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MATERIALDIENST Zeitschrift für Religions- und Weltanschauungsfragen 67. Jahrgang 11 / 04 ISSN 0721-2402 H 54226 Esoterik und Europäische Religionsgeschichte Religiosität, Okkultismus, Satanismus – Ergebnisse einer aktuellen Jugendstudie aus Tirol Die International Churches of Christ im Wandel? Jesus-Begeisterung auf den Straßen Berlins Zum Tod von Elisabeth Kübler-Ross Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen

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ST Zeitschrift fürReligions- undWeltanschauungsfragen

67. Jahrgang 11/04IS

SN 0

721-

2402

H 5

4226

Esoterik und Europäische Religionsgeschichte

Religiosität, Okkultismus, Satanismus –Ergebnisse einer aktuellen Jugendstudie aus Tirol

Die International Churches of Christ im Wandel?

Jesus-Begeisterung auf den Straßen Berlins

Zum Tod von Elisabeth Kübler-Ross

Evangelische Zentralstellefür Weltanschauungsfragen

EZW, Auguststraße 80, 10117 BerlinPVSt, DP AG, Entgelt bezahlt, H 54226

umschlag11.qxd 07.10.04 10:17 Seite 1

Kocku von StuckradEsoterik und Europäische Religionsgeschichte 403

Peter SchulteReligiosität, Okkultismus, SatanismusErgebnisse einer aktuellen Jugendstudie aus Tirol 417

Hanna MünstermannDie International Churches of ChristWie tief greifend ist der Wandlungsprozess der Bewegung? 425

Erweckungs- und ErneuerungsbewegungenJesus-Begeisterung auf der Straße 428

Interreligiöser DialogBioethik im interreligiösen Dialog 430

PersonaliaZum Tod von Elisabeth Kübler-Ross 431

Universelles LebenZum neuen Magazin „Das Reich der Reichen und Schönen“ 433

NeuheidentumTrügerischer „Heidenspass“? Das „1. Berliner Heiden- und Hexenfest“ im Spiegel interner Kritik 434

INHALT MATERIALDIENST 11/2004

DOKUMENTATION

IM BLICKPUNKT

INFORMATIONENBERICHTE

INFORMATIONENINFORMATIONEN

inhalt11.qxd 07.10.04 11:03 Seite 401

Henri NissenEin Gott, der Wunder tutEin Journalist untersucht die Heilungen im Dienst von Charles Ndifon 436

Margarethe RuffZauberpraktiken als LebenshilfeMagie im Alltag vom Mittelalter bis heute 438

INFORMATIONENBÜCHER

inhalt11.qxd 07.10.04 11:03 Seite 402

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„Esoterik“ ist ein Begriff, der die Öffent-lichkeit spaltet. Stehen auf der einen Seitedie Anhänger der Esoterik, die häufig un-kritisch und ohne Bewusstsein für histori-sche Entwicklungslinien alles aufnehmen,was der esoterische Buchmarkt vorgibt, soscheinen sich auch die Gegner der Eso-terik mitunter kaum für die historischenDimensionen dieses Themas zu interes-sieren. Angesichts eines solchen Streitesist es dringend notwendig, sich grundsätz-lich darüber zu einigen, was man eigent-lich unter Esoterik verstehen möchte.Denn was, so könnte man fragen, hat Tee-baumöl mit Esoterik zu tun? Oder Zen-Meditation für Manager? Oder Beckenbo-dengymnastik für Frauen? Oder die „Pro-phezeiungen der Celestine“? Oder „EinKurs in Wundern“? Oder indianische Vi-sionssuche im Schwarzwald? – Alle ge-nannten Stichworte bilden, mit wechseln-den Schwerpunkten, einen festen Be-standteil im Angebot von esoterischenFachbuchhandlungen, doch mit Esoterikhaben sie im Grunde wenig zu tun. Es gibtWissenschaftler, die sich deshalb mit derFeststellung begnügen, „Esoterik“ seischlicht das, was auf dem „Markt der Reli-gionen“ als Esoterik verkauft wird. Dasseine solche Antwort nicht genügt und amesoterischen Element Europäischer Reli-gionsgeschichte vorbei geht, hoffe ich imFolgenden zeigen zu können.Für den Begriff der Esoterik gilt wie fürkaum einen anderen, dass die in den Me-dien und der Öffentlichkeit verwendetenAttribute keineswegs denen entsprechen,die in der wissenschaftlichen Forschung

diskutiert werden. In den letzten zehn bisfünfzehn Jahren kristallisierte sich, vonder breiteren Öffentlichkeit unbemerkt,eine akademische Forschungslandschaftheraus, die sich intensiv mit der Esoterikbeschäftigt. Dabei ließen manche Wis-senschaftler frühere Konzepte hinter sich,die das Esoterische, ganz im Sinne der Be-deutung von griechisch esô bzw. esôte-rikos („Inneres“), als das Verborgene,Geheime und nur den Eingeweihten Zu-gängliche charakterisierten2. Stattdessenversuchte man, die Esoterik als eine be-stimmte Form der Welterklärung zu fas-sen, die sich in naturphilosophischen, re-ligiösen und literarischen Traditionen her-auskristallisierte. Weit davon entfernt, sieals etwas Exotisches, Marginales oderObskures zu betrachten, sucht die neuereForschung die Esoterik als ein Strukturele-ment der europäischen Religions- undKulturgeschichte darzustellen, das bei derEntstehung dessen, was man gewöhnlichdie „Moderne“ nennt, nicht unwesentlichbeteiligt war.

Die Esoterik in der religionswissenschaftlichen Forschung

Schon immer gab es innerhalb und außer-halb der europäischen Christentümer Tra-ditionslinien, die sich von den etabliertenreligiösen Anschauungen unterschiedenund nicht selten in offener Gegnerschaftzu ihnen standen. Eine Reihe von Namenwurde diesen devianten Strömungen ge-geben: Man sprach von „platonisch-her-metischem Christentum“, von „Gnosis“

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Kocku von Stuckrad, Amsterdam

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IM BLICKPUNKT

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oder auch von „Mystik“, um jene konkur-rierenden Entwürfe christlicher und nicht-christlicher Weltdeutung begrifflich zufassen. Alle diese Zuschreibungen – außervielleicht der ersten – entstammen einemchristlich-theologischen Hintergrund unddienten in früheren Jahrhunderten dazu,das vermeintlich Häretische und Mar-ginale aus dem akzeptierten Christentumauszugrenzen. Dadurch wurden die tat-sächlich vorhandenen Spannungslinienund Zusammenhänge stark verzerrt undman gewann den Eindruck, als habe„Gnosis“ wenig mit Christentum zu tun,ebenso wenig wie die „hermetischen Dis-ziplinen“ Astrologie3, Alchemie undMagie.Der Begriff der „Esoterik“ hat demge-genüber eine viel kürzere Geschichte.Das Substantiv „Esoterik“ – in der franzö-sischen Form l’ésotérisme – ist wohl zumersten Mal im Jahre 1828 belegt, in einerZeit also, als sich alternative religiöseStrömungen im Zuge von Aufklärung undReligionskritik bereits aus ihrem christ-lichen Umfeld herausgelöst hatten4. ImLaufe des neunzehnten und zwanzigstenJahrhunderts etablierte sich eine Sicht-weise, die esoterische Traditionslinien jen-seits des Christentums verortete, als eineArt Subkultur, die sich in der Renaissanceherausgebildet hatte und die von derherrschenden Kirche ausgegrenzt und ver-folgt wurde. Tatsächlich spielt die Fragenach dem Verhältnis von Christentum undEsoterik bis heute in der akademischenAuseinandersetzung eine entscheidendeRolle, tangiert sie doch Grundpositionenüber den Charakter des so genannten„christlichen Abendlandes“ einerseits undüber den Zusammenhang zwischen re-ligiöser und wissenschaftlich-rationalerWelterkenntnis andererseits. Ich werdedarauf gleich ausführlicher eingehen. Andieser Stelle genügt der Hinweis, dass dieErforschung dessen, was wir heute Eso-

terik nennen, bis in die 1950er Jahrehinein von Wissenschaftlern betriebenwurde, die sich auf Mystik und Gnosisspezialisiert hatten und diese religiösenTraditionen als Gegenentwurf zu denSchriftreligionen Judentum, Christentumund Islam präsentierten (darunter Ger-shom Scholem, Henry Corbin und MirceaEliade, auch Martin Buber und Carl Gus-tav Jung wären hier zu nennen). Nicht sel-ten waren diese Forscher selbst Teil einerGegenbewegung zur aufklärerischen „Ent-zauberung der Welt“.5Einen entscheidenden Schub bekam dieEsoterik-Forschung in den 1960er Jahrendurch die Arbeiten von Frances A. Yates(1899-1981). Zwar hatten Wissenschaftlerwie Paul Kristeller, Ernst Cassirer und Eu-genio Garin schon vorher darauf hin-gewiesen, dass der so genannte Herme-tismus der Renaissance eine vielfach un-terschätzte Rolle in der Herausbildung derneuzeitlichen Wissenschaft und Kulturgespielt hatte. Die Meinung der meistenHistoriker, eine Untersuchung des „Aber-glaubens“ und Irrationalismus lohne sichnicht, sei deshalb unangebracht. Docherst Frances A. Yates gelang es, mit einemPaukenschlag die Wissenschaft auf eineneue Fährte zu bringen. In ihrem BuchGiordano Bruno and the Hermetic Tradi-tion (1964) und in nachfolgenden Auf-sätzen drehte sie den Spieß geradezu umund behauptete, die neuzeitliche Wis-senschaft sei im Grunde nur durch denHermetismus der Renaissance möglichgeworden. Nicht wenigen erschien dieswie eine Offenbarung: Plötzlich wurdeeine vergessene und von den Theologenunterdrückte Tradition sichtbar, die inWahrheit ein Motor der wissenschaft-lichen Revolutionen gewesen sei, nämlichdie „hermetische Tradition“. Diese Theseentfachte eine heftige Diskussion undstieß auf erbitterten Widerstand, geradebei Wissenschaftshistorikern. Auch wenn

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es heute kaum noch jemanden gibt, derdem „Yates-Paradigma“ uneingeschränktfolgt, so können ihre Arbeiten doch als einewichtige Initialzündung für die moderne Esoterikforschung betrachtet werden6.In der Folgezeit gab es eine Reihe vonWissenschaftlern, die sich der Esoterik-forschung widmete und sie aus der Eckedes Obskurantismus und Okkultismusherausholte. Ein wichtiger Schritt zurEtablierung dieses neuen Forschungs-zweiges bestand in der Einrichtung einesLehrstuhls für die „Geschichte der christ-lichen Esoterik“ an der fünften Sektion derÉcole Pratique des Hautes Étude derPariser Sorbonne im Jahre 1965, der bis1979 von François Secret betreut wurde.Von 1979 bis 2002 folgte ihm AntoineFaivre nach, wobei der Lehrstuhl in„Geschichte der esoterischen und mysti-schen Strömungen im neuzeitlichen undzeitgenössischen Europa“ umbenanntwurde. Insbesondere die Arbeiten AntoineFaivres hatten entscheidenden Anteil ander Herausbildung einer historischen Eso-terikforschung. 1999 wurde an der Uni-versität von Amsterdam ein weiterer Lehr-stuhl eingerichtet, der sich der „Ge-schichte der hermetischen Philosophieund verwandter Strömungen“ widmet.Ziel ist die interdisziplinäre Auseinander-setzung mit esoterischen Elementen eu-ropäischer Kultur von der Antike bis zurGegenwart.7Inzwischen kann man mit Recht davonsprechen, dass die Esoterikforschungeinen anerkannten Zweig der kulturge-schichtlich orientierten Religionswissen-schaft darstellt.

Antoine Faivre und die Esoterik als „Denkform“

Entscheidenden Anteil an der Profilierungder Esoterikforschung hatte AntoineFaivre. Seit den 1980er Jahren setzte er

sich intensiv mit der Religionsgeschichteder Renaissance und der Neuzeit aus-einander und erarbeitete ein Verständnis-modell des Esoterischen, das mehrere Tra-ditionslinien und Disziplinen systematischzusammenfasst. Dazu gehören einerseitsdie „okkulten Künste“ Astrologie, Alchemie und Magie, deren Wurzeln inder Antike zu suchen sind, die jedoch seitdem fünfzehnten Jahrhundert kulturellneu positioniert wurden; hinzu kommendas neuplatonische und hermetischeDenken sowie die Kabbalah, die als an-tikes Geheimwissen galt und mit philo-sophischen Anschauungen verknüpftwurde. Die Zusammenhänge jener Tradi-tionslinien wurden schon in der FrühenNeuzeit erkannt und mit dem lateinischenBegriff Philosophia perennis, „EwigePhilosophie“, belegt. Mit diesem Begriffverband sich der Anspruch, einer Wahr-heit auf der Spur zu sein, die älter als allehistorischen Religionen ist und die in ver-schiedenen Disziplinen auf je eigene Artihren Ausdruck findet.Faivre entwickelte aus diesen Traditioneneinen systematischen Entwurf, der dieEsoterik als eine Denkform (frz. forme depensée) charakterisierte. In einer erstmals1992 vorgestellten heuristischen Defini-tion nannte er vier zentrale Komponentender Esoterik, die durch zwei weitere er-gänzt werden, welche zwar häufig vor-kommen, jedoch nicht als „intrinsisch“,also als integral, zu bezeichnen sind.8 ImEinzelnen handelt es sich um folgendeMerkmale:(1) Das Denken in Entsprechungen ist imSinne Faivres als Grundkonstitutivumjeder Esoterik zu betrachten, nämlich dieAnnahme, die verschiedenen Ebenenoder „Klassen“ der Wirklichkeit (Pflanzen,Menschen, Planeten, Mineralien etc.)bzw. die sichtbaren und unsichtbarenTeile des Universums seien durch einBand der Entsprechungen miteinander

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verbunden. Diese Verbindung ist nichtkausal, sondern symbolisch zu verstehen,ganz im Sinne des berühmten hermeti-schen Satzes „wie oben, so unten“. DasUniversum gleicht einem Spiegeltheater,in dem alles Hinweise auf anderes enthal-ten kann. Veränderungen geschehen pa-rallel auf allen Ebenen der Wirklichkeit.(2) Die Idee der lebenden Natur fasst denKosmos als komplexes, beseeltes Systemauf, das von einer lebendigen Energiedurchflossen wird. Dieses naturphilo-sophische Modell wirkte auf die so ge-nannte Magia naturalis der Renaissanceebenso ein wie auf pantheistische, monis-tische und holistische Entwürfe des Kos-mos, die vom Mittelalter bis heute festerBestandteil europäischer Religionsge-schichte waren. (3) Imagination und Me-diationen (Vorstellungskraft und Vermitt-lungen) weisen darauf hin, dass das eso-terische Wissen um die Entsprechungenhohe symbolische Vorstellungskraft er-fordert, was gerade für die praktische ma-gische Arbeit von Bedeutung ist. Außer-dem wird das Wissen durch spirituelle Au-toritäten (Götter, Engel, Meister oderGeistwesen) offenbart. Auf diese Weise istes möglich, die „Hieroglyphen der Natur“zu entziffern. (4) Die Erfahrung der Trans-mutation schließlich stellt eine Paralleleher zwischen äußerem Handeln und in-nerem Erleben; in Analogie zur Alchemiegeht es der Esoterik darum, den Menschenauf seinem spirituellen Weg zu läuternund eine innere Metamorphose zu er-möglichen. Diese Metamorphose kannauch in Metaphern der Erkenntnis undVernunft gefasst werden, nämlich in derErkenntnis des höheren oder absolutenWissens, das den Menschen vollständigverwandelt.Folgt man dem Ansatz Faivres, so kom-men neben diesen vier Grundzügen zu-weilen noch zwei weitere Elemente hin-zu: (5) Die Praxis der Konkordanz bemüht

sich darum, einen gemeinsamen Nenneroder „Urgrund“ verschiedener Lehren zufinden, der sich in verschiedenen histo-rischen Epochen lediglich in einem ande-ren Licht zeigt. (6) Transmission oder Ini-tiation durch Meister ist ein soziologi-sches Element der Esoterik, denn häufigwird die Lehre durch spirituelle Autori-täten weitergegeben und die Transforma-tion des Gläubigen durch Einweihungs-rituale äußerlich sichtbar gemacht.Der Vorteil einer solchen Taxonomie be-steht, wie gesagt, darin, dass unterschied-liche Traditionen – darunter Naturphiloso-phie, Hermetismus, Gnosis, Magie, As-trologie und Alchemie – nun systematischin Bezug zueinander gesetzt werden kön-nen. Auch die mitunter prekäre begriff-liche Bestimmbarkeit jener Traditionenwird mit dem idealtypischen Esoterikbe-griff gewissermaßen entschärft. Sichtbarwird eine Denkweise, die europäischeReligion und Philosophie spätestens seitder Renaissance mitgestaltet hat und da-mit als eine feste Komponente neu-zeitlicher Geistesgeschichte zu betrachtenist. Anstatt, wie früher gerne geschehen,das Esoterische antithetisch der Auf-klärung und der Wissenschaft gegenüberzu stellen, erkennt die jüngere historischeForschung zunehmend die inneren Zu-sammenhänge zwischen Esoterik, Wis-senschaft und Aufklärung.9Die letzten zehn Jahre haben gezeigt, dassman unter dieser Voraussetzung mit dem„Faivre-Paradigma“ zu sehr ergiebigenAnalysen kommen kann. Allerdingshaben Kritiker auch auf die Schwächedieses Ansatzes aufmerksam gemacht, dievor allem darin besteht, dass Faivre seineTypologie aus einem ganz bestimmten Teilder neuzeitlichen Religionsgeschichte ex-trapolierte und damit andere Aspekte vonvornherein ausklammerte. Das Ergebnisist ein bewusster Reduktionismus. Kon-kret: Da Faivre zur Generierung der Taxo-

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nomie hauptsächlich auf den Herme-tismus der Renaissance, auf Naturphiloso-phie, die christlich transformierte Kab-balah und die protestantische Theosophiezurückgegriffen hat, werden Bereiche ausder Esoterik(forschung) ausgegrenzt, dievon anderen Forschern als entscheidendbetrachtet werden: Zeitlich betrifft diesdie Antike, das Mittelalter und vor allemdie Moderne, inhaltlich die jüdische undmuslimische Esoterik, für die Moderneauch den Buddhismus, der die europäischeEsoterik des zwanzigsten Jahrhunderts starkbeeinflusste. Wenn man zu einer allge-meinen Darstellung der (westlichen) Eso-terik kommen möchte, die jene zeitlichenund inhaltlichen Aspekte zu berück-sichtigen hat, muss man die Taxonomiennoch einmal auf ihre Brauchbarkeit hinprüfen10. Ich beschreibe deshalb die Eso-terik aus einem anderen Blickwinkel. Wieich gleich erläutern werde, greife ich dabeiauf ein Modell der Europäischen Religions-geschichte zurück, das von der Idee des re-ligiösen Pluralismus ausgeht, einer Ideealso, die Christentum, Judentum und Islam,aber auch die vielfältigen europäischenPolytheismen, als feste Bestandteile eu-ropäischer Kultur konzipiert. In der his-torischen Darstellung geht es dann darum,die Kontinuitäten und Brüche, Über-lagerungen und Veränderungen des „eso-terischen Diskurses“ im konkreten his-torischen Kontext zu beschreiben.Auch wenn der Ausgangspunkt einideengeschichtlicher ist, darf man alsonicht bei einer solchen Konstruktion ste-hen bleiben, sondern muss sich gezieltdie sozialgeschichtlichen Kontexte derEsoterik anschauen. Das wird auch vonHistorikern betont. Reinhart Kosellecketwa wies schon in seiner Dissertation1954 darauf hin, dass es insbesondere dasArkanum, das Geheimnis, der Freimau-rerlogen gewesen ist, welches den abso-lutistischen Staat untergrub, indem es den

aufgeklärten Bürger vor diesem Staatschützte.11 Unter sozialgeschichtlichenAspekten kommen auch die Träger-schichten esoterischer Motive in denBlick. Esoterische Milieus und Diskurse,das kann man immer wieder feststellen,verlaufen quer zu religiösen Zuge-hörigkeiten. Die inhaltliche Verknüpfungvon Esoterik und Christentum – sei esinklusiv oder exklusiv – hilft deshalb zumVerständnis des Esoterischen in der eu-ropäischen Kulturgeschichte nicht weiter.Weil damit ein zentraler Aspekt dergegenwärtigen Fachdiskussion berührt ist,muss ich auf diese These noch etwasnäher eingehen.

Christentum und Esoterik

In einem programmatischen Aufsatz hatMonika Neugebauer-Wölk jüngst den Ver-such unternommen, Esoterik und Chris-tentum kritisch gegeneinander abzugren-zen. Unter Rückgriff auf Burkhard Gladi-gows Konzept einer Europäischen Reli-gionsgeschichte (auf die ich noch zurück-komme) zeigt sie auf, dass das Esoterischeals eine Alternative zum Christentum ver-standen werden sollte, eine Alternative,die sich in christliche Sinnstrukturen nichtintegrieren lässt und deshalb – spätestensim Zeitalter der Konfessionalisierung –eine enorme Sprengwirkung entfaltete.Besonders die esoterische „Überschrei-tung der heiligen Schriften“ und der An-spruch auf „höheres Wissen“, das überdas von der institutionalisierten Kircheverwaltete Wissen hinausgeht, erweiseden devianten Charakter des Esoterischen.Wichtig ist auch hier, dass es sich umeinen idealtypischen Entwurf handelt, mitanderen Worten: Der Vorschlag „ent-spricht der Absicht, eine religiöse Konzep-tion vorzustellen, also Esoterik gegen dasChristentum als Paradigma abzugrenzen,nicht Esoteriker gegen Christen“.12

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Dieser Zugang zur Esoterik ist einwichtiger Fortschritt, denn er kon-zeptionalisiert und systematisiert die kom-plexe Struktur der neuzeitlichen religiösenEntwicklungen in Europa. Allerdings be-schränkt sich Neugebauer-Wölk auf eineBestimmung des Esoterischen in der Zeitzwischen etwa 1450 und 1800; um zueinem allgemeinen Konzept der Esoterikzu gelangen oder andere Perioden in denBlick nehmen zu können, wird man dasModell anpassen müssen. Doch selbst aufdie Frühe Neuzeit bezogen ergeben sichFragen: Lässt sich das Christentum tat-sächlich mit den konfessionalisierten Kir-chentümern gleichsetzen? Muss mannicht eher von einer internen Pluralisie-rung des Christentums sprechen, in der al-ternative Lesarten christlicher Traditioneinen Autoritätsanspruch erhoben? Mandarf nicht vergessen, dass sich die vonMonika Neugebauer-Wölk als esoterischgefassten Bewegungen, die das Sinnsys-tem des Christentums verlassen hätten,selbst als das „wahre Christentum“ be-zeichneten. Muss man nicht zwischenKirchengeschichte und Christentumsge-schichte unterscheiden, anstatt die institu-tionell verfassten Christentümer (die„Kirche“) als das originale Christentum zubehandeln? Auch wenn sich Neugebauer-Wölk natürlich völlig darüber im Klarenist, dass ihre Unterscheidung zwischen„Christentum“ und „Esoterik“ lediglichidealtypischen Charakter hat und beieinem näheren Blick auf das konkrete his-torische Material nur selten Bestätigungfindet, ist diese idealtypische Trennung in-sofern problematisch, als hier unbeab-sichtigt Trennlinien fortgeschrieben wer-den, die sich einem theologischen Ab-grenzungsdiskurs verdanken.13 Um ausdem Dilemma der Verstrickung in theolo-gische Selbstbeschreibungen des Chris-tentums herauszukommen, ist eine Erwei-terung der Perspektive erforderlich. Denn

für die gesamte Kulturgeschichte Europasgilt, dass wir nicht nur im historischenLängsschnitt die Traditionslinien einzelnerReligionen beschreiben dürfen, sonderngleichsam querschnittartig nach intra-religiösen und interreligiösen Austausch-prozessen suchen sollten – und zwarzwischen vermeintlich voneinander ge-trennten Religionen und geteilten Inter-esselagen, nach dem also, was ich alsDiskurs bezeichne.

Religiöser Pluralismus und das „esoterische Diskursfeld“

Historiker sprechen heute gern von„Gedächtnisgeschichte“, die vom Modellder schlichten Aufeinanderfolge his-torischer Ereignisse abweicht und die„Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“beschreibt. „Gedächtnis“ steht, so DanDiner, „für eine simultan wirkendezeitübergreifende Vielfalt von Vergangen-heiten“.14 Erreichte das Modell einer strin-gent ablaufenden historischen Entwick-lung im neunzehnten Jahrhundert seinehöchste Ausformung, so verdankt sich dasModell der Gedächtnisgeschichte, in derhistorische Ereignisse wie auf einem Pa-limpsest betrachtet werden – einemSchriftstück, das immer wieder über-schrieben wurde, dessen ursprünglicherInhalt jedoch noch vorhanden ist und mit-unter sichtbar wird –, einem kulturwis-senschaftlichen Zugriff.15 Geschichts-schreibung ist nicht die Darstellungdessen, was „war“, sondern dessen, wasmemoriert wurde und den jeweiligenBeobachtern als wichtig erscheint; des-halb ist Geschichtsschreibung immerKonstruktion von Vergangenheiten imLichte gegenwärtiger Interessenlagen.Hier schließt die Analyse konkreter his-torischer Kontexte an. Fragt man sichnämlich, warum zu bestimmten Zeitenbestimmte Ereignisse memoriert oder be-

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stimmte historische Narrative konstruiertwurden, so ist man auf die sozialen, poli-tischen, wirtschaftlichen, rechtlichen undkulturellen Umfelder verwiesen, in denenesoterische Traditionsbestände eine jeeigene Bedeutung erhielten. Um die un-terschiedlichen Zugänge zum historischenMaterial zu unterscheiden, spreche ichvon Traditionen und Diskursen.

Traditionen und Diskurse

Zweifellos ist es so, dass innerhalbdessen, was wir Christentum, Judentumoder Islam nennen, ein relativ geschlos-sener Kern von Traditionsstücken existiert,der in Form von Literaturen und Rezeptio-nen beschrieben werden kann. Schautman sich aber die konkreten Ausformu-lierungen dieser Traditionen in ihren his-torischen Kontexten an, so stellt man fest,dass dieser geschlossene Kern in Wirk-lichkeit sehr klein ist. Viel häufiger wirdman den Fall antreffen, dass ein solcherKern im Licht gegenwärtiger Fragestellun-gen benutzt wird und dadurch nicht un-wesentliche Änderungen erfährt. An die-ser Stelle kommen die religiösen Diskurseins Spiel, die gleichsam querschnittartigFragestellungen benennen, die in jeweili-gen historischen Kontexten von Angehöri-gen divergierender religiöser Traditionengeteilt werden. Diskurse sind nicht mitTraditionen identisch, vielmehr stellen siedie gesellschaftliche Organisation von Tra-dition, von Meinungen und Wissens-beständen dar.16

Beispielsweise ist die Frage nach der Be-deutung historischer Ereignisse und ihrerEinordnung in ein heilsgeschichtlichesKonzept in diesem Sinne ein Diskurs.Während Schiiten im Mittelalter die as-trologische Lehre der Großen Konjunktio-nen auf den Zeitpunkt der Rückkehr desVerborgenen Imam bezogen, konnten Ju-den dieselbe Lehre zur theologischen Ver-

arbeitung der Vertreibung aus Spanien1492 und die Exilssituation beziehen, dieschon bald in eine messianische Zeitaufgehen werde. Christen wiederum ver-wendeten diese Lehre, um die konfes-sionellen Spannungen des sechzehntenund siebzehnten Jahrhunderts apokalyp-tisch und eschatologisch zuzuspitzen.Diese Diskussionen sowie – und das istwichtig – ihre sozialen und politischenImplikationen nenne ich Diskursfelder.Damit beziehe ich mich sowohl aufdiskurstheoretische Überlegungen im An-schluss an Michel Foucault als auch auffeldtheoretische Zugriffe, wie sie Burk-hard Gladigow im Anschluss an IngoMörth formuliert: „Kooperation und Kom-plementarität, Polemik und Dialog, Aus-schluss und Inklusion von Systemen undTrägern der Systeme untereinander lassensich am ehesten als ein ‚Feld‘ beschrei-ben“.17 In diesem Fall könnte man alsovon einem apokalyptischen, heilsge-schichtlichen oder auch astrologischenDiskursfeld sprechen. Diskursfelder lassen sich nicht auf be-stimmte Traditionen begrenzen. Vielmehrentwickeln sie sich aus gemeinsamen Fragestellungen und zeitgenössischen In-teresselagen. Mehr noch: Diskursfelderverändern religiöse Identitäten und führenmitunter zu erstaunlichen Allianzen undParallelen zwischen vermeintlich ge-trennten religiösen Traditionen. Grenzenverlaufen häufig nicht zwischen Christen-tum, Judentum und Islam, sondern vieldeutlicher zwischen Platonikern und Aris-totelikern, zwischen Scholastik undNominalismus oder zwischen wörtlicherBibelinterpretation und mystisch-esote-rischer Schau. Dabei finden intensive Aus-tauschprozesse zwischen jüdischen,christlichen und muslimischen Traditio-nen statt, die ihren ursprünglichen re-ligiösen Zuschnitt oft genug nicht mehrerkennen lassen.

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Die Pluralität von Identitäten

Das hat Auswirkungen auf religiöse Iden-titäten. Die Forschungen zur religiösenSozialisation haben ergeben, dass imzwanzigsten Jahrhundert von einer ge-schlossenen religiösen Identität, die nachdem Motto verfährt „Eine Person – eineReligion“, keine Rede sein kann. Ich be-haupte, dass dieser Befund kein spezifi-sches Phänomen der Moderne darstellt,auch wenn die Moderne von einer Ausdif-ferenzierung religiöser Optionen undWahlmöglichkeiten gekennzeichnet ist.Ein Blick in frühere Jahrhunderte zeigt,dass auch damals religiöse Identitätennicht entlang von klar definierten re-ligiösen Traditionen gebildet wurden, son-dern – freilich in geringerem Ausmaß alsheute – entlang von Diskursfeldern, bio-grafischen Narrativen und einer Spannungzwischen Eigenwahrnehmung und Fremd-wahrnehmung. So wie es heute offen-sichtlich nur selten die christliche Identitätuntergräbt, wenn Christen Zen-Meditationpraktizieren, so war es für christlicheIdentitäten der Frühen Neuzeit keines-wegs problematisch, pantheistische Ge-danken aufzugreifen oder esoterischeDisziplinen wie die Astrologie und die Al-chemie zu betreiben.18 Der Pfarrer JohannRist etwa (1607–1667) errichtete inseinem Pfarrhaus in Wedel ein komplexesLaboratorium, um dem Grund des Lebensnachzuforschen; 1664 bekennt er: „DieLust aber/ welche ich auß diesem allemschoepfete/ kann ich schwehrlich auß-sprechen“. Als ein Bekannter Rists ihm alsReaktion auf seine alchemistischen Ope-rationen vorhält: „Auff die Weise sollteder [Alchemist] und seines gleichen halbeGoetter werden!“, lautet die lapidareAntwort des Pfarrers: „Waruem solltedises nicht mueglich sein koennen“.19

Die Geschichte des Esoterischen in Eu-ropa ist voll von Persönlichkeiten, an de-

nen man die Vielschichtigkeit religiöserIdentitäten sichtbar machen kann. Guil-laume Postel (1510-1581) zum Beispiellässt sich nicht nur als Jesuit beschreiben,sondern auch als Kabbalist, als Islamwis-senschaftler und als Prophet der Rückkehrder heiligen Jungfrau Maria.20 Denker wieGuillaume Postel sind die Knotenpunkte,an denen der Austausch zwischen den Re-ligionen zu beobachten ist. Auch wennihr Interesse mitunter polemischer Naturwar, sorgten sie dafür, dass philosophi-sche, theologische und esoterische Kon-zepte gegenseitige Resonanz fanden.Zur Verdeutlichung seien noch zwei wei-tere Beispiele genannt: Die muslimischeKonzeption des wahî, also der Offen-barung des Koran durch eine göttlicheQuelle, ließ sich überaus leicht mit einemesoterischen Konzept der Mediation inEinklang bringen, bezeichnet das arabi-sche Wort doch so etwas wie „geheim-nisvolle nonverbale Kommunikation“;wahî ist gleichsam der Kanal, durch denaus einer absoluten Quelle die Wahrheitin den menschlichen Bereich strömt. Et-was Ähnliches versucht das kabbalistischeModell der Emanationen göttlicher Ener-gie zu beschreiben. Mein zweites Beispielentstammt der kabbalistischen Ge-schichtsdeutung. Isaak Luria hatte einüberaus elaboriertes Modell zur Erklärungdes Schöpfungsprozesses geliefert, das inder heilsgeschichtlichen Wiederherstel-lung des uranfänglichen Zustandes gipfelt.Die theosophische Metapher des Zusam-menziehens der göttlichen Urkraft undder Schöpfung der Welt durch Emanationin den uranfänglichen Raum war sokraftvoll, dass noch im neunzehntenJahrhundert Schelling und andere deut-sche Philosophen von dieser kabbalisti-schen Idee Gebrauch machten. JenerProzess der Wiederherstellung, bei LuriaTikkun genannt, ist dagegen dasselbe In-terpretationsmodell wie die von Postel

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propagierte Restitutio, die in Zeitenäußerster religiöser Spannungen die Hoff-nung auf die baldige Erlangung eines uni-versellen Friedensreiches bereithielt.21

Religiöse Identitäten entstehen durchkommunikative Prozesse. Sie werdennicht vorgefunden, sondern ausgehan-delt.22 Dabei spielen religiöse Alternativeneine entscheidende Rolle: Erst durch dieAuseinandersetzung mit anderen Optio-nen – die affirmativ oder abgrenzendaufgenommen werden können – wird derIdentitätsprozess angeregt. Und das giltsowohl für Individuen wie Guillaume Pos-tel, Pfarrer Rist oder christliche Zen-Schüler als auch für religiöse Gemein-schaften, die ein deviantes Gegenüberbrauchen, um sich selbst zu definieren.Dabei werden geringfügige Unterschiedeoftmals zu radikalen Kontrasten überhöht,wofür gerade die „Blütezeit“ der Esoterikund die konfessionelle Ausdifferenzierungdes Christentums zwischen 1450 und1750 ein gutes Beispiel ist.

Pluralismus und die Europäische Religionsgeschichte

Seit der Antike – also nicht erst in derModerne – ist der religiöse Pluralismus inEuropa der Normalfall. Selbst wenn esZeiten gab, in denen beispielsweise derIslam in Teilen Europas institutionell nichtvorhanden war, war er doch auch hier im-mer präsent, und zwar sowohl durchseine Schriften und theologischen Positio-nen als auch in Form einer Kontrastfoliefür vielfältige christliche und jüdischeIdentitäten. Er war Teil gemeinsamer Dis-kursfelder. Michael Stausberg hat in einergrundlegenden Studie etwas Ähnliches fürden Zoroastrismus vorgeführt, der in Eu-ropa „nur“ als Imagination vorhandenwar: In seiner „Rezeptionsgeschichte“ the-matisiert Stausberg „neben der Analyseder europäischen Außenperspektive auf

Zoroaster (‚Fremdgeschichte‘) stets dieFrage nach den religiösen bzw. religions-geschichtlichen Implikationen und Expli-kationen dieses Rezeptionsprozesses“.23

Daran erkennt man den Unterschiedzwischen Pluralität und Pluralismus:Während Pluralität lediglich den Sachver-halt einer Mehrzahl von Religionenbezeichnet, steht der Begriff Pluralismusfür die Organisation der Differenz. Diejeweils anderen religiösen Optionen sindbekannt, sie sind Gegenstand der Aus-einandersetzung und dienen der Herstel-lung von Identitäten. Dabei wird dasGegenüber nicht nur in seiner Präsenzwahrgenommen, sondern als das Anderekonstruiert. Beide Seiten bilden deshalbeine diskursive Einheit. Die Organisationvon Differenz gerinnt wiederum in Kon-zilien, Bekenntnisschriften, Konstitutionen,sozialen Gruppenbildungen, politischenOrdnungen und in Rechtssystemen.Der religiöse Pluralismus als Organisationvon Differenz ist ein Strukturelementeuropäischer Kulturgeschichte. Will mandiese Geschichte analysieren, so mussman stets das „Andere“ mit in Rechnungstellen, das vom „Eigenen“ immerfort pro-duziert wird. Dass sich Gelehrte in Basel,Venedig und Paris im sechzehnten Jahr-hundert für die muslimischen Theologienund Schriften interessierten, lag nicht amneutralen Interesse für den Koran oderlediglich daran, dass sie den Islam „wider-legen“ wollten; ihre Gegner waren stetsauch die Andersgläubigen innerhalb derKirche. Im Jahre 1716 schrieb der hol-ländische Theologe und Orientalist AdrianReland: „Wer einer Lehre einen schänd-lichen Namen geben will, der pflegt also-bald zu sagen, es Sey eine Mohammedi-sche Lehre“.24 Am Beispiel der Esoterikwird noch ein weiteres deutlich: Jüdischeund muslimische Philosophie und Eso-terik wurden nicht deshalb studiert, weilman die Gegner „mit ihren eigenen Waf-

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fen schlagen wollte“, sondern aus Inter-esse an einer alternativen Lesart des Kos-mos, die auch Christen eine Menge zusagen hatte. Erst wenn man pluralistischeReflexion als Merkmal der Religions-geschichte ernst nimmt, erkennt man hierdie argumentativen Zusammenhänge.Zu dem Anderen gehören freilich nichtnur alternative religiöse Optionen, son-dern auch die diskursiven Verflechtungenzwischen religiösen Systemen und politi-schen oder wissenschaftlichen Systemen.Gerade diese gegenseitige Bezogenheitder Religionen sowie ihre Auseinanderset-zung mit den Wissenskulturen ist einKennzeichen der Europäischen Religions-geschichte (nun mit großem „E“). Wis-senschaftliche Deutungen können selberzu Produzenten von „Sinn“ werden.Dabei spielen Philosophie und Philolo-gien eine entscheidende Rolle, wieBurkhard Gladigow in einem wichtigenAufsatz konstatiert:Philosophie und Philologien haben überlange Jahrhunderte Überlieferungen undTraditionen präsentiert – oder wieder-belebt –, die keine „Träger“ mehr hatten,oder die noch nie Träger (im WeberschenSinne) hatten, die also nur im Mediumvon Wissenschaften transportiert wurden.Renaissance, Humanismus und Romantikhaben ihre Alternativen zur abendlän-disch-christlichen Kultur weitgehend denWissenschaften entnommen. Ein wieder-belebter Platonismus konnte so engsteVerbindungen mit dem Christentum ein-gehen, – oder aber als Theorie von Magieund Irrationalismus bis ins achtzehnteJahrhundert weiterlaufen; gnostische Sche-mata und Erlösungsvorstellungen könnenInterferenzen mit asiatischen, über Philo-logien importierten Religionen eingehen,ein Monismus in einem christlichen Pan-theismus aufgehen, oder eine neue Reli-gion konstituieren.Um Missverständnisse zu vermeiden, hält

Gladigow fest, dass es „dabei – wohlge-merkt – nicht um die Vermischung derSinnsysteme, einen Synkretismus [geht],sondern um eine ‚Semiotik‘, die dieeinzelnen Religionen, die Sinnkonstruktevon Teilbereichen der Gesellschaft, wieZeichen eines Zeichensystems zusam-menstellt“.25 Folgt man einem solchenkulturwissenschaftlichen Erklärungsmo-dell, so wird man die Esoterik nicht alseine eigenständige und von Christentum,empirischer Naturwissenschaft oder Auf-klärung getrennte Tradition darstellen kön-nen, sondern nur in ihrer Auseinanderset-zung mit ihnen, einer Auseinanderset-zung, die nicht selten auch eine gegen-seitige Befruchtung war.

Das Esoterische als Diskurselement

Als Konsequenz aus all dem ergibt sich,dass ich für einen Esoterikbegriff werbenmöchte, der nicht nur Kontinuitäten ab-bildet, sondern der auch die Dynamikund Prozessualität von Identitätsbildung,die diskursiven Transfers zwischen einzel-nen Bereichen europäischer Kultur – vorallem zwischen Religion, Naturwissen-schaft, Philosophie, Literatur und Kunst –ins Kalkül zieht. Da es sich hier um dieKonstruktion eines analytischen Instru-mentariums handelt, muss man sich einesvon vornherein klar machen: „Esoterik“als Gegenstand gibt es nicht. „Esoterik“existiert nur in den Köpfen von Wis-senschaftlern, die Gegenstände in einerWeise ordnen, die ihnen sinnvoll er-scheint, um Prozesse europäischer Kul-turgeschichte zu analysieren. Das betrifftübrigens nicht nur den Esoterikbegriff,sondern auch andere analytische Kate-gorien wie „Gnosis“ und „Mystik“. Selbstso gängige Begriffe wie „Religion“,„Christentum“ oder „Wissenschaft“ lassensich aus dieser Richtung problematisieren.Deswegen ist es oft besser, von „Esote-

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rischem“ zu sprechen anstatt von „Eso-terik“, denn das Esoterische ist ein Ele-ment kultureller Prozesse, während dieRede von Esoterik suggeriert, es gebe einezusammenhängende Lehre oder einenklar identifizierbaren Traditionsbestand.Einen solchen findet man jedoch nur beieinzelnen Motivketten. Die Darstellungvon Diskursen dient deshalb gerade nichtdazu, eine ungebrochene Entwicklungs-geschichte der Esoterik in Europa zuerzählen. Ich zitiere Moritz Baßler undHildegard Châtellier: „Niemand wird […]aus der Entdeckung neuer diskursiver An-teile eine neue ‚große Erzählung‘ konstru-ieren wollen, etwa der Art, daß es ‚imGrunde der Okkultismus gewesen sei, derdie Moderne ermöglicht habe‘ o.ä. –demgegenüber ist auf die Komplexitätjedes einzelnen historischen Faktums alsKnotenpunkt unzähliger Diskurse in jespezifischer Konstellation zu bestehen“.26

Dem schließe ich mich an und fasse dasEsoterische als ein Diskurselement der Eu-ropäischen Religionsgeschichte auf.Dieses Diskurselement lässt sich auf dreiEbenen analysieren, die ich unterscheideals „Diskurs“, „Modi“ und „Topoi“:

(1) Dreh- und Angelpunkt aller esoteri-schen Traditionen sind Erkenntnisan-sprüche, die auf das „eigentliche“ oderdas absolute Wissen abheben. DiesesWissen ist in der Regel verborgen, wes-halb wir es stets mit der Dialektik von Ver-borgenem und Offenbartem zu tunhaben, also durchaus mit „Geheimnis“,jedoch nicht in dem Sinne, dass die eso-terische Wahrheit nur Eingeweihten zu-gänglich ist.27 Was einen Diskurs esote-risch macht, ist die Rhetorik einer verbor-genen Wahrheit, die auf einem be-stimmten Weg enthüllt werden kann undgegen andere Deutungen von Kosmosund Geschichte – nicht selten die der in-stitutionalisierten Mehrheit – in Stellung

gebracht wird. Es geht also eigentlichnicht um Geheimhaltung, sondern um dieEnthüllung des Verborgenen. In der diskursiven Analyse kommt auchdem Begriff der Alterität eine gewisse Rollezu. „Alterität“ oder „Devianz“ sind kultur-wissenschaftliche Deutungsinstrumente,die auf die Konstruktion von Differenz ab-heben. In dem Moment, in dem es eineMajorität gibt, entstehen deviante Mi-noritäten, und zwar durch die Ausgrenzungdes „Anderen“ seitens der Mehrheit sowiedurch die bewusste Hinwendung einerMinderheit zu alternativen Sinnkonstruktio-nen. Deren Ansprüche, das „eigentlicheWissen“ individuell verfügbar zu machen,hat diese Auseinandersetzung weiter ver-schärft.28 Viele Erscheinungen der Esoterikfallen in das Raster devianter religiöser Op-tionen, seien es die „Häresien“ des Chris-tentums, seien es polytheistische oder pan-theistische Modelle, die sich von dermonotheistischen Deutung absetzen.29

(2) Auf einer zweiten analytischen Ebenelassen sich die Modi beschreiben, in de-nen sich ein Diskurs absoluter Erkenntnisentfaltet, die Wege also, jenes Wissen ver-fügbar zu machen. Zu den wichtigstenModi zählen der individuelle Aufstieg desSuchenden, wie in so genannten „gnosti-schen“ oder neuplatonischen Entwürfen,in der Kabbalah und anderswo; die Initia-tion, wie in den Geheimgesellschaften derNeuzeit; die Kommunikation mit geistigenWesen, etwa im „Channeling“ deszwanzigsten Jahrhunderts, doch auch inder visionären Schau eines Emanuel Swe-denborg. Solche Formen des Wissenser-werbs sind auch in wissenschaftlichenKontexten zu finden, wie das BeispielJohn Dee zeigt. Auch die Mediation ist alsein Modus esoterischer Diskurse aufzu-fassen: Die Verbindung zwischen verbor-genem und offenbartem Wissen, zwi-schen Transzendenz und Immanenz wird

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nämlich häufig bestimmten Autoritätenzugeschrieben – Hermes oder Zoroasterbeispielsweise –, die als Vermittler auf-treten und den Menschen ein „voll-kommenes“ Wissen zur Verfügung stellen.Zwar kann jenes ewig gültige Wissen, diePhilosophia perennis, von manchen aus-gewiesenen Personen auch ohne Media-tion erreicht werden – man denke anAbraham Abulafias Suche nach einem di-rekten, ekstatischen, Zugang zur abso-luten Wahrheit oder an Hegels „Abschlussder Philosophie“ –, doch die Konstruktioneiner Kette von „Eingeweihten“ undWeisen, welche den Gang des Offen-barungsgeschehens bestimmten, ist einwiederkehrendes Motiv in der Geschichteder Esoterik von der Antike bis zur Gegen-wart. Oft verbindet sich dieser Wissens-anspruch mit der Betonung individuellerErfahrung, in denen ein Suchender durchaußergewöhnliche BewusstseinszuständeErkenntnis höherer Wahrheiten erlangt.Die Betonung individueller Erfahrung ist,nebenbei bemerkt, auch ein Grund dafür,dass esoterische Traditionslinien in protes-tantischen Kreisen weitaus größere Wir-kung entfalteten als in katholischen.

(3) Die Auskristallisierungen esoterischerDiskurse in immer wieder neuen Konstel-lationen – in einem Feld – beschreibe ichals Motive oder Topoi. Meist sind dieseMotive aus einer Konzeption des Kosmoshervorgegangen, die man holistisch odermonistisch nennen kann. Gemeint sindEntwürfe, die materielle und nicht-ma-terielle Ebenen der Wirklichkeit als Ein-heit denken und sich für die Verbindun-gen zwischen diesen Ebenen interes-sieren: Das Entsprechungsdenken kon-struiert dabei Zusammenhänge undSpiegelungen, beispielsweise zwischenTranszendenz und Immanenz, zwischenPlaneten und irdischen Ereignissen, zwi-schen Seele und Körper oder zwischen

Geist und Materie. Die Beispiele ließensich vermehren, doch entscheidend ist derModus der Beschreibung von Wirklich-keit. Die Konzeption einer lebendenNatur wird ebenfalls meist in einem holis-tischen Rahmen entwickelt, indem Weltund Kosmos als ein dynamisches Geflechtvon Zusammenhängen aufgefasst werden.Derartige Traditionslinien lassen sich innaturphilosophischen, pantheistischen undanimistischen Entwürfen finden, die in dereuropäischen Kulturgeschichte immerwieder entwickelt wurden. Zu den Mo-tiven, die einen esoterischen Diskurs sti-mulieren, zählt auch die Rede von einerPrisca theologia oder Philosophia peren-nis. Und die Rezeption von „gnostischen“Lehren oder von Textdokumenten wiedem Corpus Hermeticum oder den Chal-däischen Orakeln schließlich brachteebenfalls einen wiederkehrenden Toposhervor, den es im Sinne der Bildung vonalternativen Identitäten zu analysierengilt. Dabei muss betont werden, dass ichsolche Motive und Topoi – im Unterschiedzu typologischen Zugriffen auf die Eso-terik, wie sie vor allem Antoine Faivrepropagiert – nicht als Bestimmungselemen-te des Esoterischen auffasse, sondern ge-wissermaßen als „Material“ des Diskurses.

Schluss

Nun könnte man fragen, was denn über-haupt mit einem solchen Konzept von„Esoterik“ gewonnen ist. Ich bin der Mei-nung, dass es mithilfe dieses analytischenModells möglich ist, die Komplexität eu-ropäischer Kulturgeschichte abzubilden,ohne Religion gegen Wissenschaft, Chris-tentum gegen Paganismus oder Vernunftgegen Aberglauben ausspielen zu müssen.In Wirklichkeit sind diese Größen un-trennbar aufeinander bezogen, und ihreBezogenheit ist gerade das Spannende ander Geschichte des Esoterischen in Europa.

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Anmerkungen

1 Dieser Aufsatz geht zurück auf das Einleitungskapi-tel meines Buches Was ist Esoterik? Kleine Ge-schichte des geheimen Wissens, München 2004, 9-23.

2 Zur antiken Verwendung des Wortes s. Gaiser1988.

3 Zur Astrologie s. von Stuckrad 2003b.4 Zur Geschichte des Wortes l’ésotérisme s. Riffard

1990, 63-137. Das Adjektiv „esoterisch“ ist freilichschon in antiker Philosophie zu finden.

5 Dies kann man besonders am einflussreichen Era-nos-Kreis erkennen, der seit den 1930er Jahrenregelmäßig Tagungen in der Schweiz veranstaltete;s. dazu Wasserstrom 1999 und Hakl 2001.

6 S. Hanegraaff 2001.7 S. www.amsterdamhermetica.com. An anderen Uni-

versitäten, namentlich in Großbritannien, sind ähn-liche Studiengänge im Aufbau.

8 S. Faivre 2001, 24-34.9 Es ist wichtig zu betonen, dass die von Faivre

vorgelegte Definition von Esoterik als idealtypischbetrachtet werden sollte. Sie ist deswegen nicht es-senzialistisch zu verstehen, indem man aus ihrRückschlüsse ziehen könnte im Hinblick darauf,was Esoterik wirklich ist und was nicht. Vielmehr istsie ein Instrument zur Klärung dessen, was gemäßdieser Definition unter Esoterik verstanden werdensoll – ein großer methodischer Unterschied, derbisweilen in der Diskussion übersehen wird. Ideal-typisch bedeutet außerdem, dass die beschriebenenCharakteristika im konkreten religionsgeschicht-lichen Material keineswegs immer in gleicherWeise oder in „Reinform“ vorhanden sein müssen;tatsächlich ist dies sogar sehr selten der Fall (aller-dings besteht Faivre darauf, dass nur das „Esoterik“ist, was alle Komponenten aufweist, eine For-derung, die wissenschaftlich höchst umstritten ist).Die Definition Faivres ist nicht mehr und nichtweniger als ein wissenschaftliches Konstrukt zurSichtbarmachung von Zusammenhängen und Tra-ditionslinien, die über einen langen Zeitraum hin-durch europäische Kulturgeschichte mitprägten.

10 Es ist in der Forschung keineswegs Konsens, dassein solcher Zugang zur Esoterik überhaupt er-strebenswert ist.

11 Koselleck 1973.12 Neugebauer-Wölk 2003, 143.13 Auch Idealtypen sind methodisch nicht „un-

schuldig“ und neutral, vielmehr müssen ihre Vor-

aussetzungen kritisch reflektiert werden. Vgl. auchdie Kritik an Neugebauer-Wölk bei Lehmann 2001,235 und 237.

14 Diner 2003, 7.15 Jan Assmann und Erik Hornung haben am Beispiel

Ägyptens gezeigt, dass gerade für die Eso-terikgeschichte der „Entzifferung von Gedächtnis-spuren“ eine große Bedeutung zukommt; s. Ass-mann 1998 und Hornung 1999.

16 Zu meiner Charakterisierung einer „diskursiven Re-ligionswissenschaft“ s. von Stuckrad 2003a.

17 Gladigow 1995, 28, unter Verweis auf Mörth 1975.18 Die Probleme entstanden erst in Auseinanderset-

zung mit Institutionen, also – im FoucaultschenSinne – mit Instrumenten der Diskurskontrolle.

19 S. Trepp 2001, 103f.20 S. von Stuckrad 2004, 136-143.21 S. zur Kabbalah und ihrer Rezeption in christlicher

Religion und Philosophie von Stuckrad 2004, 53-71; 113-131.

22 S. dazu Kippenberg & von Stuckrad 2003, 136-146.23 Stausberg 1998, 22.24 Hartmut Bobzin zieht deshalb zu Recht die Konse-

quenz: „Die Motive für das Studium des Islams undinsbesondere das des Korans als eines ‚kisten allerkätzerien‘ […] können nur vor dem Hintergrund dertheologischen Auseinandersetzungen im Zusam-menhang der Reformation in ihrer ganzen Trag-weite verstanden werden“ (Bobzin 1995, VIII).

25 Gladigow 1995, 29 bzw. 37.26 „Einleitung“ zu Baßler & Châtellier 1998, 25; s.

auch Bettina Grubers „Einleitung“ zu Gruber 1997.27 S. dazu auch Wolfson 1999, besonders die Ein-

leitung des Herausgebers.28 Vgl. Urban 1998.29 Dies darf man allerdings nicht zu statisch sehen.

Beispielsweise lassen sich die frühen Christentümeraus einer solchen Richtung selber als deviante Er-scheinungen interpretieren, da sie sich mit einemKonzept individueller Erlösung von der römischenMehrheitsreligion bewusst abgrenzten. Zunächst alsillegitime, weil nicht-öffentliche Religion von Romausgegrenzt, übernahm die christliche Staatsreli-gion später eben diese Modelle der öffentlichen –und damit legitimen – Religion des römischenRechts und grenzte ihrerseits alternative Konzepteals illegitim aus. Was Michel Foucault „Diskurskon-trolle“ nennt, zieht sich wie ein roter Faden durchdie Geschichte der europäischen Christentümer.

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Jeder zweite Jugendliche hat keinenBezug mehr zu seinem eigenen Religions-bekenntnis, mehr als 60 % aller Jugend-lichen halten Gespräche über religiöseThemen für unwichtig. Vielmehr gilt dieAufmerksamkeit Jugendlicher okkultenPhänomenen wie Telepathie, Telekineseund Wunderheilungen und deren media-ler Verarbeitung in Mysteryserien und Fan-tasyfilmen. Freunde und Eltern sind ihnendennoch nach wie vor am allerwichtigs-ten. Zu diesen Ergebnissen kommt eineaktuelle Studie aus Österreich, die im Fol-genden näher vorgestellt werden soll.Wie wichtig ist Jugendlichen ihr Reli-gionsbekenntnis eigentlich noch? Für wiegefährlich schätzen sie den Satanismusein? An welche okkulten Phänomeneglauben sie? Was fasziniert Jugendliche anMysteryserien und Fantasyfilmen? Diesenund weiteren Fragen gingen die Sektenbe-ratungsstelle des Landes Tirol „kult & co“gemeinsam mit dem Jugendinformations-service Tirol nach. Im Rahmen einer empi-rischen Erhebung wurden 700 Jugend-liche (352 Jungen und 348 Mädchen) imAlter zwischen 14 und 29 Jahren zu denThemen Religiosität, Satanismus undOkkultismus befragt.1

1. Ausgangslage

Ausgangslage der vorliegenden Studiebildete eine im Jahr 2002 durchgeführteErhebung bei staatlichen, kirchlichen undprivaten Sektenberatungsstellen in Öster-

reich. In dieser Erhebung wurde unter an-derem das quantitative Ausmaß an Anfra-gen hinsichtlich des Themas Satanismuseruiert. Deutlich wurde, dass die meisten Anlie-gen dieser Art an staatliche Fachstellenherangetragen wurden. Darüber hinausbetrug der Anteil an Jugendlichen, welchedie Serviceleistungen von Religions- undWeltanschauungsreferaten in Anspruchnahmen – bezogen auf alle Anfragen –,zwischen 3 und 13 %, im Durchschnitt8.9 %. Bei diesen Jugendlichen war dasVerhältnis zwischen Informationsanfragen(72 %) und Anfragen, welche einen psy-chosozialen Problemcharakter erkennenließen (28 %), bemerkenswert.2Eine wichtige Voraussetzung für dieÖffentlichkeitsarbeit von Religions- undWeltanschauungsreferaten ist Authentizi-tät und Transparenz. Der öffentliche – oft-mals an Sensationseffekten orientierte –Diskurs über Fragen der Relevanz okkul-tistischer und satanistischer Phänomene fürJugendliche führt zu Verunsicherungen inder Bevölkerung. So wird Jugendlichennach wie vor ein großes Interesse an ok-kulten Praktiken unterstellt, obwohl ausmeiner Sicht Erwachsene weit häufigerüber derartige Erfahrungen berichten. Ausder alltäglichen Arbeit gewonnene Erfah-rungswerte und Erkenntnisse der Religions-und Weltanschauungsreferate werden vonden meinungsbildenden Medien seltenberücksichtigt. Diese beanspruchen aucheinen Teil von Wahrheit und Objektivität

Peter Schulte, Innsbruck

Religiosität, Okkultismus, SatanismusErgebnisse einer aktuellen Jugendstudie aus Tirol

DOKUMENTATION

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für sich und erzeugen durch die Art undWeise ihrer Berichterstattung Wirklich-keitsinterpretationen von okkultistischenund satanistischen Phänomenen, die einergenaueren Prüfung in vielen Fällen nichtstandhalten. Religions- und Weltanschau-ungsreferate sind deshalb aufgefordert,medialen Wirklichkeitskonstruktionen mitFachwissen und Expertise entgegen-zuwirken. Eine Informationspolitik, welche in ein-fachen Worten versucht, komplexe Zu-sammenhänge zwischen Jugendlichenund Okkultismusneigung aufzuzeigen, istabzulehnen. Viel wichtiger und sachdien-licher wären zusätzliche Beiträge ausSoziologie, Psychologie und Sozialpsy-chologie, die okkultistische und satanisti-sche Trends und deren Verbreitung ana-lysieren. In diesem Zusammenhang solltensich auch Mitarbeiter und Mitarbei-terinnen von Religions- und Weltan-schauungsreferaten einer profunden Re-flexion ihrer Tätigkeit wie etwa im Rahmenvon Supervision sowie Selbstreflexion un-terziehen, um sowohl ein hohes Maß anProfessionalität anzustreben als auch fürdie eigene Psychohygiene zu sorgen.3Verantwortungsbewusste Informations-und Beratungsarbeit in Hinblick auf sata-nistische und okkultistische Praktikensetzt, neben regionalen Erfahrungen undHintergrundwissen, die Eruierung undKenntnis jugendlicher Weltdeutungs- undWirklichkeitsinterpretationen voraus. Zudiesem Zweck ist es sinnvoll, eigeneDaten zu erheben, die die Arbeit von Reli-gions- und Weltanschauungsreferaten zu-sätzlich unterstützen. Die Ergebnisse die-nen zum einen als Argumentationshilfen,die im Rahmen von Fortbildungsveranstal-tungen und Vorträgen der Öffentlichkeitzugänglich gemacht werden können.Zum anderen können die Daten in einennationalen und internationalen Kontexteinfließen.

2. Zur Verbreitung okkultistischer undsatanistischer Phänomene

An okkulte Phänomene glauben nachdiversen Studien ca. zwischen 20 bis30 % der Bevölkerung. Allerdings sagendiese Zahlen nichts darüber aus, wie starkder Einfluss dieser Phänomene auf dasAlltagsbewusstsein und Handeln vonMenschen ist. Umso leichter zugänglichdie jeweiligen Praktiken sind, desto eherwerden sie ausgeübt. Ein Prozent aller Ju-gendlichen gibt an, okkulten Gruppen an-zugehören.4 Über die Verbreitung okkul-ter Vorstellungen liegen einige empirischeUntersuchungen vor. So kommt z.B.Zinser zu dem Ergebnis, dass ca. ein Vier-tel der Jugendlichen sich mit Okkultismusbeschäftigt.5 Satanistisch-rituell inspirierteFormen „okkulter“ Praktiken bilden eineMinderheit. Die empirische Analyse er-weist sich als schwierig, da eine Opera-tionalisierung des Begriffs „Satanismus“ inder Regel nicht vorgenommen wird, u.a.auch deshalb, weil er ein komplexes Phä-nomen darstellt. So ergeben sich nurwenige Prozent aktiver und passiverBeteiligungen an „schwarzen Messen“,wobei es sich hierbei nur teilweise um sa-tanistische Rituale handeln dürfte. DieseBeobachtungen decken sich mit den Er-fahrungen unserer Beratungsstelle.Einer steirischen Pilotstudie aus dem Jahr1999 zufolge, fühlten sich von 492 be-fragten Jugendlichen im Alter von 15-20Jahren 1.85 % (n=8) mit einer Satansge-meinschaft verbunden. 0.75 % wolltenzum Zeitpunkt der Befragung einer ent-sprechenden Gruppe beitreten. Die Fragenach der Teilnahme an schwarzen Messenbejahten 2 %. 3.8 % hatten eine deutlicheAffinität zu Gruppen, die sich mit Magiebeschäftigen und 9.3 % zeigten Interesse,einer solchen Gruppe beizutreten.6 Einervon unserer Informations- und Beratungs-stelle ins Leben gerufenen anonymen In-

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ternetumfrage zufolge fühlen sich 10 %unserer Webseitenbesucher mit magischenGruppen und 4 % mit Satansgemeinschaf-ten verbunden. Bei der Frage nach demGlauben an übernatürliche Phänomenedominieren Telepathie (44 %), Wunder-heilungen (31 %), Telekinese (24 %) undHellseherei (21 %) (Stand: 19.7.2004).7

3. Ziel der Studie

Ausgangspunkt unserer Überlegungenwaren konkrete Fragen, die sich im Laufeunserer Arbeit naheliegenderweise er-gaben und auf die wir eine Antwortsuchten, z.B. mit welcher Religionsge-meinschaft sich Jugendliche heute nochverbunden fühlen und wie wichtig ihnenihr eigenes Religionsbekenntnis nach wievor ist. Zum anderen wollten wir eruieren,welche Vorstellungen, Handlungen undWirkungsweisen mit dem Begriff „Satanis-mus“ verbunden werden. Des Weitereninteressierte uns, an welche übersinn-lichen Phänomene Jugendliche glaubenund welche okkulten Praktiken sie schoneinmal ausprobiert haben. Zum Abschlussfragten wir danach, was Jugendliche anFantasyfilmen wie „Herr der Ringe“ oder„Harry Potter“ und Mysteryserien wie„Charmed“ oder „Akte X“ fasziniert.

4. Methodik

Aufgrund unserer institutionellen Nähe zuJugendzentren und anderen Jugendein-richtungen wurde uns der Zugang zueiner größeren Stichprobe ermöglicht.Eine Steuerungsgruppe, bestehend ausMitarbeitern und Mitarbeiterinnen vonJugendeinrichtungen, formulierte relevan-te Fragen, die gesammelt, sortiert undstrukturiert wurden. Es wurden sowohl of-fene (ohne Antwortvorgaben) als auch ge-schlossenen Fragen (mit Antwortvorgaben)gestellt, um qualitative und auch quantita-

tive Daten zu erhalten. Die Fragebögenwurden von Mitarbeitern und Mitarbei-terinnen der Jugendeinrichtungen an dieJugendlichen ausgeteilt und auch wiedereingesammelt. Die Beteiligung an derUmfrage erfolgte auf freiwilliger Basis.Insgesamt erhielten wir 700 ausgefüllteFragebögen zurück. Die folgenden Ergeb-nisse erheben keinen Anspruch auf Re-präsentativität, sie stellen vielmehr einenQuerschnitt von Einstellungen und Mei-nungen der Besucher und Besucherinnenvon Tiroler Jugendeinrichtungen dar.8

5. Ergebnisse

Während 55.2 % der Befragten sich mitder katholischen Kirche verbunden füh-len, so sind es 24.7 %, die sich mit keinerReligionsgemeinschaft identifizieren kön-nen. An dritter Stelle folgt die IslamischeGlaubensgemeinschaft mit 6 %, noch vorder evangelischen Kirche mit 3.4 %. Gleich-zeitig geben 52.9 % an, dass ihnen ihr Re-ligionsbekenntnis überhaupt nicht wichtig(15.6 %) bis weniger wichtig (37.3 %) ist.Demgegenüber ist 37.8 % der befragtenJugendlichen ihr Bekenntnis sehr wichtig(10.5 %) bis wichtig (27.3 %). Gesprächeüber religiöse Themen werden von 63.3 %als überhaupt nicht wichtig (19.6 %) bzw.weniger wichtig (43.7 %) angesehen.32.2 % geben an, dass ihnen diesbezüg-liche Gespräche sehr wichtig (7.7 %) bzw.wichtig (24.5 %) sind.Bei persönlichen Problemen stellen Freun-de (54 %) und die Familie (39.9 %) einewichtige Ressource der Konfliktbewälti-gung, besonders für Mädchen, dar. Reli-giosität bietet 15.7 % aller Befragten Haltund Orientierung in schwierigen Lebens-situationen. Unter der Variable „Religio-sität“ wurden Nennungen wie z.B. „Reli-gion“, „Glaube an Gott“, „Gottesliebe“,„Glaube an Wunder“ oder „beichten“subsumiert.

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Unsere Frage, inwieweit der Satanismuseine ernsthafte persönliche Gefahr für Ju-gendliche darstelle, bejahten 14 % undverneinten 77 % der von uns befragten Ju-gendlichen. 9 % sahen sich nicht in derLage, eine Einschätzung abzugeben. Al-tersspezifische Vergleiche zeigen, dass dieGruppe der 14-18-Jährigen am häufigstenvon Gefährdungen ausgeht (15.8 %). Inder Altersklasse der 19-25-Jährigen nimmtdiese Einschätzung mit 6.4 % deutlich ab.In einem nächsten Schritt interessierteuns, welche Vorstellungen die von uns be-fragten Jugendlichen mit dem Begriff „Sa-tanismus“ überhaupt verbinden. Wir stell-ten deshalb die offene Frage (ohne Ant-wortvorgaben): „Welche Handlungen undWirkungsweisen verbindest du mit demStichwort Satanismus?“ Wie die nachfol-gende Tabelle zeigt, wurden die Überbe-griffe „Opferung“, „Tod“ und „Gewalt“von den befragten Jugendlichen am häu-figsten genannt (51.1 %). Unter dieseKategorie fallen Nennungen wie „Tier- undMenschenopfer“, „grauenhafte Morde“,„Verfolgung“, „Qualen“, „Gefahren“, „Dro-hungen“, „Vergewaltigungen“, „Rassis-mus“, „Extremismus“, „Folterungen“ und„Perversionen“. Eine zweite Kategorie, diesich bilden ließ, war „Schwarze Messen &Rituale“. Hierzu gehören (okkulte) rituelleHandlungen, wie Blut trinken, Sprech-gesänge, lateinische Sprüche, schwarz-magische Handlungen sowie der Miss-brauch religiöser Symbole. Weitere Nen-nungen waren „Friedhof“, „Geheimnisse“,„Feuer“, „Fluch“, „Totenkult“, „Hexen-kult“ sowie „Geister“ und „Dämonen“.Diese Begriffe wurden von 37.1 % der be-fragten Jugendlichen mit dem StichwortSatanismus verbunden. An dritter Stellebildeten wir den Oberbegriff „Satan“(23.1 %). Hierbei handelte es sich umAntwortmuster wie „Satan als Herrscherder Welt“, „mit dem Teufel in Verbindungsein“ oder auch „Satanismus als Reli-

gion“. Weitere Nennungen waren „Sa-tan“, „Satanssekte“ und „Teufel“. Mit „Na-men und Symbole“ (16.7 %) sind bekann-te Phänomene gemeint, die auch in dergesellschaftlichen Wahrnehmung Rele-vanz besitzen: Pentagramme, umgedrehteKreuze, satanische Bibel, schwarze Klei-dung oder die Zahl 666. Außerdem fan-den sich Namen wie Aleister Crowley undAnton Szandor LaVey. Obwohl nicht pri-mär satanistisch, fielen auch Nennungenwie „Metal Musik“, „Gothics“ und „Gruf-ties“. 12 % der befragten Jugendlichenwaren der Ansicht, dass sich insbesondereMenschen mit „sozialen und psychischenProblemen“ vom Satanismus angezogenfühlten. Hier handle es sich um „Men-schen mit ernsthaften Problemen“, um„Einzelgänger“ und um „gesellschaftlicheAußenseiter“. Diese Menschen besäßenwenig Selbstvertrauen und suchten nacheinem Ausweg, der sie unter Umständenin eine satanistische Gemeinschaft führenkönne. 6.1 % der von uns befragten Ju-gendlichen sehen im Satanismus eine an-tichristliche Haltung und Protest gegen-über gesellschaftlichen Werten und Nor-men. Hier gehe es u.a. um eine „Provoka-tion gegen das Christentum“ und eine„Auflehnung gegen den Katholizismus“sowie um „Hass gegen Gott“. Unter dieKategorie „Macht und Kontrolle“ (5.4 %)fielen Nennungen, die mit Kontrolle undEinfluss über Menschen zu tun haben, wiez.B. „Manipulation“, „Fremdbestimmung“,„Gruppenzwang“ und „Psychoterror“. Mit„schwarzen Assoziationen“ (4.6 %) sindBegriffe wie „schwarz“, „Höhle“ und„Dunkelheit“ gemeint.Deutlich mehr Mädchen als Jungenglauben an okkulte Phänomene. Am häu-figsten wurden Traumdeutung mit 40.4 %(Jungen 13.6 %, Mädchen 26.8 %), Tele-pathie mit 36.3 % (Jungen 15.4 %, Mäd-chen 20.9 %), Wunderheilungen mit25.6 % (Jungen 10.7 %, Mädchen 14.9 %)

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und Telekinese mit 20.7 % (Jungen10.6 %, Mädchen 10.1 %) genannt.In einem zweiten Teil befragten wir die Ju-gendlichen nicht mehr nach ihrem Glau-ben an übersinnliche Phänomene, son-dern danach, inwieweit die von uns imFragebogen vorgelegten Praktiken schoneinmal selbst von ihnen ausprobiert wor-den seien. Hier zeigte sich ein etwas an-deres Bild. Die meisten Antworten fandensich bei Tisch- und Gläserrücken (34.9 %,Jungen 13.1 %, Mädchen 21.7 %), Kartenlegen (29.6 %, Jungen 7.4 %, Mädchen22.1 %), Pendeln (28.4 %, Jungen 8.6 %,Mädchen 19.8 %) und Traumdeutungen(25.3 %, Jungen 7 %, Mädchen 18.3 %).946 % der befragten Jugendlichen glauben

gelegentlich (36.9 %) bis immer (9.1 %)an die Aussagekraft von Horoskopen.55.3 % lesen immer (19.9 %) bzw. gele-gentlich (35.4 %) Horoskope, wobei auchhier der Anteil der weiblichen Jugend-lichen überwog.Bei weiblichen Jugendlichen liegt die Se-rie „Charmed – Zauberhafte Schwestern“mit 57.8 % absolut im Trend, wohingegender Anteil der männlichen Seherschaft bei28.8 % liegt. Etwas mehr Jungen (21.6 %)als Mädchen (18.7 %) sehen regelmäßig„Akte X“. „Buffy – Im Bann der Dämo-nen“ wird häufiger von Mädchen (22.7 %)als von Jungen (17 %) angesehen. Etwagleich im Trend liegt die Serie „Dark An-gel“. Hier beträgt der weibliche Anteil

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0 100 200 300 400

Satan

Macht & Kontrolle

Namen & Symbole

schw arze Assoziationen

soziale & psychische Probleme

Antichristliche Haltung/ Protest

Schw arze Messen & Rituale

Opferung/ Tod/ Gew alt

Sonstige

keine

w eiß nicht

Ha ndlunge n & W irkungsw e ise n S a ta nism usHandlungen & Wirkungsweise

weiß nicht

keine

Sonstige

Opferung / Tod / Gewalt

Schwarze Messen & Rituale

Antichristliche Haltung / Protest

soziale & psychische Probleme

schwarze Assoziationen

Namen & Symbole

Macht & Kontrolle

Satan

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12.4 % und der der Jungen 11.4 %. Ähn-lich verhält es sich bei der Filmserie „X –Factor“. Diese Serie wird von 6 % dermännlichen und von 6.9 % der weib-lichen Befragten regelmäßig gesehen.46.3 % der Jungen geben an, überhauptkeine der aufgelisteten Sendungen zu se-hen, wobei auch in diesem Fall der Anteilder Mädchen mit 30.7 % deutlichgeringer war.Kinofilme wie „Herr der Ringe“, „The 6thSense“ und „Harry Potter“ sind nach un-seren Umfragedaten der absolute Rennerunter den Jugendlichen. 69.7 % der vonuns befragten Jungen und Mädchen sahen„Herr der Ringe“ 1 und/oder 2. Von vielenJugendlichen wurden auch die Filme „The6th Sense“ (68.3 %) und „Harry Potter“ 1und/oder 2 (53.6 %) gesehen. Bei einembeachtlichen Teil der Jungen und Mäd-chen stehen „Stigmata“ (36.3 %) und „Endof days“ (34 %) hoch im Kurs.Die Frage nach dem Grund für das großeInteresse Jugendlicher an Mysteryserienund Fantasyfilmen lieferte heterogeneAntwortmuster, welche auf Kernvariablenreduziert wurden. 35.5 % der befragtenJugendlichen waren der Ansicht, dass derWunsch nach und die Faszination vonWunsch-, Traum- und Fantasiewelten derGrund für den Konsum dieser Filme sei.An zweiter Stelle ließ sich mit 26.3 % dieVariable „übernatürliche Phänomene“bilden. Hierunter sind Antworten wie z.B.„das Übersinnliche“, „das Unerklärliche“oder „das Unmögliche“ zu verstehen.Dem Unterhaltungswert dieser Serien undFilme kommt ebenfalls eine wichtige Be-deutung zu. So geben 18.3 % der von unsbefragten Jugendlichen an, dass die Un-terhaltung, die Spannung und die Actionein besonderes Interesse bei ihnen hervor-riefen. Weitere Antwortmuster waren „dieallgemeine Filmhandlung“ (12.9 %),„Zauberei und Magie“ (8.4 %) und die„Filmtechnik“ (5.9 %).

6. Ergebnisdiskussion

Die Daten unserer Studie waren so man-nigfaltig, dass wir an dieser Stelle nureinen kleinen Überblick über die Ergeb-nisse geben konnten. Insgesamt gesehenhatten wir den Eindruck, dass es uns ge-lungen ist, einen kleinen Aspekt vonWahrnehmungen, Einstellungen und Mei-nungen Jugendlicher zu den Themen Reli-giosität, Satanismus und Okkultismus ken-nen zu lernen.Jeder zweite Jugendliche fühlt sich mit derkatholischen Kirche verbunden, was aller-dings nichts darüber aussagt, was konkretdiese Verbundenheit bedeutet. Zum einenkann das ein echter und aufrichtiger Be-zug zur Kirche sein, zum anderen aberauch eine Verbundenheit auf der Grund-lage von Tradition und gegenüber wichti-gen katholischen Festtagen. Die evange-lische Kirche hatte in Tirol immer wiedermit dem Widerstand von Seiten der katho-lischen Kirche und der Obrigkeit zukämpfen. Erst 1781 wurde die evangeli-sche Kirche mit dem Toleranzpatent unterJosef II. als offizielle Religion im damali-gen Österreich geduldet. Doch der TirolerLandtag verweigerte die Anerkennung desToleranzpatents im eigenen Land. Die ers-ten evangelischen Gemeinden wurdenerst 1876 in Meran und Innsbruck gegrün-det. Die evangelische Kirche blieb bisheute eine Minderheit in Tirol. Dies istsicher auch ein Grund für die geringeProzentzahl der Verbundenheit Jugend-licher mit der evangelischen Kirche.Jedem zweiten befragten Jugendlichen istsein Religionsbekenntnis weniger oderüberhaupt nicht wichtig und fast zweiDrittel der von uns Befragten sind nicht anGesprächen über religiöse Themen inter-essiert. Dies könnte ein Hinweis daraufsein, dass die Auseinandersetzung mit re-ligiösen Themen und Inhalten, die ja inder Regel von den Religionsgemein-

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schaften selbst, von Religionslehrern undauch von den Eltern vermittelt werden,kaum noch einen Stellenwert für Jugend-liche besitzt bzw. sogar abgelehnt wird. Esist auch möglich, dass die Elterngenera-tion der von uns befragten Jugendlichenselbst keinen Bezug mehr zu einer institu-tionellen Religiosität aufweist und somitauch das Elternhaus als Erziehungsinstanzwenig oder kein Interesse an der Vermitt-lung religiöser Inhalte hat. Dennoch solltenicht übersehen werden, dass immerhinca. 16 % aller Befragten angaben, dass ih-nen Religiosität, in welcher Form auchimmer, Halt und Orientierung in schwieri-gen Lebenssituationen biete.14 % der von uns befragten Jugendlichenglauben, dass der Satanismus eine ernst-hafte Gefahr für sie darstelle. Die Gründefür diese Ängste können an dieser Stellenicht eruiert werden. Es ist jedoch zu ver-muten, dass diese Ängste in Zusammen-hang mit ganz persönlichen Erlebnissenund Wahrnehmungen zu interpretierensind. Demgegenüber fühlen sich 77 %nicht persönlich gefährdet – ein even-tueller Hinweis auf ein realistisches Ein-schätzungsvermögen hinsichtlich der so-zialen Wirklichkeit, so wie wir sie auch inunserer Beratungsstelle wahrnehmen? DieVermutung liegt zumindest nahe, da ausunserer Sicht satanistische Aktivitäten eineabsolute Randerscheinung in Tirol dar-stellen, die meistens mehr die Medien alsdie Bürger beschäftigt.Eine Analyse der Assoziationen Jugend-licher mit dem Begriff „Satanismus“ weisteindeutig darauf hin, dass hier sehr hete-rogene Bilder und Vorstellungen existie-ren. Die Antwortmuster reproduzierengesellschaftlich vermittelte Bilder, die imZusammenhang mit Satanismus, unab-hängig von ihrem Wahrheitsgehalt, immerwieder verwendet werden: Opferung, Todund Gewalt, schwarze Messen und Ritua-le, sowie ein personifizierter Satan, der

die dunkle Seite dieser Welt verkörpert. Esfanden sich nur wenige Hinweise auf dieKenntnis eines ordensmäßig organisiertenSatanismus im Sinne eines Aleister Crow-ley oder des kürzlich verstorbenen AntonSzandor LaVey, dem Gründer der „Churchof Satan“.Von besonderer Bedeutung für die vonuns befragten Jugendlichen war der The-menbereich Okkultismus, denn fast jederJugendliche füllte diesen Teil des Fragebo-gens vollständig aus. Betrachtet man dieErgebnisse in ihrer Gesamtheit, so fälltauf, dass der Glaube an okkulte Phäno-mene in den seltensten Fällen zu einerAusübung okkulter Praktiken führt. DerGlaube reicht weiter als die konkrete Pra-xis, was nichts anderes bedeutet, als dassokkulte Vorstellungen und Gedanken beiJugendlichen zwar existieren, für den All-tag vielleicht auch eine gewisse Relevanzbesitzen, aber diesen auf der Handlungs-ebene eine untergeordnete Bedeutung zu-kommt. Ein interessantes Ergebnis derUmfrage war, dass sich Mädchen mehr alsJungen für die von uns angeführten okkul-ten Phänomene interessieren. Warum dasso ist, kann nur vermutet werden. Viel-leicht ist es eine größere Offenheit undNeugier gegenüber den beschriebenenGrenzphänomenen, die Mädchen im Ge-gensatz zu Jungen aufbringen, vielleichtaber auch ein Resultat weiblicher Soziali-sation, die sich nicht nur an Rationalitätund der täglichen Bewältigung des Lebensorientiert, sondern auch noch Raum fürverborgene Welten und deren Geheim-nisse zulässt. Im Zuge ihrer Vergesell-schaftung wird von Mädchen in höheremMaße als von Jungen gefordert, Empathieund Reflexionsvermögen zu entfalten undVerantwortung für die Befindlichkeit an-derer zu übernehmen. Beziehungen undderen Gestaltung nehmen im Erleben vonMädchen daher in der Regel viel Raumein. Betrachtet man ihre Beschäftigung

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mit Okkultismus vor diesem Hintergrund,so stellt diese möglicherweise einen Ver-such dar, Beziehungen mit Hilfe vonMagie zu deuten und dergestalt auf sieEinfluss zu nehmen. Die Ursachen, warum sich Jugendlicheüberhaupt für okkulte Praktiken inter-essieren, sind vielfältig. Ein Grund hierfürist möglicherweise das Erleben des eige-nen Selbst in einer als chaotisch empfun-denen Welt. Phantasien und Wünsche,aber auch Ängste erhalten hier eine ganzspezifische Ausdrucksmöglichkeit, die inder industriell-bürokratischen Lebensweltwenig Platz hat. Es scheint so, als obmanche Menschen in okkulten Vorstellun-gen und in der Ausübung entsprechenderPraktiken eine Befriedigung erführen, dieihnen die soziale Wirklichkeit nicht bietenkann. Aus meiner Beobachtung herausstehen hier Neugierde und der Wunschnach Grenzerfahrungen an oberster Stelle.In extremen Fällen sind ausgeprägte Selbst-inszenierungen zu beobachten, insbeson-dere dann, wenn okkulte Praktiken einen„Ausweg“ aus persönlichen Lebenskrisendarstellen. Die Beschäftigung mit Okkultis-mus muss nicht notwendigerweise Mani-festation einer Lebenskrise sein bzw. ineine solche hineinführen. Mitunter wer-den derartige Erfahrungen durchauslustvoll erlebt und positiv verarbeitet.Wir konnten deutlich zeigen, dass Mys-teryserien und Fantasyfilme über den Un-terhaltungswert hinaus auch eine projek-

tive Funktion besitzen. Diese drückt sichdarin aus, dass das Konsumieren derar-tiger Filme eine Identifizierung mit be-stimmten Personen der Handlung ermög-licht. Gemeinsam werden Wunsch-,Traum- und Fantasiewelten betreten, diewir in unserer tagtäglichen Wirklichkeitnicht vorfinden. In dieser außergewöhn-lichen und neuartigen gedanklichen Rea-lität sind übernatürliche Phänomene et-was völlig Selbstverständliches, wohinge-gen unsere tatsächliche Lebenswirklich-keit fast zur Gänze ausgeklammert wird.Trotz Bewusstheit hinsichtlich des fiktio-nalen Charakters der Filmhandlung sei-tens der Zuschauer, kommen diese Filmedem Bedürfnis nach dem totalen Ausstiegaus unserer sozialen Realität entgegen.Vielfach gelingt diese Flucht in eine Fan-tasiewelt auch tatsächlich – für eine be-stimmte Zeit bzw. einen Kinofilm lang.Man könnte abschließend sagen, dass der-artige Filme den Wunsch nach Verzau-berung in einer entzauberten Welt be-friedigen, in der Leistung, Erfolg und ma-terieller Wohlstand dominierende Wertesind. Der Wunsch nach Gemeinschaft,nach liebevollen und harmonischen Be-ziehungen sowie das Bedürfnis nach derVerschmelzung mit der Erde und demKosmos kommen durch solche Filmedeutlich zum Tragen. Vielleicht handelt essich hierbei sogar um eine, außerhalb derInstitution Kirche liegende, neue Formvon Mystik.

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Anmerkungen

1 Davon waren 543 Jugendliche zwischen 14 und 18Jahren, 125 zwischen 19 und 25 Jahren und 27 Ju-gendliche älter als 25 Jahre, 5 Jugendliche machtenkeine Angaben zum Alter.

2 Vgl. www.spirita.de/ftp/f03-schulte.pdf.3 Endbericht der Enquete-Kommission „Sogenannte

Sekten und Psychogruppen“. Neue religiöse undideologische Gemeinschaften in der Bundesrepub-lik Deutschland, 1998, 80.

4 Ebd., 80f.5 Hartmut Zinser, Zur Verbreitung des Okkultismus.

„Jugendokkultismus in Ost und West“, München1993.

6 E. Gugenberger, R. Schweidlenka, B. Strimitzer, H.P. Wassermann, Esoterik, Okkultismus und Satanis-mus in den Lebenswelten steirischer Jugendlicher.Eine Pilotstudie, Graz 1999.

7 Vgl. www.kult-co-tirol.at/text/umfr_show.asp.8 Der komplette Endbericht findet sich auf www.kult-

co-tirol.at/text/anal_w.htm.9 Prozentuale Schwankungen ergeben sich durch

Auf- und Abrundungen.

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In den als Abspaltung von den traditio-nellen Gemeinden Christi Ende der 70erJahre entstandenen International Churchesof Christ (ICOC bzw. ICC) ist seit einigerZeit Folgendes zu beobachten: rasant ab-nehmende Tauf- und damit Mitglieder-zahlen, ein Rückgang der gezielten Straßen-missionseinsätze, zunehmende Autonomieder einzelnen Gruppen, d.h. Abnahmeder Bindung an die USA und damit insge-samt der Verlust der Gruppendynamik, diein den 80er und 90er Jahren zur schnellenAusweitung der Bewegung führte. Vordem Hintergrund dieser Entwicklungengilt es, der Frage nachzugehen, wie tiefgreifend der Wandlungsprozess der Bewe-gung ist und welche Konsequenzen dieBewegung daraus für ihre Lehre und ihreMethoden zieht. Unter der Leitung ihres charismatischenGründers Kip McKean ist die neue re-ligiöse Bewegung zunächst stärker ge-wachsen als die meisten vergleichbarenBewegungen (vgl. hierzu MD 10/1997,297ff). Beginnend mit ca. 30-40 Mit-gliedern in Boston, entwickelte McKeaneine weltmissionarische Perspektive, teiltedie Welt in sog. Weltsektoren mit je einemWeltsektorenleiter an der Spitze und gabauf diese Weise der sich ausbreitendenBewegung eine stark hierarchische Struk-tur. Die Entfaltung einer weltumspannen-den Dynamik zur Missionierung und Aus-breitung der ICOC wurde zum vordring-lichen Ziel der Gruppe, dem alle anderenZiele kompromisslos untergeordnet wur-

den. Nach eigenen Angaben wuchs dieAnzahl der Gemeinden von der Ur-sprungsgemeinde mit ca. 30 Personen bis1999 auf die beachtliche Zahl von 358Gemeinden in 155 Ländern. Die deutscheMissionsarbeit begann 1988 in München.Es folgten Gemeindegründungen in Berlin,Düsseldorf, Köln und Stuttgart.

Die ICOC-Bewegung in der „McKean-Ära“

Als treibende Kraft hinter der Weltmissiongab McKean der Bewegung ihr Profil. Mitdem Ziel der Evangelisation der ganzenWelt bis zum Jahr 2000 verstand er es,den Mitgliedern Gehorsam und unein-geschränkten Einsatz für die Umsetzungebendieses Ziels abzuverlangen. DasKernelement der Bewegung, das sie inseiner Radikalität von anderen Gruppenunterschied, war das Jüngerschaftsver-ständnis (vgl. hierzu auch MD 9/1997,273ff). Jedes Mitglied musste sich „be-jüngern“1 lassen, d.h. sich einem erfahre-nen, älteren Mitglied der Gruppe unter-ordnen und ihm möglichst alle Gedankenanvertrauen. Christ sein und damit Ga-rantie auf Rettung ist für McKean andieses Jüngerschaftsverständnis geknüpft.Damit ist nach seinem Verständnis derLeib Christi mit den Mitgliedern der ICOCidentisch. Das klare, einfache Lehrge-bäude McKeans, dem eine streng hierar-chisch aufgebaute Organisation zu Grun-de liegt, erfreute sich in den 80er und

Hanna Münstermann, Münster

Die International Churches of Christ Wie tief greifend ist der Wandlungsprozess der Bewegung?

BERICHTE

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90er Jahren innerhalb der Bewegung gro-ßer Beliebtheit. Für zahlreiche Führungs-personen bot es die Möglichkeit, sich aufKosten des überdurchschnittlichen Ein-satzes vieler idealistischer Mitglieder zubereichern. Für Letztere war vermutlichder Orientierung bietende Charakter derLehre anziehend. Einschränkungen derpersönlichen Freiheit und des biblischenGrundsatzes der Verantwortlichkeit einesjeden Christen vor Gott (und nicht in ers-ter Linie gegenüber einem Jüngerschafts-leiter) wurden in Kauf genommen unddurch Zugehörigkeitsgefühl, Aussicht aufRettung und Hilfestellung in wichtigenLebensentscheidungen kompensiert. Ohnedie Führungsriege zu hinterfragen, wurdevertraut und Gehorsam geleistet.

Der Zusammenbruch des Führungsgebäudes

Die autoritäre Struktur der Bewegung,beruhend auf dem kompromisslosenJüngerschafts- und Leiterverständnis, führ-te von Anfang an zu Kritik von außen.Viele Interessierte, die von der Größe undDynamik der Gruppen angezogen wur-den, distanzierten sich nach dem erstennäheren Einblick schnell wieder, abge-schreckt durch die kollektiven Strukturen,denen man sich kritiklos unterordnenmusste, um akzeptiert zu werden. Diewachsende Anzahl kritischer Internetsei-ten über die ICOC und Berichte, Home-pages und Informationskampagnen vonAussteigern machen deutlich, dass es sichum eine konfliktträchtige Bewegung han-delt, deren Kritikerzahl zunimmt. Diewachsende Bekanntheit der Bewegungund ihrer Methoden erschwerte es, neueMitglieder zu werben. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts dann,nach zwei Jahrzehnten als „missionsevangelist“ an der Spitze der Bewegung,verstrickte sich McKean zunehmend in

Widersprüche, die aus eigens aufgestell-ten Regeln resultierten. Familiäre Schwie-rigkeiten und der Austritt seiner Tochteraus der Gemeinde setzten ihn unterDruck, hatte er doch einst verkündet, Ge-meindeleiter müssten ihr Amt nieder-legen, wenn sich eins ihrer Kinder von derKirche distanziere. Große finanzielle Opfer-bereitschaft der Mitglieder stand sichtbarim Widerspruch zu der erstklassigen undkostenintensiven Ausbildung, die seineKinder genossen. Das Jahr 2000, Zielda-tum für die Evangelisation der Welt, warerreicht und damit der Zielpunkt, für densich viele Mitglieder zeitlich, finanziellund emotional verausgabt hatten. Mitdem wachsenden Gefühl, von der Füh-rungsriege für eigene Zwecke instrumen-talisiert worden zu sein, nahm die Kritikam Führungsstil McKeans zu. Es er-schienen Publikationen von Mitgliedern,die maßgeblich die interne Debattemitbestimmten.2 In internen Auseinander-setzungen und Machtkämpfen wurde Mc-Kean schließlich 2001 dazu veranlasst,ein Sabbatjahr einzulegen, das imNovember 2002 in seinen Rücktritt mün-dete. Der Rücktritt McKeans leitete für dieBewegung die schwerste Krise seit ihrerGründung ein, da er selbstverständlichmit der Infragestellung sämtlicher Lehrenund damit der Existenzgrundlage der Be-wegung verbunden war. Die Rücktrittser-klärung wurde auf dem sogenannten„Unitiy meeting“ in Boston bekanntgegeben, woraufhin alle Weltsektoren-leiter ebenfalls ihre Ämter niederlegten.

Die „Nach-McKean-Ära“ – Wandel oderKontinuität?

Der Zusammenbruch des Führungsge-bäudes führte zur wachsenden Autonomieder einzelnen Gemeinden weltweit, vorallem in finanziellen Belangen. Die Un-terstützungszahlungen der großen ameri-

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427MATERIALDIENST DER EZW 11/2004

kanischen Mutterkirchen an kleinere Ge-meinden blieben aus, was Entlassungenund sogar Befürchtungen eventueller Kir-chenschließungen zur Folge hatte. Kurz-bis mittelfristige Folgen der Führungs-schwäche und des einsetzenden Diskus-sionsprozesses um neue Formen, neueZiele, neue Strukturen kann sehr deutlichan der Entwicklung der internationalenGemeinde Christi Paris3 nachvollzogenwerden. Die ehemals schnell wachsendeGemeinde, die sich noch Ende der 90erJahre mit wöchentlich ca. 600 Gottesdienst-besuchern in einer gemieteten Lagerhalleam Quai d’Austerlitz traf, musste aufgrundschwindender Besucherzahlen und ab-nehmender Dynamik die Räumlichkeitenaufgeben und trifft sich heute mit knapp90 Personen in einem kleinen Saal in derNähe von La Defense (also keineswegs sozentral wie ehemals). Eine vergleichbareEntwicklung ist, wenn auch in unter-schiedlicher Intensität, in allen Gemein-den Christi zu beobachten. An dem Zer-fallsprozess konnte auch der Versucheiner Neustrukturierung der Füh-rungshierarchie nichts ändern. So ist mandazu übergegangen, verstärkt einzelneEntscheidungsträger durch dem Konsens-prinzip verpflichtete Führungsgremien zuersetzen, um die Legitimationsbasis derEntscheidungen zu erhöhen. So wurdebeispielsweise McKean in seiner Positionals führender Evangelist in Los Angelesdurch ein Gremium von Evangelisten er-setzt, die gemeinsam Entscheidungen tref-fen sollen.4 Auch in der Gemeinde inBerlin scheint der ehemalige Leiter JesseDean Farmer von nunmehr drei Gemein-deleitern abgelöst worden zu sein. Den-noch bleibt auch im Rahmen der Kon-sensfindung die Frage offen, wer dieFührungspersonen auswählt und wie letzt-endlich ein Konsens gefunden wird. McKean betonte in seiner Rücktrittser-klärung, die Lehren der ICOC seien nicht

in Frage gestellt, Grund seines Rücktrittsseien lediglich persönliche Verfehlungenund Ungehorsam.5 Damit jedoch hält ersich gleichzeitig eine Tür offen, in eineFührungsposition zurückzukehren, wenner seine Verfehlungen aufgearbeitet hat.6Ebenso verhält es sich mit anderenFührungspersonen aus der McKean-Ära.Die Frage, die sich aufdrängt, ist aber, wieviel Reue wert ist, die keine spürbarenKonsequenzen nach sich zieht. Logische,für Leidtragende und Außenbetrachternachvollziehbare Konsequenzen wärenzum Beispiel der dauerhafte Verzicht aufFührungspositionen, ein Kürzertreten in finanzieller Hinsicht und das Bemühenum nachhaltige Veränderungen derMachtstruktur, u.a. indem Kontrollmecha-nismen installiert werden nach einemPrinzip der „checks and balances“, dassich schließlich auch in anderen Berei-chen menschlichen Zusammenlebens be-währt hat. Es hat jedoch den Anschein,dass es beim bloßen Eingeständnis voneigenen Fehltritten bleibt und die Leidtra-genden der McKean-Ära sich mit einerwenig folgenreichen Entschuldigung be-gnügen müssen.Zwar ist der nun eingeschlagene Weg(und auch die Wortwahl) vorerst modera-ter, wird in den meisten Gruppen z.Zt.Jüngerschaft nicht mehr an die Unterord-nung unter eine Person geknüpft, wird aufeinen zeitlichen Plan für die Evangelisa-tion verzichtet und ein größeres Maß anToleranz gegenüber anderen Gemeindenin Aussicht gestellt. Doch bleibt abzu-warten, in welcher Weise das Jünger-schaftsverständnis und die Taufpraxis sichverändern, inwiefern die Veränderung desersteren auch eine veränderte Taufpraxisnach sich zieht. Bisher jedenfalls trat derFall noch nicht ein, dass jemand als Mit-glied in die ICOC aufgenommen wurde,ohne erneut getauft worden zu sein. Es istjedoch evident, dass eine Gruppe, deren

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Identität auf ihrem Verständnis von Jün-gerschaft fußt, dieses nicht aufgebenkann, will sie das eigene Fortbestehensichern. Jüngerschaft bleibt in der ICOCalso klar definiert, ist an Bereitschaft zuOffenheit, Unterordnung und Missionie-rung, an finanzielle Opferbereitschaft undein „wörtliches“ Schriftverständnis ge-knüpft. Auch in neuen Formen, leichtveränderten Strukturen und mit guten Vor-sätzen bleibt die Gefahr des Missbrauchsund der Ausbeutung der Mitglieder beste-hen, kann Jüngerschaft leicht mit Druckund Einschränkung von Freiheit und Indi-vidualität einhergehen. Ein Zeichen echter Bereitschaft, Konse-quenzen aus den Erfahrungen der Mc-Kean-Jahre zu ziehen, wäre zum Beispieldas Wiederanbahnen von Beziehungenzu den traditionellen Gemeinden Christisowie die Integration in Aktivitäten derÖkumene. Auf ein solches Zeichen dürfenwir fürs Erste gespannt hoffen. Bis dahinbleibt Skepsis angesagt.

Anmerkungen

1 „Bejüngerung“ entstammt der Terminologie derICOC Mitglieder.

2 In diesem Zusammenhang sind zu nennen: GordonFurguson, Golden Rule Leadership, Januar 2002,unter https://www.dpibooks.org/Main.asp, undHenry Kriete, Honest to God, Oktober 2003, unterhttp://www.reveal.org/.

3 In Frankreich bekannt unter „Eglise du Christ deParis“. Es handelt sich durchweg um Personen, diebereits unter McKean Führungspositionen besetz-ten. „With the autocratic McKean gone, leadershipnow is in the hands of 10 elders ruling by consen-sus. One is Al Baird, longtime spokesman for theICOC in Los Angeles.“ Vgl. http://www.cultsoncam-pus.com/newsonicoc13.html.

4 „My leadership in recent years has damaged boththe Kingdom (ICOC) and my family... I take full res-ponsibility for how my sins have spiritually weak-ened and embittered many in our churches.“

5 Er hat z.Zt. bereits eine Führungsposition in derChurch of Christ in Portland inne, die sich in Geg-ner und Befürworter seiner Lehren gespalten hat.Vgl. dazu: http://www.reveal.org/.

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ERWECKUNGS- UND ERNEUERUNGSBEWEGUNGEN

Jesus-Begeisterung auf der Straße. (LetzterBericht: 7/2000, 253f) Am 11. Septembernahmen ca. 40 000 Christinnen und Chris-ten am Jesus-Tag 2004 in Berlin teil, zudem ein Gebetsmarsch, ein Gottesdienstam Brandenburger Tor und zahlreiche Ak-tivitäten unter dem Motto „Wege in dieStadt“ gehörten. Zusammengekommenwaren erwecklich geprägte Christinnenund Christen aus evangelischen Lan-deskirchen, Freikirchen, der katholischenKirche, der Pfingstbewegung und ver-schiedenen charismatischen Zentren undInitiativen zum gemeinsamen Feiern,Beten und Handeln. Was katholische undevangelische Charismatiker, Pfingstler undRepräsentanten der Deutschen Evangeli-schen Allianz miteinander verbindet, istihre Jesus-Begeisterung. Sie brachten dieseauf Plakaten, in Gebeten, in Aktionen, inmissionarisch-evangelistischen Projektenzum Ausdruck. In Gebeten gedachten sieu.a. der Opfer des Terrorismus vom 11.September 2001. Ansonsten erinnerte derJesus-Tag an Kirchentage und Christival-Veranstaltungen. Für viele hatte die Ver-anstaltung auch Eventcharakter.Beim Jesus-Tag 2004 gingen evangelikaleund pfingstlich-charismatisch geprägteChristinnen und Christen gemeinsam aufdie Straße und in die Öffentlichkeit derHauptstadt. Sie artikulierten dabei ihrebesondere Form der Frömmigkeit, für dieu.a. charakteristisch ist: die persönliche Er-fahrung von Glaube und Bekehrung, dasintensive Bewusstsein der Zusammenge-hörigkeit aller Glaubenden, die Bereit-schaft zum persönlichen Engagement inEvangelisation und Mission, das intensiveLeben mit der Bibel. Für Charismatiker

INFORMATIONEN

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und Pfingstler kommen greifbare Zeichendes Berührtwerdens von göttlicher Kraftnoch hinzu: Zungenrede/Sprachengebet(eine enthusiastische Gebetssprache), Hei-lungen, Visionen, prophetische Ein-drücke... Vor allem außerhalb Europas, inAfrika, Asien, Südamerika stößt dieserFrömmigkeitsstil zunehmend auf Reso-nanz und ist zu einer zentralen Ausdrucks-form des Protestantismus geworden. Auchin Deutschland haben Evangelikale undCharismatiker an Gewicht gewonnen. Daihnen insbesondere die Kommunikationmit jungen Menschen gelingt, werden sieauch in Zukunft das christliche und kirch-liche Leben mitbestimmen und heraus-fordern. Der Jesus-Tag verdeutlichte die seit eini-gen Jahren gewachsenen Koalitionen undAllianzen zwischen Pfingstlern, Charis-matikern und Evangelikalen. Ihre Zusam-menarbeit wird selbstverständlicher. DieTüren zwischen pentekostalen und evan-gelikalen Strömungen sind offener gewor-den. Evangelikal geprägte Christen beteili-gen sich an der Lied- und Lobpreiskulturder charismatischen Bewegung. Pfingstlerund Charismatiker nehmen ihre spezifi-schen Anliegen und Themen wie Heilung,Prophetie und Zungenrede zurück undverbünden sich mit Evangelikalen vorallem im Zusammenhang von missionari-schen Projekten. Gleichzeitig bleiben aufbeiden Seiten auch Vorbehalte bestehen.Manche Evangelikale haben den Eindruck,zunehmend „pentekostalisiert“ zu wer-den, ein Eindruck der sich in globaler Per-spektive kaum entkräften lässt. Charis-matiker und Pfingstler fürchten, ihrenthusiastisches Profil zu verlieren. Diefrühere Jesus-Marsch-Bewegung war frag-los radikaler, in ihren Sprachformen mili-tanter, in ihrer theologischen Ausrichtungfragwürdiger, in der Öffentlichkeit umstrit-tener. Beim Jesus-Tag wurden aus denSprachformen der geistlichen Kriegfüh-

rung und dem Kampf mit Geistern und Dä-monen Fürbittengebete. Viele Teilnehme-rinnen und Teilnehmer werden den Jesus-Tag allerdings nach wie vor als Jesus-Marsch verstehen. Der Leiterkreis sorgtedafür, dass im Programmheft, beim Gottes-dienst, bei der Verdeutlichung der Zieledes Jesus-Tages eine unanstößige und ver-ständliche Sprache gesprochen wurde undauf umstrittene Themen, die bei früherenJesus-Märschen eine große Rolle spielten(prophetische Proklamationen, endzeit-liche Selbstdeutungen, Hervorhebunggöttlichen Handelns mit Deutschland ...),verzichtet wurde. Weitere Abgrenzungenund Unterscheidungen traf man allerdingsnicht, weder bei Zulassung der Stände aufder Messemeile noch im Programmheft, indem für den bunten Markt charismatischerMöglichkeiten und Unmöglichkeiten ge-worben wird, so beispielsweise für „Hei-lungsfeldzüge“ von Benny Hinn.Eine durchaus offene Frage ist, inwiefernein Gebetsmarsch mit seinen Transpa-renten und Bannern und der Sprache, dieauf ihnen gesprochen wird, geeignet ist,das Evangelium in den heutigen säkularenund gleichzeitig multireligiösen Kontextzu kommunizieren. Die goldene Krone,die getragen wurde, die zahlreichen is-raelischen (!) und deutschen Fahnen, diegold- und silberfarbenen Flaggen und Ban-ner riefen nicht nur Zustimmung, sondernauch Irritation hervor. Die demonstrativeSolidarität mit Israel ist durchaus be-grüßenswert. Zu fragen ist jedoch: Mitwelchen Kräften in Israel verbündet mansich und welche endzeitlichen Erwartun-gen bilden den Hintergrund des Israel-engagements vieler Charismatiker? Ist dasIsraelengagement mit einer erkennbarenfriedensethischen Perspektive verbunden?Jesus-Begeisterung ist in dem Maße hilf-reich für das allen Christen aufgetrageneZeugnis ihres Glaubens, in dem sie ver-bunden bleibt mit einer ganzheitlichen

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Zuwendung zum Menschen, der Achtungder christlichen Tradition und der Einsicht,dass missionarische Praxis und die Suchenach ökumenischer Gemeinschaft zusam-mengehören. Die Verantwortlichen des Je-sus-Tages waren offensichtlich darum be-müht, ihr christliches Zeugnis für fröm-migkeitsmäßig anders geprägt Christinnenund Christen zustimmungsfähiger auszu-sprechen als dies bei früheren Jesus-Märschen der Fall war. Dies kam u.a. imGottesdienst am Brandenburger Tor zumAusdruck.

Reinhard Hempelmann

INTERRELIGIÖSER DIALOG

Bioethik im interreligiösen Dialog. (Letz-ter Bericht: 10/2004, 390) Am 1. Septem-ber 2004 veranstaltete die Konrad-Ade-nauer-Stiftung in Berlin eine Tagung zumThema „Bioethik im christlich-islamischenDialog“, die christliche (überwiegendkatholische) Theologen und islamischeGelehrte ins Gespräch miteinanderbrachte. Diese Tagung war insofern er-freulich, als sie von der Fixierung auf dieimmergleichen theologischen oder zivil-gesellschaftlichen Themen des Dialogswegführte und ein wichtiges Thema ausder öffentlichen Debatte aufgriff, das zu-gleich auch direkte politische Dimensio-nen aufweist. Zwei wichtige Einsichtendurchzogen die Veranstaltung: die Argu-mentationszusammenhänge sind unter-schiedlich und im Islam immer im Blickauf die Rechtstradition entwickelt,während die (katholische) Kirche sich aufArgumentationsmodelle aus der kirchlich-philosophischen Tradition bezieht. Unmit-telbare „Schriftbeweise“ sind in der Regelschwierig. Zweitens wurde deutlich, dassdie Argumentationsfronten eigentlichnicht zwischen den Religionen verlaufen,sondern quer durch sie hindurch. Für den

Islam konnte dies explizit aus den Beiträ-gen nachvollzogen werden (auch wennetliche muslimische Referenten verhindertwaren oder auf die Anfrage überhauptnicht geantwortet hatten), für das Christen-tum konnte es nur unterschwellig vermutetwerden, da aufgrund des katholischenÜbergewichts (abgesehen von korrigieren-den Hinweisen des einzigen evangeli-schen Referenten Klaus Hock) der Ein-druck einer „christlichen“ Position gegenfast alle biomedizinischen Möglichkeitenentstand (keine Empfängnisverhütung,keine In-vitro-Fertilisation, kein reproduk-tives oder therapeutisches Klonen etc.). Die katholische Grundposition erläuterteDr. Hans Langendörfer, Generalsekretärder Deutschen Bischofskonferenz. Lan-gendörfer unterschied zwischen der Schöp-fungssouveränität Gottes, die der Menschsich nicht durch Eingriffe am menschlichenLeben anmaßen kann, und der „Krea-tivität“ des Menschen in sonstigen wis-senschaftlichen und künstlerischen Berei-chen. Der türkisch-islamische ReferentProf. Hadi Adanali gab anschließendeinen Einblick in die komplizierte Lage derislamischen Entscheidungsfindung, diemindestens im sunnitischen Bereich keinautoritatives Lehramt habe und deshalbunterschiedliche Positionen kenne, vonder strikten Ablehnung des Klonens bis hinzu einer Befürwortung therapeutischenKlonens, das nicht auf (Re-)Produktionziele. Es gebe im sunnitischen Islam diePosition, den Beginn des Lebens ab demzweiten Schwangerschaftsmonat undnicht bereits ab der Zeugung aufzufassen,aber auch die radikale Ablehnungjeglicher Forschung mit Embryonen. Ähn-lich äußerte sich die tunesische Wis-senschaftlerin Prof. Sihem Bebabbi Mis-saoui, während die katholischen EthikerProf. Dietmar Mieth und Prof. EberhardSchockenhoff (Mitglied der NationalenEthik-Kommission) noch einmal einen Ein-

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blick in die (mutmaßliche) Rationalität derkatholischen, bereits von Langendörferreferierten Positionen gaben. Der interreligiöse Dialog erhielt mit dieserTagung, die im Rahmen einer Reihe derKonrad-Adenauer-Stiftung zur Bioethikstand, eine neue Dimension. Klaus Hockhat in seinem Beitrag die verschiedenenMöglichkeiten und Aspekte des Dialogsaufgeblättert: Neben den beliebten The-men der religionsinternen Verständigung,der Toleranz, der Religionsfreiheit etc.wird es zunehmend wichtig, Themen ausverschiedenen Wissenschaftsbereichenaufzugreifen und unterschiedliche re-ligiöse Argumentationen authentischerVertreter religiöser Traditionen miteinan-der ins Gespräch zu bringen. Zu ergänzen bleibt noch: Das Judentumvertritt in diesem Zusammenhangmöglicherweise die liberalste Position, in-dem nach jüdischer Auffassung das Lebenmit der Geburt beginnt und daher in derForschung mit Embryonen der erhofftemedizinische Nutzen über potentielleNachteile gestellt wird. Der Buddhismusbetrachtet zwar Leben als Kontinuum undinsofern bereits als Merkmal des Embryos,sieht aber die verbrauchende Forschungmit Embryonen als Verletzung des Gebotsder Gewaltfreiheit. Im Hinduismus wirdzumeist der Lebensbeginn auf dieEmpfängnis datiert, jedoch in IndienForschung an Embryonen aus medizin-politischen Gründen in den ersten 14Tagen zugelassen. Diese Positionen undArgumentationen wurden in den Verhand-lungen der Nationalen Ethikkommissionzur Kenntnis genommen.

Ulrich Dehn

PERSONALIA

Zum Tod von Elisabeth Kübler-Ross. Dieinternational bekannte SterbeforscherinElisabeth Kübler-Ross ist am 24. August imAlter von 78 Jahren in ihrem Haus im US-Bundesstaat Arizona verstorben. „Sterben– das ist, wie wenn man bald in die Ferienfährt. Ich freue mich unheimlich“, hatte sieeinmal geäußert. Den Tod hatte sie inzahlreichen Publikationen, Vorträgen undInterviews als eigentlich gar nicht existentdargestellt. Andererseits hatte eine ihrerDrillingsschwestern über die schon langeschwerkrank Darniederliegende in einerTV-Sendung gesagt, sie könne offen-sichtlich nicht recht „loslassen“. Daswürde zu manch anderen Berichten vonMenschen mit esoterischer Einstellungpassen, die den Tod immer wieder betontbagatellisieren und im Ernstfall dann dochvor ihm zurückschrecken.Das Verdienst der Ärztin, den ge-sellschaftlich vielfach von Furcht charak-terisierten Umgang mit Sterbenden durchAchten auf deren inneres Erleben zu er-leichtern, ja interessant zu machen, ist umdie Wende zu den 70er Jahren des vorigenJahrhunderts international gewürdigt wor-den – nicht zuletzt durch die Verleihungvon über zwei Dutzend Ehrendoktoraten.Nachdem sie ihrem Mann aus der Schweizin die USA gefolgt war und sich dort alsPsychiaterin qualifiziert hatte, erregtenihre Seminare über Sterben und Tod seit1966 gehöriges Aufsehen. Insbesondereder von ihr bevorzugte direkte Kontakt mitPatienten in der Sterbephase löste nebenmancherlei kollegialem Protest zugleichBegeisterung unter den Teilnehmern ihrerüberfüllten Seminare aus. Ein Tabu war ge-brochen, und bald schon hatte sich ihreengagierte Arbeit in weitesten Kreisenherumgesprochen. Ihr erstes Buch „OnDeath and Dying“ (1969, deutsch: „Inter-views mit Sterbenden“) machte sie zur

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Leit- und Symbolfigur der modernen Ster-beforschung. „Dem Tod ins Gesicht sehen“lautet denn auch ein Film über sie, der seitkurzem hierzulande als VHS-Video oderDVD zu haben ist.Eine Esoterikerin war sie ihrem Herkom-men nach keineswegs gewesen: „Ich binvon Natur her ein skeptischer Halbgläu-biger, um es noch gelinde auszudrücken.Als solcher interessierte ich mich nicht umdie Eventualität eines Lebens nach demTod. Doch gewisse Beobachtungen, diesich so häufig wiederholten, ließen mirkeine andere Wahl, als mich diesem Prob-lem zuzuwenden. Ich begann mich alsodamals darüber zu verwundern, warumsich noch niemand des Todesproblemsernstlich angenommen hatte, um es zu er-forschen, und zwar nicht aus bestimmtenwissenschaftlichen Gründen oder um beigerichtlichen Prozessen damit dienlichsein zu können, sondern ganz einfach ausnatürlicher Neugier.“Innerlich auf der Suche nach einer um-fassenden Definition des Todes, erfuhr siealsbald durch Krankenschwestern voneiner Frau, die schon etliche Male auf derIntensivstation dem Tode nur knapp ent-ronnen war. Erstmals interviewte sie da-raufhin nicht nur aufs Sterben erst geradeZugehende, sondern einen Menschen, dervon womöglich unmittelbarer Todesbe-rührung aus eigener Erfahrung berichtenkonnte. Jene Frau Schwarz war bereits für45 Minuten „klinisch tot“ gewesen undhatte währenddessen ihren Angaben zu-folge den Bemühungen der Wiederbele-bungsmannschaft über ihrem physischenLeibe schwebend zugesehen. Die Begeg-nung mit ihr bewegte und prägte die Ster-beforscherin tief. Aus Todesnäheerfahrun-gen solcher und ähnlicher Art erhoffte siesich Aufschlüsse hinsichtlich ihrer Fragenach dem inneren Wesen des Todes. ImUnterschied zu vielen anderen Thanatho-logen war sie bald schon überzeugt, die

sich seit damals rasant ausweitende Todes-nähe-Forschung habe „mit der Erforschungder Existenz nach dem physischen Tod zutun“. Nachdem ihr über 20000 Todes-näheerfahrungen bekannt gewordenwaren, war und blieb das Sterbeerlebnisfür sie „eine Geburt in eine andere Exis-tenz, die ganz, ganz einfach bewiesenwerden kann“.Auf diesem Hintergrund formte sich ihresoterisches Weltbild zunehmend aus, zudem auch der Glaube an Seelenwan-derung und ihr Bekenntnis zur New Age-Bewegung gehörten. Ihr einschlägigesBüchlein „Über den Tod und das Lebendanach“, das ein spiritistisch orientierterVerlag in hohen Auflagen in die esote-rischen Regale deutscher Buchhandlungenlieferte, wurde ein Bestseller. Der bezeich-nende Titel ihrer Autobiographie, 1997 zuihrem 70. Geburtstag erschienen, lautet„Das Rad des Lebens“. In diesem letztenBuch der Pionierin moderner Sterbe-forschung heißt es gegen Schluss: „MeineGeistführer haben mir erzählt, daß Um-wälzungen und Eroberungen von bibli-schen Dimensionen zu erwarten sind. Wiesollten den Menschen sonst die Augengeöffnet werden? Welchen anderen Weggibt es, um sie die Achtung vor der Naturund die Notwendigkeit der Spiritualität zulehren? So wie meine Augen die Zukunftgeschaut haben, so wendet sich mein Herzdenen zu, die zurückbleiben. Habt keineAngst! Es gibt keinen Grund dafür, wennihr euch ins Gedächtnis ruft, daß der Todnicht existiert.“ Stets ist sich die gebürtige Schweizerindarüber klar gewesen, dass nicht nurVertreter der empirischen Humanwissen-schaften, sondern auch Theologen ihreThesen angreifen würden. Gleichwohl hatsie indirekt Anteil daran, dass in dergegenwärtigen protestantischen Theologie– im angloamerikanischen Sprachraumwie in Europa – die lange Zeit vor-

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herrschenden Ganztod-Modelle zuneh-mend überdacht werden. Man besinnt sichwieder vermehrt darauf, dass sich neutes-tamentlich nicht nur die Auferstehungs-hoffnung, sondern ebenso der Unsterb-lichkeitsglaube begründen lässt (zumBeispiel Mt 10,28; 2. Kor 5,1; Phil 1,21.23;Joh 11,25f) – allerdings nicht humanwis-senschaftlich, sondern eben theologisch,ja christologisch, wie das schon MartinLuther betont hatte. So hat ElisabethKübler-Ross bei aller Kritikwürdigkeit ihrerExplikationen die Theologie von außen hermit daran erinnert, eigene spirituelleSchätze von hoher Bedeutung wieder-zuentdecken.

Werner Thiede, Erlangen

UNIVERSELLES LEBEN

Zum neuen Magazin „Das Reich der Rei-chen und Schönen“. (Letzter Bericht:3/2004, 115) Nur gut dreieinhalb Jahrewar die in das Umfeld des UniversellenLeben (UL) gehörende Zeitschrift „DasFriedensreich – Dein Reich kommt – DeinWille geschieht. Bete und Arbeite“ aufdem Markt (vgl. MD 2/2001, 75f). Ohnevorherige Ankündigung, dass man derenErscheinen einzustellen gedenkt, erhieltendie Abonnenten Anfang Septemberstattdessen die neue Zeitschrift „Das Reichder Reichen und Schönen“. Auch diesesMagazin mit dem Untertitel „DasSprachrohr der Denkenden“ gibt demLeser recht sperrige Anweisungen mit aufden Weg: „Bleiben Sie wachsam –Schauen und hören Sie – Treffen Sie freiIhre Entscheidung“. Im Layout sind beide Blätter einander ähn-lich; der Aufmacher der neuen Zeitschriftsignalisiert jedoch im Unterschied zu denvergleichsweise ansprechend gestaltetenTitelbildern der Zeitschrift „Das Friedens-reich“ – zumeist Naturaufnahmen – un-

missverständlich das Programm: Polemikund Provokation. Das erste Exemplar zeigt einen katholi-schen Geistlichen und wirbt in BILD-Zeitungsmanier mit der Schlagzeile: „Bi-schöfe zocken ab!“ Dass das neue Maga-zin sich als „zeitkritisch“ versteht und „dieZustände unserer Welt in provokativerWeise aufspießen“ will, wie es das Edito-rial forsch ankündigt, könnte den unbe-darften Leser noch auf eine spannendeLektüre hoffen lassen. Aber selbst dendürfte ernüchtern, was folgt. Man ist, umes höflich auszudrücken, konsterniert vonder dumpfen Polemik und Sprache desBlattes, das in schlichtester Schwarz-Weiß-Manier jedes, aber auch jedesRessentiment bedient: vom aufgelisteten„Privatvermögen der Queen“ – inklusiveder „bedeutendsten Briefmarkensamm-lung der Welt (mehr als 61 Mio. Pfund)“,über den 10 Millionen teuren Umbaueiner Herberge in ein behindertenge-rechtes Feriendomizil eigens – so wirdsuggeriert – für einen 14-tägigen Ferien-aufenthalt des Papstes, bis zu „Sex &Crime im schwedischen Pfarrhaus“. Unter dem Titel „Existenz-Angst inDeutschland“ greift das Magazin auch„Hartz IV“ auf. Mit Botschaften wie „DieMittelschicht stürzt ab“ wird allerdingswenig zur Versachlichung der Diskussionbeigetragen. Kaum verwunderlich, dassnatürlich auch bei diesem ThemaSchuldige schnell ausgemacht und Patent-rezepte zur Hand sind: „Die Kirchen sindimmer noch die reichsten Institutionen indeutschen Landen. Sie schröpfen jährlichden Staat um Milliarden, die ihm nun inder Arbeitslosenkasse fehlen. Wenn Pfarrerund Bischöfe ihre Gürtel enger schnallenwürden, hätte der Staat mehr Geld fürseine Bürger.“ Übrigens sind die be-mühten Zahlen vom vermeintlichenReichtum der Kirchen einem Buch vonCarsten Frerk entnommen. Im Jahre 2002

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hatte er über „Finanzen und Vermögen derKirchen“ berichtet. Das Buch ist jedochmit Vorsicht zu genießen und hat zahlrei-che handwerkliche Fehler. So werdenbeispielsweise die Rücklagen kirchlicherVersicherungen als Vermögen der Kirchedargestellt. Und ob sich der Kölner Domund andere „Besitztümer“ dieser Art als(bei Bedarf verkäufliche) Vermögensob-jekte beziffern lassen, darf bezweifelt wer-den – von den gewaltigen Erhal-tungskosten gar nicht zu reden. Es ist hiernicht der Ort, näher auf die Publikationvon Frerk einzugehen. Die neuerlichforcierte massive antikirchliche Polemikaus dem Umfeld des UL – mit der be-sprochenen Zeitschrift, mit großflächigenPlakaten und zahlreichen Broschüren –zeigt jedoch, dass die Kirchen auf FrerksUntersuchung deutlicher und vernehm-licher hätten reagieren sollen. SachlicheEntgegnungen sind zwar erfolgt, aber, danaturgemäß wenig medienwirksam, nurschwer zu finden. So dürfte die Polemikvorerst weitergehen.

Andreas Fincke

NEUHEIDENTUM

Trügerischer „Heidenspass“? Das „1.Berliner Heiden- und Hexenfest“ imSpiegel interner Kritik. Neue interessanteDetails über die Hintergründe und die Aus-einandersetzung im Vorfeld der BerlinerVeranstaltung vom 13. März 2004 (vgl.MD 6/2004, 216-219) sind im Internetpubliziert worden. Die im Folgendenwiedergegebenen Meinungen und Ein-schätzungen aus der Neuheidenszenebzw. der an der Durchführung maßgeblichbeteiligten Personen spiegeln die kontro-verse Diskussion wider. Zu den Organisatoren des ersten Heiden-treffens in einem Hinterzimmer einesMoabiter Restaurants zählten der Wed-

dinger Heidenstammtisch, die neuheidni-sche Gemeinschaft Eldaring sowie derOdinic Rite Deutschland. Im Nachgangder Veranstaltung schlugen die Wellenhoch: Auf den Internetseiten hagelte esStellungnahmen, Darstellungen undGegendarstellungen zum Verlauf diesesEreignisses. Dabei kommen auch unter-schiedliche Perspektiven einzelner Ver-treter zum Vorschein. Deutlich werdenauch die politisch motivierten Rich-tungskämpfe innerhalb der heterogenenNeuheidenszene. So sieht das Internet-Magazin der neuheidnischen Gruppierung„Rabenclan“ das Treffen, an dem etwa 50Personen aus unterschiedlichen Kreisenteilgenommen hatten, rückblickend „alsein Beispiel für die derzeitige Auseinan-dersetzung im Neuheidentum, ob Hexenund Heiden mit Ignoranz oder Zivil-courage gegenüber rechtsradikalen Um-trieben reagieren sollen“. Der ursprüng-lich vorgesehene Beitrag von VickyGabriel, die im thüringischen Arun-Verlag(Inhaber: Stefan Ulbrich) einige Bücherüber das neue Hexentum veröffentlichthatte, wurde von ihr kurzerhand zurückge-zogen. Wie Matthias Wenger, Mitglied derneuheidnischen Gruppen Rabenclan undSteinkreis, in seiner Version des Abends imInternet darlegt, hatte die „zeitgemäße In-terpretin heidnischer Religiosität“ den Ver-anstaltungsort kurz vor Beginn des Treffensverlassen. Wenger plante offenbar, an demAbend seine kritische Haltung zum Arun-Verlag deutlich zum Ausdruck zu bringen,da dieser „auch einige Texte rechter Prä-gung publiziert hat“. Dies wurde ihm je-doch von einem Vertreter der Pagan Fede-ration D.A.CH. verwehrt. Angeblich hätte– so der Vorwurf Wengers – auch VickyGabriel dies verhindern wollen, weil sie„ein absolutes Stillschweigen zum ThemaArun zur Bedingung ihrer Teilnahmegemacht hatte“. Dies weist die kritisierteneuheidnische Buchautorin auf einer an-

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deren Internetseite jedoch entschiedenzurück und schildert den Verlauf aus ihrerSicht: „In Berlin angekommen stellte sichjedoch – ... erst am Tag zuvor – heraus,dass innerhalb der Veranstalter Uneinig-keit bezüglich des Ablaufes der Veranstal-tung vorlag. Ein Teil der Veranstalter planteeinen Vortrag zum Thema Arun-Verlag,eine öffentliche Diskussion desselben sowiedie Verteilung von Flyern zu diesem The-ma. Darüber hinaus forderte man uns auf,öffentlich unsere Entscheidung, meine bzw. unsere Bücher vom Arun-Verlagpublizieren zu lassen, als Fehler dar-zustellen“ (vgl. www.eibensang.de/dagegen.html; 29.9. 2004). Am Ende spartVicky Gabriel nicht mit scharfer Kritik: „Zu meinem großen Entsetzen sehe ichkeinen Unterschied mehr zwischen denextremen Rechten und der extremenLinken oder auch den jeweiligen ge-mäßigten Lagern.“ Eigentlicher Stein des Anstoßes und letzt-lich Auslöser der Kontroverse im Vorfeldwar die Mitwirkung des Vertreters vomOdinic Rite Deutschland, Thilo Kabus.Kabus war von 1989 bis 1990 Vorsitzenderder NPD-Jugendorganisation Junge Na-tionaldemokraten und ist seit März 2004als Leiter der Presseabteilung der Fraktionder Deutschen Volksunion (DVU) im Land-tag Brandenburg tätig. Matthias Wenger,der eigenen Angaben zufolge Ende der1980er Jahre selbst ein „überzeugterRechter“ war, lernte ihn als „NPD-Aktivis-ten“ kennen. Kabus betreut im Internet dieSeite www.heidenspass.net und versichertin seinen Beiträgen, er selbst sei keinDVU-Mitglied. Dennoch betrachten ihnandere – wie etwa der Musiker DukeMeyer – als „Vertreter der DVU“, der dieVeranstaltung „nachträglich für seineZwecke propagandistisch auszuschlach-ten“ versucht (www.eibensang.de/mo-malt.html; 28.9.2004). Kabus indes wehrtesich gegen solcherlei Vorwürfe und ver-

weist in seinem Beitrag im Internetdiskus-sionsforum darauf, dass er als Presse-sprecher der DVU-Landtagsfraktion undNichtparteimitglied komplett weisungsge-bunden sei und daher von Seiten der Partei„auch einer besonderen Kontrolle“ unter-liege. Für Lucas Corso vom Rabenclanhaben die Auseinandersetzungen um dieRolle von Kabus im Blick auf das BerlinerHeidenfest auch ihr Gutes, da sie „in denjeweiligen Gruppierungen zumindest imnachhinein eine Diskussion über den Um-gang mit Personen wie Thilo Kabusangestoßen haben“. Eher vernichtend fällt hingegen das Fazitvon Matthias Wenger aus. Er berichtetdavon, dass die Unstimmigkeiten seineBeziehungen zu einem privaten Hexen-zirkel „dramatisch ruiniert“ hätten. Wen-ger geht mit der Berliner Heidenszene ins-gesamt ins Gericht und wirft ihr vor,lediglich „hochtrabende Pläne (zu) ent-werfen“, sich aber an deren praktischerUmsetzung nicht zu beteiligen. Seine per-sönliche Abrechnung gipfelt in der Be-hauptung: „Die politische Abstinenz unddas entsprechende Desinteresse der Szeneist so gravierend, daß es z. T. an Lernbehin-derung grenzt. Das Ergebnis besteht darin,daß es den meist versierten Aktivisten derrechten Szene leicht gemacht wird, sich zuprofilieren, oft auch unbemerkt“ (www.derhain.de/Heidenfest1303Reflektion.html; 28.9.2004). Mit anderen Worten: DieLufthoheit über die Heidenstammtischesoll nicht der extremen Rechten über-lassen bleiben. Hier stellt sich die span-nende Frage, ob und wieweit der eher„linksorientierte Flügel“ der Szene vondiesem internen Richtungskampf um dieEreignisse im Umfeld des ersten BerlinerHeiden- und Hexen-treffens wird profi-tieren können. Es bleibt abzuwarten, zuwelchen Konsequenzen die weitereDiskussion führen wird.

Matthias Pöhlmann

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Henri Nissen, Ein Gott, der Wunder tut.Ein Journalist untersucht die Heilungenim Dienst von Charles Ndifon, ASAPHVerlag, Lüdenscheid 2004, 240 Seiten,17,95 €.

Über den pfingstlerisch-charismatischenWunderheiler Charles Ndifon ist von demdänischen Journalisten Henri Nissen, dernach eigenen Angaben zur Zeit eine Teil-anstellung als Kommunikationsberaterbeim Lutherischen Weltbund im franzö-sisch-sprachigen Afrika wahrnimmt, einBuch erschienen. Es berichtet ausführlichüber die Wirkung „übernatürlicher Kräfte“durch den Heilungsdienst von CharlesNdifon. Die Fotografien des Buches zei-gen Menschen, die ihr en Rollstuhl verlas-sen, Blinde, die sehend werden, Perso-nen, die ihre Krücken gegen Rollerskateseintauschen, etc. Ndifons Versammlungenstellen den nach Heilung suchendenMenschen einen Gott vor, der „Wunderüber Wunder“ tut und dessen Handelnsich im Ungewöhnlichen und Übernatür-lichen manifestiert. Ndifon wird immerwieder in Aktion gezeigt: wie er die Bibelauslegt, vor einer riesigen Menschen-menge spricht, in Zeitungsberichten alsHeiler vorgestellt wird. Es wird darüberberichtet, dass skeptische Beobachter ihreWeltanschauung durch die Erfahrung ei-ner persönlichen Heilung plötzlich verän-derten. Ndifons Dienst ist ein weltweiter.Die spektakulären Heilungserfahrungenwerden aus Dänemark berichtet, aberauch aus den USA, Kanada, England, ausIndien, Simbabwe, Mexiko, den Philippi-nen. In der Zusammenfassung der 238-seitigen Schrift heißt es: „Und jeder, dereine dieser Veranstaltungen besucht, kannbestätigen, dass diese Wunderheilungen

wirklich passieren“ (225).„Wer ist dieser Charles Ndifon, der jetztKranke zu Tausenden heilt – und das an-scheinend unabhängig davon, wie schwerdie Krankheit ist?“ (225) 1969 wurde erals jüngstes Kind von 14 Geschwistern ge-boren. Seine Familie lebt in Süd-Nigeria.Seine Kindheit war geprägt durch denBiafra-Krieg. Er wuchs in einer Familieauf, die zur römisch-katholischen Kirchegehörte. Die christliche Tradition, die erkennenlernte, empfand er als kraftlos.Dann wurde er wiedergeboren, mit demheiligen Geist erfüllt und erfuhr die wun-derwirkende Kraft Gottes. „Nur zwei Wo-chen nachdem ich mein Leben Gott gege-ben hatte, wurde ich gebeten für einenblinden Mann zu beten – und er konntewieder sehen! Obwohl wir nur Teenagerwaren, gründeten wir kleine Gemeindenin den verschiedenen Bildungsstätten.Mehrere hundert Menschen wurden da-durch Christen, und viele wurden geheilt“(132). 1987 erlebte Ndifon eine Jesus-Vision und empfing dabei nach eigenenAussagen den Auftrag, das Evangelium zupredigen und sich nicht in Lehrmeinun-gen zu verstricken. „Ich werde mit dirsein“ sagte die Stimme zu ihm: „KeineKrankheit wird dir widerstehen können.Kein Dämon wird dir widerstehen kön-nen. Wenn du die Menschen davon über-zeugen kannst, an mich und mein Wortzu glauben, wird nichts unmöglich sein“(134). Auf diese Jesus-Vision führt Ndifon seinenDienst zurück. Den Worten des amerika-nischen Evangelisten Tommy L. Osbornentnimmt er den Auftrag, in die USA zugehen, um auch den Menschen dort zuzeigen, dass das Evangelium wirkt. 1991heiratet er eine junge Amerikanerin, die ineiner traditionellen Baptistenfamilie auf-gewachsen war, in der man „nicht glaub-te, dass Jesus auch heute noch heilt“(139f). Sie hatte ein gesundheitliches Pro-

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BÜCHER

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blem, da sie auf einem Ohr taub war. IhreMeinung über die göttliche Heilung ver-änderte sich in dem Moment, als CharlesNdifon „dem tauben Geiste [befahl], ausihrem Ohr herauszukommen und sofortkonnte sie hören“ (140). Seine Frau ist in-zwischen auch im Heilungsdienst tätig.Zusammen mit ihr leitet er die Organisa-tion Christ Love Ministries International,die ihren Sitz in den USA, im BundesstaatConnecticut, hat. Seit 2003 ist Ndifonauch von deutschen Charismatikern ein-geladen worden: u.a. nach Lüdenscheidvon der Freien Christlichen Jugendge-meinschaft (FCJG), nach Tübingen von derTübinger Offensiven Stadtmission (TOS),nach Berlin.Nissens Buch „untersucht die Heilungen“,die im Dienst Ndifons offenbar besonderszahlreich vorkommen. Der Anspruch, dieberichteten Heilungen untersucht zu ha-ben, weckt jedoch falsche Assoziationen.Denn von einer genaueren Prüfung kannnicht die Rede sein. Nissen schreibt seinBuch aus distanzloser Zustimmung zuNdifons Wirken. Er präsentiert die Ge-schichten erfolgreicher Heilungen ohnejede kritische Anfrage. Tief beeindruckt ister von dem ungetrübten Heilungsoptimis-mus Ndifons, der davon ausgeht, dass „Je-sus deine Heilung vor 2000 Jahren er-kauft“ hat und jeder sie durch einengroßen Glauben empfangen kann (161).In dem Buch wird am Rande zwar er-wähnt, dass nicht alle Menschen Heilungempfangen. Diesem Phänomen wird al-lerdings keine weitere Aufmerksamkeitgewidmet. Dagegen wird die Meinungaufgestellt, dass manche Menschen zwar„anfänglich“ nicht geheilt würden, einHeilungsprozess jedoch bald einsetzenwerde. Denn Gott wolle, „dass wir ge-sund sind“. Heil und Heilung seien zweiSeiten derselben Medaille (165). Nur einmal weist Nissen in seinem Buchdarauf hin, dass Ndifon vom Wirken

Tommy L. Osborns beeinflusst wurde(137). Dieser Hinweis erklärt freilich vie-les. Durch die Grundmuster der Heilungs-evangelisten, zu denen u.a. auch Perso-nen wie William Branham, Kathryn Kuhl-man, Oral Roberts, Tommy Hicks u.a.gehören, ist auch das Wirken Ndifons be-stimmt. Für ihre Versammlungen war cha-rakteristisch: Die Heilung wird demons-trativ eingesetzt. Sie gehört zu dem, wasGott allen Glaubenden verheißen hat.Krankheit ist nicht von Gott, sondern et-was Gegengöttliches, Dämonisches, vomTeufel Bewirktes. Krankheiten könnendurch den Glauben überwunden werden.Denn der Glaube ergreift von dem Besitz,das Gott gegeben hat. Die Hinführung zudiesem bedingungslosen und blinden (!)Glauben ist die zentrale Aufgabe der Hei-lungsevangelisten. Was gegenüber der Heilungsbewegungkritisch einzuwenden ist, gilt auch fürNdifons Dienst. Selbstverständlich ist esfür jeden Christen wichtig an einen Gottzu glauben, der Wunder tut. Zum christ-lichen Glauben gehört jedoch auch dieWahrnehmung der Vorläufigkeit und Ge-brochenheit christlichen Lebens. EineWahrnehmung und seelsorgerliche Verar-beitung von bleibenden Krankheiten undBehinderungen wird von Ndifon schlichtverweigert. Das christliche Gebet hat sei-nen Charakter als Bittgebet verloren. Voll-mundig kann Ndifon erklären, dass ernicht um Heilung bitte, sondern dass erheile, wie es die Bibel den Jüngern nahelege (153). Wenn Nissen den neuen Starder christlichen Heilungsszene angemes-sen und authentisch dargestellt hat, gibt esfür diesen kein Klagegebet mehr. Der lei-dende Mensch hat keinen Platz mehr inNdifons Gedanken. Die erzählten Hei-lungsgeschichten sind von einer er-schreckenden Unempfindlichkeit gegen-über der Theodizeefrage und Oberfläch-lichkeit in der Wahrnehmung mensch-

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lichen Leides bestimmt. Anders als in derBibel (vgl. das Hiobbuch oder den Psalter)wird hier dem kranken und leidendenMenschen keine Stimme verliehen undkein Recht zum Reden und zum Klagenzugestanden. Nur durch ihre jeweils zeit-lich begrenzten Auftritte ist es offenbarmöglich, dass von christlichen Geisthei-lern so viele wunderbare Geschichten er-zählt werden. Würden sie länger an ei-nem Ort bleiben, dauerte es nicht lange,bis der Schwindel ihrer Erfolgsgeschichtenfür alle sichtbar würde und Ernüchterungsich breit machte.Dass Verantwortliche aus der charismati-schen Bewegung Ndifon geistliche Auto-rität und Vollmacht zuschreiben, sagt et-was darüber aus, welche Relevanz dasCharisma der Unterscheidung in ihrenReihen hat. Die Wirklichkeit, von derlängst nicht alle, aber doch manche Cha-rismatiker und Pfingstler reden, ist nur fürsie selbst erkennbar, nicht für Außenste-hende. Das Pfingstlich-Charismatischescheint sich in der Pflege von Illusionenzu erschöpfen und Nissens Buch ist Teilderselben. Aus der Geschichte der Pfingst-bewegung hätte man lernen können, wel-che Frustrationen das vollmundige Auftre-ten der Heilungsevangelisten hinterlässtund wie zwecklos es ist, von Heilung zureden, wenn diese nur in der Phantasieexistiert. Der Streit des Paulus mit dem ko-rinthischen Enthusiasmus hat nichts, aberauch gar nichts an Aktualität eingebüßt.

Reinhard Hempelmann

Margarethe Ruff, Zauberpraktiken alsLebenshilfe. Magie im Alltag vom Mittel-alter bis heute, Campus Verlag, Frankfurta. M. 2003, 345 Seiten, 29,90 €.

„Das Volk zaubert doch!“ Mit dieserGegenthese beginnt die Ethnologin Mar-garethe Ruff ihr Buch „Zauberpraktiken als

Lebenshilfe“, in dem sie mit viel Freudezum Detail Beispiele von Volksmagie vor-wiegend aus der Zeit vom Mittelalter bisheute zusammengetragen hat, wobei dergeographische Schwerpunkt auf dem süd-deutschen, Vorarlberger und Tiroler Raum,also katholischen Gebieten, liegt. Ruffzeigt, dass Zauberei als Mittel zur Krisenbe-wältigung diente, vor allem in der mittel-alterlichen und frühneuzeitlichen, ländli-chen Gesellschaft, der es häufig an Ärzten,polizeilicher Gewalt und an Perspektivenim Allgemeinen mangelte. Neben diesempsychosozialen Ansatz wird untersucht, in-wieweit von der schriftlichen Überlieferungder Praktiken auch auf die tatsächlicheAusübung geschlossen werden kann,womit auch die Frage nach dem sozialenStatus der Praktizierenden verbunden ist.Wie fast alle Magiepraktiken wurde auchdas Wahrsagen von Obrigkeit und Kircheuntersagt, nicht zuletzt, um das eigeneProphezeiungsmonopol zu behaupten.Ruff rekurriert häufig auf das Verhalten vonKirche und Klerus und zeigt, dass Möncheund Priester selbst Zauberei ausgeübthaben. Daher ist es auch kein Wunder,dass das Volk oft christlichen Kult von ket-zerischer Magie nicht unterscheiden konn-te. Wie Priester Helfer in Krisensituationenwaren, so waren Wahrsager/innen volks-tümliche Psychologen/innen, die Ratschlä-ge zu fast allen Lebensbereichen parat hat-ten und weniger herangezogen wurden,um die Zukunft kennen zu lernen, sondernum gegenwärtige Probleme zu lösen.Bei der Untersuchung der Schadenzau-berei muss Ruff feststellen, dass hier dasVolk wohl doch nicht zauberte, sonderndie in der Überlieferung beschriebenenMagiearten hauptsächlich in den Köpfender Ankläger und Beschuldiger existierten.Schadenzauber diente den vermeintlichBetroffenen als Erklärungsgrund für Miss-erfolge und gleichzeitig festigte die Vertei-digung des christlichen Glaubens gegen

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Ketzer das Gemeinschaftsgefühl.Da Ärzte oft zu teuer oder gar nicht vorhan-den waren, war die Heilzauberei ein ver-breitetes Phänomen. Natürlich rief diesnicht nur ehrliche Heiler auf den Plan, son-dern auch Quacksalber, die durch spekta-kuläre Heilungen den Magieglauben nurnoch verstärkten. Als weiterer sozialer Me-chanismus kommt wohl auch in Betracht,dass durch die Hexenprozesse die Kenntnismagischer Praktiken vielfach überhaupt erstgrößere Verbreitung erfuhr. Zu den interes-santesten Stellen des Buches gehören dieFeldforschungsberichte der Autorin, in de-nen sie Heilerpersönlichkeiten aus unsererZeit kurz porträtiert, wobei sich u.a. her-ausstellt, dass die Befragten, die durchwegaus einfachen Verhältnissen stammen, nichtaus materieller Absicht handeln und teil-weise selbst darauf vertrauen, dass durchSuggestion die Selbstheilungskräfte der Kun-den aktiviert werden.Ebenfalls ausführlich werden die ver-schiedenen Hilfszauber dargestellt underklärt, zu denen auch der Liebeszaubergehört. Dies ist eine Methode der Lebens-bewältigung, die hauptsächlich Frauen inAnspruch nahmen, da sie durch Recht-losigkeit meist passiv bleiben mussten.Eine Männerdomäne hingegen war dieSchatzsucherei, die, angetrieben durchausweglose Armut, mittels Hexerei allerArt betrieben wurde.Das Buch glänzt vor allem durch dieakribisch zusammengetragenen Beispiele,die von einer längeren Forschungsarbeitzeugen. Gleichzeitig ist die Aneinander-reihung von Magieformen auch etwas er-müdend, was allerdings durch dieKurzweiligkeit einiger „Geschichtchen“wieder ausgeglichen wird. Auch wenn dieVerwendung des Magiebegriffs nicht im-mer ganz klar ist, lernt der Leser nicht nureiniges über Spatulamantie, Nestel-knüpfen und den Teufel im Glas, sondernauch über eine Methode zur Warzenbe-

handlung: Man spreche „bei einer Beerdi-gung: ‚Jetzt läutet es der Leich ins Grab,jetzt wasch ich meine Warzen ab.’ Dabeimuss man dreimal von oben nach untenüber die Hand streichen. Der Totebekommt dann die Warzen.“

Carla Botzenhardt, Berlin

Carla Botzenhardt, geb. 1981, Studentin der Re-ligionswissenschaft und Geschichte, Berlin, imHerbst 2004 Praktikantin der EZW im ReferatEsoterik, Okkultismus, Spiritismus.

Prof. Dr. theol. Ulrich Dehn, geb. 1954, Pfarrer,Religionswissenschaftler, EZW-Referent fürnichtchristliche Religionen.

Dr. theol. Andreas Fincke, geb. 1959, Pfarrer,EZW-Referent für christliche Sondergemein-schaften.

Dr. theol. Reinhard Hempelmann, geb. 1953,Pfarrer, Leiter der EZW, zuständig für Grund-satzfragen, Strömungen des säkularen und reli-giösen Zeitgeistes, pfingstlerische und charisma-tische Gruppen.

Hanna Münstermann, geb. 1981, Studentin derPolitologie und Ev. Theologie in Münster, imSommer 2004 Praktikantin der EZW im ReferatGrundsatzfragen, Strömungen des säkularenund religiösen Zeitgeistes, pfingstlerische undcharismatische Gruppen.

Dr. theol. Matthias Pöhlmann, geb. 1963, Pfar-rer, EZW-Referent für Esoterik, Okkultismus,Spiritismus.

Dr. Peter Schulte, Diplomsoziologe, Leiter vonkult & co tirol – Informations- und Beratungs-stelle des Landes Tirol zu religiösen und weltan-schaulichen Fragen.

Dr. phil. habil. Kocku von Stuckrad, geb. 1966,Religionswissenschaftler, seit April 2003 Assis-tant professor am Lehrstuhl für Geschichte derHermetischen Philosophie und verwandte Strö-mungen der Universität von Amsterdam.

PD Dr. theol. habil. Werner Thiede, geb. 1955,Pfarrer, lehrt Systematische Theologie an derTheologischen Fakultät der Universität Erlangen-Nürnberg.

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AUTOREN

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Herausgegeben von der Evangelischen Zentralstellefür Weltanschauungsfragen (EZW), einer Einrichtungder Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD),im EKD Verlag Hannover.

Anschrift: Auguststraße 80, 10117 Berlin Telefon (0 30) 2 83 95-2 11, Fax (0 30) 2 83 95-2 12Internet: www.ezw-berlin.deE-Mail: [email protected]

Redaktion: Andreas Fincke, Carmen Schäfer. E-Mail: [email protected]

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Druck: Maisch & Queck, Gerlingen/Stuttgart.

IMPRESSUM

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MAT

ERIA

LDIEN

ST Zeitschrift fürReligions- undWeltanschauungsfragen

67. Jahrgang 11/04

ISSN

072

1-24

02 H

542

26

Esoterik und Europäische Religionsgeschichte

Religiosität, Okkultismus, Satanismus –Ergebnisse einer aktuellen Jugendstudie aus Tirol

Die International Churches of Christ im Wandel?

Jesus-Begeisterung auf den Straßen Berlins

Zum Tod von Elisabeth Kübler-Ross

Evangelische Zentralstellefür Weltanschauungsfragen

EZW, Auguststraße 80, 10117 BerlinPVSt, DP AG, Entgelt bezahlt, H 54226

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