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1 Einleitung-Basis zu den 5 Katalogen„Edith Kiss Déportation“ Entwurf 27.11.17.HB in deutscher ungarischer polnischer französischer und englischer Sprache „In der Genshagener Heide südlich von Berlin wurde im Herbst 1944 der nationalsozialistische Kriegsmusterbetrieb Daimler-Benz Genshagen zum Konzentrationslager für 1100 Frauen aus Ravensbrück. Helmuth Bauer stellt den Bilddokumenten und Darstellungen zur Unternehmensgeschichte seinen in zwei Jahrzehnten angesammelten Schatz an Biografien, Fotografien und Erinnerungen der Überlebenden gegenüber. Eine besondere Würdigung erfahren Edit Kiss und der Zyklus Deportation, den die ungarische Bildhauerin unmittelbar nach ihrer Befreiung gemalt hat. Wir sehen „Innere Bilder“, die die Künstlerin nicht mehr losgelassen haben“. So steht es geschrieben auf der Cover-Rückseite des Buchs, das der Autor dieses Katalogs im Dezember 2010 in der „Topografie des Terrors“ in Berlin vorgestellt hat: „Helmuth Bauer, Innere Bilder wird man nicht los. Die Frauen im KZ- Außenlager Daimler-Benz Genshagen.“(Metropol) Das Buch hat 704 Seiten, 723 Abbildungen und wiegt zweieinhalb Kilo. So schwer, dass die noch lebenden „Frauen von Genshagen“, für die es ein Denkmal errichten wollte, das Werk gar nicht alleine in Händen halten konnten. Und zuallermeist auch nicht lesen. Die große Mehrzahl der Zwangsarbeiterinnen in Genshagen waren Polinnen, Französinnen und jüdische Ungarinnen. Dennoch fühlten die noch lebenden Frauen sich geehrt und anerkannt im Gefühl, dass in Deutschland ihre Geschichte bewahrt und zugänglich gemacht wird. Aber unüberhörbar auch ihr Wunsch, diese in ihre Heimat-Sprachen noch übersetzt und veröffentlicht zu erleben. Diesen Wunsch hat der Autor, selber ein ehemaliger Beschäftigter im Konzern, nachhaltig im Unternehmensarchiv der DAIMLER AG vorgetragen, und er hat dafür auch offene Ohren und Herzen gefunden. Eine zentrale Rolle dabei spielten die 30 farbigen Gouachen, die Edith Kiss unmittelbar nach ihrer Befreiung über ihre Erlebnisse im Frauenkonzentrationslager Ravensbrück und im KZ-Außenlager „Daimler-Benz- Genshagen“ gemalt hat. Diese Bilder benötigen keine Übersetzung in Sprache, und sie sind auch das Herz des vorliegenden Katalogs. Aber die Erinnerungen der 725 Polinnen in Genshagen, der 125 Französinnen und der neben Edith Kiss etwa 80 jüdischen Ungarinnen sollten gleichermaßen für das Gedächtnis in ihren Heimatländern bewahrt und zugänglich gemacht werden.

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Page 1: Einleitung-Basis zu den 5 Katalogen„Edith Kiss Déportation ... · 1Das Buch hat 704 Seiten, 723 Abbildungen und Einleitung-Basis zu den 5 Katalogen„Edith Kiss Déportation“

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Einleitung-Basiszuden5Katalogen„EdithKissDéportation“Entwurf27.11.17.HBindeutscherungarischerpolnischerfranzösischerundenglischerSprache

„In der Genshagener Heide südlich von Berlin wurde im Herbst 1944 dernationalsozialistische Kriegsmusterbetrieb Daimler-Benz Genshagen zumKonzentrationslager für 1100 Frauen aus Ravensbrück. Helmuth Bauer stelltdenBilddokumentenundDarstellungenzurUnternehmensgeschichteseineninzwei Jahrzehnten angesammelten Schatz an Biografien, Fotografien undErinnerungen der Überlebenden gegenüber. Eine besondere WürdigungerfahrenEditKissundderZyklusDeportation,dendieungarischeBildhauerinunmittelbarnachihrerBefreiunggemalthat.Wirsehen„InnereBilder“,diedieKünstlerinnichtmehrlosgelassenhaben“.

So steht es geschrieben auf der Cover-Rückseitedes Buchs, das der Autor dieses Katalogs imDezember2010inder„TopografiedesTerrors“inBerlin vorgestellt hat: „Helmuth Bauer, InnereBilder wird man nicht los. Die Frauen im KZ-AußenlagerDaimler-BenzGenshagen.“(Metropol)Das Buch hat 704 Seiten, 723 Abbildungen undwiegt zweieinhalbKilo. So schwer, dass die nochlebenden„FrauenvonGenshagen“,fürdieeseinDenkmal errichten wollte, das Werk gar nichtalleine in Händen halten konnten. Undzuallermeistauchnichtlesen.

Die großeMehrzahl der Zwangsarbeiterinnen in Genshagen waren Polinnen,Französinnen und jüdische Ungarinnen. Dennoch fühlten die noch lebendenFrauen sich geehrt und anerkannt im Gefühl, dass in Deutschland ihreGeschichtebewahrtundzugänglichgemachtwird.AberunüberhörbarauchihrWunsch, diese in ihre Heimat-Sprachen noch übersetzt und veröffentlicht zuerleben.DiesenWunschhatderAutor,selbereinehemaligerBeschäftigterimKonzern,nachhaltigimUnternehmensarchivderDAIMLERAGvorgetragen,underhatdafürauchoffeneOhrenundHerzengefunden.

Eine zentrale Rolle dabei spielten die 30 farbigen Gouachen, die Edith Kissunmittelbar nach ihrer Befreiung über ihre Erlebnisse imFrauenkonzentrationslagerRavensbrückundimKZ-Außenlager„Daimler-Benz-Genshagen“gemalthat.DieseBilderbenötigenkeineÜbersetzunginSprache,undsie sindauchdasHerzdesvorliegendenKatalogs.AberdieErinnerungender725PolinneninGenshagen,der125FranzösinnenunddernebenEdithKissetwa 80 jüdischen Ungarinnen sollten gleichermaßen für das Gedächtnis inihrenHeimatländernbewahrtundzugänglichgemachtwerden.

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SohatsichdasArchivderDAIMLERAGzurVeröffentlichungeinerPublikationüberzeugen lassen, dieneueWege inAufarbeitungundDarstellung ihrerNS-Vergangenheit aufzeigt: Kunst-Kataloge über die finsterste Zeit ihrerUnternehmensgeschichte herauszugeben, und das in deutscher, ungarischer,polnischer, französischerundenglischerSprache.AnderSeitederWerkevonEdithKiss,vonGouachen,Ölbildern,ReliefsundStatuen,dieErinnerungs-Textevon Frauen, die dasselbe durchleben und durchleiden mussten wie dieKünstlerin. Und die der Autor seit 1990 in Deutschland, Ungarn, Polen,Frankreich und anderen Ländern Europas gesucht, gefunden und seitdembegleitethat.Unddienochbereitund inder Lagewaren, vonGenshagen zuerzählen.

DieersteSpur–FriedelMaltersErinnerungen

ImSeniorenheim„ClaraZetkin“inBerlin-FriedrichshagenhatimFrühjahr1990allesangefangenmitderGeschichtevonEdithKissundeintausendeinhundertmit ihrdeportierenFrauenbeider „Daimler-Benz-MotorenGmbHGenshagenKreis Teltow“. Zum Ende ihres Staates DDR wohnte die 89-jährige FriedelMalter-Apelt, geborene Raddünz, im Kreise mit Seniorinnen aus ehemaligenStaats- und Parteiämtern in Berlin-Ost. Friedel, bis zum Kriegsende „FriedaFranz“, war als Kommunistin im Herbst 1944 ins FrauenkonzentrationslagerRavensbrück deportiertworden, nachdem sie schon die Hälfte der Jahre seit1933 wegen „Hochverrat“ in politischer Haft gewesen war. Im Dezember 44dann „strafversetzt“ ins KZ-Außenlager Genshagen; Frieda Franz hatte sichschützend vor junge Russinnen gestellt, auf die eineSS-Aufseherineinprügelte.

In unseren Gesprächen erinnerte Friedel vieledeutliche Situationen mit den Frauen in Genshagen,die aus allen von Deutschland im ZweitenWeltkriegbesetzten Ländern Europas über das KZRavensbrückdorthin deportiert worden waren. Und auch dasKriegswerksahsiewiedervorsich,indemdieFrauenDaimler-Benz-Flugmotoren für die Luftwaffe desDeutschenReichsmontierenmussten.

LenaBauerbeiRechercheundInterviewmitFriedelMalter1991

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Aufgrund der führenden Kompetenz von Daimlerund Benz in der Herstellung von Flugmotorenschon im ErstenWeltkrieg,wurden die „Daimler-Motoren-GmbH“ und die „Benz&Cie.“ 1926 vonGroßaktionär Deutsche Bank zur „Daimler-BenzAG“ fusioniert, nachdem Hersteller von Luxus-Automobilen in derWeimarer Republik in einemVerdrängungs-Wettbewerb ums Überlebenkämpften.NachderMachtübergabeanHitlerunddie NSDAP hat die Daimler-Benz AG schon 1934Görings Reichsluftfahrt-Ministerium den Aufbaueines „kriegswichtigsten MotorenwerksDeutschlands“ angetragen, das dann ab 1936 in

derGenshagenerHeidefortlaufendauf-undausgebautwerdensollte.ImZugeder Vorbereitungen eines Angriffskriegs gegen die Sowjet-Union wurde imWerkGenshageneineriesigeHallefürdieBaureiheDB600projektiert, inderMotoren für Messerschmitt-Jäger und Heinkel-Bomber montiert werdensollten. Projektierter Ausstoß: 1000 Triebwerke monatlich ab 1944 für diedeutscheLuftwaffe.

Friedel kam in der ab 1944mit elektrischemDraht umzäunten Endmontage-Halle und im dortigen Keller-Lager viel herum. Alle überlebenden„Genshagenerinnen“ haben sie gekannt und erzählten dankbar von derdeutschen Frau. „Ich war dort als ‚Schreiberin‘ eingesetzt“. Weil sieMaschinenschreiben beherrschte, hatte der Lagerkommandant SS-Unterscharführer Mantzel ihr diese Häftlings-Funktion übertragen. Mit denWorten:„IchhabeIhreAktegelesen;SiesindmirjaeineganzgefährlicheRote.Wenn ich auch nur das Geringstemerke, dass Sie glauben, sich hier politischbetätigenzukönnen,ichschießeSieüber’nHaufenwieeinentollenHund“.DasKZinderFabrik.

Friedelerzähltetiefbewegtvoneiner„FrauEditBán“.DiealsjüdischeUngarinim Dezember 1944 in Ravensbrück nach Genshagen Selektiertete habe dortimmer sehr unter Hunger gelitten: „Ich habe sie ja nur als einen Strichgekannt…“UmderKameradindieminimalelebensrettendeArbeitsfähigkeitzuerhalten, hat Frieda extra Nachschläge für Edit organisiert. Denn: „Wenn dieFrauen krankwurden oder einenUnfall hatten, nichtmehr arbeiten konnten,wurdensiezurückgeschicktnachRavensbrückundnachweislichdortermordet“.

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Als im Frühjahr 1945 die Sowjetische Armee bei ihrem Vormarsch auf Berlinimmernäherrückte,hatFriedazuOsterndieUngarinnenEdit,Ágnes,Katalin,Lenke, Judith mit Mutter Isabella und die beiden Évas in ihren Keller-Raumaufgenommen,woesBettengabundeinenTisch.DorthabeEditzwölfSkizzenangefertigt: „Lagerleben inBildern“, die vondenSS-Aufseherinnenkonfisziertwurdenundvermutlichaufimmerverlorensind

Edit Bán habe KZ und Krieg überlebt und Friedel 1947 aus Budapest nachOstberlineinPäckchengeschickt.DarineinBrief,eineTüteBohnenkaffee,einHut-Stumpen und zwei Fotografien. Auf der einen vier Relief-Tafeln, auf deranderen eine überlebensgroßen Frauen-Statue hinter der Künstlerin stehend,die die Bildhauerin nach der Rückkehr aus derDeportation geschaffen hatte.„Ich habe mich gefreut zu sehen, wie sie sich nach dem Krieg wieder erholthatte.“ Friedelhabediese Fotos inden fünfziger Jahren „fürantifaschistische

Arbeit“ausderHandgegeben.

Mit diesen Informationen versehen, begann 1991der Autor seine Suche nach diesen Fotografien,nach den darauf abgebildeten Werken, nach derKünstlerinselbst,ihrenanderenWerken.Undnachüberlebenden „Frauen aus Genshagen“, was ihnlange,weit verzweigteWegevonderBretagnebisaufdieKrim führensollte.Undtief indieDaimler-TrümmerinderGenshagenerHeide.

ÁgnesBartha1994Daimler-TrümmerGenshagen

AgnesBartha–EditsFreundinundKronzeuginfürihreGeschichteDie beiden Fotografien, die Edit 1947 an Friedel nach Berlin geschickt hatte,waren 45 Jahre später aus einem unscheinbaren braunen A5 Umschlag imArchiv der Gedenkstätte Sachsenhausen hervorgekommen, der Jahrzehnte

zuvorkeineBeachtunggefundenhatte.InBudapestfandsichimHerbst1991Niemanddersagenkonnte,wodieStatue,dievier großen Relief-Tafeln und die Künstlerin selbst zu findenwären. Erst als Mária Ember bei einer Recherche in derRedaktionihrerZeitschrift„Barátsák“(Freundschaft)

DerSternzurerstenKriegsweihnachtWerbe-Anzeige20.Dezember1939,„VölkischerBeobachter“

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erwähnte,ÁgnesBarthaseidieFreundinderKünstlerinimKZgewesen,lebeinBudapestamKassaitérundkönnevielleichtbeiderSuchehelfen,warderBanngebrochen. Ágnes führte uns im April 1992 zu den vier Reliefs an derAußenmauer der Synagoge von Budapest-Újpest, als wir für den Film „DerSternundseinSchatten“drehten.(ARTE-SDR/WDR-BBCChannel4.90min,1993)An der Innenseite der Mauer, zum Hofder Synagoge hin, standen die Namenvon 16000 jüdischen Einwohnern alleinausÚjpest,dienichtausderDeportationzurückgekommen waren. Ein erstesbildhauerisches Denkmal für denHolocaustinUngarn.

Ágnes Bartha lud Autor, RegisseurEike Schmitz und KameramannGunther Becher für einFilminterview zu sich nachhause

ein.BrüchigsprechendzeigtedieZweiundsiebzigjährigeFotosundDokumenteunterdemScheinder Stehlampe, die ihre Freundin Edit ihr vordemGang indenWestenüberlassenhatte.Sprach inBruchstückenvonLebenundSterbender Künstlerin. In einer Ecke des Balkons stand diemassive Sandstein-Statue„Család“.(Familie.signiert„BánEdit1946“)UndnebendemebenfallsderFreundinhinterlassenenBettvonEditaufdemSchlafzimmer-SchrankdasGipsmodellderStatue„Búscu“(Abschied).

Ágnes wurde neben Friedel Malter zur Hauptzeugin fürEdith Kiss, deren Lebensgeschichte wie auch für das KZ-Lager in der riesigen Montagehalle des KriegswerksGenshagen“, von Daimlerarbeitern stolz „DieDeutschlandhalle“genannt.EdithabedortzuOstern1945zwölfSkizzenangefertigt:„LagerlebeninBildern“,dievonden SS-Aufseherinnen konfisziert und vermutlichvernichtet wurden. Unmittelbar nach der Rückkehr aus

derDeportationhabeEdithdieseMotiveneugemaltundweiterehinzugefügt,undschonimSeptember1945einenZyklusvon30GouachenineinerGaleriein Budapest ausgestellt. Ágnes wusste auch, dass die Freundin beim

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schmerzhaften Abschied am Westbahnhof in Budapest ihre Deportations-Gouachenmitsichnahm.AmletztenOrtihresExils,inderLondonerWohnungder Freundin seit Schulzeiten Júlia Borai, konnte derAutor dasAlbum findenundeinigeBildernochindenbereitsabgedrehtenFilmeinfügen.15 Jahre lang hat Ágnes in weiteren Filmen des Autors, in Edith-Kiss-AusstellungeninRavensbrück,Berlin,Potsdam,ParisundBudapestwieauchinJugend-Medien-Projekten des Autors Zeugnis abgelegt über ihre und dieGeschichte von Freundin Edit, und sie tut es, trotz schwerer BeschädigungenderWirbelsäule seitderZwangsarbeit inGenshagen,mit ihren inzwischen95Jahrennochheute.„AchtmalwarichinderKlinik.DasbegleitetmichdasganzeLeben“.Ágnes hat alle auf den 30 Gouachen der Malerin dargestellten Situationengemeinsammit dieser durchlebt und durchlitten. Ihre seit dem Schock überdenSuizidderFreundin tiefverschlossenenErinnerungenandieZeitmitEditbegannensichinunserenBegegnungenundGesprächenzulösen.BeiunserergemeinsamenArbeitzurWürdigungderinUngarnverdrängtundvergessenen,imWestennierichtigangekommenenKünstlerin,kamDankbarkeitundFreudeauf. Oft auch Trauer und Schmerz über das Schicksal der unglücklichenFreundin.SowennÁgnessichwiederundwiederVorwürfemacht,dasssie inden Tagen nach der Nachricht vom Suizid in Paris ihr Bündel Briefe von Editverbrannthat;„immermussteichweinen,wennichsiesah“.

DieFraumitdentraurigenAugen

Edith Kiss, wie sie nach ihrer Emigration 1947 aus Ungarn in denWesten inzweiter Ehemit Sándor Kiss hieß,war damals schon25 Jahrenichtmehr amLeben.IneinemHotel inParishattesiesichinderNachtaufden27.Oktober1966 das Leben genommen. “Ich bin eine arme, einsame, kranke Frau.Niemand ist schuld an meinem Tod“ stand mit Hand auf dem Zettelgeschrieben,denEdithbeidenTabletten-SchachtelnaufdemNachttischnebenihremBetthinterlassenhatte.

„Inden Londoner Jahren lernte ichEdithKisspersönlich kennen“;mitdiesenWorten beschloss die ungarische SchriftstellerinMária Emberim Dezember 1994 ihre Laudatio bei der von Dr. György Fehériermöglichten und von Daimler-Benz finanzierten ersten Ausstellungdes Zyklus der 30 Gouachen „Deportation“ in Deutschland im „HausUngarn“inBerlinmiteinerverstörendenErinnerung:

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„SiewarnochimmereinesehrschöneundeleganteFrau.Aberalssielächelte,lachten die Augen nichtmehrmit. In ihrem Abschiedsbrief stehen die Zeilen:‚NiemandistschuldanmeinemTod.‘

IchbindieserTatsachenichtsicher“, fuhrMária fort,selbstmit13JahrenausUngarn nach Österreich zur Zwangsarbeit in ein KZ-Außenlager vonMauthausen deportiert, „ich glaube, die Brutalität, die Mitte diesesJahrhunderts in das menschliche Leben eingegriffen hat, ist daran schuld.Natürlich,wennSiemichfragen,obsieandieseErinnerungen1966imHotelinParisgedachthatte,kannichnichtantworten.Ichwürdeehersagen:Nein.Manmusstenichtdarandenken,dassaßeinemjaindenKnochen…“.

MáriasWortehörteauchdieFreundinvonEditÁgnesBartha,dieausBudapestzur Ausstellungs-Eröffnung eingeladenwar.Beim anschließenden Rundgang erzähltensichÁgnesundFriedelMalter ihrevonBildzu Bild wieder aufscheinendenErinnerungen an Edit Bán. „Sie warausgewählt zur Vernichtung. Auf der Liste,dieichschreibenmusste,standsiedrauf.Dahabe ich den Namen etwas verändert und

geschrieben: ‚verstorben‘. Das haben sie nicht gemerkt. Da ist die Editdavongekommen. Sie hat es nie erfahren. Im Lager wäre sie zu Todeerschrocken,undspäterhabeichsihrauchnichtgeschrieben.ImStillenhabeichimmergedacht,dasssiemireigentlichdasLebenverdankt“.DashatteFriedelzuvornochnichterzählt.ErstdieüberÁgnesauchzuEditwiedergefühlteNähebrachtedieErinnerungmitbescheidenemStolzhervor.

Edit Bán hat nach der Befreiung nie über dieDeportation gesprochen oder geschrieben.AuchzuÁgnesnurdeneinzigenSatz:„DahabeichDichundmichgemalt“ zuderGouacheNr.12„Travail“(Arbeit)„MichhatsieohneSchuhegemalt“bezeugtÁgnes ihredamaligeQual aufdemBild.Wenige Tage nach der Rückkehr derBeiden nach Budapest hatte sich Edit Bándarangemacht, die im KZ in ihr Innereseingebrannten Bilder aus sich herauszulösen.Wie unter einem Zwang hat sie die 30

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GouachendesZyklus„Deportation“innurzweiMonatengemalt.WieumsichvomTraumazubefreien,imrastlosenBemühen,dieSchreckenderErinnerungin Bildern zu bannen, aus sich herauszulösen, hinter sich zu lassen, sich einletztesMalnochumzusehen.

DieEntstehungder30GouachendesZyklusDeportation

Der Industrielle und Kunstsammler RudolfBedő, der selber auch malte, hat seineSchwägerin Edit bei ihrer Arbeit beraten.Sein Sohn Gábor wohnte zur Zeit unsererRecherchenundDreharbeiten als der letzteÜberlebende der Familie alleine in derweitläufigen elterlichen Wohnung, inmittenvon bedeutenden Kunstwerken der

berühmten,währenddesKriegesgeschütztgehaltenen„SammlungBedö“.

Gábor sah noch vor sich, wie „Tante Edit meinen Vater immer wiederkonsultierte. Er hat ihr fachliche Ratschläge gegeben“. Verspürte der Neffeauch selber den Druck, unter dem seine Tante gestanden haben muss? „Erverstummte für Jahrzehnte,wenneraufdas Jahr1944angesprochenwurde“,hatteMáriaEmbervordemDreh-TerminbeiGáborgewarnt.InunsereKameraerzählte er dann doch fünfzig Jahre danach, wie er die Tante nach ihrerRückkehrausdemKZerlebthat:„DieErinnerungwarstarkundfrisch,undeswar sicherlichwichtig, dass die Edit damit nicht gewartet hat. Im September1945warschondieAusstellunginderOfficina.

DieKünstlerin

vorihrerAusstellung

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Neffe Gábor hat die Ausstellung gesehen. Er hat die Einladungskarte zurEröffnungam22.September1945aufbewahrt.AuchdasBildderKünstlerinvorihrer Ausstellung. In der ehemaligenGalerie „Officina“ beimOctogon fandenwirimJahr1994eineFilialedesdeutschenGroßunternehmens„FotoPorst“.

Nach den Deportations-Gouachen hat Edit Bánbegonnen,ihreinnerenBilderinSteinzuhauen.Inden 20er Jahren hatte sie drei Jahre langBildhauereiinDüsseldorfstudiert.MáriaEmberhatinderBerlinerAusstellungaufEinflüsseausdieserZeit hingewiesen: “Ihr Bilder-Zyklus ist in seinerzarten Farbgebung eine Verfeinerung, eineVeredelung der Schmach, obwohl die Figurenziemlichgrobund schonungslosdargestelltwirken.Das dem Menschen unwürdige Dasein, das siefristeten, die unglaublichen und unvergesslichen

Umstände, unter die sie geschleudert worden sind, entstanden auf diesenBildern in der von Ernst Barlach und Käthe Kollwitz erlernten künstlerischenAufrichtigkeit“. Aber auch mit ihrer Kunst schaffte Edit nur eine fragileBefreiung.„InnereBilderwirdmannichtlos“sagtÁgnes.EdithsspätereBilderaus dem Exil, in der Schweiz, inMarokko, in Frankreich und England tragenSpuren ihrer traumatischen Erinnerungen an Ravensbrück und Genshagen.(sieheKapitel2:„EdithKiss-LebenundWerk“)

ErinnerungsarbeitfürEdithKiss(sieheKapitel5)

ÁgnesBarthahatersteinViertel-JahrhundertnachdemTodderFreundinunterdenReliefsvonÚjpestangefangen, ihreundEditsDeportations-Geschichtezuerzählen. Seitdem hat sie in mehreren Filmen des Autors gezeigt, dass ihreBereitschaftzumErinnernundErzählenfürsieaucheineschrittweiseBefreiungvonlastendeninnerenBildernmitsichbrachte.Von1995bisinsJahr2005kamÁgnes immer wieder zu den „Jahrestagen der Befreiung“ in die „Mahn- undGedenkstätte Ravensbrück“. Sie hat uns auch in Berlin-Spandau im Jugend-Medien-Projekt „Sehen und Verstehen“ besucht, um Schülern oderKonfirmandinnen,zumeistwarenesMädchendiedaranteilnahmen,zuEdithsBildernzuerzählen.

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Die13JahrealteJeannettehatfürdieRavensbrückerKartenmappe„EdithKiss“(1997) über diese Begegnungen geschrieben: „Ediths Bilder habenmich sehr

bewegt und traurig gemacht. Aber sehrerstaunlich finde ich, wie Ediths FreundinÁgneszudenBildernihreGeschichteerzählt.Ich glaube, durch dieses Reden spricht siesichvonderSeele,wassieerlebthat.Ágneserzählt mit einer leichten Traurigkeit in derStimme, da könnte man gleich losheulen,

aber kurze Zeit später kann sie wieder lachen. Ich glaube sie hat Edith sehrgemochtundvermisstsiebisheute.UndEdithmochteÁgnesauchsehr,dasieöftersihrebeidenGesichtergemalthat“.(FotoJeannetteeinsetzen)

Ágnes Bartha hat im Jahr 2000 auf derHauptversammlung der DAIMLERCHRYSLERAG im Berliner Internationalen-Congress-Centrum ICC vor Aufsichtsrat, Vorstand und10 000 Daimler-Aktionären gesprochen. Siehat eine Nachzahlung des in derZwangsarbeit für das Unternehmen

vorenthaltenenLohnes füralle zwangsweiseeingesetztenFrauenangemahnt,undwollte sich „zur Lohn-Auszahlung“mitPersonal-undFinanz-VorstandDr.Manfred Gentz in Stuttgart treffen. Doch dazu ist es dann nicht gekommen.Daimler-BenzhatsichmitManfredGentzführendfürZahlungenderDeutschenIndustrie über die Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ starkgemacht,diedieseProblematikregelnsollte.

ImJahr1988hattensichVorstands-ChefEdzardReuterundManfredGentzfürdieErrichtungderPlastik„TagundNacht“vonBernhardHeiligerals„Mahnmal

fürdieZwangsarbeitervonDaimler-Benz“starkgemacht,dievor dem damals innerhalb des Werksgeländes gelegenenMuseumsaufgestelltwurde.„Essollalle,dieheutelebenundVerantwortung tragen, dazu aufrufen, den Frieden zuerhalten und die Würde freier Menschen zu verteidigen“.BeimAbrissdesaltenMuseumswurdedasKunstwerk2005in

eine entlegene Ecke des riesigen Untertürkheimer Werksgeländes verbannt.Noch im Jahr 2018 soll das Zwangsarbeiter-Mahnmal im Umfeld des 2006eröffneten neuen Mercedes-Benz-Museums wieder öffentlich zugänglichaufgestelltwerden.

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ObwohlÁgnesseitunserererstenBegegnungunterEditsReliefsimApril1992esalsihreLebensaufgabebetrachtet,alsleidenschaftlicheFürsprecherinfürdievergessene Freundin einzutreten, ist es doch bis heute nicht gelungen, „dassEditinUngarnwiedereinenNamenhat“.AberÁgnesistverhaltenstolzdarauf,dass es als eine Folge unserer jahrzehntelangen Arbeit in derBezirksverordneten Versammlung (BVV) Berlin Friedrichshain-Kreuzberg, dieüber Straßen Neu- und Umbenennungen im Bezirk entscheidet, anstelle dervomUnternehmengewünschten„Bertha-Benz-Straße“entlangderimposantenNeubauten der „Mercedes-Benz-Vertriebszentrale-Deutschland“ (MBVD) einegroßeMehrheitfüreine„Edith-Kiss-Straße“gab.

In „Geschichte und Gewinn“ (2017) wertet Sebastian Brünger die darauferfolgteReaktionderMBVDalseinZeichensetzendeVeränderungim„UmgangdeutscherKonzernemitihrerNS-Vergangenheit“,undschreibtinderEinleitungseinerumfassendenStudie:„WährendnurdiekleineCDU-FraktioninderBVVgegen den Vorschlag stimmte, weil sie die Ehrung von NS-Opfern fürantikapitalistischeRessentimentsinstrumentalisiertsah,erklärteDaimler,dassdas Gedenken an die NS-Opfer „wichtig und richtig“ sei und begrüßte dieEntscheidung der BVV. Zudem entwickelte Daimler in Zusammenarbeit miteinerKZ-GedenkstätteeinAusstellungskonzept,umzeitgleichzurEröffnungderEdith-Kiss-Straße im Foyer der angrenzenden Vertriebszentrale die Bilder derMalerin auszustellen und ihrer Person zu gedenken. Zur Eröffnung sprachennicht nur Vertreter des Konzerns, die die „historische und moralischeVerantwortung“ von Daimler und seiner verschiedenen Maßnahmen zur„Aufarbeitung“ der NS-Zeit betonten, sondern auch die Leiterin derGedenkstätte und eine Vertreterin der BVV, die den Tag als Beispiel einergegenwärtigen„lebendigenErinnerungskultur“begriffen.AusBudapestwurdedarüberhinauseineFreundinvonEdithKiss [ÁgnesBarthaHB]undebenfallsehemalige Zwangsarbeiterin bei Daimler-Benz live zugeschaltet, die sich überdie Ehrung ihrer Freundin freute und für die „Geste der Versöhnung vonDaimler-Benz“ bedankte. Nicht zuletzt erklärte die ungarische Botschafterinden deutschen Umgang mit der NS-Vergangenheit als „vorbildlich undbeispielgebend“ für Ungarn und Europa und verbandwie alle ihre Vorrednerdie Ausstellung mit dem zukunftsgewandten Appell, aus der Geschichte zulernen,dieMenschenrechtezuverteidigen,sodassetwasderartGrauenvollesnie wieder passiere“.(S.10) Zur Straßen - Namensbenennung am 13. Februar2013warendie30Deportations-GouachenvonEdithKissimFoyernebendemShow-Roomausgestellt.

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FotoWRHB

NiemandwohntinderEdith-Kiss-Straße.Aber1200AngestelltearbeiteninderMBVD.Und tausende Besucher gehen allabendlich zu Veranstaltungen in diegegenüberliegendeMercedes-Benz-Arena,DerKonzernhatesvorgezogen,alsPostadresse seiner MBVD „Mühlenstraße 30“ durchzusetzen, obwohl vondieserStraßeentlangdesShow-RoomsmitdenexklusivenAutoskeinEingangin dasGebäudeexistiert. An EingangundEmpfangüber die Edith-Kiss-Straße

kein Hinweis darauf, werEdith Kiss gewesen sei. Diein seiner Rede zurEnthüllung des von ihmverfassten Straßenschildesvom Autor angemahnteGedenktafel am Gebäudebeim Eingang wurde nichtrealisiert.

EnthüllungStraßenschilddurchdenAutor(FotoRoland###)

RückblickaufGenshagen

Friedel Malter-Apelt hat erst ein Viertel-Jahrhundert nach dem Tod ihresSchützlingsinderKZ-FabrikGenshagenbeiunserenDreharbeitenerfahren,wieesEdithKissnach1947weiterergangenwar.Einen letztenBriefvonEditausBudapesthattesiesinngemäßerinnert:„SiehießenunKiss,undihrMann,dasmusswohlaucheinJudegewesensein,habeseinenSohn inAmerika.Und ihrMann war ein Bankdirektor und habe beschlossen, dass sie nach Amerikaumsiedeln, um die Familie wieder zusammenzuführen. Dann habe ich nichtmehr geschrieben. Das müssen Sie verstehen. Ich konnte aus unserem Staatnicht nach Amerika schreiben. Da hätte ich nachweisen müssen, dass es einVerwandterwar. Ichwolltemichnichtgefährden,dennwirwaren jamehrals

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kleinlich in diesen Fragen. Ich hätte ja sagen können, ‚das ist eineMitgefangene, mit der ich korrespondiere‘, ich hätte ja die Fotos und alleszeigenkönnen,aberweißman’s,daistmanschonirgendwie‚verdächtig‘.Mehrwillichnichtsagen,verdächtigeben,dassichvielleichtdochirgendwie…Dennich hatte ja immerhin eine Vertrauensstellung ganz interner Art durch dieLeitunginderGewerkschaft.

UndsoistunsereVerbindungabgebrochen,undichhabeniewiederetwasvonihrgehört.Eshatmich immerwiederbeschäftigt,waswohlaus ihrgewordenist.AufeinerDienstreisenachBudapesthabeichdiebeidenFotosgezeigt.AberniemandwussteetwasvoneinerEditBánundwoihreWerkezufindenwären“.DochFriedelginginihrenverbleibendenletztenzehnLebensjahrenmiteinemdurchSelbstvorwurfundinnerenSchmerzangefeuertenEngagementinunsereArbeitmitÁgnesfürEdithunddieFrauenvonGenshagen.

„In Genshagen waren Russinnen, darunter auchKriegsgefangene und zwei Ärztinnen von der Front, diegegen jedes Völkerrecht bei uns ins KZ gesperrt wurden.Ukrainerinnen, ganz junge Mädchen, die zum Teil direktvon den Feldern geholt und verschleppt worden waren.Dann hatten wir Jugoslawinnen, die bei Tito gegen dieDeutschen gekämpft hatten; und Belgierinnen waren alsGeiselnda,derenMänneroderVäterdenKriegsdienst fürDeutschland verweigert hatten. Sehr viele Frauen kamen

aus Warschau. Sie waren beim Warschauer Aufstand aus ihrer Hauptstadtvertrieben und ins KZ Ravensbrück gebracht worden. SogarMüttermit ihrenhalbwüchsigen Töchtern waren bei uns eingesperrt. Im Lager war auch einegroße Gruppe ungarischer Frauen, sie waren alle Jüdinnen aus Budapest, diemankurzvorSchlussnochindiedeutscheKriegsrüstungzurArbeitgeholthatte.Und ungefähr 125 Französinnen waren da, die in ihrer Heimat Widerstandgegen die Faschisten geleistet hatten und dafür in Frankreich schon imGefängnisgewesenwaren“.

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DiePolinneninGenshagen

Für unseren Film „Der Stern und sein Schatten“ war es jetzt die gewaltigeAufgabe, Überlebende der Frauen vonGenshageninihrenHeimatländernzufinden.HinweiseaufihrenVerbleibließensichwederin Genshagen/Ludwigsfelde noch in den

Archiven von Daimler-Benz, Ravensbrückund Sachsenhausen finden.

Nach einem persönlichen Aufruf des Autors auf Unterstützung bei derJahrestagung des „Internationalen Ravensbrück-Komites“ 1991 in Amsterdaman die Delegierten aus ganz Europa kamen nachMonaten erste Namen undAdressenzunächstausUngarnunddannausPolen.SoreistenwirimApril1992auchnachWarschau,undkonntenimAnschlussaneineVoll-Versammlungdes„Klub Ravensbrück“ erste Aufnahmen mit 26 Frauen machen, die der BitteunsererÜbersetzerin JoannaChwat gefolgtwaren, als ehemaligeGenshagen-HäftlingefürInterviewsundDreharbeitenzurückzubleiben.ObsiejemalsetwasvonDaimler-BenzbekommenhättenwarunsereersteFrage.

AlsimJahr1994imwiedervereinigtenDeutschlandfürdieFeierlichkeiten„50Jahre nach Kriegsende“ und „50 Jahre Befreiung der Konzentrationslager“EinladungenanTausendeehemaligerKZ-Häftlingevorbereitetwurden,oftzumersten Mal an die Stätten ihrer Leiden zurückzukehren, haben 25 Frauen inWarschaueinenBriefanEdzardReutergeschrieben,derdamalsVorsitzenderdesVorstandsderDaimler-BenzAGwar.

1994BriefanReuter15.12.1994Faksimile

EinladungWoriescheckistPlatzhalter

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EinergroßzügigenEinladungfolgendkamendieFrauenausWarschauimApril1995mitBegleiternzumerstenMalzurückandenOrtihrerseidJugendjahrenmit traumatischen Erinnerungen behaftetenHaftzeit. Sie nahmen teil an denFeierlichkeiten in der „Mahn-und Gedenkstätte Ravensbrück“, wohnten imnahegelegenen feinen„Hotel amWentowsee“,betetenamMassengrab ihrerin Genshagen ermordeten Kameradinnen auf dem Friedhof in Ludwigsfelde,und trafen dabei auch nach 50 Jahren wieder mit Friedel Malter und denUngarinnenÁgnesBartha,JudithFischmannundÉvaFehérzusammen.

Am21.April1995besuchteGerdWoriescheckdieFrauenimvonderDaimler-BenzAGfürsiereserviertenHotel.FreisprechendrichtetereineAdresseandieversammelten Genshagenerinnen. „Wir wissen, dass Sie bei uns eine ganzschwereZeitdurchgemachthaben,eineZeitmitvielArbeitundeineZeitmitvielErniedrigung.WirhabenunsalsUnternehmenbeiIhnendafürzuentschuldigen,wasSiebeiuns inGenshagenerlebthaben. Ich freuemichvorallemdeshalb,dass Sie heute zu uns gekommen sind, denn ich halte es überhaupt nicht fürselbstverständlich, dass Sie nach dem, was Sie bei uns erlebt haben, wiederunsere Gäste sind. Ich weiß, dass die Frage der Entschädigung, insbesonderederindividuellenEntschädigung,eingroßesProblemfürSiealledarstellt,dieSiefürunsarbeitenmussten…“

Dankbar angenommen wurde von den FrauenErinnern,BedauernundEntschuldigung imNamendes Unternehmens. Die darauffolgende Erklärungjedoch,dass„individuelleEntschädigungen“fürdieDaimler-BenzAGnichtinBetrachtkämen,brachtendemdurchausfreundlichdenFrauenzugewandtenTop- Manager bittere Kommentare ein. JaninaRucinskaundEmiliaLepiankamitG.WoriescheckApril1995

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Diese Begegnung zwischen dem Vertreter eines Konzerns und dessenehemaligenZwangsarbeiterinnendürfteals richtungweisendesEreignisgeltenim Vorfeld der Jahre später mit großer Wucht aufgetretenen jahrelangenDebatten um „individuelle Entschädigungen“. Eine solche Formulierung ihrerErwartungen haben die Frauen nie benutzt. Sie forderten den ihnenvorenthaltenen Lohn. „Und das ist ohne jede Diskussion“ konterte JaninaRucinska als damalige Sprecherin der Warschauerinnen. Den ganzen Abendhaben wir gefilmt und im Jahr 1999 die Reportage „Für Lohn und Würdefertiggestellt.(Arte/SFB,30min)

Als Janina Rucinska schwer krank wurde, hat Alicja Kubecka ihre Rolleübernommen.Alicjahattesichschonseit10Jahrendafüreingesetzt,dassüberdas deutsche „Maximilian-Kolbe-Werk“ medizinische Hilfe-Leistungen fürehemaligeKZ-HäftlingeinPolenvermitteltwerdenkonnten.ImJuli2015wurde

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sie dafür in der Deutschen Botschaft Warschau mit einemBundesverdienstkreuzausgezeichnet.WiedreiJahrezuvorschonÁgnesBarthain der Deutschen Botschaft Budapest, wie 2013 in Berlin auch der Autor fürunseregemeinsameArbeitseit1992.Bei der Vorstellung des Buches „Innere Bilder wird man nicht los“ imStadtarchivStuttgarthatAlicjaKubeckain ihrerLaudatioaucheineGrundlagefürdiesenKataloggelegt:„DasErscheinendesBuchesvonHelmuthBauerversteheichalseinenweiterenSchritt in den deutsch-polnischen Bestrebungen zu einem objektiven Blick aufdiejüngereVergangenheit.In den vergangenen Jahrhunderten dominierten zwischen unseren LändernnichtnurFeindlichkeitundAbneigung,undauchjetztsollmanversuchen,gutenachbarschaftlicheBeziehungenanzustreben.VersöhnungundFreundschaftsindnurdannwahrhaftig,wennsieaufWahrheitbegründetsind,unddieAnerkennungvonschwierigerWahrheiteinschließt.Deshalb sollte die Veröffentlichung von Helmuth Bauer ins Polnische und inandere Sprachen übersetztwerden, so dass sie auch in Polen und in anderenLändernEuropasbekanntwirdundihreBestimmungerfüllenkann“.

AutormitseinemBuchundAlicjaKubecka2011

AutormitÁgnesBartha2015 K

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UndauchausUngarnkamakzentierteSchützenhilfevomSzent-LászlóGimnásiumBudapest:Faksimile?SehrgeehrterHerrBauer,wirhabendasProduktIhrerZusammenarbeitmitÁgiBartha,daswunderbareBuchInnereBildermitunendlicherDankbarkeitindieHändegenommen.DieLehrerunsererSchuleblätternunddurchstöberndasBuchbereitsmitgroßerFreude.Vorallemdie,dieschonseitlangenJahreninKooperationmitÁgiarbeiten.Wirsindunsallesicher,dassbeidemUnterrichtdesHolocaustsinersterLiniedielebendige,persönlicheGeschichteeindrucksvollundeffektivseinundaufschlussreichdienenkann.Wirsinddavonüberzeugt,dasswirmitderHilfedesreichdokumentiertenBuches,daseinriesiges,aufumfassendenForschungsergebnissenfundiertesTextundBildmaterialbietet,nochauthentischerinunsererArbeitseinkönnen.Wirglauben,dassfürunsalle,LehrerundSchülerunseresGymnasiums,IhrBucheinkostbaresGeschenkist.Eins,dasdurchdieBesuchevonÁgibeiunsunddurchihreGesprächemitdenSchülernnochauthentischergemachtwird.Eins,mitHilfedessendiezukünftigenGenerationen(unabhängigvonHerkunftoderanderenFaktoren)einanderimmernäherkommenkönnen.WirwünschenIhnenweiterhinerfolgreicheArbeitundguteGesundheit.Wirhoffen,dassdieFortsetzungdesBuchsbaldfolgt.Wirwürdenunsfreuen,wennSiebeiIhremnächstenBesuchinUngarnauchunserGymnasiumwiederaufsuchenwürdenundunsereinteressiertenKollegenundSchülermehrüberIhreArbeit,IhreForschungenundüberdieEntstehungIhresBucheserfahrenkönntenDie in seinemBuch„InnereBilderwirdmannicht los…“veröffentlichte Liste„Eintausend Namen der Frauen in Genshagen“ hat noch 6 Jahre nachErscheinen ein unerwartetes, bewegendes Ergebnis erbracht.Die Familie von

Anna Ziemba konnte endlich mit „Genshagen“ und demUnternehmen „Daimler-Benz“ den Ursprung derErzählungenfestmachen,indenenGroßtante„Hanka“,ohnezuwissen,wo sie sich damals befand, jahrzehntelang überihre Zwangsarbeit in Deutschland nach dem WarschauerAufstandberichtethatte.GroßnichteUrszulaCzerska reistemitdemAutorinsferneZajezierze(Ostpolen),ummitHankazusprechenundderGeschichtevonGenshageneinweiteresFrauen-Bild hinzufügen zu können. Vielleicht ergeben sich

über die jetzt von der DAIMLER AG herausgegebenen Kataloge weitereaufschlussreiche Erkenntnisse und heilsame Wiederbegegnungen. Hankawünscht sich seit Kriegsende einen Kontakt zur Familie des 72 Jahre altenMeisters,derihrinGenshagengeholfenhat,undschließtihnseitdeminallihreGebeteein. AnnaZiemba1943GerdWoriescheck,ÉvaFejér,JudithFischmannundÁgnesBarthaam21.April1995

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Im Film „Für LohnundWürde“waren auchdieBildervon Edith Kiss, waren auch Ágnes Bartha und dieUngarinnenzusehen;siewarenschonimHerbst1994auf Vermittlung des Autors zum 50. Jahrestag ihrerDeportation von Daimler-Benz nach Ravensbrückeingeladen worden und zurückgekehrt. Auch ihnengegenüber hatte der Vertreter des UnternehmenskeineChanceaufVerständnisfürseineAblehnungvonLohn-NachzahlungenfürihrezwangsweisegeleisteteArbeit.JudithFischmannbrachteHeiterkeit indieRunde: „Sie können uns ja einige Lastwagen anbieten, pro Person ein, zweiStück…“KurzerAufbruchinUngarn

In den ersten Jahren nach der „Wende“ war inUngarn ein gewaltiger Aufbruch in eine Neue Zeitzu verspüren. Im Historischen Museum auf derBurg wurde in der Ausstellung „UngarischerHolocaust“1993erstmalsrückhaltlosoffendieMit-Verantwortung Ungarns an Deportation undVernichtung seiner jüdischen Bevölkerungthematisiert.AlsderneuejungeMinisterfürKulturGábor Fodor seine Laudatio beendet hatte, sagteMáriaEmberzuunsgewandt:„DasistdieSprache,auf die wir Jahrzehnte gewartet haben“. Maria

hattedasMottoderAusstellung,dasüberdemEingang ingroßenLettern zulesen war, programmatisch formuliert: “Es handelt sich nicht um JüdischesSchicksal, es handelt sichumungarischeGeschichte“. Eine großeGenugtuungauch für Ágnes Bartha und die Ungarinnen in Genshagen., die wir in dieseAusstellungmitderKamerabegleitenkonnten.Im Herbst 1996 gelang es, alle bis dahin vom Autor wieder aufgefundenenWerke von Edith Kiss im JüdischenMuseum Budapest in einer von Daimler-Benz finanzierten Sonder-Ausstellung zu zeigen: „Edith Kiss:Wer kennt dieseFrau“? Und am 8. Mai 1997 im MTV 1 (Erstes Ungarisches Fernsehen) dasFilmportrait: „Bán Kiss Edit: Elveszett kepék“ (Verlorene Bilder, 60 min) Bei derAbnahme des Rohschnitts bemerkte Redakteur Pál Békés resigniert: „Dieletzten fünf Minuten, in denen wir so einen Film im ungarischen Fernseh-Programmunterbringenkönnen…“

Dann überschlugen sich die Ereignisse imstaatlichen ungarischen Fernsehen. Nebenalten Kadern wurde auch der

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stellvertretende Chefredakteur ### zusammenmit Pál Békés und vielen ausder Nach-Wendezeit profilierten Mitarbeitern entlassen. ### hatte bei derEröffnungderAusstellung im JüdischenMuseumgesprochen,unddas für ihnBesondere an dieserWerkschau hervorgehoben. “EinDeutscherMann bringtuns diese jüdisch-ungarische Künstlerin zurück, ein deutsches UnternehmenmachtdieseBilder-Ausstellungmöglich“.MémoiredelaDéportationinParisImFrühjahr1995bereitetedie„FondationpourlaMémoiredelaDéportation“inPariseineumfassendeAusstellungvor:„Résistance,Déportation,Libération1933-1945“. Marie-Claude Vaillant-Couturier, die 1945 als Zeugin bei denNürnbergerProzessenüberdiedeutschenKriegs-undMenschheits-VerbrecheninAuschwitzundRavensbrückausgesagthatte,waralsDirektorinderStiftungfederführend. Ágnes Bartha und der Autor legten Marie-Claude die 30GouachenimvonEdithKissselbstgestaltetenAlbum„Déportation“vor.Erstinihren Pariser Jahren hatte die Künstlerin ihre Gouachen mit „Edith Kiss“

signiert, und sie mit französischen Titelnversehen.ZurBegutachtungderBilderschlugMarie-Claude ein Treffen mit Germaine Tillionund Anise Postel-Vinay vor. So kam esdazu,dasswirmitÁgnesBartha imHausvonGermaineinParis-St.MandéBlattfürBlatt die Kommentare aufzeichnen

konnten,diediebeidenFranzösinnenunterderaufscheinendenErinnerunganihreeigeneLagerzeitangesichtsderGouachen,undgegenüberdenlebendigenErinnerungen von Ágnes an die darin dargestellten Situationen spontaneingeworfen hatten. Die Geburtsstunde der „Schlaglichter“ auf die 30GouachenvonEdithKiss.(sieheKapitel1)

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GermaineTillion,ihrebretonischeHaushälterinMarcelle,ÁgnesBarthamitAnisePostel-Vinay1995

DieGouachenvonEdithKisswurdenvonGermaineundAnisebeiMarie-Claudenachdrücklich fürdieAusstellungempfohlen.ZurEröffnungkonntenwirauchdie französischeGenshagenerinAnne-Marie LeCallonecmitEhemannMarcelund Schwiegersohn Patrick aus der Bretagne eingeladen. Anise Postel-Vinayhatte den Kontakt zur Familie hergestellt, wie auch später zu Lucette Billardund Gilberte Jacquot, aus deren Erinnerungen an Genshagen bewegendeSchlaglichterentsprangen.

Anise:"Ichkannmichsehrguterinnern,wiedieUngarinnenangekommensind.Eswarsotragisch.Eswarensodünne,jungeMädchen.Alleschienensiesehrjungundsehrdünnzusein,undsiehattenkeineKraftmehr.IchsehedasZeltnochvormeinenAugen.GermainepräzisiertdieErinnerungderFreundinseitRavensbrück:"DasZelt,indemdieungarischenJüdinnenuntergebrachtwaren,befandsichgenaunebendemBlock24,indemwirFranzösinnenwaren.DeshalbhabenwirdieUngarinnenvonunseremBlockausgesehen.Ichwarentsetzt,inwelchelendemZustandsieoffensichtlichwaren.DaswarenFrauenamEndeihrerKraft.UndichbinindasZelthineingegangenundversuchte,eineFrauzufinden,diefranzösischverstand.Alleswasichtunkonntewar,einigeRatschlägegeben,sagen,wasmantunmuss,umzuüberleben.ZuallemUnglückwarichselbstauchamEndemeinerKräfteundineinemsehrschlechtengesundheitlichenZustand,undichhabekeineFraugefunden,dieverstandenhätte,wasichihrsagte.

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Germaine Tillion und AnisePostel-Vinay stammen aus kulturell hoch gebildeten Familien. Anise (*1922)schreibt in ihrer Autobiographie „Vivre“(2015): „Mes parents étaientcatholiques,républicains,ilsavaientdesprincipes.Ilsnousinculquaientl’espritd’indépendance, la liberté.Mamêre, adepte des théories deMontessori quiconsidère l’enfant comme un sujet, avait inventé pour nous un petit jardind’enfants“.(wirdwieandereZitateauchindiejeweiligeSprachederKatalogeübersetzt)

Germaine Tillion (1907-2008) hatte von ihrerMutter, der berühmten Verfasserin mehrererBände der „Guides Bleus“ Emilie Tillion (1876 –1945 +Ravensbrück) eine umfassendekunsthistorische Bildung erfahren, sich dannjedoch dem Studium der Ethnologieverschrieben. Als eine der ersten Frauenüberhaupt, war Germaine Tillion von 1934 –1940 mit ethnologischen Feldforschungenbetraut worden. Im Süden Algeriens, in weit

abgelegenenRegionendesAurès-Gebirges,hatsiesechsJahreunterChaouia-Berberfrauengelebt,diezuvornochnieeineEuropäerinzuGesichtbekommen

hatten. Germaine hat die Gesichter dieserFrauen nicht nur mit ihrer Rolleiflex-Kameraaufgezeichnet. Sie blieb von ihnen erfüllt ihrLeben lang. So bildete sich ihr ein ganzbesonderer Blick auf das, was im Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück unterFrauen aus allen europäischen Länderngeschah. Und auf das, wie Edith Kiss dieFraueninihren30Gouachengezeichnethat.

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Germaine selbst hat ein grundsätzlich anderes Zeugnis aus ihrer Lagerhafthinterlassen: Den Text einer „Opérette à Ravensbruck“, den sie im Oktober1944ineinerTransportkisteverstecktinnerhalbvonzweiWochengeschriebenhat: „Le Verfügbar aux Enfers“. Zu populären und ihren KameradinnenvertrautenSchlagern,Volksliedern,Chansonsbishin zurArie „J’aiperdumonEurystice“ aus Jaques Offenbachs „Orpheus in der Unterwelt“ zu singen,

kursierte das Manuskript mit Szenen aus demLagerleben im Block der Französinnen. „Dans macaissej’aiécritleVerfugbarendixjours.Etensuitelemanuscritacirculédemainenmain.Caaamusélescamarades.Ellesriaient,ellesriaient…“Erst in Jahr 2005 konnte Anise die Freundin seitRavensbrück überzeugen, ihren „Verfügbar“ zuveröffentlichen,undsiehatauchdenTextmitvielenerhellenden Anmerkungen versehen. Germainehatte, nicht ohne Grund, die Befürchtung gehabt,eine „Operette“ aus und über das KZ-RavensbrückkönnezuMissverständnissenführen.Zu ihrem100.

Geburtstagam30.Mai2007präsentiertedasPariserMusiktheaterLeChâteletdann eine fulminante Uraufführung. Der junge französische Regisseur DavidUnger konnte diesemitmehreren Kameras aufzeichnen. Aus dem gedrehtenMaterial hat er dann für ARTE einen Film geschnitten mit Interviews derFranzösinnen, die Germaine und ihre Texte in Ravensbrück erlebt hatten.HauptrolleAnisePostel-Vinay.Mitder15JahreälterenGermainekonnteDavidnichtmehrdrehen.SogelangtenPassagenausunserenAufnahmenvonMärz1995indiesenFilm.Beim Betrachten des Deportations-Zyklus von Edith Kiss erkennen GermaineTillionundAnisePostel-VinaynebenkulturellenundkunsthistorischenBezügeninEdithsBildernimmerwiederSituationendargestellt,die imKZ-Ravensbrücksonichtvorstellbarwaren.IneinemKZ-Außenlagerdagegenschon,wieÁgneskorrespondierenderzählt.Beider„Daimler-Benz-Motoren-GmbHGenshagen“.Ein Glücksfall für den Betrachter der Bilder ist die Transkription des Dreier-GesprächsbeimgemeinsamenBlatt für BlattDurchblätternder 30Gouachendes Albums „Déportation“ im März 1995. Eine Brücke zum ansatzweisenVerstehendesunvorstellbarenGeschehenen.EinerhellenderBeitragauchzurErforschung der Unterschiede zwischen KZ-Haupt- und KZ-Außen- bzw.Arbeitslager.Soentsteheneindrückliche„Schlaglichter“(sieheKap.1)ausdeneigeneninnerenBildernvonÁgnes,GermaineundAniseheraus,zudenensichErinnerungen an vergleichbare Situationen aus dem großen Kreis der nach

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BeginnderRechercheimJahr1990nochlebendenGenshagenerinnengesellen.Und Eindrücke von Schülern und Schülerinnen in Berlin und La Loyére undBudapest,diesichmitderenSchicksalangeleitetbeschäftigthaben.BildhaftesZeugnisundKunst„IchkannüberdiekunsthistorischeBedeutungEdithsgarnichtsprechen,dasistnichtmeinFach“,sagtederungarischeSoziologeAndrásB.Hegedűs,alswirimHerbst1995inLondoninderletztenWohnungvonEdithKissfürdenPorträt-Film „Kiss Edit: Elveszett Kepék“ (Verlorene Bilder 1997) für das ungarischeFernsehen drehen. Als Sohn von Júlia Borai, der Freundin von Edit seit derSchulzeit inBudapestundEhemannvonMariaEmber,weißAndráswovonerspricht und wovon nicht. „Sie hat, wie ich meine, sehr wenig gearbeitet.Vielleicht wenn die historischen Gelegenheiten anders gegangen wären inUngarn,inMarokko,inFrankreich,inLondon,wäreetwasanderesgeschehen.Das ist sicher, dass das eine Geschichte des 20. Jahrhunderts ist, mit allenErfolgenundTragödien.DasisteineungarischeGeschichte,dasisteinejüdischeGeschichteunddas isteineeuropäischeGeschichte,das istganzeindeutig fürmichalsUngar.“

EdithKissunterihremletztenBildLondon1965JúliaBoraimitSohnAndrás1995ebendortNeben seiner Mutter sitzend, unter dem seit dreißig Jahren an der WandhängendenÖlbildvonEdithKiss,demletzten,dassiemalte,alssiebiszuihremSuizid indieserWohnungmit ihrerJugendfreundinJúliaBorai lebte,skizzierteAndrásseineSichtaufLebenundSterbenvonEdithKiss:„Der Zweite Weltkrieg, die Vorgeschichte des Zweiten Weltkriegs und auch,warumEditausUngarnweggehenmusste,–vielleichtnichtmusste–,warumsie und ihre Familieweggegangen ist, das ist auch eineGeschichte, die einenSinn hat, darüber nachzudenken. Und selbstverständlich ist ihr Tod einePrivatgeschichte,ganzbestimmtspielteeinewichtigeRolle,dasssienachdemTodihresEhemannsSándoralleingebliebenist,aberdasssiesofühlte,dasssienachderDeportationmit ihrenBilderngar keinenErfolghatte, daswarganzbestimmteinewichtigeMotivationzuihremTod.“

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UnterdengewaltigenBautenvonParis -LaDéfencefandenwirdasGrabvonEdithundSándorKiss,dersichimWestenAlexandrenannte,aufdemkleinenFriedhof „Nouvelle Cimetière de Neilly. Leben undWerk der Künstlerin, mitAbbildungenihrerseit1992vomAutorwiederaufgefundenenWerke,werdeninKapitel2desKatalogsnachgezeichnet.

„DieNormalisierungderBarbarei“Die Geschichte vom Daimler-Benz-Kriegswerk im Wald von Genshagen warschon in den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts nach und nach ins Lichtgerückt. Jahre bevor wir die überlebenden Frauen-Häftlinge gesucht undgefundenhaben,warenHinweiseundDokumenteaufgetauchtzurExistenzvonzehntausend zivilen Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen unter den 17000Menschen,die1944dortbeiDaimler-Benzeingesetztwaren.

Russische Zwangsarbeiter beiDaimler-BenzFürdas„Daimler-Benz-Buch“des„HamburgerInstitutsfürSozialgeschichtedes20.Jahrhunderts“erzähltedernachdemKrieg inSchwabengebliebeneRusseSimon Guljakin im Sommer 1986 dem Autor und Michael Schmid seine

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GeschichtenausdreiJahrenZwangsarbeitinHalle13desGenshagenerWerks.ImMai1942mit16 JahrenausseinerHeimat inderRegionOrjolvonSSundWehrmacht verschleppt, durchlebte und durchlitt er die dramatischenVeränderungen in der Arbeit für den deutschen Krieg, bis der Konzern seinewertvollen Werkzeug-Maschinen mit den männlichen Zwangsarbeitern imSommer 1944 „bombensicher“ in die Stollen des Gipsbergwerks der„Heidelberger Zement“ bei Neckarelz/Obrigheim verlagerte. Kurz vorKriegsendehatDaimler-BenzsichdanndieserKZ-HäftlingeundZwangsarbeiterentledigt,unddieseausderGenshagenerUntertage-Verlagerung„Goldfisch“inRichtung KZ Dachau abgeschoben. „Wir waren ja Niemand“ war SimonsbitteresResümee.EingangzurLehrwerkstattDaimler-BenzWerkSindelfingen

EinkomplementäresResümeefürdiesenProzessvon1942–1945hat der britischeDaimler-ForscherNeil Gregor („Daimler-Benz in theThird Reich“, Yale University Press 1998; deutsche Ausgabe „Stern undHakenkreuz“,Propyläen-Verlag1998)aufderTagung„Zwangsarbeit“derStuttgarter„BibliothekfürZeitgeschichte“imJahr1999formuliert.Im Rathaus Saal der Daimler-Stadt, neben den deutschenFachhistorikernzumThemaHansMommsenundUlrichHerbertaufdem Podium, führte Neil Gregor aus, wie Daimler-Benz, als derKriegverlorenzugehendrohte,nichtmehr inProduktionsanlageninvestierte, sein Barvermögen für einen späteren „Wiederaufbau“

ausdenWerkenabzogundinStuttgartinSicherheitbrachte.Sichso„aufdenKnochen und dem Sterben seiner Zwangsarbeiter in den Nachkrieg gerettethat.“ Ulrich Herbert pflichtet bei: „Ab 1944 lechzte die Deutsche Industriegeradezu nach Zwangsarbeitern“. Denn: Nur das Unternehmen, das bisKriegsende zu produzieren in der Lage war, hatte Aussicht auf zukünftigenBestand.AlsFolgefürdiesichfortlaufendverschlimmerndenZustände indenProduktions-HallenkonstatiertGregor:„DieNormalisierungderBarbarei“.In die Schluss- Phase dieses Prozesses wurden im Herbst 1944 als letztes

Aufgebot die 1100 Frauen ausRavensbrück ins Fabriklager Daimler-BenzGenshagengebracht,bis sieEndeApril 1945 schließlich in die KZ-Stammlager Sachsenhausen undRavensbrück zurückgeführt wurden.NachdemschwerenBombenangriffaufGenshagen am 6. August 1944 hatte

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WerkleiterSommerStanderaufstellenlassen:„Nunerstrecht“.Farbe!AmMorgennachdemAngriffentließSommerseinenStabnachdertäglichenLagebesprechung beim „Steh-Convent“ mit den Worten: „Und nun, meineHerren, Ihr seid die Aktivisten, das Werk arbeitet weiter, der Feind hat dieWerkstättenzerschlagen,abernichtunserenGeist.“InseinerRedeaufderDaimler-HauptversammlungimICCBerlinhatderAutor

diesesKatalogsimJahr2000vor10000AktionärenGregors und Herberts drastischen Befund mitBeispielen aus seinen Forschungsarbeiten zuGenshagen untermauert und konkretisiert. „Über500 ‚Daimler-Tote‘ liegen auf dem Friedhof vonLudwigsfelde,mit zumeist russischen Namen oder

‚388 Unbekannt‘, noch nicht gerechnet die 130 Opfer desschwerenBomberangriffsvom6.August1944,undauchnichtdie 19 ermordeten KZ-Frauen im Massengrab, die 1947exhumiertundumgebettetwurden.“

ErinnernanGenshagen

Der Maxime Germaine Tillions folgend: „Il faut chercher des traces de ceténormecatastrophedanstous lespays.Aufondc’étaitEurope.L’Europedont

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on nous parle maintenant“, haben wir mit Herz,Mikrofon und Kamera zweiJahrzehntelangdieSpurenderFrauenvonGenshageninihrenHeimatländerngesucht, und aus ihren gesammelten Erinnerungenheraus für diesen Katalog„Schlaglichter“ auf die Bilder von Edith Kiss zusammengestellt. Diese Zitatewerden in der Anthologie „Erinnerungen an Genshagen“ (Kapitel 4) weiterausgeführt.UndauchdaskönnennurBruchstückesein.

Wir konnten nur noch fünfzig der ehedem 1100 Frauen von Genshagen amLeben finden, die bereit und in der Lagewaren zu erzählen. Und auch diese

Frauen relativieren die Bedeutung ihrer persönlichenErinnerungen:„IchbinmirdarüberimKlaren,dassmeineeigenenoderdieErlebnissederanderenGefangenenausdem Warschauer Aufstand im Vergleich zu denErlebnissen derjenigen, die mehrere Jahre inGefängnissen und Konzentrationslagern waren, nur einBruchteilsind.Abertrotzdemwarensieschrecklichfüreinjunges Mädchen wie mich, das erst 18 Jahre alt war“.(EugeniaChalupczynska)

„DassindnureinpaarwenigeErinnerungen.Umalleszubeschreiben,würdedasPapiernichtausreichen“schreibtHalinaDanko1999ausWarschau.„IchdankeIhnenfürIhreMüheunddafür,dassSieunserUmherirrenauffürunsfremderErdeunddasLeid,daswir im Lager Genshagen erfuhren, zusammenmit uns nocheinmal durchleben. Dank Ihrer Arbeit und Ihrem großenEngagement wissen wir jetzt, dass die Erinnerung an unsnicht verloren geht, und dass wir in Ihren Augen, in denAugen der Daimler-Benz AG und in den Augen vielerMenschen,diemitIhnenzusammenarbeiten,unsereNamen,GesichterundMenschlichkeitzurückgewonnenhaben“.HalinaDanko1944

AllemitihrenErinnerungenindiesemKatalogversammeltenFrauenwerdeninKapitel 3 „Begegnungen mit Frauen von Genshagen“ mit Portraits aus denJahren ihrer Zusammenarbeitmit demAutor persönlich vorgestellt. Zunächstwerdenjedochdie30Deportations-GouachenvonEdithKissinsLichtgerückt,die mit „Schlaglichtern“ der beteiligten Frauen versehen Kapitel 1 diesesKatalogesbilden.