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Entwicklung, Wachstum, Umwelt: Dossier Von Fortschritt und Wandel
Wer in der Welt herumreist, kann es direkt sehen und
miterleben: Zur gleichen Zeit leben Menschen unter
ganz verschiedenen Bedingungen und mit grossen Un-
terschieden beim Lebensstandard. Doch auch bei uns
sah der Lebensstandard vor drei, vier Generationen
noch ganz anders aus.
In den westlichen Ländern können heute weit mehr
Dienstleistungen und Güter pro Kopf produziert werden
als noch vor 100 Jahren: Die Wirtschaft ist gewachsen
und hat unseren Lebensstandard drastisch erhöht.
Wirtschaftswachstum beeinflusst unser Leben und
schürt deshalb auch Ängste: Führt der technologische
Fortschritt dazu, dass uns Roboter bald die Arbeit weg-
nehmen? War das Wachstum seit der Industrialisierung
etwa eine Ausnahmeerscheinung und gehen uns die
Ideen für neue Erfindungen allmählich aus?
Während der Baustein «Wachstum und Entwicklung»
Auskunft über die Grundlagen und Zusammenhänge
gibt, werden in diesem Blog-Dossier Themen beleuch-
tet, die in der näheren Vergangenheit für Gesprächsstoff
gesorgt haben.
Lesen Sie, was das BIP als Wohlstandsindikator wirklich
taugt, ob sich Ungleichheit auf das Wachstum auswirken
kann oder wie mithilfe von Experimenten versucht wird,
die Armut in Entwicklungsländern zu bekämpfen.
Das Blog-Dossier «Entwicklung, Wachstum, Umwelt»
eignet sich in Verbindung mit dem iconomix-Baustein
«Wachstum und Entwicklung».
Entwicklung, Wachstum, Umwelt: Dossier
Version Oktober 2018 2 | 25 www.iconomix.ch
Inhaltsverzeichnis
BIP – die mächtige Zahl 3
Experimente gegen Armut 5
Das Ende der Arbeit 7
Gute und schlechte Ungleichheit 9
Ende des Wachstums? 12
Exodus: Migration ökonomisch betrachtet 15
Wie wichtig gute Institutionen sind 17
Wer springt auf den Wachstumszug? 19
Wachstum ohne Ende? 21
Wissen – ein teilweise öffentliches Gut 23
Glossar 25
Entwicklung, Wachstum, Umwelt: Dossier
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BIP – die mächtige Zahl
Als die Amerikaner das BIP einführten, wollten sie nicht
den Wohlstand der Bevölkerung messen. Dennoch dient
es genau diesem Zweck – trotz Schwächen. Wie kam es
dazu? Haben wir keine Alternativen?
Aussage des bhutanischen Königs aus dem Jahre 1972, hängt in einer Schule in Bhutan. (Bild: Wikipedia)
Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) misst den Marktwert al-
ler im Inland hergestellten Güter und Dienstleistungen
für den Endgebrauch. Dividiert man die so erhaltene
Zahl durch die Anzahl Einwohner des Landes, erhält
man das BIP pro Kopf, welches als international ver-
gleichbares Wohlstandsmass gilt.
Gemäss Schätzungen des Internationalen Währungs-
fonds weisen derzeit folgende Länder weltweit das
höchste reale BIP pro Kopf auf (Stand Oktober 2013):
1. Katar, 2. Luxemburg, 3. Singapur. Die Schweiz liegt
auf Rang 8.
Nachteile des BIP
Seit Längerem ist bekannt, dass das BIP als Mass des
Wohlstandes Schwächen aufweist. Robert Kennedy,
Bruder des ehemaligen Präsidenten der USA, sprach
das Problem bereits 1968 an: «Das BIP misst in der kur-
zen Frist alles, ausser dem, was das Leben lebenswert
macht.»
Durch das BIP wird zwar die wirtschaftliche Leistung
ganzer Volkswirtschaften durch eine einzige Zahl ver-
anschaulicht, aber diese Zahl sagt nichts darüber aus,
ob diese gemessenen Leistungen auch wirklich wohl-
standssteigernd sind.
Exemplarisch einige Schwachpunkte des BIP:
Ein starkes Unwetter zieht über das Land. Zahlrei-
che Gebäude werden beschädigt und müssen an-
schliessend wieder repariert werden. Zusätzlich
muss die Feuerwehr viele überschwemmte Keller
auspumpen. Die Reparaturarbeiten sowie der Feuer-
wehreinsatz wirken sich positiv auf das BIP aus, ob-
wohl es den Leuten nicht besser geht als vor dem
Unwetter.
Eine Familie steht vor der Wahl: Soll sie sich selbst
um die kranke Grossmutter kümmern, oder soll sie
die Kosten für einen Pfleger übernehmen? Die erste
Möglichkeit beeinflusst das BIP nicht, im zweiten
Fall steigt es.
Eine Fabrik stellt ein Produkt unter enormer Um-
weltverschmutzung her. Die Anwohner leiden unter
der verschmutzten Luft. Der Produkterlös fliesst ins
BIP, die negativen Folgen für die Anwohner jedoch
werden nicht berücksichtigt.
Geschichtlicher Hintergrund
Das im Oktober 2013 erschienene Buch «Die Macht der
einen Zahl» von Philipp Lepenies widmet sich ganz der
politischen Geschichte des BIP. Dabei zeigt Lepenies
auf, wie diese Zahl so mächtig werden konnte.
Simon Kuznets, ein amerikanischer Ökonom, vertrat in
den 1930er-Jahren ein Konzept, das auf der Messung
der materiellen Wohlfahrt der Bevölkerung ausgerichtet
war. Elemente, die nicht den einzelnen Bürgern zugute
kamen, wurden herausgerechnet.
Gemäss Lepenies konnte sich dieses Konzept aufgrund
des Zweiten Weltkrieges nicht durchsetzen. Die USA
und Grossbritannien benötigten keine individualistische
Bürgersicht. Sie wollten eine Zahl, um konkrete Fragen
zu beantworten: Wie gross sind unsere Produktionska-
pazitäten? Wie viel davon können wir für militärische
Zwecke einsetzen? Reicht das für den Sieg über die
Achsenmächte?
Es ging nicht darum, den Wohlstand zu messen, die
reine Wirtschaftskraft sollte eruiert werden. Mit allen
verfügbaren Mitteln wollte man den Feind besiegen.
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Deshalb schob man Kuznets Idee beiseite und entwi-
ckelte ein Konzept zur Messung der Produktionskapazi-
täten. Das war die Geburtsstunde des heutigen BIP.
Die Suche nach Alternativen
Das BIP ist nicht perfekt, dessen Macht mitunter histo-
risch bedingt. Da drängt sich eine Frage auf: Gibt es
keine geeignetere Messmethode für Wohlstandsverglei-
che? Versuche, das BIP durch eine andere Grösse zu
ersetzen, gab und gibt es.
Der bhutanische König führte 1972 das Bruttosozial-
glück (Gross National Happiness) ein, welches bis heute
existiert. Hierbei wird der nachhaltigen Entwicklung und
auch nicht-ökonomischen Werten Rechnung getragen.
Ökonomisches Wachstum wird nicht als Zweck an sich
gesehen, sondern als ein Mittel, um wichtigere Ziele zu
erreichen.
Einen ähnlichen Weg gingen auch Ecuador und Bolivien,
die das Prinzip des Sumak Kawsay («gutes Leben») im
Jahre 2008 bzw. 2009 in ihre Verfassung aufnahmen.
Sumak Kawsay bezeichnet ein Prinzip, welches materi-
elle, soziale und spirituelle Zufriedenheit für alle Mitglie-
der einer Gemeinschaft anstrebt, jedoch nicht auf Kos-
ten anderer Mitglieder oder natürlicher Lebensgrundla-
gen.
Das Bruttosozialglück wie auch Sumak Kawsay sind
stark in der jeweiligen Kultur verankert, deshalb für an-
dere Länder nur schwer adaptierbar. Es existieren je-
doch weitere, international anerkanntere, Alternativen:
Human Development Index (HDI): Wird von den Ver-
einten Nationen berechnet und berücksichtigt zu-
sätzlich zur Wirtschaftsleistung auch die Faktoren
Gesundheit und Ausbildung der Bevölkerung. Rang-
liste (Jahr 2012): 1. Norwegen, 2. Australien, 3. USA.
Schweiz auf Rang 9.
Happy Planet Index (HPI): Im Gegensatz zum BIP
und zum HDI wird das Kriterium der Nachhaltigkeit
mit einbezogen. Berücksichtigt werden Lebenszu-
friedenheit, Lebenserwartung und der ökologische
Fussabdruck. Rangliste (Jahr 2012): 1. Costa Rica,
2. Vietnam, 3. Kolumbien. Schweiz auf Rang 34.
Gini-Index: Ist ein Mass zur Messung der Ungleich-
heit der Vermögens- bzw. Einkommensverteilung.
Rangliste (d.h. Länder mit grösster Ungleichheit im
Einkommen): 1. Lesotho, 2. Südafrika, 3. Botswana.
Schweiz auf Rang 119. [1]
Genuine Progress Indicator (GPI): Misst, ob das
wirtschaftliche Wachstum eines Landes tatsächlich
zu steigendem Wohlstand bzw. Wohlbefinden führt.
Weltweite Vergleiche sind zurzeit noch nicht mög-
lich, da der Index noch nicht vereinheitlicht wurde.
Das Problem der meisten Messmethoden liegt in der
mangelnden Objektivität. Manch ein Konzept, zum Bei-
spiel der ökologische Fussabdruck, ist stark durch per-
sönliche Wertvorstellungen gefärbt. Dies erschwert ei-
nen direkten Vergleich zwischen Ländern. Auch liegen
oftmals keine zuverlässigen Daten vor.
Dies ist der grosse Vorteil des BIP: Es erfasst alle wirt-
schaftlichen Aktivitäten objektiv, ohne Werturteilung,
und ist international harmonisiert. Keine andere Mess-
grösse erreicht annähernd die Relevanz eines BIP bei
Wohlstandsvergleichen. Eine Machtablösung ist vorläu-
fig also nicht in Sicht.
[1] Die Ergebnisse des Gini-Index sind mit Vorsicht zu
geniessen, da die Daten der verschiedenen Länder aus
teilweise sehr unterschiedlichen Jahren stammen.
Pascal Züger, 4. März 2014
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Experimente gegen Armut
Was bringt Entwicklungshilfe? Wer diese Frage stellt,
wagt sich auf ein ideologisches Minenfeld. Zwei junge
Forscher experimentieren mit den Ärmsten, um heraus-
zufinden, was wirklich hilft.
Bild: Wikipedia
Wie kann man die Ärmsten der Welt retten? Sollen die
Länder im Eilzugstempo die Industrialisierung nachho-
len? Oder genügt es, wenn die Märkte freigegeben wer-
den? Sollen wir Malarianetze nach Afrika senden oder
besser gar nichts tun?
Ideen und Rezepte aus der Ökonomengilde sind mannig-
faltig und sie haben eins gemein: Sie beruhen meist auf
wackligen Daten und auf einer einzigen, ideologisch ge-
trübten Theorie, die das Problem der Armut auf einmal
erklären soll.
Mit Experimenten gegen Ideologie
Doch so geht es nicht, plädieren zwei Forscher – die
Französin Esther Duflo und der Inder Abhijit Banerjee –
des renommierten Massachuchusetts Insitute of Tech-
nology (MIT): «Die Entwicklungsökonomie ist heute wis-
senschaftlich auf dem gleichen Stand wie die Medizin
im Mittelalter. Der Patientin wird ein Medikament ver-
schrieben. Geht es ihr besser, so lag es vielleicht am
Medikament oder an unzähligen anderen Faktoren. Über
die effektive Wirkung des Medikaments weiss man
nichts.»
Duflo und Banarjee machen dies anders. So, wie in der
heutigen Medizin die Wirkung von neuen Medikamenten
systematisch erforscht wird, testen sie die Effekte von
Entwicklungsmassnahmen. Fast zwei Jahrzehnte lang
taten sie dies. Denn nur mit kontrollierten Studien kann
man sagen, ob es hilft, Malarianetze zu verschenken, o-
der ob Bauern der Armutsfalle entkommen, wenn man
ihnen Dünger schenkt.
Wenn man versteht, wie die Ärmsten ticken, versteht
man auch besser, mit welchen Instrumenten man ihnen
am besten hilft. Und, das ist das Interessante an diesem
Buch: Menschen ticken oftmals eigenartig – anders, als
es die Armutsexperten im Westen hinter ihren Schreib-
tischen vermutet hätten. Gut gemeinte und vermeintlich
ausgeklügelte Entwicklungsprogramme scheitern daher
oft an kleinen Dingen.
Lieber fernsehen als essen
Wer an Armut denkt, denkt an Hunger. Mangelernährung
ist in der Tat ein grosses Problem in Entwicklungslän-
dern. Es ist dabei nicht nur eine Frage der Menge, son-
dern vor allem auch eine Frage der Qualität. Fehlende
Mikronährstoffe wie Jod, Vitamin A oder Eisen vermin-
dern die Leistungsfähigkeit und führen zu Krankheiten.
Gute Ernährung macht die Erwachsenen produktiver.
Sie hat aber vor allem auch einen grossen Einfluss auf
die zukünftige Leistungsfähigkeit von Kindern und Un-
geborenen.
Arme Menschen ernähren sich schlecht, wodurch sie
weniger leistungsfähig sind und so wiederum nicht ge-
nügend erwirtschaften, um sich besseres Essen leisten
zu können. Dieses Phänomen nennt man nahrungsbe-
dingte Armutsfalle.
Weshalb ernähren sich die Menschen nicht besser? Die
Antwort liegt auf der Hand: Weil sie es sich nicht leisten
können oder weil es schlicht zu wenig Nahrung gibt.
Eine folgerichtige Entwicklungsmassnahme wäre es
dann, den Menschen etwas Geld zu geben, damit sie
sich bessere Nahrung kaufen können. So die Theorie.
Die Realität sieht anders aus.
Abgesehen von verheerenden Hungersnöten durch Na-
turkatastrophen ist Nahrungsmittelknappheit selten ein
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Problem. Auch am tiefen Einkommen kann es nicht lie-
gen. Die Ärmsten, die mit ungefähr einem US-Dollar pro
Tag auskommen müssen, geben «nur» rund 36 bis 79
Prozent ihres Einkommens für Nahrungsmittel aus.
Würde man nicht erwarten, dass Hungernde jeden ver-
fügbaren Cent in Lebensmittel stecken würden?
Duflo und Banarjee haben sich in abgelegene Dörfer ge-
wagt und in Experimenten einigen armen Menschen et-
was Geld gegeben. Ihre Erkenntnis: Menschen geben
das zusätzlichen Geld nicht für mehr oder bessere Nah-
rung aus, sondern für Dinge, die Spass machen: Fern-
sehgeräte, Alkohol, Zigaretten oder teure Feste. Wenn
sie mehr Essen gekauft haben, dann nicht unbedingt ge-
sünderes, sondern solches, das ihnen besser schmeckt.
Was im ersten Moment Kopfschütteln auslöst, ist eigent-
lich gar nicht so unverständlich. Hunger und Mangel-er-
nährung gehen nicht immer Hand in Hand mit Armut.
Wenn die Armen keinen Hunger haben, wieso sollten sie
dann das zusätzliche Geld für Nahrung ausgeben, die
zwar gesünder ist, aber weniger gut schmeckt?
Ein Fernsehgerät oder Alkohol bringt ihnen augenblick-
lich einen wesentlich höheren Nutzen. Zwar würde es
den Betroffenen in Zukunft besser gehen, wenn sie sich
besser ernähren würden, doch die Gegenwart scheint
ihnen wichtiger zu sein. Vielleicht weil der Nutzen einer
gesünderen Ernährung nicht direkt beobachtbar ist oder
weil die Gegenwart für sie höheres Gewicht hat.
Nicht entscheiden müssen ist Luxus
Ob in St. Moritz oder in einer Zeltstadt im Kongo – Men-
schen haben die Tendenz, die Gegenwart höher zu be-
werten und unangenehme, aber notwendige Aufgaben in
die Zukunft zu verschieben (Prokrastination). Nur sind
die Konsequenzen dieser kurzfristigen Sichtweise für
Menschen in Entwicklungsländern fataler.
Die Ärmsten müssen viel mehr aktive Entscheidungen
treffen – und dies, obwohl sie in der Regel schlechter
informiert sind als Menschen in Industrieländern. Uns
werden viele Entscheidungen abgenommen oder emp-
fohlen, zum Beispiel mit einer geregelten Altersvor-
sorge, dem Schulzwang oder mit Impfempfehlungen.
Banerjee formuliert dies so: «Wenn wir keine aktiven
Entscheidungen treffen, sind wir auf dem richtigen Weg.
Wenn die Armen dies nicht tun, sind die auf dem fal-
schen Weg.»
Auch Entwicklungshilfe, die darin besteht, Nahrungsmit-
tel zu verteilen, die zwar gesund sind, aber nicht gut
schmecken, funktioniert nicht. Es wird schlicht nicht ge-
gessen. Duflo und Banerjee schlagen daher vor, wich-
tige Nährstoffe irgendwo – zum Beispiel im Wasser o-
der im Salz – beizumischen. So wird den Ärmsten ganz
einfach eine von vielen Entscheidungen abgenommen.
Für das iconomix-Team: Patrick Keller, 12. Februar 2014
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Das Ende der Arbeit
Eine kleine Elite wird einen gut bezahlten Job haben.
Alle anderen werden arbeitslos sein oder in einem mie-
sen Job ihr Dasein fristen. Weshalb wird in den USA
das Ende des Mittelstands verkündet?
Bild: Wikipedia
Haben Sie schon mal etwas von der automatischen
Hamburgermaschine gehört? Oder vom Pflegeroboter,
der Patienten nach dem Essen den Mund abwischt und
ihnen die Bettdecke zurechtzieht? Waren Sie schon
durstig und haben gehofft, jemand würde dies bemerken
und noch etwas Bier nachschenken? Kein Problem für
den Butlerroboter. Neue Maschinen und Roboter werden
uns in Zukunft das Leben angenehmer machen und uns
Arbeit abnehmen.
Quadratisch, praktisch, gut – diese Roboter? Nur für
wenige von uns. Zumindest was unsere zukünftige Ge-
halts- und Beschäftigungssituation angeht. Dies verkün-
den Bücher, die sich in den USA in den vordersten Rän-
gen der Bestsellerlisten tummeln. In Tyler Cowens «The
Average ist Over» oder Erik Brynjolfsson und Andrew
McAfees «Race Against the Machine» wird argumen-
tiert, dass die meisten Jobs in naher Zukunft schlicht
überflüssig werden, weil sie günstiger durch Roboter,
Software oder den Kunden selbst ausgeführt werden
können.
Nichts Neues?
Die Angst davor, unnütz zu werden, ist nicht neu. Zu
Beginn der industriellen Revolution waren es die Bau-
ern, etwas später die Industriearbeiter und heute sind
es die Menschen im sichergeglaubten Dienstleistungs-
sektor, die um ihren Job bangen müssen.
Alles schon gehabt? Nicht ganz, meinen die Autoren.
Die Geschwindigkeit dieser aktuellen Entwicklung ist
um ein Vielfaches höher. Dies macht die Anpassung,
zum Beispiel das Erlernen von neuen Fähigkeiten,
schwieriger.
Ausserdem werden dieses Mal nicht nur die «Büetzer»
von den Folgen betroffen sein. Auch akademische Be-
rufe wie Lehrerinnen, Ärztinnen und Anwälte – die bis
anhin meist von strukturellen Veränderungen verschont
wurden – werden getroffen. Immer besser werdende
Software wird es möglich machen, auch wissensinten-
sive Jobs zu ersetzen, so Cowen.
Während die Bauern im 19. Jahrhundert Zuflucht in der
Industrie fanden und die Industriearbeiter später im
Dienstleistungssektor, ist unklar, wo die wegrationali-
sierten Stellen im Dienstleistungssektor wieder ge-
schaffen werden sollen. Tyler Cowen ist aber der An-
sicht, dass es weiterhin genügend Arbeit geben wird.
Es findet «lediglich» eine Verschiebung innerhalb des
Dienstleistungssektors statt.
Diese Verschiebung hat es aber in sich, führt sie doch
dazu, dass der Mittelstand wegfällt. Sprich, ein Grossteil
der heute gut bezahlten Jobs wird nicht mehr konkur-
renzfähig mit den Maschinen sein. Viele Menschen wer-
den ins Tieflohnsegment abwandern müssen. Jobs an-
zubieten, lohnt sich nur, wenn Menschen die Arbeit
günstiger oder besser verrichten als ihre maschinelle
Konkurrenz.
Sieg für Freaks, Superstars und Kapital
Eine Umwälzung bringt immer Gewinner und Verlierer
mit sich. Rund 15 Prozent der amerikanischen Bevölke-
rung werden gemäss Cowen in Saus und Braus leben.
Dies sind zum einen die hochqualifizierten Technik-
freaks – diejenigen, die fähig sind, mit Maschinen zu ko-
operieren und diese zu entwickeln.
Zum anderen sind es die Superstars aus Musik und
Sport. Stars im Stile von Madonna, Roger Federer und
Entwicklung, Wachstum, Umwelt: Dossier
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Heidi Klum dürfen sich weiterhin freuen. Globale Ab-
nehmermärkte ermöglichen ihnen gigantische Gehalts-
möglichkeiten. In diesem Zusammenhang sprechen die
Autoren von einem Winner-takes-it-all-Markt: Nur ganz
wenige schaffen es nach oben. Wenn sie es aber schaf-
fen, können sie so richtig absahnen.
Ebenfalls zu den Gewinnern gehören Menschen mit Ka-
pital. Sie können in die neuen Technologien investieren
und mit deren Rendite ein gutes Einkommen erzielen.
«Bullshit-Jobs»
Es gibt heute diverse Anzeichen dafür, dass der Faktor
Arbeit zunehmend an Bedeutung verliert. So hat der An-
teil des Kapitaleinkommens im Vergleich zum Anteil des
Arbeitseinkommens in den letzten 30 Jahren in vielen
Ländern zugenommen. Ein immer grösser werdender
Teil des Einkommenswachstums wird über Kapital ge-
neriert. Dies spricht dafür, dass immer mehr Arbeit von
Maschinen verrichtet wird.
Was heisst das genau? Haushalte können auf zwei Ar-
ten Geld einnehmen. Sie erhalten Löhne, Boni oder Ver-
gütungen, indem sie zur Arbeit gehen (Arbeitseinkom-
men), oder sie erhalten Zinsen, Dividenden oder Kapital-
gewinne auf ihr zur Verfügung gestelltes Kapital (Kapi-
taleinkommen). Der Anteil des Arbeitseinkommens am
gesamten Einkommen, also Arbeits- und Kapitaleinkom-
men, lag bis in die 1980er-Jahre bei ungefähr 70 Pro-
zent und ist in den letzten Jahren gesunken.
Radikal ist die Ansicht des Occupy-Aktivisten und Anth-
ropologen David Graeber. Seiner Auffassung nach tun
die meisten tief- bis mittelbezahlten vor dem Bildschirm
arbeitenden Angestellten heute nichts, was irgendeinen
ökonomischen Nutzen hätte. «Bullshit-Jobs» nennt er
diese Art von Arbeit, die die «herrschende Klasse» nur
anbiete, um die Leben der anderen zu kontrollieren.
Auch der weniger radikal gesinnte Denker Larry Sum-
mers, ehemaliger Finanzminister der USA unter Bill
Clinton, empfindet es als beängstigend, dass in den USA
der Anteil der Arbeitenden momentan auf dem tiefsten
Stand seit 1978 ist. Er sieht einen langfristigen Trend in
reichen Ländern zu einer geringeren Arbeitsquote. Wäh-
rend in den 1960er-Jahren noch 5 Prozent der Männer
nicht berufstätig waren, werden es in 10 Jahren rund 15
Prozent sein, prognostiziert Summers.
Dass die neuen Technologien wahrscheinlich mehr Stel-
len zerstören, als sie neue schaffen, würde erklären,
weshalb in den USA die Arbeitslosigkeit auf hohem Ni-
veau verharrt und die Löhne tief bleiben, trotz der ei-
gentlich hohen technischen Kreativität und der anzie-
henden Konjunktur. Für Tyler Cowen ist klar: Im Zuge
der Finanz- und Wirtschaftskrise wurden in den USA
viele Jobs gestrichen. Es ist eine Illusion, zu glauben,
dass diese Stellen nach der Krise wieder geschaffen
werden. Sie wurden schon durch Computer ersetzt.
Die Schweiz kann – zumindest vorübergehend – aufat-
men. Hier ist der Anteil des Einkommens, das durch Ar-
beit generiert wird, nach wie vor hoch. Danken müssen
wir dafür gemäss der Konjunkturforschungsstelle (KOF)
der ETH unserem Berufsbildungssystem. Lehrabgänger
in der Schweiz sind äusserst gut an neue Technologien
angepasst und werden daher weniger durch Kapital
(Maschinen) ersetzt. Ein weiterer Vorteil ist der relativ
flexible Arbeitsmarkt. Dadurch ist der Faktor Arbeit re-
lativ gesehen günstiger und so weniger anfällig, durch
Kapital ersetzt zu werden.
Kaffeesatzlesen
Sollten diese Szenarien wirklich eintreten, würde eine
starke Polarisierung stattfinden. Die Einkommens- und
Vermögensungleichheit würde sich weiter vergrössern.
Es ist absehbar, dass dies im Rahmen des politischen
Prozesses zu mehr Umverteilung führen wird. Nicht ab-
sehbar ist, was die gesellschaftlichen Folgen sind.
Müssen wir wirklich arbeiten, wenn es keine Arbeit
mehr gibt? Würde in diesem Rahmen ein staatlich gesi-
chertes Grundeinkommen Sinn machen? Braucht der
Mensch die Arbeit nicht auch für mehr als die reine fi-
nanzielle Existenzsicherung?
Vieles ist ungewiss, aber eines steht fest: Dies alles
sind Prognosen. Der unfehlbare, zukunftsvorhersagende
Ökonomieroboter wurde noch nicht erfunden.
Für das iconomix-Team: Patrick Keller, 17. März 2014
Entwicklung, Wachstum, Umwelt: Dossier
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Gute und schlechte Ungleichheit
Vielen ist sie ein Dorn im Auge. Mit diversen Initiativen
soll sie bekämpft werden: die ungleiche Verteilung von
Vermögen und Einkommen. Doch wann ist Ungleichheit
wirklich schlecht und wie wirkt man ihr am besten ent-
gegen?
Bild: P. Keller
«Die ungleiche Verteilung von Einkommen und Vermö-
gen ist zwar nicht schön, aber wir brauchen sie, damit
die Wirtschaft wächst.» Dies war die dominierende An-
sicht in der Ökonomie im letzten Jahrhundert. Man
musste sich zwischen zwei Übeln entscheiden: Un-
gleichheit oder tieferes Wirtschaftswachstum.
Diejenigen, die sich bei dieser Frage für mehr Ungleich-
heit entschieden, argumentieren, dass es mit Ungleich-
heit auch den Ärmsten in der Gesellschaft besser geht
als ohne Ungleichheit. Denn: Ungleichheit kurbelt das
Wachstum an. Und davon profitieren auch die Ärmsten
in einer Gesellschaft. So viel steht fest: Wirtschafts-
wachstum vermindert die Armut.
Wie kann Ungleichheit zu mehr Wachstum führen?
Eine Theorie, wie Ungleichheit zu mehr Wachstum füh-
ren kann, stammt von Milton Friedman. In ungleichen
Gesellschaften haben Menschen stärkere Anreize, sich
anzustrengen. Wer fleissig ist und etwas wagt, wird
durch ein höheres Einkommen belohnt. Dadurch steigt
die Produktivität und die Innovationsrate. Die Wirtschaft
wächst.
Wird die Ungleichheit jedoch durch Steuern verringert,
also Einkommen und Vermögen umverteilt, werden An-
reize zerstört. Weshalb soll Paula jeden morgen früh
aufstehen, sich ausbilden oder ein riskantes Unterneh-
men wagen, wenn ihre Anstrengung am Schluss gar
nicht belohnt wird?
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde Ungleichheit
auch mit einem anderen Argument verteidigt: «Wir brau-
chen ein paar Reiche, die Kapital zur Verfügung stellen.»
Menschen, die über ein sehr hohes Einkommen verfü-
gen, können nicht alles davon konsumieren. Spätestens
nach dem dritten Hummer und der fünften Flasche
Champagner vergeht auch den Superreichen die Lust
daran.
Den Teil ihres Einkommens, den sie nicht konsumieren,
können sie investieren. In Strassen, Maschinen, Unter-
nehmungen oder auch philanthropische Anliegen. Dies
ist vor allem am Anfang der wirtschaftlichen Entwick-
lung wichtig, weil dann physisches Kapital noch relativ
rar ist.
Gute und schlechte Ungleichheit
Seit geraumer Zeit wird das Thema Ungleichheit und
Wachstum aber auch in der Ökonomie differenzierter
betrachtet. Vermehrt werden Stimmen laut, dass sich
eine gleichmässigere Verteilung von Vermögen und Ein-
kommen und Wirtschaftswachstum nicht zwangsläufig
widersprechen müssen.
«Wie es gutes und schlechtes Cholesterin gibt, gibt es
auch gute und schlechte Ungleichheit», schreibt Branko
Milanovic in seinem Buch «The Have and the Have-
Nots». Gute Ungleichheit gibt den Menschen Anreize,
sich auszubilden, hart zu arbeiten oder riskante Unter-
nehmen zu wagen. Von schlechter Ungleichheit spricht
Milanovic, wenn die Ungleichheit ein Ausmass erreicht
hat, die nicht mehr dazu führt, dass man sich anstrengt,
sondern vor allem hilft, erlangte Positionen zu erhalten.
Dies ist zum Beispiel der Fall, wenn Reiche die Mittel
haben, die Politik so zu beeinflussen, dass Rahmenbe-
dingungen geschafft werden, die für sie vorteilhaft und
Entwicklung, Wachstum, Umwelt: Dossier
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für die Allgemeinheit schädlich sind. In diesem Zusam-
menhang spricht man von «rent-seeking». Damit ist das
Streben nach Vorteilen gemeint, die man auf Kosten der
restlichen Bevölkerung, unter Beihilfe des Staates, er-
hält. Typisches Beispiel dafür sind wohlfahrtsschädliche
Monopole, die staatlich geschützt werden.
Ungleichheit ist aber vor allem schlecht, wenn sie den
Bildungsstand oder, anders gesagt, das Humankapital
einer Volkswirtschaft beeinträchtigt. Dies ist in Ländern
wie den USA problematisch, in denen gute Bildungsein-
richtungen in erster Linie Kindern von reichen Eltern
zur Verfügung stehen. Da das zukünftige Einkommen in
hohem Grad vom Ausbildungsstand abhängt, bleiben so
Kinder von reichen Eltern reich, während Kinder aus ar-
men Familien arm bleiben.
Abgesehen davon, dass diese mangelnde Chancen-
gleichheit von den meisten Menschen als unfair emp-
funden wird, führt dies auch zu wirtschaftlicher Ineffizi-
enz. Ein grosser Teil der Bevölkerung wird von der
Möglichkeit, eine gute Ausbildung zu absolvieren, aus-
geschlossen. Ein grosses volkswirtschaftliches Poten-
zial, nämlich höheres Humankapital, liegt brach. Dies ist
vor allem in hoch entwickelten Volkswirtschaften
schädlich. Dort können Wachstumsgewinne nicht mehr
in erster Linie durch mehr Maschinen, also zusätzliches
Kapital, getätigt werden, sondern vor allem durch Inno-
vationen. Und um Innovation zu erzeugen, braucht eine
Volkswirtschaft möglichst viele schlaue Köpfe.
Ein Punkt, der nicht unterschätzt werden darf, ist der
soziale Frieden. Länder mit sehr hoher Ungleichheit lau-
fen Gefahr, soziale Unruhen und Konflikte zu provozie-
ren. Dies führt einerseits zu einem Verlust von produk-
tiven Ressourcen, indem zum Beispiel Menschen krimi-
nell werden oder demonstrieren, anstatt zu arbeiten.
Andererseits schürt dies aber auch Unsicherheit, was
sich in zurückhaltender Investitionstätigkeit äussern
wird. Beides beeinträchtigt das Wachstum.
Ein weiterer Grund, weshalb Ungleichheit einen negati-
ven Effekt auf das Wachstum haben kann, liegt im politi-
schen Geschehen. Was passiert in einer Demokratie, in
der Vermögen und Einkommen ungleich verteilt sind?
Die Mehrheit der Bevölkerung wird dann hohe Steuern
und Umverteilung befürworten. Schliesslich profitiert
sie davon. Hohe Steuern auf Kapitaleinkommen führen
aber dazu, dass Investitionen gehemmt werden, was
wiederum wachstumsschädlich ist.
Was tun?
Empirisch lässt sich nicht klar festlegen, ob Ungleich-
heit einen positiven oder negativen Effekt auf die
Wachstumsrate ausweist. Die wissenschaftliche Litera-
tur ist widersprüchlich. Es gibt aber heute durchaus An-
zeichen dafür, dass weniger – nicht keine (!) – Un-
gleichheit gut für das Wirtschaftswachstum ist. Es ist
allerdings schwer zu sagen, bis wann gute und ab wann
schlechte Ungleichheit vorliegt.
Daneben gibt es auch nichtökonomische Aspekte, die
für eine geringere Ungleichheit sprechen. Ist doch sozi-
ale Gerechtigkeit ein Anliegen, das die meisten Men-
schen befürworten. Die Verhaltensökonomie konnte in
Experimenten gar beweisen, dass die meisten Men-
schen eine Präferenz für Fairness haben.
Die entscheidende Frage ist jedoch: Kann man die Un-
gleichheit reduzieren, ohne andere Variablen wie Inves-
titionen, Innovation, Risikowagnis und im Endeffekt die
Produktivität zu beeinflussen?
Umverteilung ist eine Möglichkeit, Ungleichheit zu redu-
zieren. Sie wirkt schnell, bringt aber hohe Kosten und
Ineffizienzen mit sich. Viel effektiver ist es, bei der Wur-
zel der Ungleichheit anzusetzen und allen Menschen den
Zugang zu einer hochwertigen Ausbildung zu ermögli-
chen. Schliesslich wirkt sich diese stark auf das zukünf-
tige Einkommen aus.
In jüngster Zeit gewinnt die Auffassung Raum, dass der
freie Zugang zu Bildungseinrichtungen alleine nicht
ausreicht: «50 Prozent der Einkommensunterschiede
lassen sich durch Faktoren erklären, die vor dem 18. Le-
bensjahr festgelegt werden», erklärt James Heckmann,
Wirtschaftsnobelpreisträger und prominentester Advo-
kat der Frühförderung, in einem Interview.
Fähigkeiten wie Selbstkontrolle oder Durchhaltevermö-
gen, die im späteren Leben entscheidend für ein gutes
Einkommen sind, werden durch das familiäre Umfeld
der Kinder geprägt. Kinder aus armen Familien sind
häufig grossem Stress ausgesetzt und können weniger
durch ihre Eltern schulisch und seelisch unterstützt
werden. Sie starten ihre Ausbildungskarriere bereits
mit viel schlechteren Karten.
Entwicklung, Wachstum, Umwelt: Dossier
Version Oktober 2018 11 | 25 www.iconomix.ch
Nicht nur Ökonominnen und Ökonomen, sondern auch
Pädagoginnen und Pädagogen plädieren daher für eine
Frühförderung von Kindern aus bildungsfernen Fami-
lien. Studien haben gezeigt, dass nur schon ein wö-
chentlicher Besuch einer Betreuerin einen grossen Ef-
fekt auf die schulische und soziale Entwicklung von Kin-
dern haben kann. Womöglich ist dies das effizienteste
Mittel gegen Ungleichheit. Und weil sich dadurch auch
das Bildungsniveau der Bevölkerung erhöht, kann sich
dies auch positiv auf das Wirtschaftswachstum auswir-
ken.
Für das iconomix-Team: Patrick Keller, 12. November 2013
Entwicklung, Wachstum, Umwelt: Dossier
Version Oktober 2018 12 | 25 www.iconomix.ch
Ende des Wachstums?
«Worauf würden Sie lieber verzichten, auf das iPhone
oder auf die Toilette?», so der Ökonom Robert J. Gordon
im Herbst 2013 in Zürich. Seine provokative These: Das
Wachstum in den USA ist bald zu Ende.
Innovationen wie Smartphones sind unterhaltsam, bringen aber keine Produktivitätsgewinne, so Gordon. (Bild: Wikipedia)
«Herr Gordon, warum brauchen wir Wachstum?»
«Damit wir die Ressourcen haben, neue Probleme anzu-
gehen. Ohne Wirtschaftswachstum kann man sich
Neues nur leisten, wenn man auf etwas Bisheriges ver-
zichtet», so Robert Gordon auf die Frage eines
Zuhörers am Gottlieb Duttweiler Institut in Zürich am
11. September.
Doch genau an dieses wichtige Wirtschaftswachstum
glaubt der amerikanische Wirtschaftsprofessor nicht
mehr so recht. Die Wachstumsperiode der USA in den
letzten 200 Jahren ist in seinen Augen eine Ausnahme-
erscheinung.
Es ist unwahrscheinlich, dass in den nächsten Jahren
nochmals Innovationen getätigt werden, die die gleichen
Wohlstandsgewinne wie die Elektrizität, die Kanalisation
oder die Waschmaschine hervorbringen, so Gordon. Ne-
ben dem Abflauen der Innovationswelle wehen dem
Wirtschaftswachstum zusätzlich raue Winde entgegen.
Die demografische Entwicklung oder die anhaltende Un-
gleichheit in den USA zählen dazu.
Wie der Wohlstand steigt
Um seine Argumente verständlich zu machen, bringt
Gordon eine kurze Einführung in die Wachstumstheorie.
Ein guter – wenn auch nicht perfekter – Indikator für
den Wohlstand ist das Pro-Kopf-Einkommen bzw. das
Bruttoinlandprodukt pro Kopf. Das Pro-Kopf-Einkommen
steigt, wenn Menschen in einer Gesellschaft mehr ar-
beiten oder wenn wir produktiver werden.
Mehr Arbeitsstunden pro Einwohner heisst, dass ent-
weder jeder Mensch mehr Stunden arbeitet oder dass
der Anteil an arbeitenden Menschen in einer Gesell-
schaft steigt. Letzteres war beispielsweise mit dem Ein-
tritt der Frauen in die vom Bruttoinlandprodukt erfasste
Arbeitswelt der Fall.
Doch Menschen verbringen heute weniger Stunden pro
Tag mit Arbeiten. Der Wohlstandsgewinn der vergange-
nen Jahrzehnte beruht also nicht darauf, dass wir mehr
arbeiten. Entscheidend für das Pro-Kopf-Wachstum der
letzten zwei Jahrhunderte war das Produktivitäts-
wachstum.
Produktivität sagt aus, wie viel pro eingesetzte Arbeits-
stunde produziert wird. Produktivität kann erhöht wer-
den, indem man Maschinen einsetzt (Realkapital), Men-
schen besser ausbildet (Humankapital) oder produktivi-
tätssteigernde Innovationen erzeugt (technischer Fort-
schritt).
Toilette oder Smartphone?
Die Produktivitätsfortschritte der letzten 200 Jahre wa-
ren einzigartig. Eisenbahnen und Autos vervielfachten
die Transportgeschwindigkeit und befreiten die Stras-
sen von Unmengen an Pferdemist. Wasserversorgung
und Kanalisation erlösten die Frauen von stundenlan-
gem Wasserschleppen und ebneten dadurch den Weg
für produktivere Arbeiten.
Über den Zeitraum von 1891 bis 1972 stieg die Arbeits-
produktivität in den USA um durchschnittlich 2,3 Pro-
zent pro Jahr. Danach ging das Wachstum deutlich zu-
rück auf 1,4 Prozent zwischen 1972 und 1996. Der
Hauptgrund für diese Abnahme beruht gemäss Gordon
darauf, dass die in dieser Zeit getätigten Innovationen
weniger produktivitätsfördernd waren.
Entwicklung, Wachstum, Umwelt: Dossier
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Wenn man den Wert von Innovation daran misst, wie
sehr sie zur Erhöhung der Arbeitsproduktivität beitra-
gen, dann sind neuere Erfindungen wie Computer oder
Internet weit weniger wertvoll als Dampfkraft oder
Elektrizität. «Worauf würden Sie lieber verzichten»,
fragt Gordon, «auf ein funktionierendes Kanalisations-
system oder auf ihr Smartphone?». Viele Erfindungen
der letzten Jahre dienen in erster Linie der Unterhal-
tung. Es geht jedoch kaum eine produktivitätssteigernde
Wirkung von ihnen aus.
Raue Gegenwinde
Produktivitätssteigernde Innovationen wären aber drin-
gend nötig. Denn dem Wachstum des Pro-Kopf-Ein-
kommens wehen in den USA eiskalte Winde entgegen.
So führt die demografische Entwicklung dazu, dass der
Anteil an arbeitsfähigen Menschen in der Gesellschaft
immer kleiner wird. Dies hat zur Folge, dass weniger
Arbeitsstunden pro Einwohner geleistet werden, mit
dem negativen Effekt auf das Pro-Kopf-Einkommen.
Auch das Bildungssystem der USA trägt nicht mehr in
dem Ausmass zu Produktivitätsgewinnen bei, wie dies
im letzten Jahrhundert der Fall war. Die heutige Gene-
ration ist erstmals ungefähr gleich gut ausgebildet wie
diejenige der 1960er-Jahre. Kommt hinzu, dass das
Kosten-Nutzen-Verhältnis schlecht ist. Die Kosten im
Bildungsbereich sind in den USA förmlich explodiert.
Dem stehen die für westliche Verhältnisse schlechten
Pisa-Werte gegenüber. Zwar gibt es heute mehr Univer-
sitätsabgänger als früher, aber viele erledigen nach der
Ausbildung niedrig qualifizierte Arbeiten, wofür ihre
Ausbildungskosten eigentlich zu hoch sind.
Der orkanartigste Gegenwind ist gemässe Gordon aber
die frappierende Ungleichheit in den USA. Von 1993 bis
2008 wuchs das Pro-Kopf-Einkommen der gesamten
Bevölkerung um 1,3 Prozent pro Jahr. Aber: Für die ein-
kommensmässig unteren 99 Prozent der Menschen lag
das Wachstum lediglich bei 0,75 Prozent pro Jahr. Für
den grössten Teil der Bevölkerung wächst das Einkom-
men also weit weniger, als die Statistik im ersten Mo-
ment zu meinen vermag.
Peter Zweifel, Wirtschaftsprofessor an der Universität
Zürich, stellte Gordon die Frage: «Was ist denn eigent-
lich so schlecht an Ungleichheit? Kann es nicht sein,
dass Menschen in ungleichen Gesellschaften einen An-
reiz haben, nach oben zu kommen und so mehr zu leis-
ten?»
Eine gewisse Ungleichheit ist an sich kein Problem, ant-
wortete Gordon in der Diskussion. Aber in den USA hat
sie ein Ausmass erreicht, das schädlich ist, weil die
Aufstiegschancen schlicht zu klein sind, um Anreize zu
schaffen.
Auch die starke Verschuldung der amerikanischen
Haushalte und des amerikanischen Staates werden das
Wachstum des Pro-Kopf-Einkommens auf absehbare
Zeit beeinträchtigen. Die Schulden müssen – zumindest
teilweise – zurückbezahlt werden. Das verfügbare Pro-
Kopf-Einkommen nach Rückzahlung der Schulden wird
daher kleiner.
Wie sieht die Situation ausserhalb der USA aus? In Eu-
ropa, insbesondere den nordischen Ländern und der
Schweiz, wehen die Gegenwinde etwas schwächer: Das
Bildungssystem ist effizienter, die Schuldenlast und die
Ungleichheit vergleichsweise gering. Dennoch wird
auch Europa unter dem Mangel an neuen produktivitäts-
fördernden Innovationen leiden.
Andere Pessimisten und Kritiker
In eine ähnliche Richtung wie Gordon argumentiert der
Ökonomieprofessor und Kolumnist Tyler Cowen in sei-
nem 2011 erschienen Buch «The Great Stagnation». Ge-
mäss Cowen lässt sich die Stagnation des mittleren Ein-
kommens seit den 1970er-Jahren in den USA damit er-
klären, dass in den Perioden davor «tief hängende
Früchte» geerntet werden konnten. Damit meint er z.B.
die Kultivierung von unberührtem Land, die Verbreitung
von technologischen Durchbrüchen oder die Ausbildung
breiter Bevölkerungsschichten. Die Zeit der revolutionä-
ren Erfindungen und Entdeckungen ist aber endgültig
vorbei und wir leben auf einem technologischen Pla-
teau.
Entwicklung, Wachstum, Umwelt: Dossier
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Es ist wenig erstaunlich, dass Gordons und Cowens
pessimistische Zukunftsaussichten auch Kritiker auf
den Plan rufen. So z.B. den Ökonomen Erik Bryn-
jolfsonn des renommierten Massachusetts Institute of
Technology (MIT). In einem Ted-Talk kritisiert er z.B.
das Festhalten an der Wohlstandmessgrösse «Brutto-in-
landprodukt». Dieses unterschätze viele der in den letz-
ten Jahrzehnten entstandenen frei zugänglichen Innova-
tionen wie Wikipedia oder Google. Diese sind kostenlos
und fliessen daher nicht in die Wohlstandsstatistik ein.
Zudem sind für Brynjolfsonn die Produktivitätsgewinne
aus der digitalen Revolution noch lange nicht ausge-
schöpft.
Für das iconomix-Team: Patrick Keller, 9. Oktober 2013
Entwicklung, Wachstum, Umwelt: Dossier
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Exodus: Migration ökonomisch betrachtet
Immigrationsdebatten sind voller Ignoranz und Vorur-
teile. Immigration ist weder gut noch schlecht – es
kommt auf die Menge an, so der Ökonom und Afrikaex-
perte Paul Collier.
Diversität durch Immigration hat Vor- und Nachteile. (Bild: Wikipedia)
Unter Migration versteht man den dauerhaften Wohn-
ortswechsel von Menschen. Zurzeit gelten weltweit un-
gefähr 216 Millionen Menschen als Migranten. Das sind
rund 3 Prozent der Weltbevölkerung. Rund 8 Prozent
davon sind Asylanten.
«Ich war dumm genug, dieses heisse Thema anzuge-
hen», sagt Paul Collier in einem Interview. Geht es um
Einwanderung, wird es schnell emotional. Der Afrika-
experte und Entwicklungsökonom der Oxford University
versucht, sich in seinem neuen Buch «Exodus» dem
Thema mit ökonomischem Kalkül zu nähern.
Die richtige Frage lautet nicht, ob Migration gut oder
schlecht ist, sondern: «Wie viel Migration nützt wem?».
Was bringt Emigration den Übriggebliebenen in den Hei-
matländern oder den einheimischen Einwohnern im
Zielland? Und wie sieht die Bilanz für die Migranten
selbst aus?
Die Migranten: produktiver in Deutschland als in Nigeria
Wer von einem armen in ein reiches Land auswandert,
bezahlt erstmals. Die Reise und eine allfällige Vermitt-
lung ist relativ teuer. Emigranten, die sich diese «Inves-
tition» leisten können, gehören deshalb nicht zu den
ärmsten Menschen ihres Landes. Auswanderung ist ge-
mäss Collier in erster Linie ein Thema für Menschen der
Mittelschicht, die sich diese Investition leisten können.
Und diese Mittelschicht ist in den letzten Jahrzehnten
auch in armen Ländern gewachsen, weshalb Migrations-
bewegungen überhaupt erst zunahmen.
Aber die Investition zahlt sich in der Regel aus. Weil die
Produktivität der Migranten in einem reichen Land hö-
her ist, können sie mit einem höheren Lohn rechnen: Sie
erhalten in der neuen Heimat Löhne, die ungefähr dem
Niveau des reichen Landes entsprechen. Und dieses
liegt bis zu 10-mal höher.
Weshalb sind Menschen in einem anderen Land plötzlich
produktiver? Grund: Sie können aus den nicht funktio-
nierenden sozialen Strukturen des Heimatlandes aus-
brechen. Nimmt ein reiches Land Migranten auf, profi-
tieren diese von der guten Regierungsführung und der
Herrschaft des Rechts – oder allgemein: den guten Insti-
tutionen. Derselbe Fabrikarbeiter produziert in Nigeria
weniger als in Deutschland, weil die Umgebung in Nige-
ria wenig förderlich für produktives Arbeiten ist: Der
Strom fällt oft aus, Ersatzteile werden nicht rechtzeitig
geliefert und das Management ist damit beschäftigt, Be-
amte zu bestechen.
Der Lohn der Migranten hängt auch davon ab, wie viele
andere Migranten im Land sind. Andere Migranten sind
Konkurrenten auf dem Arbeitsmarkt. Sei es wegen Dis-
kriminierung, Sprachschwelle oder fehlendem Ver-
ständnis von sozialen Konventionen: Migranten bilden
eine von den einheimischen Arbeitnehmenden abgekop-
pelte Gruppe. Sie konkurrieren nicht in erster Linie mit
der heimischen Bevölkerung, sondern mit den anderen
Migranten. Zusätzliche Immigration führt deshalb dazu,
dass die Löhne der Migranten sinken.
Die Herkunftsländer: China profitiert, Haiti verliert
Für die armen Herkunftsländer fällt die Bilanz gemischt aus. Auch sie profitieren bis zu einem gewissen Grad von der Emigration. Emigranten senden Geld und gute Ideen nach Hause. Geschichten von Emigranten über
Entwicklung, Wachstum, Umwelt: Dossier
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den Lebensstandard in der reicheren Welt können den Daheimgebliebenen auch Anreize liefern, sich anzu-strengen, in der Aussicht auf ein ähnliches Leben mit höherem Wohlstand.
Wenn allerdings zu viele gebildete Menschen auswan-
dern, schadet dies den armen Ländern. Schliesslich
hätte ihre Wirtschaft gebildete Personen bitter nötig.
Dabei spricht man von Braindrain, also von der Abwan-
derung hoch qualifizierter Arbeitskräfte. In Haiti sind
zum Beispiel 85 Prozent der jungen, gebildeten Bevöl-
kerungsschicht ausgewandert.
Grosse, aufstrebende Volkswirtschaften wie China, In-
dien oder Brasilien profitieren von Emigration. Für sie
überwiegt der Effekt der zusätzlichen Anreize und fri-
schen Ideen. Die Abwanderung von ein paar Fachkräf-
ten fällt hier angesichts der Grösse nicht besonders ins
Gewicht.
Die Zielländer: kulinarische Spezialitäten und Misstrauen
Immigranten sind für die Einheimischen meist keine
Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt. Frische Köpfe mit
neuen Ideen und günstige Arbeitskräfte machen lokale
Firmen produktiver. Durch die höheren Gewinne dieser
Firmen steigt die gesamte Wirtschaftsleistung und so
auch das Einkommen für die einheimische Bevölkerung.
Auch in der Schweiz finden sich solche Beispiele. Es
waren findige Einwanderer wie Henri Nestlé, Franz
Saurer oder Charles Brown und Walter Boveri, die in
der Schweiz gegen Ende des 19. Jahrhunderts noch
heute wohlbekannte Firmen gründeten. Aber auch diese
sind nur in die Schweiz gekommen, weil ihnen hier ein
Umfeld geboten wurde, in welchem sie ihre unterneh-
merischen Ideen umsetzen konnten.
Die Zielländer haben bis jetzt mehrheitlich von der Im-
migration profitiert. Dies könnte sich gemäss Collier
aber mit einer weiteren starken Zunahme ändern. Grund
für diese Annahme ist, dass ein Zuviel an Immigration
den Zusammenhalt in der Bevölkerung gefährden kann.
Immigration geht stets mit einer Erhöhung der kulturel-
len Diversität einher. Dies hat bis zu einem gewissen
Grad positive Effekte: neue Ideen und Ansichten – oder
mehr Abwechslung auf dem Teller durch Kebab und
Frühlingsrollen.
Ist die Diversität aber zu hoch, sinkt das Sozialkapital.
Sozialkapital beinhaltet das Vertrauen und die Koopera-
tionsbereitschaft in einer Gesellschaft. Diese sind wich-
tig für das Funktionieren einer Wirtschaft: Bei Geschäf-
ten gibt es auch mit aller juristischen Absicherung im-
mer noch Möglichkeiten, den Handelspartner über den
Tisch zu ziehen. Menschen brauchen also ein gewisses
Grundvertrauen in die andere Person, um sich über-
haupt auf Geschäfte einzulassen.
In diesem Zusammenhang verweist Paul Collier auf Ro-
bert Putnam, einen bekannten Soziologen der Oxford
University. Dieser hat herausgefunden, dass wir in Ge-
sellschaften mit hoher Diversität nicht nur Menschen
misstrauen, die nicht so sind wie wir, sondern auch sol-
chen, die so sind wie wir. Es sinkt also nicht nur das
Vertrauen gegenüber den Migranten, sondern auch ge-
genüber der heimischen Bevölkerung. Je tiefer das So-
zialkapital, desto weniger ist die lokale Bevölkerung be-
reit, öffentliche Güter bereitzustellen oder Umvertei-
lungsmassnahmen durchzuführen.
Entscheidend ist dabei der Prozess der Integration. Je
schneller Migranten in die neue Gesellschaft integriert
werden, desto weniger wird das Sozialkapital beein-
trächtigt, da die Diversität durch die Anpassung der
Migranten verringert wird.
Die Effizienz der Integration hängt aber wiederum von
der Menge an Immigranten ab. Je mehr Immigranten in
einem Land leben, desto geringer ist deren Anreiz, sich
den kulturellen Gegebenheiten des Ziellandes anzupas-
sen. Schliesslich funktioniert das alltägliche Leben auch
gut in der ausländischen Parallelgesellschaft.
Für das iconomix-Team: Patrick Keller, 31. Oktober 2013
Entwicklung, Wachstum, Umwelt: Dossier
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Wie wichtig gute Institutionen sind
Warum sind einige Länder so arm? Liegt es daran, dass
warmes Wetter faul macht? «Nein», sagt der Ökonom Do-
ran Acemoglu, «die Ursache liegt in schlechten Institutio-
nen.»
Bild: Wikipedia
Im Jahr 1948 wurde Korea in zwei Staaten aufgeteilt.
Nord- und Südkorea entstanden. Nordkorea schaffte den
Privatbesitz von Land und Kapital ab. Südkorea versuchte
die Wirtschaftsentwicklung über Märkte und private An-
reize zu fördern. Zum Zeitpunkt der Teilung hatten beide
Länder eine ähnliche Kultur, eine ähnliche Geografie und
einen ähnlichen Entwicklungsstand.
Wenige Jahrzehnte später: Südkorea boomt, während
Nordkorea auf einem nächtlichen Satellitenbild als dunk-
ler Fleck erscheint. Weshalb haben sich die beiden Nach-
barn so unterschiedlich entwickelt?
Eine Antwort liefert der Ökonom Daron Acemoglu. Er ist
der Meinung, dass geografische Unterschiede erklären,
warum die Menschen nach Südfrankreich und nicht in die
Arktis in die Ferien fahren, nicht aber, warum ein Land
arm oder reich ist.
Nicht heisses Klima oder Mangel an Rohstoffen sind
Gründe für Wohlstandsunterschiede zwischen Ländern.
Es sind die Institutionen, die über Arm oder Reich ent-
scheiden. «Menschen müssen gute Institutionen auf-bauen», so Acemoglu.
So weit, so gut. Doch was meint man mit dem Begriff In-
stitutionen?
Der Begriff Institution ist weit gefasst. Eine Institution
kann als ein System von Regeln verstanden werden.
Diese Regeln geben Individuen, Gruppen oder Gemein-
schaften vor, wie sie sich verhalten sollen. Institutionen reduzieren die Unsicherheit und die Willkür im menschli-chen Miteinander.
Gute Institutionen haben einen Einfluss auf den Wohl-
stand, weil sie bestimmen, was belohnt und was bestraft
wird. Menschen reagieren auf Anreize und sich bietende
Chancen – auf Regeln, welche von Institutionen geschaf-
fen werden.
Eine Schule oder ein Gefängnis ist ebenso eine Institution
wie die Güter «wirtschaftliche Freiheit» oder die «Rechts-
sicherheit». Sie alle haben gemeinsam, dass sie Regeln
vorgeben, nach denen sich Menschen verhalten. Je bes-
ser die Regeln sind, desto besser entwickelt sich die Wirt-
schaft.
Nur wenn in einem Land gute Institutionen geschafft wer-
den, kann langfristig Wohlstand gedeihen. Zu den wich-
tigsten guten Institutionen gehört laut Acemoglu die staat-
liche Ordnung: fähige Behörden, eine unabhängige Zent-
ralbank, eine freiheitliche Gesellschaftsordnung und
Rechtsstaatlichkeit. Die politische Macht sollte zudem
gleichmässig verteilt sein und keine Gruppe sollte eine
andere Gruppe politisch oder wirtschaftlich ausbeuten
können.
Ausbeutung führt dazu, dass die Menschen bald zu wenig
Anreiz haben, sich anzustrengen. Staaten mit einem ho-
hen Enteignungsrisiko und einer schlechten Institutionen-
qualität weisen einen wesentlich tieferen Wohlstand aus.
Institutionen sind besser, wenn die Herrschaft breit abge-
stützt ist und die Menschen an den Früchten ihrer Arbeit
teilhaben können – wie dies in der Schweiz der Fall ist.
Auch die Frage, weshalb ehemalige Kolonien sich unter-
schiedlich entwickelt haben, kann gemäss Acemoglu mit-
hilfe unterschiedlicher Institutionen geklärt werden.
Wieso florieren einige der ehemaligen europäische Kolo-
nien, wie die USA, Kanada, Australien, Neuseeland, wäh-
rend andere einen viel tieferen Lebensstandard aufwei-
sen?
Entwicklung, Wachstum, Umwelt: Dossier
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In ursprünglich reichen Kolonien wie Indien, Brasilien o-
der Mexiko war die Siedlersterblichkeit, wegen Krankhei-
ten und eines ungewohnten Lebensumfelds, viel höher.
Weil diese Gegenden zudem noch sehr ressourcenreich
waren, stand eher eine kurzfristige Ausbeutung als eine
langfristige Niederlassung im Mittelpunkt. In der An-
nahme, das neue Land bald wieder zu verlassen, gaben
sich die Siedler erst gar keine Mühe, gute Institutionen
aufzubauen.
Im Gegensatz dazu bauten die Siedler in weniger dicht
besiedelten und rohstoffärmeren Gebieten Institutionen
nach europäischem Vorbild auf. Sie hatten vor, sich län-
gerfristig niederzulassen. Eigentumsrechte, Vertragssi-
cherheit, eine breite Mittelschicht und eine Vielzahl von
Unternehmen führten dazu, dass ursprünglich arme Kolo-
nien wie das britische Nordamerika Institutionen besas-
sen, die ihnen eine Industrialisierung ermöglichten.
Weil man es in der Kolonialzeit unterlassen hatte, gute In-
stitutionen zu verwirklichen, haben viele Entwicklungs-
länder noch heute einen grossen Rückstand. Institutionen sind in vielen Ländern nicht auf den Wohlstand der Be-völkerung, sondern auf den Nutzen der Machthaber aus-gerichtet. Korruption ist allgegenwärtig – Rechtssicher-
heit nur schwach vorhanden. Wachstumsschädigendes
Verhalten wird in Kauf genommen, wenn es den Machtha-
bern nützt. Innovationen werden verhindert, wenn sie die
Führung gefährden.
Für das iconomix-Team: Patrick Keller, 1. März. 2013
Entwicklung, Wachstum, Umwelt: Dossier
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Wer springt auf den Wachstumszug?
Der Westen ist vorne weggezogen, Afrika hinkt hinten
nach: Eine Grafik über die letzten 60 Jahre zeigt, dass
sich die Erdregionen wirtschaftlich sehr unterschiedlich
entwickelt haben.
In Lateinamerika und den arabischen Ländern hat sich
das Wachstum nach anfänglichen Erfolgen deutlich ver-
langsamt. Und der ehemalige Ostblock erholt sich, nach-
dem er beim Übergang zur Marktwirtschaft einen Tau-
cher gemacht hat.
Atemberaubend ist die Entwicklung in Asien: Um 1950
der ärmste Kontinent der Welt, ist Asien heute bereits so
reich wie Europa es in den Fünfzigerjahren war. Asiens
Abstand zum Westen hat sich in einem halben Jahrhun-
dert nahezu halbiert!
Historisch ist dieses Wachstum beispiellos. Geradezu
beispielhaft ist es hingegen für die wachstumsökonomi-
sche Theorie – denn diese postuliert, dass ärmere Länder
im Vergleich zu ihren reicheren Mitstreitern grundsätz-
lich ein höheres Wachstumspotenzial haben. Reiche und
arme Länder sollten als Folge davon langfristig in ihrem
Wohlstandsniveau «konvergieren», wie es im Fachjargon
heisst.
Zumindest in Asien hat sich diese Annahme spektakulär
bestätigt. Nach dem Zweiten Weltkrieg war es zunächst
die japanische Wirtschaft, die rapide zu wachsen begann;
bereits 1970 erreichte Japans BIP die Werte des Westens.
Südkoreas Wachstumsschub setzte in den Siebzigerjah-
ren ein; gegenwärtig schliesst das Land wohlstandsmäs-
sig zu Japan auf. Chinas Aufstieg nahm in den Achtziger-
jahren seinen Anfang. Sein BIP pro Kopf beträgt heute
rund 20 Prozent desjenigen der USA. Setzt sich der aktu-
elle Trend fort, könnte dieser Wert bereits 2030 bis auf
70 Prozent ansteigen.
Ökonom und Financial-Times-Kolumnist Martin Wolf
schreibt diese Entwicklung vor allem den Triebkräften der
Globalisierung zu. Diese beflügelt den weltweiten Aus-
tausch von Ideen, vereinfacht den Technologie- und Kapi-
taltransfer und multipliziert die globale Nachfrage – und
ermöglicht Entwicklungs- und Schwellenländern so eine
rasante Wirtschaftsentwicklung. So sieht Wolf nach zwei
Jahrhunderten der divergenten Entwicklung ein neues
Zeitalter im Anbruch: Er nennt es die «grosse Konver-
genz».
Tatsächlich weisen heute auch ausserhalb Asiens viele
Länder hohe Wachstumsraten auf. Beispiele sind Brasi-
lien, Russland und Indien, die bereits heute zu den wich-
tigsten Wirtschaftsmächten der Welt gehören. Die Invest-
mentbank Goldman Sachs glaubt derweil, bereits die
nächsten Wachstumskandidaten zu kennen. Auf ihre Liste
der «Next Eleven» hat sie Südkorea, Indonesien, die Phi-
lippinen und Vietnam zu künftigen Wirtschaftsmächten ge-
koren; ebenso zählt sie Pakistan, Bangladesch und den
Iran sowie die Türkei, Mexiko, Ägypten und Nigeria hinzu.
Doch wie steht es um die Länder, die in den letzten Jahr-
zehnten stets zuunterst auf der Reichtumsrangliste stan-
den? Harvard-Ökonom Dani Rodrik, bekannt als kritische
Stimme in den Wirtschaftswissenschaften, beobachtet die
Entwicklung vieler afrikanischer und lateinamerikanischer
Länder mit gemischten Gefühlen. Anstatt dass die Globali-
sierung mehr und mehr Arbeitskräfte in hochproduktive
Wirtschafssektoren verschiebt, nimmt der Anteil wenig
produktiver Jobs in manchen Ländern zu, schreibt er.
Vor allem in rohstoffreichen Ländern sei die Gefahr einer
«rückwärts gerichteten Entwicklung» vorhanden, so Ro-
drik.
Entwicklung, Wachstum, Umwelt: Dossier
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Sowohl Wolf als auch Rodrik haben jedoch eine gute
Nachricht. Beide sind der Ansicht, dass es mit guter Wirt-
schaftspolitik prinzipiell für jedes Land möglich ist, auf
den weltwirtschaftlichen Wachstumszug aufzuspringen.
Verharren Länder in wirtschaftlicher Stagnation, so liegt
dies häufig an Mängeln auf der institutionellen Ebene:
Mangelnde Rechtssicherheit, grassierende Korruption
und fehlende staatliche Strukturen sind hier als Gründe
zu nennen.
Wie Martin Wolf bemerkt, hat jedoch das Wirtschafts-
wachstum selbst in vielen Ländern zu einer Verbesse-
rung der politischen und administrativen Strukturen ge-
führt. Dies gibt Anlass zur Hoffnung: Gut möglich, dass
sich das Wolfsche Szenario der grossen Konvergenz im
21. Jahrhundert tatsächlich bewahrheitet. Vielleicht haben
wir mit der Finanzkrise gar eine historische Zäsur mit-
erlebt – haben doch die meisten Entwicklungs- und
Schwellenländer die Krise weit besser gemeistert als die
überschuldeten, mit Wachstumsproblemen und hoher Ar-
beitslosigkeit kämpfenden Industrieländer des Westens.
Für das iconomix-Team: Simon Schmid, 5. Januar 2011
Entwicklung, Wachstum, Umwelt: Dossier
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Wachstum ohne Ende?
Dank Erfindungen wie der Dampfmaschine oder dem
Benzinmotor hat sich die Wirtschaftsleistung der indust-
rialisierten Welt in den letzten zwei Jahrhunderten konti-
nuierlich erhöht. Ein Zufall?
Bild: Wikipedia
Der Fluss von Erfindungen und Entwicklungen, der die
Zunahme des Wohlstands für breite Bevölkerungsschich-
ten möglich gemacht hat, ist jedoch kein Zufall. In den
Worten des amerikanischen Ökonomen William Baumol
hängt er zusammen mit der historischen Herausbildung
einer neuen Wirtschaftsform: der «marktwirtschaftlichen
Innovationsmaschine».
Im Herzen der marktwirtschaftlichen Innovationsma-
schine stehen gewinnorientierte Unternehmen, die zuei-
nander im Wettbewerb stehen. Wollen diese Unternehmen
im Geschäft bleiben, sind sie dazu gezwungen, mögliche
Produktivitätsverbesserungen beständig auszuschöpfen
und das Rad der technologischen Entwicklung fortlaufend
weiterzudrehen. Mit ihren Bemühungen um Effizienz und
Innovation sorgen die Unternehmen dafür, dass laufend
neue Produkte entwickelt und bekannte Produkte zu
günstigeren Preisen hergestellt, verkauft und konsumiert
werden können.
Die Wirtschaftsleistung der heutigen Industrieländer ist
im Durchschnitt über die vergangenen zwei Jahrhunderte
um rund zwei Prozent pro Jahr gewachsen. Doch auch
der Energiebedarf und der Ressourcenverbrauch der
Wirtschaft sind in diesem Zeitraum stetig angestiegen.
Diese Entwicklung, die lange Zeit als wünschenswert und
problemlos erschien, bereitet ökologisch denkenden Wis-
senschaftlern zunehmend Kopfzerbrechen: Angesichts
der Klimarisiken und Umweltbelastungen, die das Wirt-
schaftswachstum der letzten zwei Jahrhunderte mit sich
gebracht hat, erscheint es ihnen fraglich, wie lange dieses
Wachstum noch im selben Tempo vorangetrieben werden
kann und soll.
Berechnungen des britischen Umweltökonomen Tim
Jackson aus dem Jahr 2009 illustrieren diese Zweifel:
Jackson zufolge nähme eine Weltwirtschaft, in der Indust-
rieländer weiterhin beständig mit zwei Prozent pro Jahr
wachsen und Entwicklungsländer eine stete Annäherung
an westliche Lebensstandards erreichen, bald immense
Züge an. Gemessen am gesamten BIP aller Länder, wäre
sie bis zum Ende des 21. Jahrhunderts etwa 40-mal grös-
ser als heute.
Für optimistische Wissenschaftler ist dies kein unrealisti-
sches Bild: Sie gehen davon aus, dass sich das Wirt-
schaftswachstum künftig von seiner Beziehung zur Um-
welt «entkoppeln» wird und sich die Wirtschaftsleistung
ohne zusätzlichen Ressourcenverbrauch und Schadstoff-
ausstoss weiter steigern lässt. Möglich würde dies dank
dem Einsatz von effizienteren, umweltfreundlicheren
Technologien und einer generellen Verlagerung der Wert-
schöpfung – weg von ressourcenintensiven Landwirt-
schafts- und Industrietätigkeiten, hin zu wissensbasierten
Dienstleistungen.
Skeptische Wissenschaftler halten dies für unrealistisch
und verweisen auf den Rebound-Effekt. Dieser besagt,
dass Effizienzverbesserungen nicht zwingend zu einer
Abnahme der Umweltbelastung führen. Die Erklärung da-
für liegt in der wirtschaftlichen Grundlogik der Sache: Ef-
fizienzverbesserungen bei der Herstellung von Produkten
oder in deren Energieverbrauch führen zu einer Vergüns-
tigung und fördern dadurch den Mehrverbrauch. Bei-
spielsweise ermöglicht ein effizienteres Auto zwar das
Einsparen von Benzin; es verleitet jedoch gleichzeitig
dazu, mehr Kilometer zurückzulegen – wobei sich der
Benzinverbrauch im Endeffekt möglicherweise sogar er-
höht.
Entwicklung, Wachstum, Umwelt: Dossier
Version Oktober 2018 22 | 25 www.iconomix.ch
Rebound-Effekt hin oder her: Die zukünftigen Anforde-
rungen an die Innovationskraft der Wirtschaft werden
enorm. Laut Jackson fällt heute bei jedem US-Dollar an
globaler Wirtschaftsleistung ein CO2-Ausstoss von knapp
800 Gramm an. Geht man vom oben geschilderten
Wachstumsszenario aus, müsste sich dieser Wert bis
zum Jahr 2050 auf unter 10 Gramm CO2 pro US-Dollar
verringern, um die atmosphärische CO2-Konzentration
auf dem von der UNO angestrebten Wert zu halten. Dafür
müsste die CO2-Intensität der Weltwirtschaft jährlich um
rund 11 Prozent sinken.
Angesichts dieser Zahlen stellen sich einige grundsätzli-
che Fragen: Ist die marktwirtschaftliche Innovationsma-
schine leistungsfähig genug, Effizienzverbesserungen in
dieser Grössenordnung hervorzubringen? Und sind
unsere Gesellschaften auch bereit, die richtigen Einstel-
lungen – sprich: finanziellen Anreize und veränderten
Konsumgewohnheiten – an dieser Maschine vorzuneh-
men? Falls nicht, müssen wir wohl oder übel unsere
Wachstumsvorstellungen in Zukunft etwas herunter-
schrauben.
Für das iconomix-Team: Simon Schmid, 23. Januar 2012
Entwicklung, Wachstum, Umwelt: Dossier
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Wissen – ein teilweise öffentliches Gut
Pythagoras, der griechische Philosoph und Mathematiker,
gilt als Entdecker des Lehrsatzes der euklidischen Geo-
metrie über dem rechtwinkligen Dreieck – des Satzes des
Pythagoras.
Bild: Wikipedia
Selbstredend findet sich heute die Formel in jedem Lehr-
buch der Trigonometrie wieder. An Simplizität ist der
Satz des Pythagoras kaum zu überbieten: drei Buchsta-
ben, drei Quadrate, ein Additions- und ein Gleichheitszei-
chen. Wer die Zeichenfolge einmal verinnerlicht, wird ein
Leben lang freimütig auf sie zurückgreifen können.
Eine Formel wie der Satz des Pythagoras kann generali-
siert als «Wissen» bezeichnet werden, ebenso wie Ideen,
Rezepte oder Anleitungen. Wissen charakterisiert sich
durch keine Rivalität im Konsum und keine Ausschliess-
barkeit vom Konsum. Jeder kann den Satz des Pythago-
ras nutzen, ohne in Rivalität mit anderen zu stehen.
Ebenso kann niemand von der Nutzung ausgeschlossen
werden. Ich kann zeitgleich mit meinem Nachbarn die Hy-
potenuse eines rechtwinkligen Dreiecks berechnen, ohne
dass wir uns dabei gegenseitig behindern.
Das Gut Wissen fällt in der ökonomischen Gütereinteilung
in die Kategorie der öffentlichen Güter (siehe die Tabelle).
Die einzige Möglichkeit, die Nutzung der Formel einzu-
schränken, wäre, wenn der geistreiche Grieche seine Er-
kenntnis für sich behalten hätte. Nur so könnte beim Satz
des Pythagoras die Ausschliessbarkeit vom Konsum ge-
währleistet werden. Ist die Formel einmal öffentlich, ist
der Ausbreitungsprozess nicht mehr rückgängig zu ma-
chen.
Die Handhabung von öffentlichen Gütern ist bekanntlich
schwierig. Alle möchten das Gut konsumieren und keiner
will dafür bezahlen. Ist Wissen ein reines öffentliches Gut,
droht Unterversorgung – niemand ist bereit, aufgrund feh-
lender Finanzierungsanreize Wissen zu entwickeln. Fakt
ist: Pythagoras hat trotz fehlender Anreize ein öffentli-
ches Gut angeboten.
Teilweise öffentliches Gut
Erfolgsgaranten, um die Neuentwicklung von Wissen vo-
ranzutreiben, sind funktionierende politische Institutionen,
die Anreize setzen, damit Forscher und Denker (wie Py-
thagoras) bereit sind, in Forschung und Entwicklung zu
investieren – neues Wissen zu generieren. Dazu dienen:
Patente, Urheberrechte, Markenschutz und juristische In-
stitutionen zur Durchsetzung.
Durch die Institutionalisierung des Wissensschutzes wird
die Aussschliessbarkeit vom Konsum gewährleistet, das
geschützte Wissen wird temporär zu einem Klubgut
umfunktioniert (siehe Tabelle). Klubmitglieder sind der
Patentinhaber und Personen, die bereit sind, den Patentin-
haber für die Verwendung seines Wissens finanziell zu
entschädigen. Nach dem Verfall des Patents wandelt sich
das Wissen zurück in ein öffentliches Gut. Deshalb wird
Wissen auch als teilweise öffentliches Gut bezeichnet.
Wissen schafft Wissen
Die Schaffung von neuem Wissen und von damit verbun-
denem technologischem Wandel ist eine bedeutungsvolle
Variable zur Erklärung wirtschaftlichen Wachstums. Py-
thagoras schuf eine einzelne Stufe einer Treppe, die im-
mer höher wächst. Seine Erkenntnis beruhte auf schon
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zuvor gebauten Treppenstufen der Mathematik, und spä-
tere mathematische Erkenntnisse beruhen wiederum auf
Pythagoras usw. Mit anderen Worten: Wissen akkumuliert
sich. Diese Akkumulation von Wissen ist der zentrale
Treiber von wirtschaftlichem Wachstum, denn neues Wis-
sen löst altes ab oder ergänzt es und führt so mit dem
selben Input zu mehr Output.
Der amerikanische Ökonomieprofessor Paul M. Romer,
einer der Mitbegründer der sogenannten «Neuen Wachs-
tumstheorie», ist der Ansicht, dass Produktion nichts an-
deres ist als die Transformation von Rohmaterialien zu
wertvolleren Gütern – basierend auf einer Idee, einer
Formel oder einem Rezept. Wirtschaftswachstum basiert
nach Romer nicht primär auf quantitativer Akkumulation
von Kapital, sondern auf der Neuordnung vorhandener
Elemente und Güter – basierend auf Wissen.
Nach Romer zeichnet sich der Prozess der Wissensakku-
mulation durch zunehmende Grenzerträge aus. Durch den
Multiplikatoreffekt schafft Wissen mehr neues Wissen –
ein sich selbst verstärkender Prozess. In diesem Punkt
unterscheiden sich die Eigenschaften von Wissen und Ka-
pital. Kapital wird durch abnehmende Grenzerträge cha-
rakterisiert, verursacht durch allgegenwärtige Ressour-
cenknappheit: In einem geschlossenen physischen System
ist kein Rohmaterial unbeschränkt vorhanden. Gegensätz-
lich kennt Wissen keine Knappheit und der Entwicklungs-
prozess von Ideen kennt keine abnehmenden Grenzer-
träge.
Und was hatte Pythagoras davon? Mit seinem Satz stellte
er ein öffentliches Gut bereit, sei dies aus Zufall, Altruis-
mus oder dem Nichtvorhandensein schützender Institutio-
nen. Einerseits beruht seine Formel auf älteren zentralen
Erkenntnissen der Mathematik und anderseits basieren
weiterführende mathematische Erkenntnisse auf seiner.
Pythagoras schuf eine einzelne Stufe einer Treppe, die
immerzu schneller und weiter in die Höhe wächst. Ge-
lohnt hat sich die Entdeckung für ihn alleweil, kennt doch
2500 Jahre nach seinem Ableben jeder Schüler den grie-
chischen Philosophen und Mathematiker. Unsterblichkeit
– wahrlich ein starker Anreiz.
.
Für das iconomix-Team: Christoph Hirter, 1. Oktober 2012
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Glossar
Armutsfalle Arme sind in der Armutsfalle, wenn sie zu wenig Geld haben, das sie bräuchten,
um der Armut zu entkommen.
Braindrain Beschreibt die volkswirtschaftlichen Verluste durch die Auswanderung talentier-
ter Menschen.
Entwicklungsland Land, das bezüglich seiner wirtschaftlichen, sozialen und politischen Entwicklung
einen relativ niedrigen Stand aufweist.
Humankapital Fähigkeiten, Fertigkeiten und Wissen der Arbeitskräfte durch Aus- und Weiterbil-
dung.
Institutionen Ein System von Regeln, das Menschen Verhaltensanreize liefert. Zum Beispiel
das Rechtssystem.
Kapitaleinkommen Die Entschädigung für geliehenes Kapital. Zum Beispiel Zinsen und Dividenden.
Konvergenz Angleichung der Wirtschaftsleistung von verschiedenen Ländern.
Sozialkapital Ressourcen, die sich aus sozialen Beziehungen oder Netzwerken ergeben.