bestimmt diverent.

1.12. Vollstandigkeit der reellen Zahlen

Wir erinnern uns daran, dass rationale Zahlen einerseits jene Zahlen sind, die in derKonstruktion der reellen Zahlen verwendet werden, und dass andererseits eine rationaleZahl q auch selbst als reelle Zahl aufgefasst werden kann, namlich als jene Aquivalenzklassevon rationalen Cauchy-Folgen, welche die konstante Folge (q)n∈N enthalt, siehe dazu auchKapitel 1.4.

Definition 1.12.1. Wir nennen I = R \Q die Menge der irrationalen Zahlen.

Lemma 1.12.2. Wenn x rational und y irrational ist, dann ist x + y irrational. Wennaußerdem x 6= 0 ist, dann ist xy irrational.

Beweis. Wenn die Summe z = x + y (bzw. das Produkt z = xy) rational ware, dannware auch z−x (bzw. z/x) und somit y rational, also ist z = x+ y (bzw. z = xy) irrational.

Satz 1.12.3. Zwischen allen Paaren verschiedener reeller Zahlen liegen unendlich vielerationale und unendlich viele irrationale Zahlen.

In der Topologie sagen wir, dass sowohl Q als auch I in R dicht liegen.

Beweis von Satz 1.12.3. Von zwei gegebenen verschiedenen reellen Zahlen bezeich-nen wir mit x die kleinere und mit y die großere. Es sei ([an, bn])n∈N eine rationale Intervall-schachtelung, in der eine Cauchy-Folge von x liegt, und ([cn, dn])n∈N eine, in der eine Folgevon y liegt. Nach Lemma 1.10.4 gibt es ein N , sodass

x < bn < cn < y,

ist fur alle n ≥ N . Zwischen den rationalen Zahlen bn und cn lassen sich nun leicht unendlichviele rationale Zahlen konstruieren; diese liegen zwischen x und y.

Fur p, q ∈ Q mit p < q ist

p < p+1√2

(q − p) < q

wegen 0 < 1/√

2 < 1. Dass der mittlere Term der Ungleichungskette irrational ist, folgtaus Korollar 1.9.6 und Lemma 1.12.2. Also liegt zwischen je zwei verschiedenen rationalenZahlen eine irrationale Zahl. Da zwischen x und y unendlich viele verschiedene rationaleZahlen liegen, mussen auch unendlich viele irrationale Zahlen zwischen x und y liegen. �

Mit R+ bezeichnen wir die Menge der positiven reellen Zahlen {x ∈ R | x > 0}, und mitR− die Menge der negativen reellen Zahlen {x ∈ R | x < 0}.

Lemma 1.12.4 (Archimedische Eigenschaft der reelle Zahlen). Fur alle ε ∈ R+ gibt esein n ∈ N mit 1

n < ε. Fur alle x, y ∈ R+ gibt es ein n ∈ N, sodass y < nx ist.

Beweis. Nach Satz 1.12.3 liegt eine rationale Zahl q = m/n zwischen 0 und ε. Also ist1n < ε fur n ∈ N. Auch fur ε = x

y gibt es ein n ∈ N mit 1n <

xy und somit y < nx. �

Bemerkung 1.12.5. Die reellen Zahlen bilden wie die rationalen Zahlen einen Korper,siehe zum Beispiel [11, Kapitel 5.4]. Unsere bisherigen Argumente in den Satzen uber ratio-nale Zahlen basieren meist nur auf den Axiomen eines Korpers, also auf den Rechenregelnfur die vier Grundrechnungsarten. Aus diesem Grund lassen sie sich unverandert auf diereellen Zahlen ubertragen. Insbesondere gelten daher folgende Definitionen und Aussagenauch fur reelle Zahlen: 1.7.2–1.7.9, 1.8.1–1.8.9 und 1.9.1–1.9.4.

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26 1. ZAHLEN UND FOLGEN

Eine Ausnahme bildet die Archimedische Eigenschaft der rationalen Zahlen (Lemma 1.7.1),weil in ihrem Beweis verwendet wird, dass rationale Bruche einen ganzzahligen Nenner undeinen ganzzahligen Zahler haben, was auf reelle Zahlen im Allgemeinen nicht zutrifft. Da-her haben wir fur die Archimedische Eigenschaft der reellen Zahlen in Lemma 1.12.4 eineneigenen Beweis angegeben.

Folgen reeller Zahlen nennen wir auch kurz reelle Folgen.

Satz 1.12.6. Die reellen Zahlen sind vollstandig, das heißt, jede reelle Cauchy-Folgekonvergiert.

Beweis. Jede reelle Cauchy-Folge liegt nach Bemerkung 1.12.5 und Satz 1.9.3 in einerIntervallschachtelung. Die Intervalle konnen so gewahlt werden, dass die Endpunkte rationalsind, aber auch aus Satz 1.12.3 folgt, dass in jedem Intervall eine rationale Folge liegt. Dieseist eine rationale Cauchy-Folge und die durch sie nach Definition 1.10.3 bestimmte reelleZahl ist Grenzwert der reellen Cauchy-Folge, von der wir ausgegangen sind. �

Die Vollstandigkeit ist die wesentlichste Eigenschaft, die die reellen von rationalen Zahlenunterscheidet.

Wir erinnern uns daran, dass ein Supremum einer Menge eine kleinste obere Schrankeist. Diese kann Element der Menge sein, dann ist sie ein Maximum, sie muss aber nichtElement der Menge sein. Ein Infimum ist eine großte untere Schranke. In total geordnetenMengen (d.h. alle Paare von Elementen sind vergleichbar) kann es nicht passieren, dass eineMenge zwei Suprema oder zwei Infima hat. Fur die im folgenden Satz verwendeten Begriffesiehe bei Bedarf Definitionen 4.2.28, 4.2.32., 6.3.1 und 6.4.1 aber auch Proposition 6.4.2 in[11].

Satz 1.12.7 (Supremums- und Infimumseigenschaft). Die reellen Zahlen sind ordnungs-vollstandig, das heißt, jede nicht leere nach oben beschrankte Menge hat ein eindeutigesSupremum und jede nach unten beschrankte Menge hat ein eindeutiges Infimum.

Beweis. Eine nach oben beschrankte Menge A reeller Zahlen ist auch durch eine ra-tionale Zahl b0 nach oben beschrankt. Es sei a0 eine rationale Zahl, die kleiner als irgendeinElement von A ist. Im Folgenden betrachten wir Intervalle reeller Zahlen mit rationalenEndpunkten. Wir definieren I0 = [a0, b0] und fur n ≥ 1 sei

In = [an, bn] =

{[an−1,

an−1+bn−1

2 ], falls [an−1+bn−1

2 , bn−1] ∩A = ∅,[an−1+bn−1

2 , bn−1] sonst.

Vollstandige Induktion impliziert, dass bn fur alle n eine obere Schranke von A ist und dass[an, bn] ein Element von A enthalt. Da die Langen dieser Intervalle gegen Null gehen, istdie rationale Folge (bn)n∈N eine Cauchy-Folge. Um zu sehen, dass die reelle Zahl x, diediese Cauchy-Folge enthalt, das gesuchte Supremum von A ist, mussen wir uns zwei Punkteuberlegen: Erstens, dass x eine obere Schranke von A ist. Dies folgt aus der Definition derZahlen bn die alle großer oder gleich jedem Element von A sind. Und zweitens, dass x diekleinste obere Schranke von A ist: Wir nehmen an, es gibt eine kleinere obere Schranke y.Die Langen der Intervalle der Intervallschachtelung sind ab einem Index N kleiner als x−y.Da x in [aN , bN ] ist, kann y nicht in [aN , bN ] liegen, wegen y < x ist y < aN . Nun ist aber ykleiner als ein Punkt in A, was der Annahme widerspricht, dass y eine obere Schranke vonA ist. �

Beispiel 1.12.8 (Ubungsbeispiel 20). Haben folgende Mengen ein Supremum bzw. einInfimum in Q und/oder in R? Wenn ja, welches?

(1)⋂n∈N

((− 1

n, 1

)∪ {k ∈ N | k ≥ n}

)(2) {q ∈ Q | q2 < 2}

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1.13. HAUFUNGSWERTE UND HAUFUNGSPUNKTE 27

Beispiel 1.12.9 (Ubungsbeispiel 21). Es sei A ⊂ R nicht leer, nach unten beschranktund −A = {−x | x ∈ A}. Zeigen Sie:

inf A = − sup(−A).

1.12.10 (Theoriefrage 20). Zeigen Sie, dass zwischen je zwei verschiedenen reellen Zahlenunendlich viele rationale und unendlich viele irrationale Zahlen liegen.

1.12.11 (Theoriefrage 21). Zeigen Sie, dass Q nicht vollstandig und dass R vollstandigist. Gehen Sie von der Konstruktion der reellen Zahlen uber Cauchy-Folgen aus.

1.12.12 (Theoriefrage 22). Zeigen Sie, dass R ordnungsvollstandig ist.

1.13. Haufungswerte und Haufungspunkte

Definition 1.13.1. Ein Punkt heißt Haufungswert einer Folge, wenn jede seiner Um-gebungen unendlich viele Glieder der Folge enthalt.

Expliziter und formaler: Ein Punkt x ist Haufungswert der Folge (xn)n∈N, wenn es furjede Umgebung U von x eine unendliche Menge I ⊂ N gibt, sodass {xi | i ∈ I} ⊂ U ist.

Beispiel 1.13.2. Die Folge ((−1)n)n∈N hat zwei Haufungswerte, namlich −1 und 1. DieFolge (1/n+ (−1)n)n∈N hat ebenfalls die Haufungswerte -1 und 1.

Definition 1.13.3. Eine Teilfolge einer Folge (xn)n∈N ist eine Folge (xnk)k∈N, wobei(nk)k∈N eine streng monoton steigende Folge naturlicher Zahlen ist.

Ein Teilfolge entsteht also durch das Weglassen von Gliedern der Folge. Zum Beispielist 2, 4, 6,. . . eine Teilfolge von 1, 2, 3, 4,. . .

Lemma 1.13.4. Ein Punkt ist genau dann Haufungswert einer Folge, wenn er Grenzwerteiner Teilfolge ist.

Beweis. Dass ein Grenzwert einer Teilfolge ein Haufungswert ist, folgt aus der Definiti-on der Konvergenz (Definition 1.7.6). Umgekehrt, wenn x ein Haufungswert ist, wahlen wirfur jede Umgebung (x− 1/k, x+ 1/k), k ∈ N, ein nk ∈ N mit xnk ∈ (x− 1/k, x+ 1/k) undnk > nk−1. Dies ist moglich, da in (x−1/k, x+1/k) unendlich viele Folgenglieder liegen. �

Satz 1.13.5 (Satz von Bolzano-Weierstraß). Jede beschrankte reelle Folge hat einenHaufungswert.

Beweis. Es sei (xn)n∈N durch a0 nach unten und durch b0 nach oben beschrankt. Wirdefinieren rekursiv

[am+1, bm+1] :=

[am,

am + bm2

],

falls unendlich viele xn in [am,am+bm

2 ] liegen und anderenfalls

[am+1, bm+1] :=

[am + bm

2, bm

].

Induktiv wird eine Teilfolge von (xn)n∈N definiert, die in ([am, bm])m∈N liegt:Wir setzen xn0 = x0 und wahlen ein weiters Glied der Folge aus [a1, b1], das wir mit

xn1 bezeichnen. Von den unendlich vielen Gliedern der Folge (xn)n∈N, die in [am, bm] lie-gen, wahlen wir eines, das verschieden von den Folgengliedern xn0

, xn1,. . .xnm−1

ist undbezeichnen es mit xnm und so fort. Die so definierte Folge (xnm)m∈N ist eine Cauchy-Folgeund liegt in der Intervallschachtelung ([am, bm])m∈N. Die dadurch definierte reelle Zahl istGrenzwert von (xnm)m∈N und somit Haufungswert von (xn)n∈N. �

Lemma 1.13.6. Eine beschrankte reelle Folge, die genau einen Haufungswert hat, istkonvergent.

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28 1. ZAHLEN UND FOLGEN

Beweis. Wenn x der einzige Haufungswert einer beschrankten Folge ist, muss jedeUmgebung von x fast alle Glieder der Folge enthalten, denn sonst wurden die Folgengliederaußerhalb der Umgebung eine beschrankte Folge bilden, die nach dem Satz von Bolzano-Weierstraß einen Haufungswert hat und dieser ware dann von x verschieden. �

Beispiel 1.13.7. Lemma 1.13.6 gilt nur fur beschrankte Folgen, denn die unbeschrankteFolge (n+ (−1)nn)n∈N hat zwar genau einen Haufungswert, ist aber trotzdem nicht konver-gent.

Satz 1.13.8. Jede beschrankte monotone reelle Folge ist konvergent.

Beweis. Nach dem Satz Bolzano-Weierstraß hat eine solche Folge zumindest einenHaufungswert. Wir nehmen indirekt an, es gabe zwei Haufungswerte. Zwei disjunkte Um-gebungen dieser Punkte enthalten jeweils unendlich viele Glieder der Folge, was jedoch nurmoglich ist, wenn die Folge unendlich oft zwischen den Umgebungen hin und her wechselt.Das wiederum widerspricht ihrer Monotonie. Also hat die Folge genau einen Haufungswertund ist nach Lemma 1.13.6 konvergent. �

Es spricht nichts gegen verbal gefuhrte Beweise wie jenen von Satz 1.13.8. Wichtig ist,dass man bei Bedarf in der Lage ist, eine Argumentation beliebig detailliert und explizitauszufuhren. Wenn die zwei Haufungswerte im letzten Beweis zum Beispiel mit x und ybezeichnet werden, konnen die disjunkten Umgebungen als(

x− y − x2

, x+y − x

2

)und

(y − y − x

2, y +

y − x2

)oder als

(x− y − x

3, x+

y − x3

)und

(y − y − x

3, y +

y − x3

)angegeben werden. Außerdem konnten die Indices der Folgenglieder, die in der einen undder anderen Umgebung liegen bezeichnet werden. Wie genau und explizit Beweise gefuhrtwerden, ist bis zu einem gewissen Grad eine Frage des Geschmacks.

Definition 1.13.9. Ein Punkt x heißt Haufungspunkt einer Menge M , wenn fur jedeUmgebung U von x die Menge U \ {x} unendliche viele Elemente von M enthalt.

Lemma 1.13.10. Jeder Haufungspunkt der Menge {xn | n ∈ N} ist Haufungswert derFolge (xn)n∈N.

Beweis. Die folgende Konstruktion ist jener im Beweis des Satzes von Bolzano-Weier-straß (Satz 1.13.5) ahnlich. Wir setzen xn0

= x0. Fur m ≥ 1 wahlen wir von den unendlichvielen Gliedern der Folge, die in (x − 1/m, x + 1/m) liegen, eines aus, das verschieden vonden Folgengliedern xn0

, xn1,. . . ,xnm−1

ist und bezeichnen es mit xnm . Die so definierteFolge (xnm)m∈N konvergiert gegen x. Also ist der Haufungspunkt x auch Haufungswert derFolge. �

Beispiel 1.13.11. Die Umkehrung der Aussage von Lemma 1.13.10 gilt im Allgemeinennicht, denn c ist zwar Haufungswert der konstanten Folge (c)n∈N, aber kein Haufungspunktder Menge {c}.

Definition 1.13.12. Mit lim supxn bzw. lim inf xn bezeichnen wir das Supremum bzw.das Infimum der Haufungswerte einer Folge (xn)n∈N.

Das folgende Lemma besagt, dass das Supremum und das Infimum aus Definition 1.13.12in Wahrheit ein Maximum und ein Minimum sind.

Lemma 1.13.13. Existiert der Limes superior (bzw. der Limes inferior) einer reellenFolge, dann hat sie eine Teilfolge, die gegen ihn konvergiert.

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1.14. WURZELN 29

Beweis. Es sei z = lim supxn. Fur jedes k ∈ N muss es einen Haufungswert zk der Folgein [z − 1/k, z] geben, da z ja die kleinste obere Schranke der Haufungswerte ist. Eines derFolgenglieder in [zk−1/k, zk+1/k] bezeichnen wir mit xnk . Also ist xnk ∈ (z−2/k, z+1/k)und daher

limk→∞

xnk = z

und z ein Haufungswert von (xn)n∈N. �

Beispiel 1.13.14 (Ubungsbeispiel 22). Bestimmen Sie die Menge der Haufungswerteder Folge

x1 = 1, x2 =1

2, x3 = 1, x4 =

1

2, x5 =

1

3, x6 = 1, x7 =

1

2, x8 =

1

3, x9 =

1

4, x10 = 1, . . .

Finden Sie eine Teilfolge, die gegen den Limes superior konvergiert und eine, die gegen denLimes inferior konvergiert.

1.13.15 (Theoriefrage 23). Definieren Sie Teilfolgen und Haufungswerte einer Folge.Zeigen Sie, dass jeder Haufungswert Grenzwert einer Teilfolge ist.

1.13.16 (Theoriefrage 24). Formulieren und beweisen Sie den Satz von Bolzano-Weierstraß.

1.13.17 (Theoriefrage 25). Zeigen Sie mithilfe des Satzes von Bolzano-Weierstraß, dasseine beschrankte Folge mit genau einem Haufungswert konvergent ist. Ist die Voraussetzungder Beschranktheit hier notwendig? Leiten Sie daraus ab, dass jede beschrankte monotonereelle Folge konvergent ist.

1.13.18 (Theoriefrage 26). Definieren Sie Haufungspunkte einer Menge und Haufungs-werte einer Folge. Ist jeder Haufungswert einer Folge (xn)n∈N auch Haufungspunkt von{xn | n ∈ N}? Gilt die Umkehrung der letzten Aussage?

1.13.19 (Theoriefrage 27). Wie sind Limes superior und Limes inferior einer Folge de-finiert? Zeigen Sie, dass Limes superior und Limes inferior einer Folge Haufungswerte derFolge sind.

1.14. Wurzeln

Definition 1.14.1. Wenn xk = c fur k ∈ N, dann nennen wir x eine k-te Wurzel von cund bezeichnen sie mit k

√c oder c1/k.

Um zu zeigen, dass es in R im Gegensatz zu Q (siehe Korollar 1.9.6) moglich ist, Wurzelnzu ziehen, verwenden wir das Verfahren der Intervallhalbierung, das wir schon aus 1.9.7,1.12.7 und 1.13.5 kennen.

Lemma 1.14.2. Fur jedes k ∈ N haben alle positiven reellen Zahlen eine eindeutigbestimmte k-te Wurzel in R+.

Beweis. Wegen der Supremumseigenschaft (Satz 1.12.7) hat fur jedes c ∈ R+ die Menge{a ∈ R | ak ≤ c} ein eindeutiges Supremum x. Fur alle n ∈ N ist (x− 1/n)k ≤ c, denn wenn(x−1/n)k > c ware, dann ware x−1/n eine kleinere Schranke der Menge als x und somit xnicht das Supremum. Außerdem ist (x+ 1/n)k > c, denn falls (x+ 1/n)k ≤ c, ware x keineobere Schranke der Menge. Also ist (x− 1/n)k ≤ c < (x+ 1/n)k und daher

lim

(x− 1

n

)k≤ c < lim

(x+

1

n

)k.

Wegen dem Grenzwertsatz fur Produkte (1.8.5.2) ist das gleichbedeutend mit(lim

(x− 1

n

))k≤ c <

(lim

(x+

1

n

))kund somit

xk ≤ c ≤ xk beziehungsweise xk = c.

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30 1. ZAHLEN UND FOLGEN

Also ist x die k-te Wurzel von c in R+. �

Fur m,n ∈ N und x ∈ R+ ist (xm)n = (xn)m = xmn. Aus

xm = (( n√x)n)m = (( n

√x)m)n

folgtn√xm = ( n

√x)m,

was folgende Definition gerechtfertigt:

Definition 1.14.3. Fur m,n ∈ N und x ∈ R+ ist xmn := n

√xm = ( n

√x)m.

Lemma 1.14.4. Wenn x ∈ R und p, q ∈ Q, dann ist

xp < xq ⇐⇒ p < q, falls x > 1,

xp > xq ⇐⇒ p < q, falls 0 < x < 1.

Beweis. Wir schreiben p = mp/n und q = mq/n als ganzzahlige Bruche mit gemein-samem Nenner. Wenn x > 1 folgt n

√x > 1, denn n

√x ≤ 1 wurde ( n

√x)n = x ≤ 1n = 1

implizieren. Somit ist mp < mq aquivalent zu

xp = ( n√x)mp < ( n

√x)mq = xq.

Wenn 0 < x < 1 ist n√x < 1 und mp < mq ist aquivalent zu

xp = ( n√x)mp > ( n

√x)mq = xq.

Beispiel 1.14.5. Es ist lim n√n = 1.

Beweis. Wir definieren xn = n√n−1. Diese xn sind alle positiv. Nach dem Binomischen

Lehrsatz ist

n = (1 + xn)n =

n∑k=0

(n

k

)xkn = 1 + nxn +

n(n− 1)

2x2n + . . .

Daraus folgen

n >n(n− 1)

2x2n

und √2

n− 1> xn.

Also bilden die xn eine Nullfolge. �

Beispiel 1.14.6 (Ubungsbeispiel 23). Konvergiert die Folge (n(√n+ 1 −

√n))n∈N?

Wenn ja, wohin? Hinweis: Erweitern Sie in geeigneter Weise zu einem Bruch.

Beispiel 1.14.7 (Ubungsbeispiel 24). Zu einer beliebigen positiven reellen Zahl c sei dieFolge (xn)n∈N rekursiv definiert, indem fur x0 ein beliebiger positiver Wert gewahlt wird,dessen Quadrat großer als c ist und fur n ≥ 1 ist

xn :=1

2

(xn−1 +

c

xn−1

).

Zeigen Sie, dass diese Folge in R gegen eine Zahl konvergiert, deren Quadrat c ist.Hinweis: Zeigen Sie, dass alle xn positiv sind, dass x2n > c ist und danach, dass die Folge

monoton fallt. Da die Folge dann konvergiert, konnen Sie Grenzwertsatze anwenden.

Beispiel 1.14.8 (Ubungsbeispiel 25). Fortsetzung zu den Fionacci-Zahlen: Es sei xnder Quotient der Fibonacci-Zahlen Fn+1/Fn. Zeigen Sie, dass die Folge (xn) konvergiertund bestimmen Sie den Grenzwert. Welche Satze aus der Vorlesung verwenden Sie dabei?

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1.15. KOMPLEXE ZAHLEN 31

1.14.9 (Theoriefrage 28). Zeigen Sie, dass jede naturliche Zahl fur jedes naturliche keine k-te Wurzel in R+ hat.

1.14.10 (Theoriefrage 29). Warum ist n√xm = ( n

√x)m fur alle m,n ∈ N und x ∈ R+?

Zeigen Sie fur p, q ∈ Q:xp < xq ⇐⇒ p < q, falls x > 1,

xp > xq ⇐⇒ p < q, falls 0 < x < 1.

1.14.11 (Theoriefrage 30). Zeigen Sie, dass lim n√n = 1 ist.

1.15. Komplexe Zahlen

Definition 1.15.1. Die komplexen Zahlen C sind definiert als die Menge aller Paarereeller Zahlen zusammen mit den Verknupfungen

(a, b) + (c, d) = (a+ c, b+ d),

(a, b) · (c, d) = (ac− bd, ad+ bc).

Mit diesen Verknupfungen ist C ein Korper mit Nullelement (0, 0) und Einselement(1, 0).

Definition 1.15.2. Der Realteil einer komplexen Zahl z = (a, b) ist Re(z) = a, derImaginarteil Im(z) = b und die Konjugierte z = (a,−b). Die Imaginare Einheit ist i = (0, 1).

Die reellen Zahlen werden als Teilmenge von C aufgefasst, wobei eine relle Zahl x derkomplexen Zahl (x, 0) entspricht. Den Umgang mit den vier Grundrechnungsarten in C set-zen wir als bekannt voraus. Man beachte dass (0, 1) · (0, 1) = (−1, 0) ist. Anders geschrieben,heißt das i2 = −1 bzw. i =

√−1. Die Wurzel aus −1 ist also kein Mysterium, uber das es

sich zu philosophieren lohnt, sondern ein Element eines Zahlenbereichs, den wir auf einfacheWeise aus den reellen Zahlen erhalten.

Die komplexen Zahlen konnen als Ebene interpretiert werden. Der Betrag einer komple-xen Zahl ist definiert wie die Lange des entsprechenden Vektors als |(a, b)| =

√a2 + b2. Das

ergibt den Abstand zweier komplexer Zahlen als

|(a, b)− (c, d)| =√

(a− c)2 + (b− d)2.

Konvergenz komplexer Folgen wird ahnlich behandelt wie fur reelle Folgen, wobei stattreeller Intervalle Kreisscheiben betrachtet werden, die uber diesen Abstandsbegriff definiertsind.

Definition 1.15.3. Ein komplexe Folge (zn)n∈N heißt Cauchy-Folge, wenn es fur allereellen ε > 0 ein N gibt, sodass |zm − zn| < ε fur alle m,n ≥ N . Eine Menge U heißtUmgebung von z, wenn es ε > 0 gibt, sodass

{y ∈ C : |z − y| < ε} ⊂ Uist. Die Folge konvergiert gegen z ∈ C, wenn sie in jeder Umgebung von z ab einer Stelleenthalten ist. Aquivalent: Wenn es fur jedes ε > 0 ein N gibt sodass |z − zn| < ε fur allen ≥ N .

Lemma 1.15.4. Es seien zn = (an, bn) und z = (a, b) komplexe Zahlen, dann gilt:

lim zn = z ⇐⇒ lim an = a und lim bn = b.

Beweis. Es ist

lim zn = z ⇐⇒ lim |zn − z| = 0 ⇐⇒ lim√

(an − a)2 + (bn − b)2 = 0 ⇐⇒lim(an − a)2 = 0 und lim(bn − b)2 = 0 ⇐⇒ lim an = a und lim bn = b.

Satz 1.15.5. Die komplexen Zahlen sind vollstandig.

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32 1. ZAHLEN UND FOLGEN

Beweis. Es sei (zn) mit zn = (an, bn) eine komplexe Cauchy-Folge. Das heißt, fur alleε > 0 gibt es ein N , sodass |zm − zn| < ε fur alle m,n ≥ N . Dann ist

|zm − zn|2 = (am − an)2 + (bm − bn)2 < ε2

und folglich |am − an| < ε und |bm − bn| < ε. Das heißt, (an) und (bn) sind reelle Cauchy-Folgen, die wegen der Vollstandigkeit von R (siehe Satz 1.12.6) konvergieren. Nach Lem-ma 1.15.4 konvergiert auch (zn), was bedeutet, dass C vollstandig ist. �

Aus der Konstruktion der Zahlenbereiche N, Z, Q, R und C sehen wir, dass die mit Ab-stand aufwandigste Konstruktion jene der reellen Zahlen ist. Die wichtigsten algebraischenEigenschaften, die diese Zahlenbereiche voneinander unterscheiden sind folgende:

N: In N kann addiert und multipliziert werden werden.Z: In Z gibt es im Gegensatz zu N eine Umkehrung der Addition.Q: In Q gibt es im Gegensatz zu Z eine Umkehrung der Multiplikation.R: In R ist im Gegensatz zu Q jede Cauchy-Folge konvergent.C: In C hat im Gegensatz zu R jedes Polynom eine Nullstelle.

Diese Eigenschaft von C nennt man algebraische Abgeschlossenheit. Was die rellen Zahlengegenuber C auszeichnet, ist, dass sie einen geordneten Korper bilden.

Die Erweiterungen der Zahlenbereiche ergeben sich auf naturliche Weise durch die alge-braischen Eigenschaften, die im jeweiligen mathematischen Arbeitsbereich benotigt werden.Zum Beispiel fur einfache Schluss- oder Prozentrechnungen im Alltag benotigen wir wederLimiten noch stetige Funktionen, hier reichen rationale Zahlen vollkommen aus.

Beispiel 1.15.6 (Ubungsbeispiel 26). Sind die Folgen (xn)n∈N konvergent? BestimmenSie die Menge der Haufungswerte.

(1) xn =

(3

4+

3i

4

)n(2) xn =

(2

3+

2i

3

)n(3) xn =

n

2n+ 1(1 + in)

Hinweis: Beispiel 1.7.10.3 gilt nicht nur fur rationale und reelle Folgen, sondern auch furkomplexe Folgen. Warum ist das so? Verwenden Sie auch Lemma 1.15.4.

1.15.7 (Theoriefrage 31). Wie ist die Menge der komplexen Zahlen definiert? Leiten Sieaus der Vollstandigkeit von R ab, dass C vollstandig ist.

1.16. Konvergenzkriterien fur Reihen

Definition 1.16.1. Eine Reihe∑∞k=0 ak ist definiert als Folge der Partialsummen

(sn)n∈N0 , wobei sn =∑nk=0 ak und ak ∈ R. Die Zahlen ak nennen wir Summanden der

Reihe.

Wir schreiben∑

statt∑∞k=0,

∑∞n=0,

∑∞i=0 usw., wenn klar ist, was der Summations-

index ist und der Index von 0 weg lauft.

Beispiel 1.16.2. Fur alle q 6= 1 lasst sich mit Induktion zeigen, dass

1 + q + q2 + . . .+ qn =1− qn+1

1− qist. Die sogenannte geometrische Reihe

∑qk ist nach Definition 1.16.1 die Folge(

n∑k=0

qk

)n∈N0

=

(1− qn+1

1− q

)n∈N0

.

Wenn die Reihe∑ak konvergiert, bezeichnen wir mit

∑ak auch gleichzeitig ihren

Grenzwert, sofern das nicht zu Missverstandnissen fuhrt. Wenn∑ak bestimmt gegen ∞

divergiert, schreiben wir∑ak =∞.

Nach Beispiel 1.7.10.3 konvergiert die Folge (qn+1) genau dann, wenn |q| < 1 ist. Alsokonvergiert die geometrische Reihe auch genau dann, wenn |q| < 1 ist, und zwar gegen 1

1−q .

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1.16. KONVERGENZKRITERIEN FUR REIHEN 33

Satz 1.16.3 (Cauchy-Kriterium fur Reihen). Eine komplexe Reihe∑ak konvergiert

genau dann, wenn es fur alle ε > 0 ein N ∈ N gibt, sodass∣∣∣∣∣n∑

k=m

ak

∣∣∣∣∣ < ε

fur alle m,n ≥ N .

Beweis. Wegen der Vollstandigkeit der reellen Zahlen (Satz 1.12.6) konvergiert dieFolge der Partialsummen genau dann, wenn sie eine Cauchy-Folge ist, also wenn es fur alleε > 0 ein N gibt, sodass fur alle m− 1, n ≥ N

|sn − sm−1| =

∣∣∣∣∣n∑

k=m

ak

∣∣∣∣∣ < ε

ist, wobei wir n ≥ m annehmen. �

Korollar 1.16.4. Wenn∑∞k=0 ak konvergiert, ist die Folge ihrer Summanden (ak)k∈N0

eine Nullfolge.

Beweis. Satz 1.16.3 gilt insbesondere fur m = n. Fur jedes ε > 0 ist daher |∑mk=m ak| =

|am| ≤ ε ab einer Stelle. �

Lemma 1.16.5. Eine Reihe mit positiven Summanden ist genau dann konvergent, wennsie beschrankt ist.

Beweis. Wenn die Summanden positiv sind, bilden die Partialsummen eine streng stei-gende Folge. Wenn diese beschrankt ist, ist sie nach Satz 1.13.8 konvergent. �

Satz 1.16.6 (Minoranten- und Majorantenkriterium). Es sei∑bk eine reelle Reihe.

(1) Fur eine komplexe Reihe∑ak gilt: Wenn ab einer Stelle |ak| ≤ bk ist und

∑∞k=0 bk

konvergiert, dann konvergiert auch∑∞k=0 ak.

(2) Wenn∑ak eine reelle Reihe ist, ab einer Stelle 0 ≤ bk ≤ ak ist und

∑∞k=0 bk

divergiert, dann divergiert auch∑∞k=0 ak.

Beweis. Ob die Abschatzungen in (1) und (2) fur fast alle oder fur alle Summanden derReihe erfullt sind, macht fur ihr Konvergenzverhalten keinen Unterschied. Daher nehmenwir der Einfachheit halber an, dass sie fur alle Summanden erfullt sind.

In (1) sind die Partialsummen∑nk=0 |ak| wegen

0 ≤n∑k=0

|ak| ≤∞∑k=0

bk

beschrankt. Daher konvergiert∑∞k=0 |ak| nach Lemma 1.16.5.

In (2) sind die Partialsummen∑nk=0 ak nicht beschrankt und

∑∞k=0 ak ist daher nach

Lemma 1.16.5 divergent. �

Definition 1.16.7. Die Reihe∑∞k=0 bk aus Satz 1.16.6 heißt in (1) konvergente Majo-

rante und in (2) divergente Minorante von∑∞k=0 ak.

Beispiel 1.16.8. Die Reihe∞∑n=1

1

ns

divergiert fur s ≤ 1 und konvergiert fur 1 < s.

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34 1. ZAHLEN UND FOLGEN

Beweis. Fur s = 1 ist

2k∑n=1

1

n= 1 +

1

2+

(1

3+

1

4

)︸ ︷︷ ︸

> 12

+

(1

5+

1

6+

1

7+

1

8

)︸ ︷︷ ︸

> 12

+ . . .+

(1

2k−1 + 1+ . . .+

1

2k

)︸ ︷︷ ︸

> 12

≥ 1 + k1

2.

Letzterer Term divergiert gegen∞, wenn k gegen∞ geht. Also divergieren auch die Partial-summen gegen ∞. Fur s < 1 ist 1/ns > 1/n nach Lemma 1.14.4, und

∑∞n=0 1/ns divergiert

nach Satz 1.16.6.2. Fur s > 1, ist

2k+1−1∑n=1

1

ns= 1 +

(1

2s+

1

3s

)︸ ︷︷ ︸≤2 1

2s

+

(1

4s+ . . .+

1

7s

)︸ ︷︷ ︸

≤22 122s

+ . . .+

(1

2ks+ . . .+

1

(2k+1 − 1)s

)︸ ︷︷ ︸

≤2k 1

2ks

≤ 1 +1

2s−1+

(1

2s−1

)2

+ . . .+

(1

2s−1

)k=

1− ( 12s−1 )k+1

1− 12s−1

<1

1− 12s−1

,

somit beschrankt und die Reihe nach Lemma 1.16.5 konvergent, wobei wir hier die Sum-menformel fur die geometrische Reihe verwendet haben, siehe Beispiel 1.16.2. �

Die Reihe∑∞n=1 1/n wird harmonische Reihe genannt.

Definition 1.16.9. Eine Reihe∑∞k=0 ak heißt absolut konvergent, wenn

∑∞k=0 |ak| kon-

vergiert.

Lemma 1.16.10. Absolut konvergente Reihen konvergieren.

Beweis. Nach Satz 1.16.3 bedeutet absolute Konvergenz von∑∞k=0 ak, dass es fur alle

ε > 0 ein N gibt, sodass fur alle m,n ≥ N der Betrag |∑nk=m |ak|| < ε ist. Daraus folgt

durch die Dreiecksungleichung |∑nk=m ak| < ε, womit die Reihe konvergiert. �

Satz 1.16.11 (Leibnitz-Kriterium). Wenn (ak)k∈N0monoton fallend gegen 0 konver-

giert, dann konvergiert ∑k∈N

(−1)kak = a0 − a1 + a2 − a3 + . . .

gegen eine Zahl s und |s− sn| ≤ an+1, genauer:

s2n − s ≤ a2n+1 und s− s2n+1 ≤ a2n+2,

wobei sn die n-te Partialsumme der Reihe bezeichnet.

Beweis. Fur die n-ten Partialsummen sn =∑nk=0(−1)kak gilt

s0 ≥ s2 ≥ s4 ≥ . . . und s1 ≤ s3 ≤ s5 ≤ . . .weil s2n+2 − s2n = a2n+2 − a2n+1 ≤ 0 und s2n+3 − s2n+1 = −a2n+3 + a2n+2 ≥ 0. Außerdemist

s2n ≥ s2n+1 und lim(s2n − s2n+1) = lim−a2n+1 = 0 bzw.

s2n+2 ≥ s2n+1 und lim(s2n+2 − s2n+1) = lim a2n+2 = 0.

Also ist

[s1, s0] ⊃ [s1, s2] ⊃ [s3, s2] ⊃ [s3, s4] ⊃ . . .eine Intervallschachtelung, in der (sn)n∈N liegt. Die Reihe konvergiert daher gegen eine Zahls und es ist |s− sn| ≤ |sn+1 − sn| = an+1. �

Anschaulich gesagt, springen die Partialsummen links-rechts-links usw. um den Grenz-wert s und nahern sich diesem dabei.

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1.16. KONVERGENZKRITERIEN FUR REIHEN 35

Beispiel 1.16.12. Die Reihe∑

(−1)n 1n konvergiert nach dem dem Leibnitz-Kiriterium

(Satz 1.16.11). Sie ist jedoch nicht absolut konvergent, weil die harmonische Reihe divergiert.

Satz 1.16.13 (Wurzel-Kriterium). Ist n√|an| ≤ c fur ein festes positives c < 1 ab einem

Index, dann ist∑an absolut konvergent. Wenn n

√|an| ≥ 1 fur unendlich viele n, dann

divergiert∑an.

Beweis. Wenn ab einer Stelle |an| ≤ cn ist, dann ist∑cn eine konvergente Majorante

von∑|an|. Wenn |an| ≥ 1 fur unendlich viele n, dann ist (an)n∈N keine Nullfolge und

∑an

divergiert. �

Satz 1.16.14 (Quotienten-Kriterium). Ist |an+1/an| ≤ c fur ein festes c < 1 ab einemIndex n, dann ist

∑an absolut konvergent. Wenn |an+1/an| ≥ 1 ab einer Stelle, dann

divergiert∑an.

Beweis. Wenn |an+1/an| ≤ c ab einem Index N , dann ist |aN+1| ≤ c|aN | und |aN+2| ≤c|aN+1| ≤ c2|aN |. Mittels Induktion folgt |aN+k| ≤ ck|aN | fur alle k ∈ N. Also ist |aN |

∑cn

eine konvergente Majorante.Wenn |an+1/an| ≥ 1 ab einer Stelle, dann ist die Folge der Betrage |an| steigend und

daher keine Nullfolge. �

Definition 1.16.15. Wenn k 7→ nk eine Bijektion N0 → N0 ist, nennen wir∞∑k=0

ank

eine Umordnung der Reihe∑∞k=0 ak bzw.

∑∞n=0 an.

Beispiel 1.16.16. Die alternierende harmonische Reihe∑

(−1)n+1/n konvergiert nachdem Leibnitz-Kriterium (Satz 1.16.11). Es ist

1− 1

2+

1

3+

(−1

4+

1

5

)︸ ︷︷ ︸

<0

+

(−1

6+

1

7

)︸ ︷︷ ︸

<0

+ · · · < 1− 1

2+

1

3=

5

6.

Fur die folgende Umordnung ist

1 +1

3− 1

2+

(1

5+

1

7− 1

4

)+

(1

9+

1

11− 1

6

)+ · · · > 1− 1

2+

1

3=

5

6,

weil fur alle k1

4k − 3+

1

4k − 1− 1

2k> 0

ist. Das heißt, der Grenzwert einer Reihe kann sich durch Umordnung andern.

Satz 1.16.17 (Umordnungssatz). Wenn eine Reihe absolut konvergiert, dann konvergiertauch jede ihrer Umordnungen und zwar gegen denselben Grenzwert.

Beweis. Es sei∑∞k=0 ank eine Umordnung von

∑an. Fur jedes N gibt es ein k, so-

dass {n0, n1, n2, . . . , nk} die Zahlen 0, 1, 2, . . . , N enthalt. Wenn m > k, dann treten dieSummanden a0, . . . , aN sowohl in

∑mn=0 an als auch in

∑mi=0 ani auf. Also ist∣∣∣∣∣

m∑n=0

an −m∑i=0

ani

∣∣∣∣∣ ≤nm∑n=0

|an| −N∑n=0

|an|.

Da∑an absolut konvergiert, ist die rechte Seite der letzteren Ungleichung ab einem hin-

reichend großen N (und dementsprechend gewahlten k und m) kleiner als jedes positive ε.Somit wird auch die linke Seite kleiner als jedes ε. Das bedeutet, dass auch die umgeordneteReihe konvergiert, und zwar gegen den Grenzwert der ursprunglichen Reihe. �

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36 1. ZAHLEN UND FOLGEN

Beispiel 1.16.18 (Ubungsbeispiel 27). Sind folgende Reihen konvergent, sind sie absolutkonvergent?

(1)∑ (−1)n

n√n

(2)

∞∑n=0

(n!)2

(2n)!

Beispiel 1.16.19 (Ubungsbeispiel 28). Sind folgende Reihen konvergent, sind sie absolutkonvergent?

(1)∑ 1

2n+ 1(2)

∑ (−1)nn− 7

2n2 − 1

Beispiel 1.16.20 (Ubungsbeispiel 29). Berechne

∞∑n=1

2

n2 + 3n.

Hinweis: Partialbruchzerlegung.

Beispiel 1.16.21 (Ubungsbeispiel 30). Drucken Sie den Wert der Reihe

∞∑n=1

1

(2n− 1)2durch

∞∑n=1

1

n2

aus.

Beispiel 1.16.22 (Ubungsbeispiel 31). Finden Sie eine Umordnung der Reihe

∞∑n=3

(−1)n+1

n,

deren Partialsummen alle negativ sind.

1.16.23 (Theoriefrage 32). Formulieren und beweisen Sie das Cauchy-Kriterium fur re-elle Reihen und leiten Sie daraus ab, dass die Summanden einer konvergenten Reihe eineNullfolge bilden.

1.16.24 (Theoriefrage 33). Warum sind beschrankte reelle Reihen mit positiven Sum-manden konvergent? Formulieren und beweisen Sie das Majoranten- und das Minoranten-kriterium fur Reihen.

1.16.25 (Theoriefrage 34). Zeigen Sie, fur welche positiven s die Reihe∑

1ns konvergent

bzw. divergent ist.

1.16.26 (Theoriefrage 35). Formulieren und beweisen Sie das Leibnitz-Kriterium furReihen. Geben Sie (ohne weiteren Beweis) ein Beispiel einer Reihe an, die nach dem Leibnitz-Kriterum konvergent ist, die aber nicht absolut konvergiert.

1.16.27 (Theoriefrage 36). Formulieren und beweisen Sie das Wurzel-Kriterium fur Rei-hen. Geben Sie (ohne weiteren Beweis) ein Beispiel einer Reihe an, die nach dem Wurzel-Kriterum konvergiert.

1.16.28 (Theoriefrage 37). Formulieren und beweisen Sie das Quotienten-Kriteriumfur Reihen. Geben Sie (ohne weiteren Beweis) ein Beispiel einer Reihe an, die nach demQuotienten-Kriterum konvergiert.

1.16.29 (Theoriefrage 38). Formulieren und beweisen Sie den Umordnungssatz fur abso-lut konvergente Reihen. Zeigen Sie durch ein Gegenbeispiel, dass dieser Satz im Allgemeinennicht fur alle konvergenten Reihen gilt.

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1.17. DAS CAUCHY-PRODUKT VON REIHEN 37

1.17. Das Cauchy-Produkt von Reihen

Definition 1.17.1. Das Produkt (oder Cauchy-Produkt) der Reihen∑an und

∑bn ist

definiert als∑an∑

bn =

∞∑n=0

n∑k=0

akbn−k = (a0b0) + (a0b1 + a1b0) + (a0b2 + a1b1 + a2b0) + . . .

Eine Potenzreihe ist eine Reihe der Form∑anz

n. Die Zahlen an sind ihre Koeffizienten.

Die Notation∑an∑bn hat zwei Bedeutungen, denn abgesehen vom Cauchy-Produkt

kann damit auch der Zahlenwert des Produktes der Limiten gemeint sein, sofern diese exi-stieren. Es sollte daher stets aus dem Zusammenhang klar sein, was mit dieser Schreibweisegemeint ist.

Fur Potenzreihen sind die Koeffizienten∑nk=0 akbn−k des Cauchy-Produkts gerade die

Koeffizienten der Potenz zn:

∑anz

n∑

bnzn =

∞∑n=0

n∑k=0

akzkbn−kz

n−k =

∞∑n=0

(n∑k=0

akbn−k

)zn.

Das folgende Beispiel zeigt, dass das Produkt konvergenter Reihen nicht immer konver-gent ist.

Beispiel 1.17.2. Die Reihe∞∑n=1

(−1)n√n

= −1 +1√2− 1√

3+

1√4· · ·

konvergiert nach Satz 1.16.11. Das Produkt der Reihe mit sich selbst ist jedoch divergent:

∞∑n=1

(−1)n√n

∞∑n=1

(−1)n√n

=

=1√1 · 1

−(

1√1 · 2

+1√2 · 1

)+

(1√1 · 3

+1√2 · 2

+1√3 · 1

)− · · ·

∞∑n=2

(n−1∑k=1

(−1)k√k

(−1)n−k√n− k

)=

∞∑n=2

(−1)nn−1∑k=1

1√k(n− k)

=

Wir erganzen k(n− k) = nk − k2 zu einem Quadrat

n2

4− nk + k2 = (

n

2− k)2 ≥ 0

und erhalten

k(n− k) ≤ n2

4bzw.

1

k(n− k)≥ 4

n2und

1√k(n− k)

≥ 2

n.

Also istn−1∑k=1

1√k(n− k)

≥n−1∑k=1

2

n=

2(n− 1)

n.

Letzterer Ausdruck konvergiert gegen 2, daher bilden die Summanden (−1)n∑n−1k=1

1√k(n−k)

der Produktreihe keine Nullfolge. Folglich divergiert die Produktreihe.

Lemma 1.17.3. Das Produkt einer absolut konvergenten Reihe mit einer Reihe, diegegen 0 konvergiert, konvergiert absolut gegen 0.

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38 1. ZAHLEN UND FOLGEN

Beweis. Es sei∑an absolut konvergent und

∑bn konvergent gegen 0. Wir setzen

α =∑|an| und βn =

∑nk=0 bk. Die n-te Partialsumme des Produkts ist die Summe aller

Paare akbl mit k + l ≤ n, also

n∑k=0

k∑i=0

aibk−i = a0(b0 + . . .+ bn) + a1(b0 + . . .+ bn−1) + . . .+ an(b0) =

n∑i=0

aiβn−i.

Wegen limβn = 0 gibt es fur jedes ε > 0 ein N , sodass |βn| < ε fur alle n > N . Es ist∣∣∣∣∣n∑i=0

aiβn−i

∣∣∣∣∣ = |a0βn + a1βn−1 + . . .+ anβ0| ≤

|a0|ε+ |a1|ε+ . . .+ |an−(N+1)|ε+ |an−NβN + . . .+ anβ0| ≤ αε+ |an−NβN + . . .+ anβ0| .Bei fest gewahltem ε und davon abhangigem festen N ist

limn→∞

|an−NβN + . . .+ anβ0| = 0

und daher

lim supn→∞

∣∣∣∣∣n∑i=0

aiβn−i

∣∣∣∣∣ ≤ αεfur jedes ε > 0. Also ist dieser Limes superior ein Limes und gleich Null. Das heißt,|∑an∑bn| = 0 und somit

∑an∑bn = 0. �

Satz 1.17.4. Das Produkt einer absolut konvergenten Reihe mit einer konvergenten Rei-he ist absolut konvergent und der Grenzwert des Produkts ist das Produkt der Grenzwerte.

Beweis. Es sei∑an absolut konvergent gegen α und

∑bn konvergent gegen β. Dann

konvergiert∑bn − β gegen 0. Nach Lemma 1.17.3 ist∑an

(∑bn − β

)= 0 und daher

∑an∑

bn =(∑

an

)β = αβ.

Beispiel 1.17.5 (Ubungsbeispiel 32). Zeigen Sie mithilfe von Satz 1.17.4, dass die Reihe

∞∑n=1

(−1)nn−1∑k=1

1

k2(n− k)

konvergent ist.

Beispiel 1.17.6 (Ubungsbeispiel 33). Bestimmen Sie (1) (an) und (2) (bn) so, dass

1

(1− z)2=

∞∑n=0

anzn und

1

(1− z)3=

∞∑n=0

bnzn

ist, wobei z ∈ C mit |z| < 1.

1.17.7 (Theoriefrage 39). Definieren Sie das Cauchy-Produkt von Reihen. Nach welchemKriterium konvergiert

∑∞n=1(−1)n/

√n?

1.17.8 (Theoriefrage 40*). Zeigen Sie, dass das Cauchy-Produkt von∑∞n=1(−1)n/

√n

mit sich selbst divergiert.

1.17.9 (Theoriefrage 41*). Zeigen Sie, dass das Produkt einer absolut konvergentenReihe mit einer Reihe, die gegen 0 konvergiert, absolut gegen 0 konvergiert. Zeigen Sie, dassdies auch gilt, wenn die zweite Reihe gegen eine andere Zahl als 0 konvergiert.

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1.18. DIE EXPONENTIALREIHE 39

1.18. Die Exponentialreihe

Als Konvention definieren wir 00 = 1 und 0! = 1.

Definition 1.18.1. Die Exponentialfunktion ist definiert fur alle z ∈ C als

exp(z) =

∞∑n=0

zn

n!

Satz 1.18.2. Es konvergiert exp(z) fur alle komplexen z, es ist

(1) exp(0) = 1

und fur alle z, w ∈ C gilt

(2) exp(z + w) = exp(z) exp(w),(3) exp(z) 6= 0.

Fur alle x, y ∈ R ist

(4) exp(x) > 0,(5) x < y ⇐⇒ exp(x) < exp(y).

Außerdem ist

(6) limn→∞

exp(n) =∞ und limn→∞

exp(−n) = 0.

Beweis. Aus der Definition von exp(z) folgt unmittelbar exp(0) = 1. Nach dem Quo-tientenkriterium ist exp(z) fur alle komplexen z absolut konvergent, denn

lim supn→∞

zn+1n!

(n+ 1)!zn= lim sup

n→∞

z

(n+ 1)= 0.

Nach Satz 1.17.4 konvergiert daher das Produkt exp(z) exp(w) dieser Reihen und es ist

exp(z) exp(w) =

∞∑n=0

zn

n!

∞∑n=0

wn

n!=

∞∑n=0

n∑k=0

zkwn−k

k!(n− k)!

=

∞∑n=0

1

n!

n∑k=0

(n

k

)zkwn−k =

∞∑n=0

(z + w)n

n!= exp(z + w).

Aus exp(z) exp(−z) = exp(z − z) = exp(0) = 1 folgt

exp(−z) =1

exp(z)

und exp(z) 6= 0 fur alle komplexen z. Fur alle reelle Zahlen x folgt exp(x) > 0.Wenn x > 0, folgt aus Definition 1.18.1, dass exp(x) > 1 ist. Wenn x, y ∈ R und x < y,

dann ist y = x+h und exp(y) = exp(x+h) = exp(x) exp(h), wobei exp(h) > 1 wegen h > 0.Also ist exp(y) > exp(x).

Fur n ∈ N ist nach Definition 1.18.1 exp(n) > 1 + n und somit limn→∞ exp(n) = ∞.Wegen exp(−n) exp(n) = 1 folgt limn→∞ exp(−n) = 0.

Definition 1.18.3. Die Eulersche Zahl ist definiert als e = exp(1).

Satz 1.18.4.

lim

(1 +

1

n

)n= e.

Beweis. Nach dem Binomialsatz ist(1 +

1

n

)n=

n∑k=0

(n

k

)1

nn−k=

n∑k=0

n

n

n− 1

n. . .

n− (k − 1)

n

1

k!≤

n∑k=0

1

k!= e.

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40 1. ZAHLEN UND FOLGEN

Daraus folgt lim sup(1 + 1

n

)n ≤ e. Andererseits ist fur m ≤ n(1 +

1

n

)n≥

m∑k=0

(n

k

)1

nk=

m∑k=0

n

n

n− 1

n. . .

n− (k − 1)

n

1

k!.

Wenn wir in der letzten Summe m konstant und n gegen∞ gehen lassen, strebt diese Summegegen

m∑k=0

1

k!.

Also ist

lim infn→∞

(1 +

1

n

)n≥∞∑k=0

1

k!= e.

Das heißt

lim inf

(1 +

1

n

)n≥ e ≥ lim sup

(1 +

1

n

)n,

woraus die Aussage folgt. �

Beispiel 1.18.5 (Ubungsbeispiel 34). Sind folgende Reihen konvergent?

(1)

∞∑n=0

( ∞∑k=0

(−1)k

k!

)n(2)

∑(n

n+ 1

)2n

1.18.6 (Theoriefrage 42). Wie ist die Exponentialreihe exp(z) definiert? Zeigen Sieexp(z) exp(w) = exp(z + w) fur alle z, w ∈ C und exp(x) > 0 fur alle x ∈ R.

1.18.7 (Theoriefrage 43). Zeigen Sie lim(1 + 1

n

)n=∑∞n=0

1n! .

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KAPITEL 2

Stetigkeit

2.1. Metrische Raume

Definition 2.1.1. Wenn X eine Menge und d eine Abbildung X × X → R ist, dannheißt das Paar (X, d) metrischer Raum, wenn fur alle x, y und z gilt:

(1) d(x, y) > 0 wenn x 6= y und d(x, x) = 0 (Definitheit),(2) d(x, y) = d(y, x) (Symmetrie),(3) d(x, y) + d(y, z) ≥ d(x, z) (Dreiecksungleichung).

Die Abbildung d heißt Metrik.

Beispiel 2.1.2. Alle bisher kennengelernten Zahlenbereiche N, Z, Q, R, C sowie alleTeilmengen davon sind metrische Raume. Auch R2 = R × R ist ein metrischer Raum, z.B.mit

d1((x1, y1), (x2, y2)) =√

(x2 − x1)2 + (y2 − y1)2,

d2((x1, y1), (x2, y2)) = |x2 − x1|+ |y2 − y1| oder

d3((x1, y1), (x2, y2)) = max{|x2 − x1|, |y2 − y1|}.

In der Ebene ist d1 der direkte euklidische Abstand und d2 ist die Lange eines kurzestenWeges, der sich in waagrechte und senkrechte Teilabschnitte zerlegen lasst.

Definition 2.1.3. Wenn x ∈ X und ε > 0, dann heißt

Uε(x) = {y ∈ X | d(x, y) < ε}

offene ε-Umgebung von x im metrischen Raum (X, d). Ein Punkt x heißt innerer Punkteiner Menge M ⊂ X und M heißt Umgebung von x, wenn M eine offene ε-Umgebung von xenthalt. Die Menge M heißt offen, wenn sie nur aus inneren Punkten besteht, und sie heißtabgeschlossen, wenn ihr Komplement X \M offen ist.

Beispiel 2.1.4. Offene Intervalle in Q bzw. in R sind offene Mengen, abgeschlosseneIntervalle sind abgeschlossene Mengen in Q bzw. in R. Die offene Kreisscheibe

{(x, y) ∈ R2 | (x− a)2 + (y − b)2 < r2}

mit Mittelpunkt (a, b) und Radius r ist eine offene Teilmenge von (R2, d1) mit d1 aus Bei-spiel 2.1.2, aber auch bezuglich der anderen Abstandsfunktionen d2 oder d3.

Beispiel 2.1.5 (Ubungsbeispiel 35). Ist (R2, d) ein metrischer Raum fur

d((x1, y1), (x2, y2)) = (x2 − x1)2 + (y2 − y1)2?

2.2. Stetigkeit in metrischen Raumen

Definition 2.2.1. Wenn f eine Funktion X → Y ist, bezeichnet

f−1(A) = {x ∈ X | f(x) ∈ A}

das Urbild oder das f -Urbild der Menge A.Es seien (X1, d1) und (X2, d2) metrische Raume und x0 ∈ X1. Eine Funktion X1 → X2

heißt stetig in x0, wenn das Urbild jeder Umgebung von f(x0) eine Umgebung von x0 ist.

41

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42 2. STETIGKEIT

Die Funktion heißt stetig auf einer Menge, wenn sie in jedem Punkt der Menge stetig ist,und sie heißt stetig, wenn sie auf dem ganzen Definitionsbereich stetig ist.

Eine Funktion ist unstetig an einer Stelle, wenn sie an dieser Stelle definiert, aber nichtstetig ist. Eine solche Stelle heißt Unstetigkeitsstelle.

Beispiel 2.2.2. Es seien f1, f2, f3, f4 : R → R Funktionen mit f1(x) = x, f2(x) = 1f3(x) = |x| und f4(x) = sign(x). Die Funktionen f1, f2, f3 sind auf ganz R stetig, f4 ist aufR \ {0} stetig, jedoch unstetig in 0.

Fur x ∈ R und ein beliebiges ε > 0 betrachten wir die Urbilder der Umgebungen

(fi(x)− ε, fi(x) + ε).

Fur i = 1 ist das Urbild von (f1(x)− ε, f1(x) + ε) = (x− ε, x+ ε) gleich

f−11 ((x− ε, x+ ε)) = (x− ε, x+ ε)

und daher eine Umgebung von x. Also ist f1 stetig in jeder Stelle x.Fur i = 2 ist das Urbild von (f2(x) − ε, f2(x) + ε) = (1 − ε, 1 + ε) gleich R und somit

eine Umgebung von jedem Punkt x. Also ist f2 stetig auf R.Das f3-Urbild von (f3(x)− ε, f3(x) + ε) fur x 6= 0 ist (−x− ε,−x+ ε)∪ (x− ε, x+ ε) fur

ε < |x|. Fur x = 0 ist f3(0) = 0 und das f3-Urbild von (−ε, ε) ist wieder (−ε, ε) und somiteine Umgebung von 0.

Die Funktion f4 ist auf R+ und auf R− stetig, weil sie dort konstant ist. Fur x < 0ist das Urbild jeder Umgebung von f4(x) = −1 gleich R− und wenn x > 0 ist das Urbildjeder Umgebung von f4(x) = 1 gleich R+. Es ist (−1/2, 1/2) eine Umgebung von f4(0) = 0,jedoch ist das Urbild dieser Umgebung {0} und somit keine Umgebung von 0. Daher ist 0eine Unstetigkeitsstelle von f4.

Die Funktion f : R \ {0} → R mit f(x) = 1/x ist auf ihrem ganzen Definitionsbereichstetig. Es ware falsch zu sagen, dass die Funktion in 0 unstetig ist, weil sie dort nicht definiertist.

x

f1(x)f1(x) = x

x

f2(x)

f2(x) = c

x

f3(x)

f3(x) = |x|

x

f4(x)

f4(x) = sign(x)

Abbildung 1. Stetige und unstetige Funktionen

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2.2. STETIGKEIT IN METRISCHEN RAUMEN 43

Definition 2.2.3. Ein Punkt x ∈ X in einem metrischen Raum (X, dX) heißt isoliert,wenn er kein Haufungspunkt von X ist. In so einem Fall gibt es eine Umgebung von x, die nurendlich viele Elemente hat. Wenn dies der Fall ist, dann gibt es ε > 0, sodass Uε(x) = {x}ist. Anders formuliert: Der Punkt x ist genau dann isoliert, wenn {x} eine Umgebung vonx ist.

In einem isolierten Punkt p ist jede Funktion stetig, denn das Urbild jeder Umgebungvon f(p) enthalt p und ist daher eine Umgebung von p. Im Folgenden setzen wir fur allemetrischen Raume voraus, dass sie keine isolierten Punkte haben. Solche metrischen Raumewerden auch perfekt genannt.

Definition 2.2.4. Es seien (X, dX) und (Y, dY ) metrische Raume, D ⊂ X, f : D → Yeine Abbildung, p ein Haufungspunkt von D und q ∈ Y . Wir schreiben

limx→p

f(x) = q

oder f(x) → q fur x → p, falls es fur alle ε > 0 ein δ > 0 gibt, sodass fur alle x ∈ D mit0 < dX(x, p) < δ die Ungleichung dY (f(x), q) < ε erfullt ist.

Anders formuliert: Wir schreiben limx→p f(x) = q, wenn es fur jede Umgebung V in Yvon q eine Umgebung U von p in X gibt, sodass f((U ∩D) \ {p}) ⊂ V ist.

Anschaulich formuliert ist der Limes einer Funktion an einer Stelle der Wert, gegen densich die Funktion annahert, wobei die Stelle p selbst außer Acht gelassen wird. Es kann psogar außerhalb des Definitionsbereichs D liegen.

Beispiel 2.2.5. Es sei f : R→ R gegeben durch

f(x) =

{1 wenn x = 0,

0 wenn x 6= 0.

Dann existiert limx→0 f(x) und ist gleich 0 und somit ungleich dem Funktionswert f(0) = 1.

x

f(x)

Abbildung 2. Funktion mit limx→0 f(x) 6= f(0)

Die reelle Vorzeichenfunktion f mit f(x) = sign(x) aus Beispiel 2.2.2 hat in 0 jedochkeinen Limes.

Gelegentlich wird der Funktionenlimes auch anders definiert und die Stelle selbst beruck-sichtigt. In so einem Fall wird also verlangt, dass der Limes mit dem Funktionswert an derbetreffenden Stelle ubereinstimmt.

Satz 2.2.6. Es seien (X, dX) und (Y, dY ) metrische Raume ohne isolierte Punkte, feine Abbildung X → Y . Dann sind folgende Aussagen aquivalent:

(1) Die Funktion f ist stetig in p. Das heißt, fur jede Umgebung U von f(p) ist f−1(U)eine Umgebung von p.

(2) Fur alle ε > 0 gibt es ein δ > 0, sodass dY (f(x), f(p)) < ε ist fur alle x mitdX(x, p) < δ (“ε-δ-Definition” der Stetigkeit).

(3) Es ist limx→p f(x) = f(p).

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44 2. STETIGKEIT

(4) Fur jede Folge (xn) in X mit limxn = p und xn 6= p ist lim f(xn) = f(p). (Fol-genkriterium)

Beweis. Wenn (1) erfullt ist, dann ist fur jedes ε > 0 das Urbild f−1(Uε(f(p)) ei-ne Umgebung von p. Folglich gibt es ein δ > 0 mit Uδ(p) ⊂ f−1(Uε(f(p)). Daraus folgtf(Uδ(p)) ⊂ Uε(f(p)) und es ist dY (f(x), f(p)) < ε fur alle x mit dX(x, p) < δ. Also gilt(1)⇒ (2).

Wenn (2) erfullt ist, gibt es fur alle ε > 0 ein δ > 0 mit f(Uδ(p)) ⊂ Uε(f(p)). Dasbedeutet nach Definition 2.2.4, dass limx→p f(x) = f(p) ist, also folgt Bedingung (3).

Angenommen es gilt (3) und limxn = p. Dann sei Uε(f(p)) eine beliebig kleine Umge-bung von f(p). Nach Definition 2.2.4 gibt es δ > 0, sodass

f(Uδ(p)) ⊂ Uε(f(p)).

Wegen limxn = p liegt die Folge (xn) ab einer Stelle in Uδ(p) und daher die Folge (f(xn)) abeiner Stelle in f(Uδ(p)) und somit in Uε(f(p)). Das bedeutet, dass (f(xn)) in jeder beliebigkleinen Umgebung von f(p) ab einer Stelle liegt und gegen f(p) konvergiert, womit (3)⇒(4) gezeigt ist.

Um die Implikation (4) ⇒ (1) zu zeigen, nehmen wir indirekt an, dass (4) erfullt und(1) nicht erfullt ist. Dann gibt es eine Umgebung Uε(f(p)) von f(p), deren Urbild keineUmgebung von p ist. Das heißt, es liegen Punkte x beliebig nahe bei p mit x /∈ f−1(Uε(f(p)))bzw. f(x) /∈ Uε(f(p)). Daher existieren xn mit |xn − p| < 1/n und f(xn) /∈ Uε(f(p)). Somitist limxn = p, aber (f(xn)) konvergiert nicht gegen f(p). Das ist ein Widerspruch, folglichmuss (1) doch gelten.

Damit haben wir die Implikationskette (1) ⇒ (2) ⇒ (3) ⇒ (4) ⇒ (1) bewiesen. Dasbedeutet, die vier Aussagen sind aquivalent. �

Korollar 2.2.7. Es seien f und g komplexwertige Abbildungen auf einem metrischenRaum, die stetig an einer Stelle p sind. Dann sind auch die Funktionen f + g und f · g stetigin p und es ist limx→p(f(x)+g(x)) = limx→p(f+g)(x) bzw. limx→p(f(x)·g(x)) = limx→p(f ·g)(x). Wenn g(x) 6= 0 fur alle x, dann ist auch f/g stetig in p und limx→p(f(x)/g(x)) =limx→p(f/g)(x).

Beweis. Es sei f stetig in p und (xn) eine beliebige Folge mit limxn = p. Dann istnach Satz 2.2.6.4 lim f(xn) = f(p) und lim g(xn) = g(p). Mit Satz 1.8.5 folgt

lim(f + g)(xn) = lim(f(xn) + g(xn)) = lim f(xn) + lim g(xn) = f(p) + g(p) = (f + g)(p).

Daher ist f+g nach Satz 2.2.6 stetig in p. Dass f ·g und f/g stetig in p sind, folgt analog. �

Lemma 2.2.8. Fur alle N ∈ N und z ∈ C mit |z| ≤ N+22 ist

ez =

N∑n=0

zn

n!+RN+1(z) mit |RN+1| ≤ 2

|z|N+1

(N + 1)!.

Beweis.

RN+1(z) =

∞∑n=0

zn

n!−

N∑n=0

zn

n!=

∞∑n=N+1

zn

n!,

|RN+1(z)| ≤∞∑

n=N+1

|z|n

n!=|z|N+1

(N + 1)!

(1 +

|z|N + 2

+|z|2

(N + 2)(N + 3)︸ ︷︷ ︸≤ |z|2

(N+2)2

+ . . .)

≤ |z|N+1

(N + 1)!

∞∑k=0

(|z|

N + 2

)k≤

|z|≤N+22

|z|N+1

(N + 1)!

∞∑k=0

(1

2

)k= 2 · |z|

N+1

(N + 1)!.

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2.2. STETIGKEIT IN METRISCHEN RAUMEN 45

Lemma 2.2.9. Die Exponentialfunktion ist stetig auf ganz C.

Beweis. Es sei p ∈ C und ε > 0. Dann ist

|ez − ep| = |epez−p − ep| = |ep| · |ez−p − 1|.Nach Lemma 2.2.8 ist fur N = 0

|ez−p| ≤ 1 + 2|z − p| und |ep−z| ≤ 1 + 2|z − p| woraus |e|z−p|| ≤ 1 + 2|z − p|

folgt. Wegen e|z−p| ≥ 1 ist

|e|z−p|| − 1 = |e|z−p| − 1| ≤ 2|z − p|.Insgesamt erhalten wir

|ez − ep| = |ep| · |ez−p − 1| ≤ |ep| · 2|z − p|.Daher ist fur alle z mit |z − p| < ε/(2|ep|) =: δ der Betrag |ez − ep| < ε. Also ist dieExponentialfunktion nach Satz 2.2.6.2 stetig. �

Satz 2.2.10. Es seien (X, dX) und (Y, dY ) metrische Raume und f : X → Y , dann istf genau dann stetig, wenn das Urbild jeder offenen Menge offen ist.

Beweis. Wenn das Urbild jeder offenen Menge offen ist, ist das Urbild einer offenenUmgebung von f(p) offen und somit eine Umgebung von p. Also ist f stetig in p.

Es sei f stetig und O eine offene Menge in Y . Fur jedes p ∈ X mit f(p) ∈ O gibt es eineoffene Umgebung U(p) mit f(U(p)) ⊂ O. Das Urbild f−1(O) ist die Vereinigung all dieseroffenen Umgebungen und somit offen. �

Satz 2.2.11. Es seien (X, dX), (Y, dY ) und (Z, dZ) metrische Raume, g : X → Y undf : g(X)→ Z. Wenn g stetig in p und f stetig in g(p) ist, dann ist auch f ◦ g stetig in p.

Beweis. Es sei p ∈ X und ε > 0 beliebig. Weil f stetig an der Stelle g(p) ist, gibt esein δ > 0, sodass

f (Uδ(g(p))) ⊂ Uε (f(g(p))) = Uε (f ◦ g(p)) .

Weil g stetig in p ist, gibt es ein η > 0, sodass

g (Uη(p)) ⊂ Uδ (g(p)) .

Daraus folgt

f ◦ g (Uη(p)) ⊂ Uε (f ◦ g(p)) .

Das bedeutet, dass f ◦ g stetig in p ist. �

Beispiel 2.2.12 (Ubungsbeispiel 36). Es seien f, f1, f2, f3 : R → R reelle Funktionenmit f1(x) = f(−x), f2(x) = f(2x) und f3(x) = (x + 2). Wie sehen die Graphen von f1, f2und f3 im Vergleich zu jenem von f aus? Veranschaulichen Sie durch Skizzen.

Beispiel 2.2.13 (Ubungsbeispiel 37). Auf welcher Menge ist die Funktion f : R → Rmit

f(x) =

1, falls x < 0,

x, falls 0 ≤ x ≤ 1,

ex, falls x > 1,

stetig? Begrunden Sie, an welchen Stellen die Funktion nicht stetig ist, indem Sie von einerUmgebung des Bildpunktes zeigen, dass sie die Definition der Stetigkeit nicht erfullt.

Beispiel 2.2.14 (Ubungsbeispiel 38). Es sei f : R→ R mit

f(x) =

{0, wenn x < 0,

1, fur x ≥ 0..

(1) Finden Sie eine Umgebung von 1, deren f -Urbild keine um Umgebung von 0 ist.

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46 2. STETIGKEIT

(2) Finden Sie ein ε > 0, fur das es kein δ > 0 mit

|x− 0| < δ =⇒ |f(x)− f(0)| < ε

gibt.(3) Finden Sie ein Folge (xn)n∈N in R \ {0} mit limn→∞ xn = 0, fur die (f(xn)) nicht

gegen f(0) konvergiert.

Beispiel 2.2.15 (Ubungsbeispiel 39). Zeigen Sie, dass e zwischen 2 und 3 liegt. Siekonnen dafur die Restgliedabschatzung der Exponentialreihe verwenden.

2.2.16 (Theoriefrage 44). Was ist ein metrischer Raum? Wie ist Stetigkeit einer Funktionzwischen metrischen Raumen an einer Stelle definiert? Zeigen Sie von einfachen gegebenenFunktionen (ahnlich wie in Beispiel 2.2.2), dass sie unstetig bzw. stetig an einer Stelle sind.

2.2.17 (Theoriefrage 45). Es sei f eine Funktion zwischen metrischen Raumen. Wielautet die sogenannte ε-δ-Definition der Stetigkeit an einer Stelle? Definieren Sie den Limeseiner Funktion. Zeigen Sie, dass limx→p f(x) = f(p) ist, wenn f in p die ε-δ-Definition derStetigkeit erfullt.

2.2.18 (Theoriefrage 46). Wie lautet das Folgenkriterium fur die Stetigkeit von Funk-tionen zwischen metrischen Raumen? Zeigen Sie, dass eine Funktion stetig ist, wenn sie dasFolgenkriterium erfullt.

2.2.19 (Theoriefrage 47*). Zeigen Sie eine Restgliedabschatzung fur die Exponentialreiheund leiten Sie daraus ab, dass die komplexe Exponentialfunktion stetig ist.

2.2.20 (Theoriefrage 48). Zeigen sie, dass eine Funktion zwischen metrischen Raumengenau dann stetig ist, wenn das Urbild jeder offenen Menge offen ist.

2.2.21 (Theoriefrage 49). Welche Resultate konnen verwendet werden um zu zeigen,dass die Summe zweier stetiger Funktionen stetig ist? Zeigen sie, dass die Zusammensetzungstetiger Funktionen stetig ist.

2.3. Stetigkeit reeller Funktionen

Zwei Eigenschaften zeichnen die reellen Zahlen gegenuber allgemeinen metrischen Raum-en aus: Vollstandigkeit und lineare Ordnung. In diesem Kapitel behandeln wir Aussagen uberreelle Funktionen, bei denen diese beiden Eigenschaften eine zentrale Rolle spielen.

Definition 2.3.1. Es sei D ⊂ R, p ein Haufungspunkt von D ∩ (p,∞) und f : D → R.Dann schreiben wir

limx→p+

f(x) = q

wenn fur jede Folge (xn) in D ∩ (p,∞) die Folge (f(xn)) gegen q konvergiert und wirnennen q den rechtsseitigen Grenzwert von f in p. Den linksseitigen Grenzwert von f in plimx→p− f(x) = q definieren wir analog fur Folgen in D ∩ (−∞, p).

Wenn D unbeschrankt nach oben ist, ist der Grenzwert von f in Unendlich

limx→∞

f(x) = q,

wenn fur jede Folge in D, die bestimmt gegen ∞ divergiert, die Folge f(xn) gegen q konver-giert. Analog definieren wir

limx→−∞

f(x) = q,

uber Folgen, die bestimmt gegen −∞ divergieren.Wenn die Folgen f(xn) bestimmt divergieren, bezeichnen wir die entsprechenden unei-

gentlichen Limiten mit

limx→p±∞ und lim

x→±∞±∞.

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2.3. STETIGKEIT REELLER FUNKTIONEN 47

Fur eine reelle Funktion existiert limx→p f(x) genau dann, wenn limx→p+ f(x) undlimx→p− f(x) existieren und limx→p+ f(x) = limx→p− f(x) ist. Die Funktion f ist genaudann stetig in p, wenn limx→0+ f(x) = limx→0− f(x) = f(p) ist.

Beispiel 2.3.2. (1) Es ist limx→0+ sign(x) = 1 und limx→0− sign(x) = −1.(2) Die Abbildung x 7→ 1/x ist auf R \ {0} definiert und es ist

limx→0+

1

x=∞, lim

x→0−

1

x= −∞ und lim

x→∞

1

x= limx→−∞

1

x= 0.

(3) Analog zu Beispiel 1.8.11 seien a0, a1, . . . , ak, b0, b1, . . . , bl Zahlen mit ak 6= 0, bl 6=0, und f : D → R eine Funktion mit

f(x) =a0 + a1x+ a2x

2 + . . .+ akxk

b0 + b1x+ b2x2 + . . . blxl,

wobei D die Menge der reellen Zahlen ist, fur die obiger Nenner nicht Null ist.Solche Funktionen werden auch rationale Funktionen genannt. Dann ist

limx→∞

f(x) =

akbl, falls k = l,

0, falls k < l,

∞, falls l < k und akbl> 0,

−∞, falls l < k und akbl< 0.

Die Falle k = l und k < l folgen aus Beispiel 1.8.11. Wenn l < k, erhalten wir

f(x) = xk−la0x−k + a1x

1−k + a2x2−k + . . .+ ak

b0x−l + b1x1−l + b2x2−l + . . . bl.

Der Grenzwertsatz 1.8.5 fur Folgen impliziert, dass der letztere Bruch gegen ak/blstrebt. Angenommen, es ist ak/bl > 0, dann gibt es ein x0, sodass f(x) fur x > x0in der Umgebung (ak/(2bl),∞) von ak/bl liegt, wobei c = ak/(2bl) > 0 ist. Also istf(x) > cxk−l ≥ cx fur x ≥ x0. Fur x → ∞ strebt cx → ∞ und somit f(x) → ∞.Der Fall ak/bl wird analog gezeigt.

Satz 2.3.3 (Zwischenwertsatz). Es sei f : [a, b]→ R eine stetige Abbildung.Wenn f(a) ≤ f(b), dann gibt es fur alle q ∈ [f(a), f(b)] ein p ∈ [a, b] mit f(p) = q.Falls f(b) ≤ f(a), dann gibt es fur alle q ∈ [f(b), f(a)] ein p ∈ [a, b] mit f(p) = q.

Beweis. Wir definieren eine Intervallschachtelung rekursiv durch I0 = [a, b] und wennIn = [an, bn], dann setzen wir

In+1 = [an+1, bn+1] =

{[an,

bn+an2 ], wenn f

(bn+an

2

)≥ q und

[ bn+an2 , bn], wenn f(bn+an

2

)< q.

Fur alle n ∈ N ist somit f(an) ≤ q ≤ f(bn). Es sei p die reelle Zahl, die durch die Intervall-schachtelung definiert ist. Dann ist

lim(an) = lim(bn) = p.

Weil f stetig ist, gilt

lim(f(an)) = lim(f(bn)) = f(p).

Nach dem Sandwich Theorem 1.8.7 folgt aus f(an) ≤ q ≤ f(bn), dass f(p) = q ist und somitdie erste Aussage des Satzes.

Wenn f(b) ≤ f(a), ist −f(a) ≤ −f(b) und die bereits bewiesene Aussage angewendetauf −f liefert zu jedem −q ∈ [−f(a),−f(b)] ein p ∈ [a, b] mit −f(p) = −q und somitf(p) = q. �

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48 2. STETIGKEIT

Beispiel 2.3.4. Jede reelle Polynomfunktion mit ungeradem Grad hat eine Nullstelle.Formal: Es sei f : R→ R eine Polynomfunktion ungeraden Grades, also

f(x) = c2n+1x2n+1 + . . .+ c0

mit c2n+1 6= 0 und n ≥ 0. Nach Beispiel 2.3.2.3 ist limn→∞ f(x) =∞ und limn→−∞ f(x) =−∞, wenn c2n+1 > 0 bzw. limn→∞ f(x) = −∞ und limn→−∞ f(x) = ∞, wenn c2n+1 < 0.Also gibt es ein Intervall [a, b] mit f(a) ≤ 0 ≤ f(b) oder ein Intervall [a, b] mit f(b) ≤ 0 ≤f(a). Nach dem Zwischenwertsatz existiert ein p mit f(p) = 0.

Definition 2.3.5. Eine reelle Funktion f : D → R heißt beschrankt, wenn die Bildmengef(D) beschrankt ist.

Satz 2.3.6. Eine stetige Funktion auf einem abgeschlossenen Intervall ist beschranktund nimmt Supremum und Infimum ihres Wertebereichs an (und besitzt daher Minimum undMaximum). Anders ausgedruckt: Wenn f : [a, b] → R stetig ist, dann gibt es p1, p2 ∈ [a, b],sodass f(p1) ≤ f(x) ≤ f(p2) fur alle x ∈ [a, b].

Beweis. Wir definieren q2 = sup f([a, b]), wobei q2 ∈ R∪{∞}. Es sei (xn) eine beliebige(nicht notwendigerweise konvergente) Folge in [a, b] mit lim f(xn) = q2. Nach dem Satzvon Bolzano-Weierstraß 1.13.5 gibt es eine konvergente Teilfolge (xnk) und es sei p2 =limk→∞ xnk . Weil f stetig ist, ist limk→∞ f(xnk) = f(p2) = q2, also ist q2 ein reelle Zahlund f(x) ≤ f(p2) fur alle x ∈ [a, b]. �

Beispiel 2.3.7. Die folgenden Beispiele zeigen, dass Satz 2.3.6 im Allgemeinen nichtgilt, wenn eine der Voraussetzungen verletzt ist.

(1) Auf dem halboffenen Intervall (0, 1] ist f1 mit f1(x) = x zwar beschrankt, es hataber die Bildmenge f1((0, 1]) kein Minimum. Die Funktion f2 : x 7→ 1/x ist aufdiesem Intervall stetig, aber trotzdem unbeschrankt.

(2) Die Funktion f3 : [0, 1]→ R mit f3(x) = sign(x)−x ist zwar auf einem abgeschlos-senen Intervall definiert und beschrankt, es ist sup f3([0, 1]) = 1, aber es gibt keinp ∈ [0, 1] mit f(p) = 1. Die Funktion f3 ist nicht stetig in 0.

Korollar 2.3.8. Das stetige Bild eines Intervalls ist ein Intervall. Das stetige Bild einesabgeschlossenen Intervalls ist ein abgeschlossenes Intervall.

Anders formuliert: Wenn I ein Intervall ist und f : I → R stetig ist, dann ist f(I) einIntervall. Ist I abgeschlossen, dann ist auch f(I) abgeschlossen.

Beweis. Dass das Bild f(I) einer stetigen Funktion f eines Intervalls I ein Intervallist, folgt aus dem Zwischenwertsatz 2.3.3: Angenommen f(I) ware kein Intervall, dann gabees y1 < q < y2 mit y1, y2 ∈ f(I) und q 6∈ f(I). Nach dem Zwischenwertsatz muss es aber einp ∈ I geben mit f(p) = q. Man beachte, dass Intervalle auch einelementig oder unbeschranktsein konnen.

Wenn I abgeschlossen und f stetig ist, dann ist nach Satz 2.3.6 f(I) = [f(p1), f(p2)]mit f(p1) ≤ f(x) ≤ f(p2) fur alle x ∈ I. �

Beispiel 2.3.9. Der zweite Teil von Korollar 2.3.8 gilt nur fur abgeschlossene Intervalle.Das stetige Bild eines offenen Intervalls kann offen oder abgeschlossen sein. Fur f1 mitf1(x) = x ist jedes Bild eines offenen Intervalls offen.

Wenn f2(x) = c ist das Bild jedes Intervalls {c} = [c, c] und somit ein abgeschlossenesIntervall.

Es sei der Graph f3 : (−2, 2) → R stuckweise linear zwischen den Punkten mit denKoordinaten (−2, 0), (−1, 1), (1,−1), (2, 0), also

f3(x) =

x+ 2 fur − 2 < x ≤ −1,

−x fur − 1 < x ≤ 1,

x− 2 fur 1 < x < 2.

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2.4. STETIGE UMKEHRABBILDUNGEN 49

Dann ist f3 stetig und f3((−2, 2)) = [−1, 1].

Beispiel 2.3.10 (Ubungsbeispiel 40). Es sei f : R \ {3} → R mit

f(x) =2x− 1

3− x.

Bestimmen Sie

limx→3+

f(x), limx→3−

f(x), limx→∞

f(x) und limx→−∞

f(x).

2.3.11 (Theoriefrage 50). Geben Sie ein allgemeines Kriterium, um limx→∞ f(x) furrationale reelle Funktion zu bestimmen, und wenden Sie dieses fur konkrete Beispiele an.

2.3.12 (Theoriefrage 51). Formulieren und beweisen Sie den Zwischenwertsatz.

2.3.13 (Theoriefrage 52). Zeigen Sie, dass eine stetige reelle Funktion auf einem ab-geschlossenen Intervall Maximum und Minimum annimmt. Leiten Sie daraus mithilfe desZwischenwertsatzes ab, dass das stetige Bild eines abgeschlossenen Intervalls wieder ein ab-geschlossenes Intervall ist.

2.4. Stetige Umkehrabbildungen

Definition 2.4.1. Fur eine Menge A bezeichnen wir mit idA die Identitat A→ A mitx 7→ x. Wenn f : A→ B, g : f(A)→ A und g◦f = idA, dann nennen wir g Umkehrabbildungvon f und schreiben f−1 statt g.

Eine Abbildung f hat genau dann eine Umkehrabbildung, wenn sie injektiv ist. Wennf : A → B injektiv ist, dann ist f : A → f(A) bijektiv. Die Umkehrabbildung f−1 istebenfalls bijektiv. Die Abbildung f ist auch die Umkehrabbildung von f−1. Es ist f−1 ◦ f =idA und f ◦ f−1 = idf(A).

Satz 2.4.2. Eine stetige Abbildung auf einem Intervall ist genau dann injektiv, wennsie streng monoton ist.

Beweis. Jede Funktion f : [a, b]→ R, die streng monoton ist, ist injektiv. Angenommenf ist injektiv und stetig. Wir nehmen indirekt an, f sei nicht streng monoton. Dann gibtes x1, x2, x3 ∈ [a, b], x1 < x2 < x3 mit f(x1) ≤ f(x2) und f(x2) ≥ f(x3) oder mit f(x1) ≥f(x2) und f(x2) ≤ f(x3). Im ersteren Fall gibt es fur jedes q ∈ [f(x1), f(x2)]∩ [f(x3), f(x2)]Punkte p1, p2 mit x1 < p1 < x2 < p2 < x3 und f(p1) = f(p2) = q, im Widerspruch zurInjektivitat von f . Im zweiten Fall folgt Gleiches fur q ∈ [f(x2), f(x1)] ∩ [f(x2), f(x3)]. �

Lemma 2.4.3. Die Umkehrfunktion einer streng monoton steigenden (bzw. fallenden)reellen Funktion ist streng monoton steigend (bzw. fallend).

Beweis. Es sei f : D → R injektiv. Streng steigend zu sein, bedeutet fur f

x1 < x2 ⇐⇒ f(x1) < f(x2).

Fur f−1 und y1, y2 ∈ f(D) mit y1 = f(x1) und y2 = f(x2) folgt

f−1(y1) < f−1(y2) ⇐⇒ y1 < y2.

Also ist auf f−1 streng monoton steigend. Streng fallend zu sein, bedeutet fur f

x1 < x2 ⇐⇒ f(x1) > f(x2),

beziehungsweise

f−1(y1) < f−1(y2) ⇐⇒ y1 > y2.

Satz 2.4.4. Existiert die Umkehrabbildung einer stetigen Funktion auf einem Intervall,dann ist sie stetig.

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50 2. STETIGKEIT

Beweis. Nach Satz 2.4.2 sind f und f−1 streng monoton. Wir nehmen an, f ist steigendauf dem Intervall I, dies gilt nach Lemma 2.4.3 auch fur f−1 auf f(I). Es sei q = f(p) eininnerer Punkt von f(I) und ε > 0 beliebig mit (p− ε, p+ ε) ⊂ I. Wegen der Monotonie ist

f(p− ε) < f(p) = q < f(p+ ε).

Es gibt ein δ > 0 mit

f(p− ε) < q − δ < q + δ < f(p+ ε) bzw.

Uδ(q) ⊂ f(Uε(p)) und f−1(Uδ(q)) ⊂ Uε(p). Wenn f fallend ist, lauft der Beweis analog. �

Beispiel 2.4.5. Die reelle Exponentialfunktion ist nach Lemma 2.2.9 stetig und nachSatz 1.18.2.5 streng monoton. Ihre Umkehrfunktion bezeichnen wir mit log und nennen sie(naturlichen) Logarithmus. Der Logarithmus ist nach den Satzen 1.18.2.6 und 2.4.4 definiertund stetig auf exp(R) = R+. Aus Satz 1.18.2.2 folgt fur x, y ∈ R

exp(log(x) + log(y)) = exp(log(x)) exp(log(y)) = xy und folglich

log(x) + log(y) = log(xy).

Außerdem ist log(xn) = n log(x).

Definition 2.4.6. Fur a ∈ R+ und x ∈ R definieren wir ax = ex log(a).

Dach dieser Definition folgt unmittelbar log(ax) = x log(a). Es ist ax eine Verallgemei-nerung ganzzahliger Potenzen, denn fur n ∈ N ist

an = elog(an) = en log(a) = elog(a)+···+log(a) = elog(a) · · · elog(a) = a · · · a.

2.4.7 (Theoriefrage 53). Zeigen Sie, dass eine stetige Abbildung auf einem Intervallgenau dann injektiv ist, wenn sie streng monoton ist.

2.4.8 (Theoriefrage 54). Zeigen Sie, dass eine Umkehrabbildung einer stetigen reellenFunktion stetig ist.

2.4.9 (Theoriefrage 55). Wie ist der reelle Logarithmus definiert? Aus welchen Satzenkonnen Sie ableiten, dass er stetig ist?

2.5. Limiten zu Exponentialfunktion und Logarithmus

Lemma 2.5.1. (1) Fur alle k ∈ N ist

limx→∞

ex

xk=∞, lim

x→∞

xk

ex= 0 und lim

x→0+xke1/x =∞,

denn fur x > 0 ist

ex =

∞∑n=0

xn

n!>

xk+1

(k + 1)!und daher

ex

xk>

x

(k + 1)!→∞ fur x→∞.

Daraus folgt unmittelbar limx→∞xk

ex = 0. Fur y = 1/x ist

limx→0+

xke1/x = limy→∞

ey

yk=∞.

(2) Es folgen

limx→∞

ex =∞ und limx→−∞

ex = 0,

aus dem entsprechenden Limes fur ganzzahlige n statt reeller x, siehe Satz 1.18.2.6,sowie aus der Monotonie und der Stetigkeit der Exponentionalfunktion (Satz 1.18.2.5,Lemma 2.2.9). Fur den Logarithmus (Beispiel 2.4.5) gilt daher

limx→∞

log(x) =∞ und limx→0+

log(x) = −∞.

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2.6. TRIGONOMETRISCHE FUNKTIONEN 51

(3) Fur alle α ∈ R+ ist

limx→0+

xα = 0 und limx→0+

x−α =∞.

Die erste Aussage folgt aus xα = eα log(x) und (2). Die zweite Aussage folgt aus derersten.

(4) Fur alle α ∈ R+ ist

limx→∞

log(x)

xα= 0 und lim

x→0+xα log(x) = 0,

denn

limx→∞

log(x)

xα= limx→∞

log(x)

eα log(x)= limy→∞

y/α

ey=

1

αlimy→∞

y

ey= 0,

wobei y = α log(x). Daraus folgt außerdem

limx→0+

xα log(x) = limy→∞

log(1/y)

yα= limy→∞

− log(y)

yα= 0

mit y = 1/x.(5) Fur alle x ∈ R ist

limh→0

eh − 1

h= 1 und lim

h→0

ex+h − ex

h= ex.

Die Restgliedabschatzung 2.2.8 von eh fur N = 1 mit |h| ≤ (N + 2)/2 = 3/2bedeutet

|eh − h− 1| ≤ 2|h|2

2!= h2

und somit ∣∣∣∣eh − 1

h− 1

∣∣∣∣ =

∣∣∣∣eh − h− 1

h

∣∣∣∣ ≤ |h|,woraus die erste Aussage folgt. Schließlich ist

limh→0

ex+h − ex

h= ex lim

h→0

eh − 1

h= ex.

2.5.2 (Theoriefrage 56). Zeigen Sie limx→∞ex

xk=∞ fur alle k ∈ N sowie limx→∞

log(x)xα =

0 fur alle α ∈ R+.

2.5.3 (Theoriefrage 57). Zeigen Sie limh→0eh−1h = 1 unter Verwendung der Restglie-

dabschatzung der Exponentialfunktion.

2.6. Trigonometrische Funktionen

Es ist

eix =

∞∑n=0

inxn

n!= 1 + ix− x2

2− ix

3

3!+x4

4!+ i

x5

5!− x6

6!− ix

7

7!+x8

8!+ i

x9

9!− · · ·

Definition 2.6.1. Wir definieren Cosinus und Sinus als

cos(x) = Re(eix) =

∞∑n=0

(−1)nx2n

(2n)!= 1− x2

2+x4

4!− x6

6!+x8

8!− · · ·

sin(x) = Im(eix) =

∞∑n=0

(−1)nx2n+1

(2n+ 1)!= x− x3

3!+x5

5!− x7

7!+x9

9!− · · ·

Satz 2.6.2. Fur alle x ∈ R gilt:

(1) Die Reihen cos(x) und sin(x) sind absolut konvergent,(2)

|eix| = cos2(x) + sin2(x) = 1,

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52 2. STETIGKEIT

(3)

cos(x) =eix + e−ix

2, sin(x) =

eix − e−ix

2i,

(4)

cos(x) = cos(−x) und sin(x) = − sin(−x),

(5) die Summenformeln lauten

sin(x± y) = sin(x) cos(y)± cos(x) sin(y),

cos(x± y) = cos(x) cos(y)∓ sin(x) sin(y),

(6)

cos(x)− cos(y) = −2 sinx+ y

2sin

x− y2

sin(x)− sin(y) = 2 cosx+ y

2sin

x− y2

.

(7) Sinus und Cosinus sind stetig.

Beweis. Die absolute Konvergenz folgt zum Beispiel aus dem Quotientenkriterium wiefur die Exponentialfunktion. Es ist

cos2(x) + sin2(x) = (Re(eix))2 + (Im(eix))2 = |eix|2 = eixeix =

eix(

1− ix− x2

2+ i

x3

3!+x4

4!− · · ·

)= eix

∞∑n=0

(−i)nxn

n!= eixe−ix = e0 = 1.

Ebenfalls direkt aus der Reihendarstellung folgen (3) und (4). Es ist

cos(x+ y) + i sin(x+ y) = ei(x+y) = eixeiy = (cos(x) + i sin(x))(cos(y) + i sin(y)) =

(cos(x) cos(y)− sin(x) sin(y)) + i(sin(x) cos(y) + cos(x) sin(y)).

Durch den Vergleich von Real- und Imaginarteil dieser Gleichung ergibt sich (5). Die Aussagefur x− y statt x+ y folgt aus (4). Fur

u =x+ y

2und v =

x− y2

bzw. x = u+ v und y = u− v

ist

cos(x)− cos(y) = cos(u+ v)− cos(u− v) =

cos(u) cos(v)− sin(u) sin(v)−(

cos(u) cos(v) + sin(u) sin(v))

=

−2 sin(u) sin(v) = −2 sinx+ y

2sin

x− y2

.

Die Aussage fur sin(x)− sin(y) folgt analog.Nach Korollar 2.2.7 sind Sinus und Cosinus stetig, weil sie sich als Summe bzw. Differenz

der stetigen Exopnentialfunktionen darstellen lassen. �

In der komplexen Zahlenebene liegen die Punkte (cos(x), sin(x)) wegen Satz 2.6.2.2auf dem Einheitskreis. Daraus gibt sich das gewohnte Bild rechtwinkeligen Dreiecks mitHypthenusenlange 1.

Lemma 2.6.3. (1) Es ist cos(0) = 1 und cos(2) ≤ −1/3.(2) Fur 0 < x ≤ 2 ist sin(x) > 0.(3) Der Cosinus ist streng fallend auf [0, 2].

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2.6. TRIGONOMETRISCHE FUNKTIONEN 53

Beweis. Zunachst ist klar, dass cos(0) = Re(ei0) = 1 ist. Die Reihe

cos(2) =

∞∑k=0

(−1)k22k

(2k)!

erfullt das Leibnitz-Kriterium 1.16.11, in dessen Notation ist s ≤ a0 − a1 + a2. Fur cos(2)bedeutet das

cos(2) ≤ 1− 22

2!+

24

4!= 1− 2 +

2

3= −1

3.

Fur 0 < x ≤ 2 gilt fur die Reihe des Sinus s ≥ a0 − a1, also

sin(x) ≥ x− x3

6= x(1− x2

6) ≥ x(1− 4

6) =

x

3> 0,

womit (2) gezeigt ist. Es sei 0 ≤ x1 < x2 ≤ 2, dann ist

0 <x1 + x2

2≤ 2 und 0 <

x2 − x12

≤ 2.

Nach Satz 2.6.2.7 ist

cos(x2)− cos(x1) = −2 sinx1 + x2

2︸ ︷︷ ︸>0

· sin x2 − x12︸ ︷︷ ︸

>0

< 0

und der Cosinus daher fallend. �

Satz 2.6.4. Es gibt genau ein x0 ∈ [0, 2] mit cos(x0) = 0

Beweis. Wegen cos(0) > 0 und cos(2) < 0 und weil cos stetig ist, gibt es nach demZwischenwertsatz 2.3.3 ein x0 mit cos(x0) = 0. Dass der Cosinus auf [0, 2] keine weitereNullstelle hat, folgt aus seiner strengen Monotonie. �

Definition 2.6.5. Wir definieren die Zahl Pi als π = 2x0, wobei x0 die Nullstelle desCosinus aus Satz 2.6.4 ist.

Nach dieser Definition und nach Lemma 2.6.3 ist

cos(x) > 0 fur 0 ≤ x < π

2, cos

(π2

)= 0, cos(x) < 0 fur

π

2< x ≤ 2.

Nach Satz 2.6.2.2 ist cos2(x) + sin2(x) = 1 und daher sin(π2

)= 1. Daher ist

cos(kπ

2

)+ i sin

(kπ

2

)= eik

π2 = (ei

π2 )k =

(cos(π

2

)+ i sin

(π2

))k= ik.

Fur k = 0, 1, 2, 3, 4 erhalten wir die folgende Tabelle

x 0 π2 π 3π

2 2π

sin(x) 0 1 0 −1 0cos(x) 1 0 −1 0 1

Lemma 2.6.6. Fur alle x ∈ R gilt Folgendes:

(1) Cosinus und Sinus sind periodisch mit Periode 2π. Das heißt, es ist

cos(x+ 2π) = cos(x) und sin(x+ 2π) = sin(x).

(2) Es ist

cos(x+ π) = − cos(x) und sin(x+ π) = − sin(x),

(3)

cos(π

2− x)

= sin(x) und sin(π

2− x)

= cos(x),

(4)

cos(x) = 0 ⇐⇒ wenn x =π

2+ kπ und

sin(x) = 0 ⇐⇒ x = kπ, wobei k ∈ Z.

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54 2. STETIGKEIT

(5)

limx→0

cos(x)− 1

x= 0 und lim

x→0

sin(x)

x= 1.

Beweis. Wegen ei2π = i4 = 1 ist

cos(x+ 2π) = Re(ei(x+2π)) = Re(eixei2π) = Re(eix) = cos(x),

sin(x+ 2π) = Im(ei(x+2π)) = Im(eixei2π) = Im(eix) = sin(x),

somit ist (1) gezeigt. Wegen eiπ = i2 = −1 folgt (2) auf gleiche Weise. Aussage (3) folgt auseiπ2 = i, denn

cos(π

2− x)

= Re(ei(π2−x)) = Re(ei

π2 e−ix) = Re(i(cos(−x) + i sin(−x))) =

Re(i cos(−x)− sin(−x)) = − sin(−x) = sin(x), bzw.

sin(π

2− x)

= Im(ei(π2−x)) = Im(ei

π2 e−ix) = Im((cos(−x) + i sin(−x))i) =

Im(i cos(x)− sin(−x)) = cos(x).

Wir wissen, dass der Cosinus auf [0, π2 ) großer als 0 ist. Wegen cos(x) = cos(−x) gilt dies

auch fur (−π2 ,π2 ). Aus cos(x+π) = − cos(x) folgt, dass der Cosinus auf (π2 ,

3π2 ) kleiner als 0

ist. Folglich hat er auf [−π2 ,3π2 ] genau die Nullstellen −π2 , π2 und 3π2 . Wegen der Periodizitat

folgt die Aussage (4) fur den Cosinus. Die Beziehung (3) impliziert nun (4) fur den Sinus.Aus i = − 1

i und den Definitionen von Cosinus folgt

cos(x)− 1

x= Im

(i(cos(x)− 1)

x

)= − Im

(cos(x)− 1

ix

)=

− Im

(cos(x) + i sin(x)− 1

ix

)= − Im

(eix − 1

ix

).

Wenn h gegen 0 strebt, geht letzterer Ausdruck wegen Lemma 2.5.1.5 gegen − Im(1) = 0.Ebenfalls nach Lemma 2.5.1.5 strebt

sin(x)

x= Re

(cos(x) + i sin(x)− 1

ix

)= Re

(eix − 1

ix

)gegen Re(1) = 1. �

Definition 2.6.7. Der Tangens ist die Funktion tan : R \ {π2 + kπ | k ∈ Z} → R mit

tan(x) =sin(x)

cos(x).

Der Cotangens ist cot : R \ {kπ | k ∈ Z} → R mit

cot(x) =cos(x)

sin(x).

Tangens und Kotangens sind ungerade Funktionen, das heißt tan(x) = − tan(−x) undcot(x) = − cot(−x), was daraus folgt, dass der Sinus ungerade und der Cosinus geradeist. Auch die Periodizitat ubertragt sich von Sinus und Cosinus. Dass cos(x) auf [0, π2 ]streng fallend ist folgt aus Lemma 2.6.3.3, der Sinus ist auf [0, π2 ] streng steigend. Alsoist der Tangens auf [0, π2 ) streng steigend, und weil er ungerade ist, auch auf (−π2 ,

π2 ) streng

steigend. Somit ist der Tangens steigend auf den Intervallen (−π2 + kπ, π2 + kπ) fur k ∈ Z.Der Cotangens ist fallend auf den Intervallen (kπ, (k + 1)π).

Außerdem ist tan((−π2 ,π2 )) = R und cot((0, π)) = R wegen des Zwischenwertsatzes 2.3.3

und weil der Nenner an den Randpunkten der Intervalle gegen Null strebt, wahrend dieZahler gegen -1 bzw. 1 streben.

Aus dem zuvor Gezeigten ergibt sich der folgende Satz.

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2.6. TRIGONOMETRISCHE FUNKTIONEN 55

Satz 2.6.8. (1) Der Cosinus ist streng fallend auf [0, π], cos([0, π]) = [−1, 1], under besitzt eine streng abnehmende Umkehrfunktion, genannt Arcuscosiuns,

arccos : [−1, 1]→ [0, π].

(2) Der Sinus ist streng steigend auf [−π2 ,π2 ], sin([−π2 ,

π2 ]) = [−1, 1], und er besitzt

eine streng steigende Umkehrfunktion, genannt Arcussiuns,

arcsin : [−1, 1]→[−π

2,π

2

].

(3) Der Tangens ist streng steigend auf (−π2 ,π2 ), tan((−π2 ,

π2 )) = R, und er besitzt eine

streng steigende Umkehrfunktion, genannt Arcustangens,

arctan : R→(−π

2,π

2

).

2.6.9 (Theoriefrage 58). Wie sind Sinus und Cosinus definiert? Warum ist Cosinus einegerade und Sinus eine ungerade Funktion? Warum ist

cos2(x) + sin2(x) = 1

fur alle x ∈ R?

2.6.10 (Theoriefrage 59). Formulieren und beweisen Sie die Summenformeln fur

sin(x+ y) und cos(x+ y).

2.6.11 (Theoriefrage 60). Zeigen Sie, dass der Cosinus auf [0, 2] nicht mehr als eineNullstelle hat.

2.6.12 (Theoriefrage 61). Geben Sie eine kurze Begrundung fur

cos(kπ

2

)+ i sin

(kπ

2

)= ik,

mit k ∈ Z. Leiten Sie daraus die Werte des Sinus und Cosinus an den Stellen 0, π2 , π, 3π2 ab.

Zeigen Sie, dass Sinus und Cosinus die Periode 2π haben.

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KAPITEL 3

Differentiation

3.1. Differenzierbarkeit

Definition 3.1.1. Es sei D ⊂ R eine Menge ohne isolierter Punkte und f eine FunktionD → R. Fur ξ 6= x heißt

f(ξ)− f(x)

ξ − xDifferenzialquotient. Die Funktion f ist differenzierbar in x, wenn der Grenzwert

f ′(x) = limξ→x

f(ξ)− f(x)

ξ − xexistiert. Der Wert f ′(x) heißt Differenzialquotient oder Ableitung von f an der Stelle x.Die Funktion heißt differenzierbar, wenn sie in allen Punkten von D differenzierbar ist. DieFunktion f ′ : D → R heißt Ableitung von f .

Die Sekante uber dem Intervall [ξ, x] (bzw. [x, ξ]) ist die Gerade durch die Punkte(ξ, f(ξ)) und (x, f(x)). Die Tangente an der Stelle x ist die Gerade im R2, die durch denPunkt (x, f(x)) geht und die Steigung f ′(x) hat.

Der Differenzenquotient gibt die Steigung der Sekante uber dem Intervall [ξ, x] (bzw.[x, ξ]) an.

Ableitung von Funktionen, die einen metrischen Raum auf C oder R abbilden, werdenauf dieselbe Weise definiert. Wir beschranken uns jedoch hier auf reelle Funktionen.

Anders angeschrieben, ist

f ′(x) = limh→0

f(x+ h)− f(x)

h.

Wenn eine Funktion f nur durch den Term ihrer Zuordnungsvorschrift gegeben ist, alsozum Beispiel y2z, und nicht klar ist, welcher Buchstabe die Variable ist, oder f auf Rn mitmehreren Variablen definiert ist, dann macht es Sinn, die Variable in der Ableitung f ′ zuspezifizieren. Man schreibt dann

df

dybzw.

df

dz.

Diese Notation ist in der Physik gangig, wo mit den Symbolen dy und dz oft gerechnet wird,als waren es reelle Zahlen, auch wenn dies nicht der Fall ist.

Beispiel 3.1.2. (1) Fur die konstante Funktion f : R→ R, f(x) = c ist

f ′(x) = limh→0

f(x+ h)− f(x)

h= limh→0

c− ch

= 0.

(2) Wenn f(x) = cxn mit n ∈ N, dann ist

f ′(x) = limh→ 0

c(x+ h)n − cxn

h= c lim

h→ 0

1

h

(n∑k=0

(n

k

)hkxn−k − xn

)=

c limh→ 0

1

h

n∑k=1

(n

k

)hkxn−k = c lim

h→ 0

n∑k=1

(n

k

)hk−1xn−k =

57

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58 3. DIFFERENTIATION

c limh→ 0

((n

1

)xn−1 +

n∑k=2

(n

k

)hk−1xn−k

)= c

(n

1

)xn−1 = cnxn−1.

(3) Fur f : R \ {0} → R mit f(x) = 1/x ist

f ′(x) = limh→0

1x+h −

1x

h= limh→0

x− (h+ x)

hx(h+ x)= limh→0

−1

x(h+ x)= − 1

x2.

(4) Aus der Additionseigenschaft der Exponentialfunktion 1.18.2.2 und dem Grenzwert2.5.1.5 folgt

(ex)′ = limh→0

ex+h − ex

h= ex lim

h→0

eh − 1

h= ex · 1 = ex.

(5) Es ist

sin′(x) = limh→0

sin(x+ h)− sin(x)

hnach Satz 2.6.2.6 und Lemma 2.6.6.5 gleich

limh→0

2 cos(x+ h

2

)sin(h2

)h

= limh→0

cos

(x+

h

2

)limh→0

sin(h2

)h2

= cos(x),

wobei wir bei der Bildung der Limiten Lemma 2.6.6.5 verwendet haben. Fur denCosinus gilt

cos′(x) = limh→0

cos(x+ h)− cos(x)

h= limh→0

−2 sin(x+ h2 ) cos(h2 )

h=

− limh→0

sin

(x+

h

2

)limh→0

sin(h2

)h2

= − sin(x).

Satz 3.1.3. Ist eine reelle Funktion differenzierbar an einer Stelle, dann ist sie dortauch stetig.

Proof. Wenn f differenzierbar in x ist, gilt

limξ→x

(f(ξ)− f(x)) = limξ→x

(f(ξ)− f(x)

ξ − x· (ξ − x)

)=

limξ→x

(f(ξ)− f(x)

ξ − x

)limξ→x

(ξ − x) = f ′(x) · 0 = 0

und somit limξ→x f(ξ) = limξ→x f(x) bzw. limξ→x f(ξ) = f(x). Daher ist f stetig in x. �

3.1.4 (Theoriefrage 62). Wie ist die Differenzierbarkeit einer Funktion an einer Stelledefiniert. Bestimmen Sie die Ableitung der Exponentialfunktion und die Ableitung von fmit f(x) = xn, wobei n eine beliebige naturliche Zahl ist.

3.1.5 (Theoriefrage 63). Zeigen Sie, dass eine Funktion, die an einer Stelle differenzierbarist, dort auch stetig ist.

3.2. Erste Ableitungsregeln

Satz 3.2.1. Es seien f und g differenzierbare Funktion D → R, D ∈ R.

(1) Fur alle c, d ∈ R ist cf + dg differenzierbar und (cf + dg)′(x) = cf ′(x) + dg′(x).(2) Produktregel: Es ist f · g differenzierbar und

(f · g)′(x) = f ′(x)g(x) + f(x)g′(x)

fur alle x ∈ D.(3) Quotientenregel: Es sei g(x) 6= 0 fur alle x ∈ D, dann ist f/g differenzerbar und(

f

g

)′(x) =

f ′(x)g(x)− f(x)g′(x)

g2(x).

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3.2. ERSTE ABLEITUNGSREGELN 59

Beweis. (1)

(cf + dg)′(x) = limh→0

cf(x+ h) + dg(x+ h)− (cf(x) + dg(x))

h=

limh→0

cf(x+ h)− cf(x)

h+ limh→0

dg(x+ h)− dg(x)

h= cf ′(x) + dg′(x)

(2)

(f · g)′(x) = limh→0

1

h(f(x+ h)g(x+ h)− f(x)g(x)) =

limh→0

1

h(f(x+ h)(g(x+ h)− g(x)) + (f(x+ h)− f(x))g(x)) = f(x)g′(x) + f ′(x)g(x),

wobei wir im letzten Schritt limh→0 f(x+ h) = f(x) verwenden, was gilt, da f inx stetig ist und die Stetigkeit aus der Differenzierbarkeit folgt, siehe Satz 3.1.3.

(3) Es ist (1

g(x)

)′= limh→0

1g(x+h) + 1

g(x)

h= limh→0

g(x)− g(x+ h)

hg(x)g(x+ h)=

− limh→0

g(x+ h)− g(x)

hlimh→0

1

g(x)g(x+ h)= − g

′(x)

g(x)2.

Mit der Produktregel folgt(f · 1

g

)′= f ′(x)

1

g(x)− f(x)

g′(x)

g(x)2=f ′(x)g(x)− f(x)g′(x)

g(x)2.

Beispiel 3.2.2. (1) Wenn f : R → R mit f(x) = a0 + a1x + a2x2 + . . . + anx

n

mit beliebigen ai ∈ R, ist f ′(x) = a1 + 2a2x + . . . + nanxn−1. Das folgt aus

Beispiel 3.1.2.2 und Satz 3.2.1.1.(2) Fur f : R \ {0} → R mit f(x) = 1/xn und n ∈ N ist nach der Quotientenregel

Satz 3.2.1.2

f ′(x) =

(1

xn

)=

0− nxn−1

x2n= −nx−n−1.

(3) Fur den Tangens tan : R \ (π2 + πZ)→ R gilt

(tanx)′ =

(sin(x)

cos(x)

)′=

cos(x) cos(x)− sin(x)(− sin(x))

cos2(x)=

cos2(x) + sin2(x)

cos2(x)=

1

cos2(x),

wobei wir die Ableitungen von Cosinus und Sinus (siehe Beispiel 3.1.2.5) und dieQuotientenregel verwenden.

Satz 3.2.3 (Kettenregel). Es sei D ⊂ R, f : D → R und g : f(D) → R. Wenn f in xund g in f(x) differenzierbar ist, dann ist die Zusammensetzung g ◦ f differenzierbar in xund

(g ◦ f)′(x) = g′(f(x)) · f ′(x).

Wir hatten gerne einen einfachen Beweis der Form

(g ◦ f)′(x) = limξ→x

g(f(ξ))− g(f(x))

ξ − x= limξ→x

g(f(ξ))− g(f(x))

f(ξ)− f(x)

f(ξ)− f(x)

ξ − x=

limξ→x

g(f(ξ))− g(f(x))

f(ξ)− f(x)limξ→x

f(ξ)− f(x)

ξ − x= g′(f(x))f ′(x).

Leider ist dieser “Beweis” falsch, denn f(ξ)−f(x) konnte gleich 0 sein, zum Beispiel f konnteeine konstante Funktion sein und wir wollen, dass unsere Kettenregel auch fur stuckweisekonstante Funktionen gilt. Fur einen korrekten Beweis der Kettenregel benotigen wir einHilfsmittel:

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60 3. DIFFERENTIATION

Definition 3.2.4. Die Sekantensteigungsfunktion g∗x einer in x differenzierbaren reellenFunktion g definieren wir durch

g∗x(ξ) =

{g(ξ)−g(x)ξ−x wenn ξ 6= x

g′(x) wenn ξ = x.

Beweis von Satz 3.2.3. Wegen g(ξ)− g(x) = g∗x(ξ)(ξ − x) und limξ→x g∗x(ξ) = g′(x)

ist

(g ◦ f)′(x) = limξ→x

g(f(ξ))− g(f(x))

ξ − x= limξ→x

g∗x(f(ξ))(f(ξ)− f(x))

ξ − x=

limξ→x

g∗x(f(ξ)) limξ→x

f(ξ)− f(x)

ξ − x= g′(f(x))f ′(x).

Das Symbol dx, dem wir bei der Integralrechnung in der Form∫f(x)dx noch begegnen

werden, steht fur Differenzen, die gegen 0 streben. Diese Notation bezieht sich zuachst nichtauf eine Funktion, sondern auf einen Term, in dem x vorkommt. Dieser Term wird dannin unserem Sinn als Funktion in x aufgefasst. In der Physik wird mit diesen Symbolenoft gerechnet wie mit reellen Zahlen. Fur den “Beweis” der Kettenregel wurden Physikerzunachst statt der Funktionsbezeichnungen f, g Termbezeichnungen wahlen, zum Beispielz(y(x)), wobei z als Term (Funktion) in y und y als Term (Funktion) in x gesehen wird.Das dx-Rechenkalkul ergibt dann

z′(y)y′(x) =dz

��dy��dy

dx=dz

dx= z′(x),

wobei das Symbol dy so weggekurzt wird, als ware es eine feste reelle Zahl ungleich Null.

Definition 3.2.5. Ein Funktion heißt stetig differenzierbar, wenn sie differenzierbarund ihre Ableitung stetig ist.

Beispiel 3.2.6. Es sei fn : N→ N mit

fn(x) =

{xn sin 1

x , wenn x 6= 0

0, wenn x = 0.

Fur welche n ∈ N ist fn stetig, differenzierbar oder stetig differenzierbar?

(1) Fur n = 0 ist f0(x) = sin(1/x) und f0 ist nicht stetig in 0, denn fur

xk =1

2πk + π2

ist limk→∞

xk = 0,

jedoch fk(xk) = 1 und daher limk→∞

f(xk) = 1 6= 0 = f(0).

Interessant an diesem Beispiel ist, das der Funktionsgraph bzw. die Funktion(d.h. die Menge aller Punkte (x, f0(x)) als Teilmenge des R2 topologisch zusam-menhangend ist. Das heißt, er lasst sich nicht als Vereinigung zweier offener Mengendarstellen.

(2) Fur n ≥ 1 ist f1(x) = xn sin(1/x) und limx→0 fn(x) = 0. Also ist fn in 0 stetig.(3) Der Limes

limh→0

f1(h)− f1(0)

h= limh→0

1

hh sin

(1

h

)= limh→0

sin

(1

h

)existiert nicht, daher ist f1 nicht in 0 nicht differenzierbar.

(4) Fur n ≥ 2 ist

f ′n(0) = limh→0

f1(h)− f1(0)

h= limh→0

hn−1 sin

(1

h

)= 0

und somit fn differenzierbar in 0.

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3.2. ERSTE ABLEITUNGSREGELN 61

(5) Fur n ≥ 2 und x 6= 0 ist

f ′n(x) = nxn−1 sin

(1

x

)− xn−2 cos

(1

x

).

Also ist f2 zwar uberall differenzierbar aber nicht stetig diffenrenzierbar in 0. Furn ≥ 3 hingegen ist fn auch stetig differenzierbar.

3.2.7 (Theoriefrage 64). Formulieren und beweisen Sie die Produkt- und die Quotien-tenregel.

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Literaturverzeichnis

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[3] G. Hormann, D. Langer, Vorlesungsskriptum zur Einf. in die Analysis, Fak. f. Math., Univ. Wien,

2008, neue Fassung Juli 2010. Verfugbar unterwww.mat.univie.ac.at/ gue/lehre/08einan/einfanalysis.pdf (2.4.2013)

[4] K. Endl, W. Luh, Analysis, Bd. 1, Aula, 9. Aufl. 2008.

[5] K. Konigsberger, Analysis 1, 6. Aufl. Springer 2004.[6] E. Landau, Grundlagen der Analysis, Akademische Verlagsgesellschaft, Leipzig 1930. Verfugbar unter

http://www.cs.ru.nl/ freek/aut/grundlagen-1.0.tar.gz (9.4.2013)

[7] C.C. Pugh, Real Mathematical Analysis, Springer 2002.[8] W. Rudin, Analysis, Oldenbourg, 4. Aufl. 2009.

[9] W. Rudin, Pinciples of modern Analysis, McGraw-Hill, 1953.

[10] W. Rudin, Pinciples of modern Analysis, McGraw-Hill, 3. Aufl. 1976.[11] H. Schichl, R. Steinbauer, Einfuhrung in das mathematische Arbeiten, 2. Auflage, Springer 2012.

[12] H. Rinder, Analysis, Skriptum zur Einf. in die Analysis und zu Analysis 1 (teilw.), Fak. f. Math., Univ.Wien, 2012.

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