ewdd - etymologisches wörterbuch der deutschen dialekte

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Adel, adeln 1 Adel Sb m. „Jauche“ adeln swV „mit Jauche düngen“ Z: Das mda. Substantiv Adel „Jauche, Harn“ setzt eine vorurgermanische Abstraktbildung *h 3 od-tló- „Geruch“ > „Gestank“ fort, die genaue Entsprechungen in anderen germ. Sprachen hat. In Folge der vorgrundsprachlichen Vereinfachung der Doppeldentale vor Resonant wurde das Wort als -(a)lo- Bildung neu interpretiert und ist in das maskul. Genus übergegangen. B: Das Substantiv Adel „Mistjauche, Mistwasser, Harn“ ist innerhalb und außerhalb des thür. Sprachraums, in den benachbarten bairischen Mundarten sowie in mittel- und niederdeutschen Dialekten (Udolph 1994: 295ff.) verbreitet. Im Thür. ist das Wort nur um Heiligenstadt, Worbis, Zeulenroda, Greiz und verstreut um Nordhausen, d. h. im Nordwesten und Südosten des thür. Sprachgebietes, belegt (ThWb s.v. Adel). Neben dem Substantiv besteht ein denominales Verb adeln „mit Jauche düngen“ (vgl. Schmell I 26, DWb s.v. Adel). L: Eine lautliche Besonderheit von niederbair. )l ist die geschlossene Aussprache des Wurzelvokalismus (ThWb s.v. Adel), die durch die Wirkung des Kollmerschen Gesetzes (mhd. *atul > * (Rowley 1990: 68, Janka 2002: 202-212 mit weiteren Beispielen)) bedingt ist. Im Südostthür. ist hingegen die Vertretung von mhd. a zu oo in offener Silbe (vgl. südostthür. dr Bauer fährt Oodel af’s Fald, Greiz) durch keinen Umlautfaktor bedingt (Sp ThGr 62) und erlaubt keine Rückschlüsse auf dem Suffixvokalismus. In beiden Mundarten hat der Haupttonvokal dann Dehnung in offener Silbe erfahren, auf die Mittensilbenschwächung gefolgt ist (* > * l). Als letztes ist die zwischenvokalische Lenition des stimmlosen Okklusivs (> niederbair., thür. l, ) eingetreten (MhdGr 74ff., Sp ThGr. 181). M: Adel folgt der Flexion der starken Maskulina und ist aufgrund seiner Semantik – es handelt sich um ein Massennomen – ein Singulare Tantum. WB: Mda. Adel „Mistjauche, Mistwasser“ setzt das in drei frühmhd. Handschriften belegte Wort atel „Schlamm, Morast, schlammiges Wasser, (Summarium Heinrici, vgl. Tiefenbach 1980: 53, mit Literatur) fort, während bair. )l aus einer vorgeschichtlichen Variante mit Suffixwechsel ahd., mhd. *atul stammt. Das Nebeneinander der Suffixe -ala-/-ila-/-ula- bei geschlechtigen Substantiven und Adjektiven ist eine in den germanischen Sprachen häufig anzutreffende Erscheinung (weitere Beispiele in Schaffner 1996: 148ff. vgl. aisl. -áll : ae. awel : ae. awol „Gabel“ < *áhw-ala- : *agw-alá- : *agw-ulá-, oder got. slahals : got. slahuls „Raufbold“, ae. nihol :

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EWDD - Etymologisches Wörterbuch.

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Page 1: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Adel, adeln 1

Adel Sb m. „Jauche“

adeln swV „mit Jauche düngen“

Z: Das mda. Substantiv Adel „Jauche, Harn“ setzt eine vorurgermanische Abstraktbildung *h3od-tló-

„Geruch“ > „Gestank“ fort, die genaue Entsprechungen in anderen germ. Sprachen hat. In Folge der

vorgrundsprachlichen Vereinfachung der Doppeldentale vor Resonant wurde das Wort als -(a)lo-

Bildung neu interpretiert und ist in das maskul. Genus übergegangen.

B: Das Substantiv Adel „Mistjauche, Mistwasser, Harn“ ist innerhalb und außerhalb des thür.

Sprachraums, in den benachbarten bairischen Mundarten sowie in mittel- und

niederdeutschen Dialekten (Udolph 1994: 295ff.) verbreitet. Im Thür. ist das Wort nur um

Heiligenstadt, Worbis, Zeulenroda, Greiz und verstreut um Nordhausen, d. h. im

Nordwesten und Südosten des thür. Sprachgebietes, belegt (ThWb s.v. Adel). Neben dem

Substantiv besteht ein denominales Verb adeln „mit Jauche düngen“ (vgl. Schmell I 26,

DWb s.v. Adel).

L: Eine lautliche Besonderheit von niederbair. À�G�¸)l ist die geschlossene Aussprache des

Wurzelvokalismus (ThWb s.v. Adel), die durch die Wirkung des Kollmerschen Gesetzes

(mhd. *atul > *UWXO (Rowley 1990: 68, Janka 2002: 202-212 mit weiteren Beispielen))

bedingt ist. Im Südostthür. ist hingegen die Vertretung von mhd. a zu oo in offener Silbe

(vgl. südostthür. dr Bauer fährt Oodel af’s Fald, Greiz) durch keinen Umlautfaktor bedingt

(Sp ThGr 62) und erlaubt keine Rückschlüsse auf dem Suffixvokalismus. In beiden

Mundarten hat der Haupttonvokal dann Dehnung in offener Silbe erfahren, auf die

Mittensilbenschwächung gefolgt ist (*UWXO > *À �W¸l). Als letztes ist die zwischenvokalische

Lenition des stimmlosen Okklusivs (> niederbair., thür. À �G¸l, À�GO d) eingetreten (MhdGr

74ff., Sp ThGr. 181).

M: Adel folgt der Flexion der starken Maskulina und ist aufgrund seiner Semantik – es

handelt sich um ein Massennomen – ein Singulare Tantum.

WB: Mda. Adel „Mistjauche, Mistwasser“ setzt das in drei frühmhd. Handschriften belegte

Wort atel „Schlamm, Morast, schlammiges Wasser, XOLJR� VRUGHV� OLPL� YHO� DWTX� DWHO“

(Summarium Heinrici, vgl. Tiefenbach 1980: 53, mit Literatur) fort, während bair. À�G�¸)l

aus einer vorgeschichtlichen Variante mit Suffixwechsel ahd., mhd. *atul stammt. Das

Nebeneinander der Suffixe -ala-/-ila-/-ula- bei geschlechtigen Substantiven und

Adjektiven ist eine in den germanischen Sprachen häufig anzutreffende Erscheinung

(weitere Beispiele in Schaffner 1996: 148ff. vgl. aisl. -áll : ae. awel : ae. awol „Gabel“ <

*áhw-ala- : *agw-alá- : *agw-ulá-, oder got. slahals : got. slahuls „Raufbold“, ae. nihol :

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Adel, adeln 2

ae. niwel : ae. n owel : mndd. nygel „niedrig, kopfüber“ < *níhw-a/ula- : *nigw-ilá : *nigw-

alá- : *níhw-ala-). Das denominative Verb adeln ist von Adel abgeleitet wie handeln von

Handel (Fleischer/Barz 305ff.).

Egerm

: In den übrigen germanischen Sprachen sind die Entsprechungen von mhd. atel gut

bezeugt, mit Ausnahme des Gotischen und des Altsächsischen, wo das Wort wohl nur aus

überlieferungs- und textsortenbedingten Gründen nicht belegt ist: vgl. mnd. �GHO�H� neben

addel, eddel (< *-ila-) und, mit Dentalschwund und Kontraktion, �O�„garstige Feuchtigkeit,

Jauche“ (auch Kompositionsvorderglied in den Pflanzennamen Ahl-kirsche „Prunus padus,

Traubenkirsche“ nach dem fauligen Geruch des Holzes und der Rinde und Al-beere „Ribes

nigrum, schwarze Johannisbeere“ nach dem unangenehmen Geruch der Beeren, s. dazu

Marzell 1977: 1138f., 1364 ff. mit Belegen); mndl. adel, nndl. aal(t); nordfries. ethel

„Harn“, ostfries. adel(t), wangeroog. ¯GHO; ae. adel(a), Gen. adelan (sekundärer n-Stamm)

„Schmutz, schmutziger Platz“, auch komponiert in ae. DGHOV�Dð „cloaca“, me. adel(e)

neben addul, adle (pl.) Adj. „faulig, verwirrt“, ne. addle(d), schott. addill, addle „Urin“,

norw. dial. aale, dän. aile, dän. schwed. dial. adel, al, komponiert in schwed. koadel

„Kuhharn“, dazu auch das denominale Verb adla, ala „harnen“; das Substantiv ist auch in

Ortsnamen belegt, vgl. z.B. Ohlhof (Goslar); Adalahkewe (Freising); Addalahang

(Darmstadt); Alland (Niederösterreich); Adelath (Niederbayern); Ettelbrück (Luxemburg),

usw. Zu weiteren Formen und Belegen vgl. DWb s.v. Adel, EWA I 381ff., mit Literatur,

und Udolph 1994: 295ff., mit ortsnamenkundlichen Informationen. Alle Formen beruhen

auf einem geschlechtigen Substantiv urgerm. *Dÿ-ala-/-ila-/-ula- „Adel, Schmutz, Jauche,

Urin“, das sich bisher einer etymologischen Deutung entzogen hat (vgl. EWA I loc. cit.,

EWD s.v. Adel2 für die bisherigen Versuche; das Rekonstrukt *Dÿ-la- in EWA 1: loc. cit.

stellt mit Sicherheit nicht die unmittelbare Grundform dar, da die Gruppe *ÿO sich zu

urgerm. *ll entwickelt hätte).

Eidg

: Der traditionelle Anschluss an das ebenfalls etymologisch ungeklärte Substantiv gr.

¶QTRM „Mist, Kot von Tieren“ (EWA I loc. cit.) bereitet Schwierigkeiten, da die

zugrundeliegende Wurzel des griech. Wortes ein -n- aufweist, das im Germanischen nicht

vorhanden ist. Da die Wurzel verbal nicht belegt ist, ist die Annahme eines alten n-

Infixpräsens *h3-né-dh-t / *h3-n-d

h-ént völlig ad hoc. Ebensowenig ist eine n-Metathese

*Hodh-no- > *Hond

ho- beweisbar, da eine solche Lautentwicklung im Griechischen auf

alle Fälle nur sporadisch und nicht lautgesetzlich eintritt (vgl. gr. ÕÒ;ÅÙÏÃ�„Eingeweide“

<= *splakhna < *sp

h3�-E�h2 vs. ÍßÙÏÑÔ� „Lampe“ < *lukhno- < *luksno-). Nicht

weiterführend ist auch der Vorschlag von Udolph 1994: 296, der Adel mit apreuß. attolis,

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Adel, adeln 3

lit. atólas, lett. atãls „Grummet, jünges Gras“ vergleicht, ohne auf die lautlichen Details

einzugehen oder den angenommenen Bedeutungswandel wahrscheinlich zu machen. Die

baltischen Formen setzen jedenfalls ein urbalt. *at�OD�L- „Gras“ fort, das nur in einer

urgerm. Form *aþ/ÿÀOD- eine genaue Entsprechung finden würde. Diese lautliche

Abweichung könnte gewiss durch die Annahme der Wirkung des Dyboschen Gesetzes

(*aþÀOá- > *DÿDOD-, vgl. *suHnú- > urgerm. *sunu- (Schrijver 1991: 351-356, mit

Literatur)) erklärt werden, aber ein Bedeutungswandel „junges Gras“ > „Mistjauche, Harn“

ist nicht sehr naheliegend, und eine etymologische Deutung bliebe auch in diesem Fall aus

(zur balt. Sippe s. LitEW I 22).

Eine Etymologie des germanischen Wortes kann vielmehr von folgendem ausgehen: Die

Vorform *Dÿ-ala- ist aus älterem *DÿOD- vor der Assimilation *ÿO�> *ll umgestaltet, dem

die vorgermanische Vorform *Hotló- (mit Vernerschem Gesetz) zugrundeliegt. Aufgrund

der schon in der idg. Grundsprache wirkenden Vereinfachung zweier homorganer

Verschlusslaute vor unsilbischem Resonant (*VTTRV > *VTRV, vgl. *méd-tro- > *métro-

> gr. P|WURQ, *séd-tlo- > *sétlo- > ahd. sedal „Sitz“ (Schaffner 2001: 246)) wurde ein

neutrales Abstraktum idg. *h3ed-tló- „Geruch“ > „Gestank“ > (konkret) „Mistjauche“ (zur

Verbalwurzel *h3ed- „zu riechen beginnen“, LIV 296; zur Bedeutungswandel „Geruch“ >

„Gestank“ vgl. alb. amë „Duft, Aroma; Gestank“ < *h3od-máh2 „Geruch“, vgl. gr. ³GP�

„Duft, Geruch“ (Demiraj 76)) zu einem *h3otló- vereinfacht und dadurch etymologisch

opak. Im Urgermanischen konnte das Wort dann nicht anders als als -lo-Bildung

reanalysiert werden und wurde infolgedessen automatisch in die produktive Gruppe der

maskulinen -alo-Bildungen überführt (vgl. als Parallele ahd. stadal „Stehen, Stand“ <

*stáþla- m. <= *sth2-tlo- n. oder ahd. N¯O� „Spalter, Keil“ < *N¯ÿOD- m. <= *�e�H-tlo- n.

(über diese Formen vgl. Schaffner 2001: 144f.)). Die Endbetonung in *h3otló- ist regulär

für idg. Nomina Actionis auf -tlo-, vgl. Schaffner 2001: 177; eine Vernersche Variante

urgerm. *aþla- (mit Suffixwechsel; für diesen Ersatz bei germ. Nomina actionis auf *-ÿ5D-

vgl. Schaffner 2001: 179) ist nicht sicher auszumachen, da die mitteldeutsche Variante

adel entweder Lenition von ahd. *-t- aufweist oder ein niederdeutsches Lehnwort darstellt

(vgl. EWA I 381). Ein eventuelles westgerm. *aþlaz > ahd. *adal könnte außerdem von

ahd. adal „Geschlecht, Sippe“ verdrängt worden sein. Zugunsten einer Vorform urgerm.

*aþla- spricht aber der ON Ohlhof bei Goslar (Belege bei Udolph 1994: 297: Al, in Ole, in

Ale): Wie R. Möller bemerkt, „wäre der frühe -d-Ausfall auffällig“; wenn man aber von

*aþla- ausgeht, ist innerhalb des Paradigmas das Nebeneinander von dentallosen und

dentalhaften Formen völlig regelmäßig; in solchen Fällen ist eine Paradigmenspaltung ein

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Adel, adeln 4

trivialer Vorgang (d. h. Nom./Akk. Sg. *aþla(z) > *aþl d2 > ahd. *adal, *adl-, Gen. Sg.

*aþlas(a) > *ahlas, Dat. Sg. *aþlai > *DKO� => ahd. *ahal, *ahl-; vgl. das Nebeneinander

von ahd. as. mahal „Versammlung“ und ae. mæðel „id.“ (Schaffner 2001: 244f.)). Die

Existenz der Variante *aþlan => *aþ-la-z hat die Umgestaltung von *DÿODn

zu *Dÿ-ala-z >

mhd. atel > mda. Adel begünstigt.

Lit: B DWb s.v. Adel; Schmell I 26; ThWb s.v. Adel; Udolph 1994: 295ff.; L Janka 2002:

202-212; MhdGr 74ff.; Rowley 1990: 68; Sp ThGr. 62, 181; ThWb s.v. Adel; WB

Schaffner 1996: 148ff.; Tiefenbach 1980: 53; Egerm

Demiraj 76; DWb s.v. Adel; EWA I

381ff.; EWD s.v. Adel2; E

idg LitEW I 22; LIV 296; Marzell 1977: 1364 ff.; Schaffner

2001: 144f.; 177; 179; 244f.; 246; Schrijver 1991: 351-356; Udolph 1994: 295f.

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Ase, Asenbaum, Asenstange 1

Ase Sb f. „Ofenstange“

Asenbaum Sb m. „Trockenstange“

Asenstange Sb m. „Trockenstange“

Z: Thür. Ase swf. „Ofenstange, Darre“ (auch komponiert in Asenbaum „Trockenstange“) ist durch die

Kontamination eines urgermanischen substantivierten Adjektivs *ansa- „der Tragende“ > „Balken“

(zu lat. onus „Last“) und eines mlat. Lehnwortes frühmhd. �sine „Tragegestell“ < *„Esel“ entstanden;

die Bedeutungsspezialisierung auf „Ofen“ und „trocknen“ ist durch Assoziierung mit der german.

Wurzel *as- bedingt, die auf die Sippe von idg. *h2eh1s- „vertrocknen“ zurückgeht.

B: Das Substantiv Ase „Ofenstange zum Trocknen von Kleidungsstücken oder

Nahrungsmitteln; Brett zum Trocknen von Porzellanabgüssen; Darre“ ist vereinzelt neben

den Komposita Asenbaum und Asenstange(l) in thür. Mdaa. als [ousn] (östl. Itzgründ.),

>ÀV¸(n)] (Saalfeld, Schleiz, Lobenstein) [åosd¸]��V�GO��6FKOHL]��XQG�>ÀVG@��6FKOHL]��EHOHJW��vgl. z.B. auf de Ousn sänn vier Seck Kliäsama „auf der Darre sind vier Säcke Kleesamen“,

Sonneberg (ThWb s.v. Ase); im Bair. und Alemann. sind die Wörter As, Asen, Asem, Äsen

in der Bedeutung „Holzstangengerüst über dem Ofen (zum Trocknen), Darre“ weit

verbreitet, vgl. Schmell s.v. Âsen, Âsem, Âs; Âsenbâum „hölzerne[s] über dem Ofen

angebrachte[s] Gestell“, WBMÖ s.v. Äsen „Holzstangengerüst unter der Küchen- oder

Stubendecke oder über dem Stubenofen“, Schw Id s.v. Asen „hölzernes Gestell über dem

Ofen oder dem Herde zum Trocknen von Brennholz udgl.“. In schweiz. Mdaa. kennt man

die Varianten Asne, Asni, Asme, Hasme, Asle, Asli, Hasli, Rasle, Rasli, Rassle(r), 5�VL, bei

denen teilweise der Artikel durch Metanalyse vorne angetreten ist (→ L). Das Kompositum

Asenstange erscheint auch als Hosenstange und Ösenstange (→ WG). Die ersten Belege

für âse stammen aus frühmhd. Zeit: vgl. frühmhd. a sine „Gerüst, Gestell aus Holz oder

Eisen“ (Glossierung von lat. catasta, vgl. Gl. 2.744.2), mhd. a se Akk. a sen swf.

„Holzgestell oben an der Wand“, ebenso wie in den komponierten Formen vor-a se, vor-

a sene swf. „id.“, in dem oven und ûf der asen Jüngl. 414; ein âsen (Akk.) mit schîtern wol

geladen Kolm. 94,49; in wes kachelofen oder ûf wes vorâsen man nachts schîter vindet

Feldk. r. 96; alle die bachöfen, die in der stat sint, die suln blatten ald îsenvenster hân und

nit vorâsnen Zürch. rb. 33 (EWA I 364, Lexer s. vv. âse; vor-âse, vor-âsene). Außerdem

gibt es eine Variante a sel, Assel swf. „Holzgestell zum Trocknen, Darre“ mit auslautendem

-l schon ab dem Mhd.: ûf die âseln uber den hert (Kell. erz 355,26., vgl. Lexer s.v. âsel)

(→ WB).

M: Die Belege ousn, asen (D.Sg.) und asen (Akk.Sg.) deuten auf ein swf. Ase, G.Sg. Asen ,

der Beleg vorasnen (Akk.Pl.) auf ein swf. As(e)ne. (→ B).

Page 6: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Ase, Asenbaum, Asenstange 2

WB: Neben den Simplicia Ase und Asen sind Asel, schweiz. Asle, Asli bezeugt, die aber, wie

das Genus Femininum zeigt, keine Deminutive sein können (→ L). Zwei

Determinativkomposita sind Asenbaum und Asenstange mit den Varianten Ösenstange und

Hosenstange (→ WG).

L: Der lange Wurzelvokal des thür. Wortes /�VH�Q�� ist durch Dehnung von mhd. a in offener

Silbe entstanden (MhdGr 74ff.), wie die Varianten mit ursprünglichem Kurzvokal im Bair.

zeigen (WBMÖ 394f.: „[...] von Lexer 1, 101 [...] angesetztes mhd. âse mit â ist auf Grund

der Belege der altertümlichsten Mdaa. unhaltbar“). Der nicht umgelautete Vokal wurde in

den thür. Maa. regelmäßig verdumpft und gegebenfalls diphthongiert, daher erscheint ousn

im östl. Itzgrund., ÀV¸(n) und ÀVG im Südostthür. und åosd¸ im südl. Südostthür. Dies

entspricht der dialektalen Vertretung von mhd. � (< mhd. a in offener Silbe / �) im

Thüringischen (Sp ThGr 61ff., 98ff.). Die Formen mit auslautendem Nasal sind

Archaismen, wie die Varianten mit eingeschobenem -d- – falls nicht durch

volksetymologischen Anschluss an dt. Ast, vgl. bair. Astel „id.“, bedingt – indirekt

beweisen: Der Einschub des Okklusivs ist nur vor Nasal, aber nicht vor Vokal möglich (-

sn- > -sdn-). Alle thür. Dialektvarianten können auf ein älteres südostthür. *ÀVQ�H� zurückgeführt werden, das seinerseits durch Synkope des unbetonten Vokals aus *a sane,

einer Suffixvariante von frühmhd. a sine „Gerüst, Gestell aus Holz oder Eisen“, mhd. a se

Akk. a sen swf. „Holzgestell oben an der Wand“ entstanden ist, ebenso wie in den

komponierten Formen vor-a se, vor-a sene swf. „id.“ (→ WB). Die bair.-österreich. Wörter

mit Sekundärumlaut sprechen für verschiedene Suffixallomorphe in der Grundform, vgl.

bair. Äsen < *�VLQ¸ gegenüber thür. Ousn < *�VDQ¸. Die außerthüringischen mundartlichen

femininen Formen mit auslautendem -l- (→ B) sind, wie das Genus Femininum zeigt,

keine Deminutiva, sondern beruhen auf Konsonantenwechsel (WBMÖ 395) wie z.B. in

got. himins neben ahd. himil < *h2�emenó- „steinerner (Himmel)“ (s.a. Eidg). Bair. Däse

und Räsen sowie die alemann. Formen Rasle, Rasi (< die Äse, der Äsen) sind durch

Anwachsen von d- und -r des bestimmten Artikels aufgrund von Metanalyse entstanden,

wie z.B. in Nassel „Assel“ < ein Assel (WBMÖ 395, DWb s.v. Assel1).

WG: Das Kompositum Asenstange ist manchmal volksetymologisch umgestaltet worden zu

Hosenstange, weil unter anderem Kleidung auf dieser Stange getrocknet wurde; und

Ösenstange durch die äußere Gestalt bedingte Angleichung an Öse (vgl. ThWb s.v.

Ösenstange). – In den meisten Dialekten ist Ase etc. durch Darre oder gar durch die

semantisch durchsichtigen Komposita Trockengestell, -gerüst ersetzt worden.

Page 7: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Ase, Asenbaum, Asenstange 3

Egerm: Die mdaa. Wörter sind mit mhd. ansboum, ensboum „Brückenbalken“, aisl. áss m.

„(First-) Balken, Stange“, aschwed. �V�m. „Balken (einer Brücke)“ < urgerm. *ansa- (auch

ins Finnische früh entlehnt als ansas „Trage-, Stütz-, Spannbalken“) und got. ans*, D. Sg.

anza m. oder n. „Balken“ < urgerm. *anza- verglichen worden (AnEW 16, Lehmann 38,

Schw Id s.v. Asen, LägLOSpr. I 28, Schaffner 2001: 117f., mit weiterer Literatur). Ferner

wird auch dt. Assel „Balken“ (→ B) damit verbunden (DWb s.v. Assel2). Die in dieser

Gleichung stillschweigend angenommene Vertretung der Konsonantengruppe -ns- durch

dt. -(s)s- ist aber nicht möglich, da eine solche Assimilation nur im Alemannischen auftritt,

vgl. schweiz. J�V „Gans“. Der etymologische Anschluss an mhd. ansboum entfällt also

deswegen, weil im Ostoberdeutschen eine Form **Anse zu erwarten wäre, vgl. bair.

Ansbaum, Ensbaum < mhd. ansboum, ensboum wie in nhd. finster < ahd. finstar, nhd.

Fenster < ahd. fenstar oder nhd. Linse < ahd. linsa. Die Annahme einer Metathese von

mhd. *anse zu asne (DWb s.v. Assel2) wäre ebenfalls ad hoc ebenso wie eine Vorform f.

*DQVÀ, da die germanischen Vergleichsformen nur Genus Maskulinum aufweisen. In

diesem Fall wäre zudem der lange Wurzelvokalismus nicht erklärbar: Die Bedingungen für

eine Vokaldehnung liegen nicht vor, und außerdem müßte der Wurzelvokal eines

hypothetisch zugrundeliegenden urgerm. *DQVÀ aufgrund des Osthoffschen Gesetzes

ausschließlich kurz sein.

Die Konkurrenz von Formen wie mhd. ansboum, alem. Asnebaum und thür. Asenbaum

lässt sich hingegen ohne Schwierigkeiten durch volksetymologische Kontamination von

ansboum und frühmhd. a sine erklären (→ Eidg) .

Das Vorderglied von mhd. Wort ansboum, ensboum und die oben erwähnten Formen got.

anza (D. Sg.), aisl. áss sowie finn. ansas < urgerm. *ans/za- m. „Balken“ mit

grammatischem Wechsel haben sich bisher einer genauen etymologischen Deutung

entzogen.

Eidg: Die bisherigen Etymologien scheitern aus verschiedenen Gründen. So kann wegen

lautlicher Probleme lat. asser m. „Latte, Stange“ nicht aus *ans° entstanden sein, da die

Lautgruppe -ns- in der lat. Hochsprache erhalten blieb, vgl. lat. �QVLV „Schwert“ und lat.

FÀQVXO (alat. COSUL) mit Ausbleiben der littera-Regel bei nasalierten Vokalen. Semantische

Unvereinbarkeit spricht gegen die etymologische Verbindung von Ase etc. „Darre,

Trockengestell“ mit den Wörtern lat. �QVD f. „Griff, Henkel, Öse“, lit. �Và f. „Henkel,

Griff, Handhabe“, lett. ùosa, ùoss „Henkel“, apreuß. ansis „Kesselhaken“, die aus uridg.

*h2amh3-s-ah2 entstanden sind und zur Wurzel *h2emh3- „anfassen, packen“ (LIV 265f.)

gehören (vgl. LitEW 18). Außerdem sind diese Wörter mit got. ans* auch lautlich

Page 8: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Ase, Asenbaum, Asenstange 4

unvereinbar, da ein uridg. * h2amh3-s-ah2 zu got. **DPV�]À geführt hätte, vgl. got. mimz n.

„Fleisch“ < germ. *mimza- (Lehmann 256).

Die einzige aus lautlichen und semantischen Gründen vertretbare etymologische

Anknüpfung ist die mit der Wurzel *h1enh3- „eine Last bewegen, tragen“, die in lat. onus

n. „Last, Fracht, Ladung; Wagengepäck; Mühe, Beschwerde“ und ai. anas- n. „Lastwagen,

Troßwagen, Reisekarren“ < *h1énh3-os- sowie wohl in gr. ¶QRM� „Esel“ < *h1ónh3-o-

„Lasttier“ fortgesetzt ist (Janda 1999: 188; 194; 202, mit weiteren Beispielen). Die

germanischen Wörter stellen dabei thematische Adjektivableitungen des in lat. onus und

aind. anas- vorliegenden neutralen s-Stamms dar, d.h. *h1onh3-s-ó- „tragend“ > germ.

*anza- > got. ans*, mit optionalem Substantivierungsakzent *h1ónh3-s-o- „der Tragende“

> germ. *ansa- > aisl. áss „Balken“. Zum Ablautwechsel zwischen s-Stamm mit e-stufiger

Wurzel und thematischem Adjektiv mit o-stufiger Wurzel vgl. lat. collus (Plaut.), collum

(Cic.), dt. Hals < *kwólh1-s-o- *„der Drehende“ (Walde/Hofmann LEW 245) zu idg.

*kwélh1-os- „Drehung“ (gr. W|ORM� n. „Ende“ < *„Drehpunkt“). Während aber mhd.

ans(-boum) direkt germ. *ansa- fortsetzt, ist die umgelautete Variante ens(-boum) nach

mhd. mda. *äsen, bair. Äsen (→ L) umgestaltet.

Das später schwach flektierende Substantiv mhd. a se, a sen bzw. mda. asne / äsne usw. <

frühmhd. Wort a sine ist dagegen ein lateinisches Lehnwort aus mlat. asina „Eselin“, vgl. –

mit derselben semantischen Entwicklung – süd- und nordfrz. âne „Gestell“ < *as(i)na,

regg. azner „Hauptdachbalken“, span. asnas (Pl.) „Dachsparren“ (REW 57, EWA 364, mit

weiterer Literatur). Die Annahme einer Entlehnung erklärt sowohl den Wechsel zwischen

-n- und -l- im Auslaut der regionalen Varianten (→ B), vgl. lat. asinus, asina und got.

asilus, ahd. esil, als auch den Sekundärumlaut in mhd. mda. *äsen, bair. Äsen.

Die Spezialisierung der Bedeutung auf „Ofenstange zum Trocknen“ könnte aber durch

frühe Assoziierung mit mhd. esse f. „Feuerherd des Metallarbeiters“ zustande gekommen

sein, das über ahd. essa „id.“ < urgerm. *as-MÀ (EWAhd II 1161f.) auf uridg. *h2á(h1)s-�ah2

„Trocknerin“ mit Laryngalschwund durch Wirkung der Wetter-Regel wie in ahd. wetar <

*h2 e(h1)dhro- (Peters 1999: 447) zurückgeht. Eine semantische Parallele ist nhd. Darre

„Gestell zum Trocknen von Obst“ zum Verb dörren „trocknen“. Eine direkte Herleitung

von frühmhd. a sine aus der urgerm. Wurzel *as- „trocknen“ wie in WBMÖ 394f. ist

dagegen mit schwerwiegenden phonologischen und morphologischen Problemen behaftet:

Der Sekundärumlaut würde den Ansatz einer dehnstufigen Bildung urgerm. *�VLQÀ aus

einer schon in uridg. Zeit v�ddhierten Grundform *h2»h1senah2 (mit Ausbleiben der

Laryngalumfärbung gemäß dem Eichnerschen Gesetz, vgl. germ. *DKZÀ- „Wasser, Fluss“

Page 9: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Ase, Asenbaum, Asenstange 5

< *h2ákwah2 vs. *�Àwija- „Meer“ < *h2�Nwihó- (Darms 32f.)) erfordern, was wegen der

Anfangsbetonung und der fehlenden Ableitungsbasis morphologisch unhaltbar ist. Eine

german. V�ddhiableitung könnte andererseits erst nach Laryngalumfärbung und

Laryngalschwund erfolgt sein und hätte urgerm. *ÀV�]LQÀ�und nicht *�VLQÀ ergeben, vgl.

germ. *KÀQD- „Huhn“ zu *hana-n- „Hahn“ (Darms 1978: 122ff.).

Lit.: B EWA I 364, Lexer s. vv. âse; âsel; vor-âse, vor-âsene; Schmell s.v. Âsen, Âsem, Âs;

Âsenbâum; Schw Id s.v. Asen; ThWb s.v. Ase; WBMÖ s.v. Äsen; L DWb s.v. Assel1;

MhdGr 74ff.; Sp ThGr 61ff., 98ff.; WBMÖ 394f.; WG ThWb s.v. Ösenstange; Egerm

AnEW 16, DWb s.v. Assel2; Lehmann 38; LägLOSpr. I 28; Schaffner 2001: 117f.; Schw Id

s.v. Asen; Eidg Darms 32f.; 122ff.; EWAhd II 1161f.; EWA 364; Janda 1999: 188; 194;

202; Lehmann 256; Walde/Hofmann LEW 245; LitEW 18; LIV 265f.; REW 57; Peters

1999: 447; WBMÖ 394f.

Page 10: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

1

asten swV „sich abmühen, eine schwere Last tragen; sich beeilen“

abasten swV „sich abmühen“

nachasten swV „nachrennen“

asteln swV „eine schwere Last tragen; sich beeilen“

Z: Das in obdt. und mdt. Dialekten belegte schwache Verb asten (mit der Frequentativbildung asteln)

besitzt zwei miteinander nicht kompatible Bedeutungen („sich abmühen, eine schwere Last tragen“ vs.

„sich beeilen“), die auf zwei ursprünglich eigenständige Verben mit unterschiedlichen Etymologien

hindeuten. Die erste Quelle des Verbs ist das Substantiv Ast in der Bedeutung „Buckel, Schulter“, das

seinerseits ahd. ast „Ast, Zweig“ direkt fortsetzt; das daraus abgeleitete Verb bedeutete ursprünglich

„etwas Schweres auf dem Buckel tragen“, woher sich die Bedeutung „sich abmühen, schuften“

entwickelt hat. Das zweite Verb ist hingegen genauso wie mhd. hasten ein Lehnwort aus mndl. haesten,

aesten „sich überstürzen“, das seinerseits aus dem Altfranzösischem in einer Zeit entlehnt wurde, als

der anlautende Hauchlaut nur orthographisch, aber nicht sprachwirklich war. Das zugrundeliegende

afrz. Wort haste „Eile“ ist aus dem Westfränkischem entlehnt und setzt das urgerm. Abstraktum

*haifsti- „Heftigkeit“ fort (uridg. Wurzel *k’ehh

h2bh- „in (rascher) Bewegung sein“, vgl. ai. �UUbha-

„rasch“).

B: Das thür. Verb asten weist zwei verschiedene Bedeutungen auf: einerseits „eine schwere

Last tragen, sich abmühen, angestrengt arbeiten“, andererseits „sich beeilen, schnell

laufen“. Die erste Bedeutung ist verstreut im Nordostthür. (vgl. Merseburgisch da kannste

aber asten!), selten im südl. Ostthür., außerdem bei Wernigerode, Mühlhausen und Coburg

belegt (ThWb s.v. asten). Mit derselben Bedeutung ist auch das komponierte Verb abasten

bei Sondershausen und Zeitz bezeugt (ThWb s.v. abasten). Die zweite Bedeutung ist in

Bernburg, Sondershausen, bei Artern und in Zeulenroda bezeugt (ThWb s.v. asten). Neben

asten ist auch eine frequentative Bildung asteln mit beiden Bedeutungen in Sangerhausen

und Bernburg belegt (ThWb s.v. asteln). Das komponierte Verb südostthür. nachasten

(Greiz) weist hingegen nur die zweite Bedeutung auf, vgl. dr Wert kam mer schun met en

grußen Ruhrstacken nochgeast (ThWb s.v. nachasten). Das Verb asten ist mit beiden

Bedeutungen „schwer tragen, schwere Lasten (auf dem Rücken) tragen, schleppen; schwer

arbeiten“ sowie „sich beeilen, rennen“ auch in den benachbarten obersächsischen

Dialekten vorhanden, vgl. WosM 98. Die zweite Bedeutung ist außerdem auch in weit

entfernten Mundarten nachweisbar, vgl. schweiz.dt. asten, nachasten „streben, trachten

nach einem Ort oder Ziel, eilen“ (Küng Hilfrich astet und eilet nach Paris, 1548, vgl.

SchwId 576).

Page 11: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

2

M/WB: Thür. asten ist ein schwach flektierendes Verb, genauso wie die daraus abgeleiteten

Präfixbildungen ab- und nachasten (zu diesen Bildungen vgl. Lühr Nhd. 178ff.). Das Verb

asteln ist entweder eine deverbale Ableitung mit dem Suffix -el- (Lühr Nhd. 170) oder

eine Kreuzung von asten mit dem Synonym thür. achseln „eine Last auf den Schultern

tragen“ (ThWb. s.v. achseln), vgl. dazu die Synonyme thür. Astelstein und Achselstein

„Zaunpfahl aus Stein oder Beton“ (ThWb s.v. Achselstein).

Egerm1

: Die zwei verschiedenen Bedeutungen von asten sind durch Zusammenfall von zwei

ursprünglich unterschiedlichen Verben zu erklären. Mda. asten „sich abmühen, Schweres

auf dem Rücken tragen, angestrengt arbeiten“ ist eine denominale Ableitung aus dem

Substantiv thür. Ast m. n. „Zweig eines Baumes; Schulter, Buckel“ und bedeutete

ursprünglich „auf dem Buckel tragen“, woraus sich die Bedeutungen „schuften“ und

„Schweres tragen“ entwickelt haben. Eine semantische Parallele dazu bietet das thür. Verb

achseln „eine Last auf den Schultern tragen“, das ebenfalls eine denominale Ableitung aus

thür. Achsel „Schulter“ ist (vgl. auch hohe Achsel „verwachsener Rücken“, ThWb s.v.

Achsel). Zu dieser Benennungsmotiv vgl. noch it. sgobbare „schuften, angestrengt

arbeiten“ aus it. gobba „Buckel“ (Diz. De Mauro s.v. sgobbare). Die in vielen deutschen

Dialekten zu beobachtende Bedeutungserweiterung von Ast (dialektal auch Nast mit

Zusammenwachsen des unbestimmten Artikels aus ein Ast, vgl. DWB s.v. Ast) zu

„Buckel“ beruht auf der ursprünglichen Bedeutung von urgerm. *asta- m. „Auswuchs am

Baum, Ast, Zweig“ (Paul DtWb 55, EWA I 373f.), vgl. got. asts „Zweig“, ahd. as. mnd.

mndl. ast „Zweig; Arm eines Kreuzes“ (ae. ÀVW „Knoten im Holz“, ÀVWLJ�„rauh, knotig“,

mnd. ÀVW, mndl. oest, noest „Knorren, Stelle, wo ein Ast vom Stamm ausgegangen ist“ sind

jüngere V�ddhi-Ableitungen zu *asta-, vgl. Darms 1978: 237f.). Das Wort bezeichnete

ursprünglich nicht den Zweig an sich, sondern den Ansatz des Zweiges, d.h. den Punkt,

woraus der Zweig sprießt (< uridg. *h2/3o-sd-o- „Ansatz (am Stamm); Ast“, vgl. gr. åIRT, gr. lesb. õUGRT „Ast, Zweig, Schössling; Baum-, Stengelknoten“, arm. ost „Ast, Zweig“,

heth. hasd-uir (kollektiv) „Zweige, Reisig, Abfall“, vgl. EWA I loc.cit.). Uridg. *h2/3o-sd-

o- ist so ein thematisiertes präpositionales Rektionskompositum, das von der Präposition

*h2/3o- „bei, an, auf“ und der Verbalwurzel *sed- „sitzen“ (LIV 513f.) gebildet ist (zu

diesem Typ vgl. uridg. *ni-sd-o- „Niedersitz“ > „Nest“). Aus „Auswuchs am Baum“ hat

sich dann metaphorisch die Bedeutung „Auswuchs am Rücken, Buckel“ und schließlich

metonymisch „Schulter“ entwickelt.

Page 12: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

3

Egerm2

: Das zweite Verb asten „sich beeilen“ kann aus semantischen Gründen nicht zu asten

„schuften“ gehören und stellt ein Homonym davon dar. Das Wort ist eine dialektale

Variante von dt. hasten „sich überstürzen“ und weist im Vergleich zur standarddeutschen

Form Beibehaltung des ursprünglichen h-losen Anlauts auf. Wie schon längst bekannt (vgl.

EWD s.v. Hast, Pfeiffer EWD s.v. Hast, DWB s.v. Hast), handelt es sich bei hasten um ein

denominales Verb aus dt. Hast „aufgeregte Eile, Überstürzung“, ein durch

mittelniederländische Vermittlung aus afrz. haste ‚Eile’ (vgl. afrz. en haste „in Eile“, nfrz.

hâte) entlehntes Wort, das seinerseits ein Lehnwort aus urgerm. *haifsti- ‚Heftigkeit’ ist,

vgl. Gamillscheg 520. Das anlautende h- des altfrz. Wortes war zur Zeit der Entlehnung ins

Mittelniederländische stumm geworden und rein orthographisch. Das beweisen die

Varianten des Substantivs mndl. aeste�� ���VWH���QHEHQ�haeste und haest ‚Hast’ sowie des

Verbs mndl. aesten neben hasten, haesten, vgl. MnedWb 17, 19. Bei der Entlehnung ins

Mittelhochdeutsche (etwa 14. Jh., vgl. Pfeiffer EWD loc.cit.) wurden Substantiv und Verb

dann orthographisch richtig mit anlautendem Hauchlaut übernommen. In der vorwiegend

analphabeten mundartlichen Tradition wurde aber das Verb zuerst ohne Hauchlaut

gesprochen (thür. hasten ist eine späte Entlehung aus der deutschen Hochsprache). Durch

lexikalischen Zusammenfall mit dem schon vorhandenen Verb asten „schuften“ wurde

schließlich asten „sich beeilen“ in den mitteldeutschen Mundarten bewahrt.

Eidg

: Urgerm. *haifsti- „Heftigkeit, Streit, Anstrengung“ (vgl. got. haifsts* f. „Streit“, an.

heifst, heift, heipt „Haß, Rache“, ae. h¾st „Feindschaft“, vgl. IEW 542, AeEW 146, AnEW

217f., EWD s.v. Hast, Casaretto 517) ist ein -ti-Abstraktum zum verbal nicht belegten

Stamm urgerm. *heif(-s)-, vgl. dazu auch das Adjektiv urgerm. *haifstija- „heftig,

gewaltsam“ (> ae. h¾ste, afr. K�VW, ahd. heisti, mhd. heifte, heftec, nhd. heftig, vgl.

EWGPA 266f., EWD s.v. heftig) sowie die PN ahd. Heibo, as. +�ER und ahd.

Heibiscesbiunta (Lühr Skalden Egill 314). Die zugrundeliegende Verbalwurzel spätidg.

*k’ehh2bh- „in (rascher) Bewegung sein“ ist wohl auch in ai. �Ubha- „schnell, rasch“,

�Ubham (Adverb), �Ubhya- ‚rasch fahrend’ und �LEKUiP�(< *k’i(h2)bh-ró-, mit regelmäßigem

Laryngalschwund nach der „Wetter“-Regel) enthalten (gegen diesen Vergleich EWAia II

643). Es handelt sich dabei, wie auch das gegen uridg. Wurzelstrukturbeschränkungen

verstoßende Nebeneinander einer Tenuis und einer Media aspirata in der selben Wurzel

verrät (**T_Dh, vgl. dazu Szemerényi Einführung 90ff.), um die -bh-Erweiterung der

Wurzel *k’ehh2- „sich in Bewegung setzen“, die gr. MnQPWODL�„bewege mich“ < *k’ih2-nu-,

gr. Hesych 3. Sg. Aor. ML�VR� ��±MLPHqVR�<= 3. Pl. Aor. *k’ih2-Eto, und lat. FLHÀ „setze in

Page 13: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

4

Bewegung“ < *k’ih2-éhe/o- zugrundeliegt (LIV 346). Eine andere Erweiterung derselben

Wurzel (*k’ehh2gh- „in (rascher) Bewegung sein“) erscheint in ai. �¯JKUá- „rasch,

unverzüglich, schnell“ < *k’ih2gh-ró-, ai. �Ughrya- „hastig“ (EWAia II 642f.), ae. K¯JLDQ

„streben; sich beeilen; sich anstrengen“ (AeEW 160), russ. VLJDWv „springen, hüpfen“, russ.

VLJQXWv „id.“ und wruss. VLKDü „schreiten, große Schritte machen“ (Vasmer II 622, IEW

542f.).

Lit.: B SchwId 576; ThWb s.vv. abasten, asteln, asten, nachasten; WosM 98; M/WB Lühr

Nhd. 170, 178ff.; ThWb. s.vv. achseln, Achselstein; Egerm1 Darms 1978: 237f.; Diz. De

Mauro s.v. sgobbare; DWB s.v. Ast; EWA I 373f; LIV 513f.; Paul DtWb 55; Egerm2 DWB

s.v. Hast; EWD s.v. Hast; Gamillscheg 520; MnedWb 17, 19; Pfeiffer EWD s.v. Hast;

Eidg

AeEW 146, 160; AnEW 217f.; Casaretto 517; EWAia II 642f.; EWD s.v. Hast;

EWGPA 266f.; EWD s.v. heftig; IEW 542f.; LIV 346; Lühr Skalden Egill 314;

Szemerényi Einführung 90ff.; Vasmer II 622.

Page 14: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

1

Banse, Bansen Sb m. „Seitenraum im Erdgeschoß der Scheune“

Banse Sb f. „id.“

Bansel Sb f. m. „Seitenraum der Scheune; aufgeschichteter Getreidehaufen; kleine,

unbestimmte Menge“

bansen, banseln, bansnen swV „einen Haufen stapeln; bunkern; essen“

Z. Das mda. Substantiv Bansen m. (neben Banse f.) ‚zur Aufbewahrung von Getreide,

Stroh und Heu dienender Seitenraum im Erdgeschoß der Scheune’ setzt eine

vorurgermanische Abstraktbildung *bhónd

h-to- ‚Bindung’ oder ein Konkretum

*bhónd

h-s-o- ‚Gebundenes’ => ‚Korb; Krippe’ => ‚Scheune, Stall; Heuhaufen’ (zur

idg. Wurzel *bhend

h- ‚binden’) fort; das Wort ist mit aisl. báss ‚Stand im Kuhstall’,

got. bansts ‚Scheuer’, ae. bosig ‚Stall, Heuplatz über dem Stall’, ne. dial. boose ‚Kuh

oder Pferdestall’, ne. dial. boost, beust ‚(Krippe im) Kuhstall’, mnd. EÀV� ‚Viehstall’,

nnl. boes ‚Teil des Kuhstalls’, mnl. banst ‚runder Korb’, nordfr. buusem ‚Stall’ und

(mit ferner Bedeutung) afr. EÀVWD (D.Sg.) ‚Ehe’ verwandt.

B: Das thür. Wort Banse, -n m., f. bedeutet hauptsächlich ‘zur Aufbewahrung von Getreide,

Stroh und Heu dienender Seitenraum im Erdgeschoß der Scheune (auf einer Seite oder

beiderseits neben der Tenne liegend)’. Mit metonymischer Bedeutungsverschiebung

bezeichnet das Wort außerdem ‘Trennwand zwischen Tenne und Bansen im Erdgeschoß

der Scheune (zumeist aus Brettern, aber auch aus einer Lehmwand bestehend)’, wobei

wohl auch zugleich der gesamte Scheunenraum einbezogen ist (nur verstreut im westl. und

südl. Zentraltthür, selten im westl. Nordthür., Ilmthür., westl. Ostthür. und nördl.

Südostthür. belegt). Etwas seltener bedeutet Banse(n) ‘Getreideschober im Freien oder in

der Scheune’ (mittl. Nordthür., nördl. und östl. Nordostthür., nordöstl. und westl.

Zentralthür., Jena). Neben der Bedeutung ‘Heuhaufen’ (Ilmenau), auch speziell

‘Heuhaufen auf einem Reuter’ (Sonneberg), ist schließlich die Bedeutung ‘große Menge,

Haufen’ als allgemeine Mengenbezeichnung verstreut bezeugt, und zwar im Nordtthür.

(ohne N-Rand), Mansf. 1857, ob. Schwarza 1819, Sömmerda, Erfurt, Apolda, Gotha, vgl.

das is ja ä Bansen Zeich! (Apolda), äich hob heit n Bansen Wesch (Lobenstein),

vergangnen Winter hott’ me a Bansen Schniä (Erfurt), verstärkend in der Zwillingsformel

Hufen un Bansen (Mühlhausen), auch ‘Batzen, Klumpen, ein Stück weicher Masse’

(Gotha).

Page 15: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

2

Das Synonym thür. Bansel f. m. weist die ganze Bedeutungspalette von Banse(n) auf –

jedoch bedeutet nur das Mask. ‚im Freien oder in der Scheune aufgestapelter

Getreidehaufen’; außerdem hat das Wort die Bedeutung ‚kleine Menge, Handvoll’ (Hennb.

1855) [zu den Belegen vgl. ThWb s.v.]; das daraus abgeleitete schwache Verb banseln

‘Getreide, Stroh, Heu (die Ernte) in die Bansel einbringen’ (Gera, Schmölln GBr, baansel

Bad Salzungen 1888) ist auch komponiert als zusammenbanseln in Gebrauch.

Aus Banse ist hingegen das Verb bansen, bänsen direkt abgeleitet. Das Verb bedeutet ‘etw.

auf einen Haufen stapeln’ z. B. Holz, Kohlen, Stroh; Erntegut im Bansen fest einlagern;

(speziell) viel essen < *(Essen) bunkern, hineinschlichten’, vgl. se hotten nich schlacht

gebonst ‘viel gegessen’ Pößneck, se bansten’s in de Rippen ‘verzehrten eine Menge’

Sondershausen; von einer gutwilligen Person heißt es wenn keiner will, muß Teffel (Toffel)

banse Sömmerda, Merseburg; vgl. dazu einbanse(l)n, verbansen, vollbansen, zubansen;

‚Erntegut auf den Erntewagen schichten’ zumeist als Tätigkeit der Frauen, selt. nordöstl.

Got–Sömm–Mersb, °Grz Wil, auch ‘Kartoffelsäcke auf dem Wagen verstauen’ Merseburg

(vgl. aufbansen, hochbansen); im übertragenen Sinn ‘angestrengt arbeiten, sich plagen’

(nur Greiz). Zum Verb bansen gehört auch das Nomen Agentis Banser m. ‘Mann, der

Erntegut in den Bansen schichtet’ (Sondershausen 1862, HohenMölsen; Komponiert auch

als Strohbanser belegt).

Aus der n-stämmigen Variante Bansen ist schließlich das denominale Verb bansnen swV.

‚dass. wie bansen’ (Arnstadt, Arbsenstruh bansent sich schlacht Erfurt) abgeleitet [ThWb.

s.vv.].

Die Wörter Banse(n) und Bansel sind auch als Bestandteile von Determinativkomposita

häufig verwendet, vgl. z.B. Bansel-, Bansenblatt n., Bansenbleiche f., Bansenbrett n.,

Bansenlade f., Bansel-, Bansenschurz m., Bansenschutz m., Bansschiedel m., Bansel-, -ä-,

Bansenwand, f., alle ‚Trennwand zwischen Tenne und Bansen im Erdgeschoß der

Scheune’ zumeist aus Brettern, aber auch aus einer Lehmwand bestehend (zu weiteren

Synonymen vgl. ThWb s.v. Bansenwand); Bansenfeger m. ‘derber Stock, dessen Ende mit

einem Lappen umwickelt ist (→ WG); die beim Flegeldrusch zuletzt ausgedroschene

Garbe; Schnaps und Wurst, die von den Dreschern beim Abschluß des Flegeldrusches

verzehrt werden; Drescher, der beim Flegeldrusch den letzten Schlag ausführt u. deshalb

den Bansen ausfegen muß; leichtes Mädchen, Hure’; Bansengabel f. ‘kurzstielige

Reichgabel’; Bansengereine n. ‘Getreideabfall, der sich beim Flegeldrusch auf dem Boden

des Bansens ansammelt’; Banselhahn m. ‘fiktives Tier, nach dem man bei der Ernte jmd.

Page 16: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

3

schickt, um ihn zu veralbern’ (den Banselhohn holen Altenburg); Bansel-, Bansenwurst f.

‘Wurst, die angeblich in der zuletzt ausgedroschenen Garbe versteckt ist’ (als Scherz beim

Flegeldrusch muß sie von dem Drescher, der den letzten Flegelschlag ausführt [auch von

Kindern], gesucht werden; Eisenach: wer den letzten Schlag beim Flegeldrusch ausführt

hat die Banselworscht gefangt); Umtrunk und Essen nach dem Abschluß des

Flegeldrusches’ [zu weiteren Komposita vgl. ThWb. s.vv. Bans°].

Das Substantiv ist auch in Niederhessen bezeugt, vgl. hess. Bansen m. ‚aufgeschichteter

Haufen von Garben; Menge, große Anzahl’, Kassel (19. Jh.) Gebänze

‚Aufeinanderschichtung größerer Gegenstände, Holzstücke, Stroh- und Heubündel u. dgl.’

(zu weiteren Belegen aus dem Nieder- und Mitteldeutschen von der Küste bis Hessen-

Thüringen, dazu im ostmitteldeutschen Kolonialland, vgl. Lerchner 1965: 39f.).

M/WB: Die Substantive Banse m. und Bansen m. sind durch Paradigmenspaltung aus einem

schwachflektierenden mask. Substantiv Banse (direkte Kasus) / Bansen (oblique Kasus)

entstanden. Zweideutig ist hingegen die fem. Form Banse, da das Wort ein altes st. Fem.

auf -À- fortsetzen oder durch spätere Genusdifferenzierung direkt von Banse m. stammen

könnte, vgl. z.B. mhd. bin(e)z m. > nhd. Binse f., mhd. loh(e) m. > nhd. Lohe f. (Frnhd Gr

175). Der Nebenform Bansel (auch Bänsel) f. (m.) liegt eine alte *-LOÀ-Bildung zugrunde,

wie die umgelauteten Belege zeigen. Aufgrund der Bedeutungsspezialisierung der mask.

Variante zu ‚Getreidehaufen (im Freien)’ ist es allerdings möglich, dass Bansel (m.) durch

Sonantendissimilation aus Bansen herrührt und sekundär mit Bansel (f.) zusammengefallen

ist. Vgl. dazu z.B. die Ableitung Bänsling m. ‚Bansenwand’, die entweder eine -ling-

Ableitung von Banse darstellt oder direkt *bänsning < *bans(e)n-ing fortsetzt (zur

Dissimilation vgl. ON Prüfening / dial. Priefling < ahd. Bruueningun, vgl. Schwarz 1960:

48-49).

WG: Der Bansenfeger ist ein ‘derber Stock, dessen Ende mit einem Lappen umwickelt ist’

angeblich zum Ausfegen des Bansens, aber nur als Brauchtumsgegenstand, nach dem man

Kinder oder Neulinge beim Ausdreschen der letzten Garbe schickt, um sie zu veralbern;

auch nur als fiktiver Gegenstand, der vom Wirt, Kaufmann oder Nachbarn geholt werden

soll, an dessen Stelle aber ein mit Steinen gefüllter Sack bzw. eine Katze im Sack

mitgegeben wird (ThWb s.v. Bansenfeger).

Egerm

: Das mda. mitteldtsch. Substantiv Banse(n) m. ‚zur Aufbewahrung von Getreide, Stroh

und Heu dienender Seitenraum im Erdgeschoß der Scheune’ hat genaue Komparanda in

anderen germanischen Sprachen. Die Substantive aisl. báss m. a-St. ‚Stand im Kuhstall’,

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4

mnd. EÀV m./f. ‚Viehstall’, nnl. dial. boes m. ‚Teil des Kuhstalls’, bâskees ‚Bansenkiste’,

nordfries. buss¸m, (Sylt) buusem ‚Stall’ und ne. dial. boose ‚Kuhstall, Pferdestall; oberes

Teil des Stalls, wo sich das Futter befindet’ (Lerchner 1965: 39, mit Literatur) entsprechen

formal (bis auf die Stammbildung des altwestnordnischen Wortes) dem mitteldt.

Substantiv. Das ne. Wort setzt eine altenglische Form *EÀV�fort, die von der Ableitung ae.

EÀVLJ m. ‚Stall, Heuplatz über dem Stall’ vorausgesetzt wird. Wenn man für mda. Banse(n)

sekundäre Anfügung eines -n-Suffix annimmt, sind alle angeführten Wörter von einem a-

Stamm urg. *bansa- m. ‚Abteilung im Viehstall / in der Scheune’ herleitbar (Lerchner

1965: 38-41, Hill 2003: 159).

Neben den erwähnten Wörtern sind in einigen altgermanischen Sprachen auch -t-haltige

Bildungen belegt, vgl. got. bansts m. ‚Scheuer’ (i-St.), das einen alten i- oder a-St. fortsetzt

(vgl. Hill 2003: 158), ne. dial. boost, beust ‚Kuhstall, Krippe im Kuhstall’ und mnl. banste,

banst, baenst ‚runder Korb’. Semantischen ferner, aber trotzdem sicher zugehörig, ist der

u-stämmige afr. Dat. Sg. EÀVWD ‚Ehe’ (Lerchner 1965: 40f.). Das Nebeneinander von

Bedeutungen wie ‚Kuhstall’ einerseits und ‚Scheune, Scheuer’ andererseits ist ohne

Schwierigkeiten überbrückbar, da im altgermanischen Haus Tiere, Getreide und Heu im

denselben Raum untergebracht wurden (Kaufmann 1987: 285, Hill 2003: 158). Die weitere

Verbindung dieser Wortgruppe mit der idg. Wurzel *bhend

h- ‚binden’, die in allen germ.

Sprachen als Verb belegt ist, vgl. ahd. bintan, as. bindan, mnd. binden, afr. binda, ae.

bindan, aisl. binda, got bindan (Seebold Germ. st. Verben 102ff., EWAhd II 72ff., LIV

75), erlaubt eine naheliegende Erklärung auch für die Bedeutung von afr. EÀVW* ‚Ehe’, eine

rechtliche Spezialisierung von einem alten Abstraktum *bons(s)-tu- ‚Verbindung’ (anders

Hill 2003: 161; zur Semantik vgl. EWAia II 209, mit Literatur). Es handelt sich um eine

sekundäre Erweiterung mit dem Suffix *-tu- von ererbtem urgerm. *bansa- ‚Bindung’ zur

Verdeutlichung als Verbalabstraktum (ein ererbtes *bhond

h-s-tu- bereitet hingegen

lautliche und morphologische Schwierigkeiten). Auf parallele Weise wurden got. bansts,

ne. dial. boost, beust und mnl. banst weitergebildet (< *bans(s)-to-), vgl. etwa

Bammesberger Morph. Urg. Nom. 1990: 77. Ein sicheres Beispiel dieser Weiterbildungen

in den germ. Sprachen ist ae. hlæst, ahd. last ‚Last’ < *hlas(s)-ti- vs. aisl. hlass ‚Last,

Ladung’ < *hlassa- anzuführen < vorurgerm. *klat-to- (zur Diskussion vgl. Hill 2003: 211-

216).

Gegen Hills 2003: 160 Rekonstruktion eines Determinativkompositums urg. *bansa-sta-

‚Raum mit Unterständen für Rinder’ sprechen hingegen folgende Umstände: 1) Die von E.

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5

Hill angesetzte spezielle, von einem Verb für ‚stehen’ ausgehende Bedeutung ‚Unterstand

für ein einzelnes Rind’ < ‚Stelle zum Anbinden von Vieh’ ist für urg. *bansa- nicht

nachzuweisen, da das Wort eher ganz allgemein ‚Abteilung im Viehstall / in der Scheune’

bedeutete; 2) die Annahme einer Haplologie *bansastV- > got. bansti- ist wegen des

unterschiedlichen Silbenanlauts (sV.stV) unwahrscheinlich (alternativ könnte man an

Synkope denken, was aber nur in einem durchsichtigen Kompositum im Gotischen

problemlos zu rechtfertigen ist, vgl. die Beispiele von Synkope in Krause Hdb. d. Got.

91f.; bei undurchsichtigen Bildungen wird ein Kurzvokal im Got. nur vor schwerer bzw.

doppelter Silbe synkopiert, vgl. got. taihswa < *WHKVLZÀ��n, 1.P.Pl.Pass. -nda < *-midai,

niuklahs < *niwaknahaz, ajuk-GÌþs < *aiwa/ik(w)a- (Neri Synkope im Got. [in

Vorbereitung]); man müßte also aus einem Gen. Sg. urgot. *bansastais > *banstais

ausgehen); 3) die Bedeutung von mnl. banst ‚runder Korb’ kann mit einer ursprünglichen

Bedeutung ‚Unterstand für ein einzelnes Rind’ nicht in Einklang gebracht werden und eine

Trennung dieses Wortes von got. bansts und ne. dial. boost, beust (so Hill 2003: 158) wäre

allenfalls der letzte Ausweg. Das mnl. Wort legt vielmehr eine Grundbedeutung ‚Bindung’

> ‚zusammengebunder Korb’ (vgl. nhd. Korbbinder, Fassbinder) > ‚Futterkorb, Trog,

Krippe für das Vieh; Behälter für Heu und Getreide’ nahe (vgl. gr. X�VPJ ‚Krippe’ <

*bhE÷dh

-nah2 ‚die Gebundene’, zum Lautl. vgl. EWAhd II 73), die durch Synekdoche die

Bedeutung ‚Stall/Scheune’ erhielt. Als Parallele für die Entwicklung ‚Korb, Trog’ >

‚Viehstall, Scheune’ kommen folgende Beispiele in Frage: 1) ahd. parno m. n-St. ‚Krippe,

Raufe, praesepium, praesaepe’, mhd. houbarn ‚foenile’, mhd. barn st. m. ‚Krippe’, nhd.

dial. Barn ‚Krippe, Heuschuppe, Stall’ (vgl. ON Rimpar ‚Rindbarn, Rinderstall’) [DWb.

s.v. barn, EWAhd I 482 s.v. *barno, parno]; das Wort ist mit gr. XRSO�T ‚Tragkorb’

wurzelverwandt (vgl. dazu IEW 137f. s.v. *bher- ‚flechten, weben’ oder EWAhd. I loc. cit.

zu *bher- ‚tragen’); 2) mhd. krebe st. m. ‚Korb’, vuoterkrebe ‚Futtertrog’, ahd. kripfa,

crippea ‚Krippe’, aisl. krubba f. ‚Krippe’ > nisl. krubba ‚Abteilung im Viehstall’ (zu urg.

*kruban- ‚Geflochtenes’, vgl. Lühr Expressivität und Lautgesetz S. 250f.). Wenig

wahrscheinlich ist hingegen die von Lerchner (1965: 41, mit Literatur) vertretene

Etymologie ‚durch Bindetechnick geflochtenes Haus’ > ‚abgeteilter Raum’ > (mit

Verengung) ‚Krippe’, da es im Germanischen dafür das Verb *windana- gebräuchlich war

(vgl. nhd. Wand) und eine Entwicklung ‚Raum’ > ‚Krippe’ ohne Parallelen ist.

Eidg

: Urg. *bansa- ‚Bindung’ > ‚Korb’ setzt lautgesetzlich ein m. -to-Abstraktum mit o-

stufiger Wurzel (nóstos-Typ) *bhónd

h-to- ‚Bindung’ fort; die Bildung gehört wohl nicht

Page 19: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

6

zum idg. Wortschatz, da wir keine genaue formale Entsprechungen dieses Wortes in

anderen idg. Sprachen kennen. Auch das Fehlen der Wirkung der grundsprachlichen

NpQWÀU-Regel, d.h. der idg. Vereinfachung zweier aufeinanderfolgender homorganer

Okklusive nach unsilbischem Resonant in nachbetonter Stellung (vgl. ai. 2. Sg. Imperat.

Aor. yódhi ‚wehre ab!’ < *Hhéidh-d

hi; zur Regel vgl. Idg Gr. 113f., Neri 2003: 335f. Anm.

1219, mit Literatur) spricht für eine jüngere, erst vorurgermanische Bildung.

Unproblematisch wäre auch die alternative Annahme einer thematischen Ableitung aus

einem -s-Stamm *bhénd

h-os- ‚Bindung’ => *b

hónd

h-s-o- ‚Bindung habend’ (vgl. *k

iólh1-s-

o- > dt. Hals zu *kiélh1-os- ‚Drehung’); denn die Existenz des s-Stamms wird indirekt von

gr. ¾HqUOD ‚Tau, Seil’ < *bhénd

h-s-mE (sekundäre Ableitung zu einem s-Stamm) sowie von

adjektivischen -(e)ro-Bildungen (gr. ¾HPbHS�T ‚Schwiegersohn, Schwager’, lit. beñdras

‚Teilhaber, Genosse’)�und u-stämmigen Substantiven (a.i. bándhu- m. ‚Verwandter’), d.h.

von der Belegschaft von Bildungen innerhalb des Caland’schen Suffixsystem, gestützt (zu

den Formen vgl. EWAhd II 74 s.v. bintan, mit Literatur; zum Calandsystem vgl. Risch,

Meier-Brügger).

Lit: B Lerchner 1965: 39f.; ThWb s.vv. Bans°, Banse, Bansel, Bansen, Bansenwand; M/WB

Frnhd Gr 175; Schwarz 1960: 48-49; WG ThWb s.v. Bansenfeger;; Egerm

Bammesberger

Morph. Urg. Nom. 1990: 77; DWb. s.v. barn, EWAhd I 482 s.v. *barno, parno, II 72ff.

s.v. bintan; EWAia II 209; IEW 137f. s.v. *bher-; Kaufmann 1987: 285; Krause Hdb. d.

Got. 91f.; Lerchner 1965: 38ff.; LIV 75; Lühr Expressivität und Lautgesetz S. 250f.; Hill

2003: 158-161, 211-216; Neri Synkope im Got. [in Vorbereitung]; Seebold Germ. st.

Verben 102ff.; Eidg

EWAhd II 74 s.v. bintan; Idg Gr. 113f.; Meier-Brügger ; Neri 2003:

335f. Anm. 1219, Risch.

Lerchner 1965: Gotthard Lerchner, Studien zum nordwestgermanischen Wortschatz, Halle

(Saale) 1965.

Schwarz 1960: Ernst Schwarz, Sprache und Siedlung in Nordostbayern, Nürnberg 1960.

Page 20: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

baufen 1

baufen swV „bellen“

Z: Das westthür. Verb baufen „bellen“ ist eine voreinzelsprachl. lautmalerische Bildung zur idg. Wurzel

*baii

b-, die von lat. baubor „belle“ und lit. baÊEWL „brüllen“ fortgesetzt wird. Der abweichende Anlaut

ist entweder durch analogische Angleichung an der Anlaut von dt. bellen oder durch

Wiedereinführung von expressivem stimmhaftem *b- erklärbar.

B: Das sw. Verb thür. baufen „bellen, Laut geben (von Hund und Fuchs)“ ist im Westthür.

(Eisenach), Henneberg sowie in Gotha belegt. Das Präfixverb anbaufen „jmd. mit heftigen

Worten zurechtweisen, schimpfen“ ist ebenso in Eisenach und Gotha verbreitet, ist aber

auch im angrenzenden Gebiet des südl. Nordthür. (vgl. uanbaife Mühlhausen) belegt

(ThWb s.vv. anbaufen, baufen). Das Verb baufen, bäufen ist im Sprichwort e Hoind, der

net bouft, e Katz, die net muist, un e Frau, die net schellt, töijen nüscht „ein Hund, der

nicht bellt, eine Katze, die nicht miaut, und eine Frau, die nicht schimpft, taugen nichts“

(Eisenach) in Gebrauch.

L: Der Stammvokal ist folgendermaßen verteilt: au ist nördl. und nordöst. von Eisenach und

nordwestl. von Gotha, >u ist südöstl. von Eisenach, nordöstl. von Schmalkalden und um

Gotha Wal., >i ist nordöstl. von Bad Salzungen, um Bad Salzungen Va. und südl. von Bad

Salzungen (ThWb s.v. baufen) nachweisbar. Der Diphthong ai [åi] (vgl. uanbaife

„anbäufen“) ist das Entpalatalisierungsprodukt von nordlich-westthür. [åü] (< mhd. ou) in

der Gegend von Mühlhausen (Sp ThGr 144, 146-147). Alle regionalen Variante des Verbs

setzen also mhd. *boufen fort (vorkonsonantisches mhd. Ì� bleibt im westl. Thür.

monophthongisch, vgl. Sp ThGr. 163ff.).

WG: Die Bedeutungswandel des komponierten Verbs anbaufen von „bellen“ zu

metaphorischem „jmd. mit heftigen Worten zurechtweisen, schimpfen“ hat Parallelen in

bellen, das u.a. auch die Bedeutung „schimpfen“ aufweist (Th Wb s.v. bellen), und belfern

„(schnell) bellen“, das auch „anhaltend (vor sich hin) schimpfen, keifen, klagen, lästern;

sich zanken; unaufhörlich schwatzen; dazwischen reden; überstürzt und undeutlich reden“

bedeutet und vielleicht durch Kreuzung von bellen mit geifern „schäumen; vor Wut

schäumen; albern oder wütend sprechen; giftig lästernd, schmähend reden“ (DWb s.vv.

belfern, geifern) zustandegekommen ist (zu anderen dial. Varianten s. EWD s.v. belfern).

Vgl. außerdem gr. EDÆ]Z�„belle; schmähe“ (→ Eidg1).

Egerm

: Das mda.Verb baufen ist zweifellos eine onomatopoetische Bildung, die keine genauen

Entsprechungen innerhalb des Deutschen und des Germanischen hat. Die Annahme, dass

das Verb durch Kontamination von belfern mit der Interjektion wau wau entstanden ist, ist

unwahrscheinlich, da beide Verben, baufen und belfern, in denselben Gebieten (z.B. um

Page 21: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

baufen 2

Eisenach oder im Hennebergischen) gebraucht werden; außerdem würde man in diesem

Fall eher *baufern erwarten (ThWb s.vv. baufen, belfern).

Eidg1

: Onomatopoetische Wörter mit anlautendem labialen Konsonant und a / u wie z.B. ba,

bau, bu, wau, m(i)au, mu usw., die Brüllen, Murren und weitere Tierrufe sowie

unartikuliertes undeutliches Reden, Schreckwörter und Naturtöne bezeichnen, kommen

sehr häufig in den idg. Sprachen vor, besonders in den jeweiligen Kindersprachen, vgl.

z.B. lat. EÌEÀ, EÌIÀ (nach JÌIÀ) m. „Uhu“ (> roman. EÌIR, vgl. port. bufo, span. buho),

entlehnt als ahd. bûf „Uhu; Schrei des Uhus“ (Walde/Hofmann LEW I 119, EWA II 416

s.v., mit Literatur), dazu das Verb lat. EÌELO�UH�„bu rufen (vom Uhu)“; ähnlich gr. E¼DM m.,

EÂ]D�f. „Uhu“, E¼]Z „schreie wie ein Uhu“, arm. bow, ERZ�þ, npers. EÌP, bulg. buh, auch

nicht-idg. georg. bu, buvi „Eule“; in dt. Mundarten ist das Wort als österr. puhi(n), pu,

vorarlb. und schwäb. buhi, schles. bauhau vertreten. Es handelt sich um eine expressive

reduplizierte Nominalbildung, die auf lautmalerischem *b̄Çu- beruht und voreinzelspr. durch

Dissimilation zu *b ¯Çu-b(h)

o-, *b ¯Çu-g/ko-, *b̄Çu-io- usw. umgestaltet wurde. Weitere Tierrufe

und -geräusche werden durch ein bilabiales Element wiedergegeben, vgl. ai. búkkÌUD- m.

„Gebrüll des Löwens“, russ.-ksl. EXþDWL „dröhnen“, serb. búkati „brüllen“. Zu

menschlichen Geräusche, Schreien bzw. unverständlichem Reden vgl. gr. ER� „Ruf“, poln.

E�NDü „halblaut reden, murmeln“, gr. EDE�]Z�„schwatze, rede undeutlich“, ai. EDOEDO�-

karoti „stammelt“, barbara- „stammelnd“, gr. E�UEDURM,�EDUEDU´IZQRM�„nicht griechisch,

von unverständlicher Sprache“, bulg. blaból’t „schwatze“, lat. babulus „Schwätzer“, it.

balbettare „stammeln“, nhd. babbeln, pappeln, aisl. babba „schwatzen“ usw. Zum

Gebrauch von anlautendem b- für Naturgeräusche vgl. serb. EXþDWL�„tosen (vom Meer)“,

mir. EÀFKQD „Meer“ < „tösende Brandung“, lett. bÊNãNêt „dumpf schallen“, usw. Zu

weiteren Beispielen vgl. IEW 91f. s.v. baba-, 95 s.v. bata-, 96 s.v. E�, E�, 97 s.v. b(e)u,

bh(e)u-, 102 s.vv. blat-, EO�-, 711 s.v. mei-, 715f. s.v. mek-, 751f. s.v. m ǯu-; zum Begriff der

Onomatopöie vgl. Lühr Expressivität und Lautgesetz 60, mit Literatur).�E

idg2: Speziell für die Bezeichnung des Hundegebells werden in vielen indogermanischen

Sprachen mit stimmhaftem bilabialem Verschlusslaut anlautende Schallwurzeln gebildet,

vgl. ai. bukkati „bellt“, av. bucahin- „Geheule an sich habend“, buxti- „Heulen, Fauchen“,

gr. E¼NWKM�„heulend“ (mit k-Erweiterung; vgl. IEW 97); vgl. außerdem die Sippe von dt.

bellen, Schallwurzel *bhel-s- (IEW 123f., EWA I 533ff. s.v. bellan, pellan, mit Literatur

und Belegen).

Im Deutschen wird dafür kindersprachl. wau benützt, regional auch bau, vgl. die

Interjektion Baubau neben Wauwau als Bezeichnung des Schreckmännchens, des

Page 22: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

baufen 3

Poltergeistes und des Hundes im Schweizerdt. (Schw Id IV 896); so z.B. auch in thür.

Baubau m. „Schreckgestalt, mit der man Kindern droht, Buhmann, Butzemann“,

Nebenform zu Wauwau, it. kinderspr. bubo „Schreckmännchen“, gr. %DXEÊ�„Schreckgespenst, Hekate“, lit. bùbas, bùbis „Poltergeist“, serb. bau bau „Schreckwort“.

Die idg. Wurzel *bai- bzw. *bai-b- „brüllen, bellen, bau bau machen“ mit der aus

reduplizierten Interjektionen abstrahierten Wurzelerweiterung -b- ist für die Nachahmung

des Hundegebells besonders beliebt: vgl. einerseits gr. ED¿�ED¿ (Hundegebell), gr. EDÆ]Z�„belle; schmähe“, lat. baubor, EDXE�U¯ „bellen“, it. bau bau (Hundegebell), abbaiare

„bellen“; vgl. dazu mit anderer Bedeutungsspezialisierung lit. baÊEWL� „brüllen (vom

Ochsen)“, baÊ Interjekt. (Gebrüll des Ochsens), baubl�V, EÌEO�V� „Brüller; Uhu;

Rohrdommel“, bubénti „dumpf dröhnen, brummen, murren“, bùbinti „bu-bu brüllen“ lett.

baubt „brüllen“, bubinât „bu-bu brüllen“ (LitEW I 37).

Aufgrund des wurzelauslautenden -f- ist thür. baufen wahrscheinlich ererbt, da der

labiodentale Frikativ kaum in eine expressive Bildung eingeführt worden wäre und am

ehesten auf nachdiphthongisches idg. -b- > germ. -p- zurückgeht (vgl. ahd. tiof „tief“ <

urgerm. *deupa- < uridg. *dheibo-, zu got. diups, lit. dubùs „tief, hohl“ usw. (IEW 267f.)).

Trotzdem ist es nicht zulässig, mechanisch eine Vorform *bhaib-e/o- > urgerm. *baup-i/a-

zu rekonstruieren, da die entsprechenden Wörter in fast allen anderen indogermanischen

Sprachen eindeutig idg. *b- fortsetzen. Da die Wurzel *baib- höchstwahrscheinlich aus

der reduplizierten Interjektion stammt, sind die bilabialen Verschlusslaute vielmehr beide

als Mediae zu bestimmen. Es ist so anzunehmen, dass das ererbte Verb urgerm. *paup-a/i-

aufgrund des Einflusses von urgerm. *bell-a/i- zu *baup-a/i- umgestaltet wurde.

Andererseits könnte die anlautende Media auch automatisch wiedereingeführt oder nicht

zu urgerm. *p verschoben worden sein, da zur lautsymbolischen Nachahmung von Tierrufe

wie brüllen oder bellen stimmhafte Konsonanten wegen ihrer Schallfülle geeigneter als

stimmlose sind. Dieselbe Annahme gilt übrigens auch für Wörter wie aisl. baula f. „Kuh“

< „Brüllerin“ zu nnorw. baula, nschwed. böla, ndän. bøle „brüllen“ (entlehnt ins

Mittelenglische als bawlen „bellen“ (AnEW 29)), denen wohl die idg. Schallwurzel *bai-

ebenfalls zugrundeliegt.

Lit.: B ThWb s.vv. anbaufen, baufen; L Sp ThGr 144, 146-147, 163ff.; ThWb s.v. baufen;

WG EWD s.v. belfern; DWb s.vv. belfern, geifern; Egerm

ThWb s.vv. baufen, belfern; Eidg1

EWA II 416 s.v.; IEW 91f. s.v. baba-, 95 s.v. bata-, 96 s.v. E�, E�, 97 s.v. b(e)u, bh(e)u-,

102 s.vv. blat-, EO�-, 711 s.v. mei-, 715f. s.v. mek-, 751f. s.v. m ǯu-; Walde/Hofmann LEW I

Page 23: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

baufen 4

119; Lühr Expressivität und Lautgesetz 60; Eidg2

AnEW 29; EWA I 533ff. s.v. bellan,

pellan; IEW 97, 123ff., 267f.; LitEW I 37; Schw Id IV 896.

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bräkeln 1

bräkeln swV „langsam braten“, „kleinlich tadeln“; „mürrisch dasitzen“

Z: Das sw. Verb bräkeln „langsam braten“ setzt eine iterative Bildung westgerm. *EUDNLOÀ�ML�D�- fort, die

auf eine urgerm. Wurzelvariante *brek- der s-mobile-Wurzel *sprek- „zischen, prasseln“ zurückgeht.

Die Bildung lässt sich außerdem mit ai. bhre eMM�Î Îti „wird rösten“ und alat. ferctum „Opferkuchen“

(Wurzel *(s)bhre�-) vergleichen.

B1: Das schwache Verb bräkeln ist in einigen peripheren thür. Dialekten bezeugt und kennt

drei voneinander abweichende Bedeutungen: 1) „(Fleisch) langsam braten, brodeln,

brutzeln“, vgl. dr Späck braachelt (Greiz); mit gleicher Semantik ist das Verb auch

komponiert belegt, vgl. südostthür. einbräkeln swV. „einkochen, verdampfen“ (vgl. de

Brieh is eigebrächelt Schleiz); 2) in übertragenem Sinne „jmdn. mit Bitten, Nörgeln,

schlechten Nachrichten quälen“ sowie „jmdn. dauernd mahnend, kleinlich tadeln“, vgl.

meine Mutter brekelte immer (Heiligenstadt); 3) „nicht richtig arbeiten, mürrisch dasitzen

(u. dabei trinken)“, vgl. de Mannsen fingn schun ne Montog frieh wieder aan zu brakeln

(Greiz) (ThWb s.v. bräkeln).

L: Die mundartlichen Varianten br ¯�Nãln, br ¯�NOã (Schmölln, Zeitz, Greiz und Coburg, d.h.

östlicher Teil des Ostthür. und des Südostthür., südl. Itzgr.), br ¯�[ãln (Greiz, südl.

Südostthür.), mit gemeinthür. Öffnung von */̄��]X� � ¯����JHJHQ�EHU�EU¯Nãln (Mühlhausen,

südwestl. Nordthür.), mit nordhess. Einfluss des Wurzelvokals, br ¯Nãln� (Wernigerode,

Merseburg, Altenburg, d.h. Nordthür., Nordostthür., Ostthür.), EU�Nãln� (Nordostthür.,

Nordthür.) und br ¯$ãln�(Zeulenroda, südl. Südostthür.), mit regionalen Abbau der Senkung

(Sp ThGr. 74ff.), weisen entweder auf Dehnung von mhd. ë / ä in offener Silbe oder auf

umgelautetes mhd. ¾ hin (Sp ThGr. 72ff.). Thür. pracheldürr Adj. „ganz dürr, vertrocknet“

(vgl. e procheldarres Mannchen Schmölln; wohl aus prasseldürr unter Einfluss von

bräkeln, ThWb s.v.) spricht aber gegen mhd. ë im Verb und setzt Umlaut für den verbalen

Wurzelvokalismus voraus.

Was den Konsonantismus betrifft, das Nebeneinander von velarem Verschlusslaut k und

velarem/uvularem Reibelaut x /�$ im Wurzelauslaut lassen ein ursprüngliches k ansetzen,

da intervokalisches g in bestimmten thür. Dialektgebieten (Nordthür., nordl. Nordostthür.)

zu j / � palatalisiert wird oder schwindet (Sp ThGr. 200f.).

WB: bräkeln stellt eine frequentative Bildung auf -eln dar, wie sie bei den zum selben

semantischen Feld gehörigen Bildungen üblicherweise vorkommt, vgl. nhd. prasseln,

brutzeln, rasseln, röcheln usw. (zum urgerm. Iterativsuffix *-DOÀ-/-LOÀ- vgl. Kr/M 263f.).

Das Vorhandensein des i-Umlauts spricht für die Suffixvariante *-LOÀ-.

Page 25: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

bräkeln 2

Egerm: Thür. dial. bräkeln wird an mhd. brëglen „braten, schmoren, pregeln; murren,

schwätzen“ (Lexer I 346, 18; vgl. auch BMZ I 235a, 15: „mache ein Geräusch, wie etwas

das brät oder gelinde aufkocht; schwatze, murre“) angeschlossen. Nach DWb II 291, 72 ist

mhd. brëglen seinerseits mit lat. IU¯J�UH� urverwandt. Doch weicht thür. bräkeln im

Wurzelvokalismus sowie im Konsonantismus von dem mhd. Verb ab, so dass dieser

Vergleich aufgegeben werden muss. Eine weitere Verknüpfung zu nhd. backen, für die im

EWD loc. cit. Anlautsvereinfachung br- > b- erwogen wird, scheitert daran, dass dieser

sporadische Lautwandel sonst nur bei der Konsonantengruppe spr- zu belegen ist (vgl. das

Nebeneinander von ae. sprecan : specan „sprechen“; siehe dazu Vennemann HS 113

(2000) 244f.).

Eidg: Die genaue formale Begrenzung der indogermanischen Wortsippe, die die Tätigkeit des

Bratens, Kochens, Siedens zum Ausdruck bringt, ist deswegen schwierig, weil es sich

häufig um expressive Bildungen handelt, die Kontaminationen mit Wurzeln der Bedeutung

„zischen, prasseln“ oder „brechen, platzen“ sowie volksetymologische Umgestaltungen

und lautliche Vielfalt zeigen. So ist nicht möglich zu entscheiden, ob der abweichende

Vokalismus von lat. IU¯J�UH�„rösten, am Feuer dörren“ (< *bhriHg-, *b

hrehg- ?), gr. IU ¯ÇXJZ�

„id.“ (< *bhruHg-?) auf unterschiedlichem Ursprung beruht (in welchem Fall naturgemäß

diese Formen etymologisch völlig isoliert wären), auf jeweiligen mehrfachen

Erweiterungen einer gleichbedeutenden Wurzel *bherH- / *b

hreH-, oder auf sekundärer

Angleichung an homonyme oder fast homonyme Wurzeln wie *(s)bherh2�- „zischen,

prasseln“ (LIV 586: *spherh2�-), *b

hrei- „sieden, wallen“ (anders LIV 81: *b

heri-),

*bhreh1- „(heiß) aufwallen, -braten“ (EWA II 301: *b

herh1-), *b

hreiH- „sprudeln“ (LIV

96) oder *bhreg/�- „brechen“ (LIV 91) – zur Problematik vgl. EWA II 299ff., EWAia II

278.

Weiterführend ist für die etymologische Deutung des mundartlichen Verbs der Vergleich

mit dem Verb ai. bhr eMM�Îti „wird rösten“ (RV 4, 24, 7b), 3. Sg. Konj. Präs., wohl einer

frühmittelindischen Form für ved. *bhr eM\�Îti, das ein -�é/ó-Präsens mit mittelindischer

Vertretung der inlautenden Affrikata vor � (< *bhr e�-�é/ó-) fortsetzt (vgl. EWAia II 278;

anders EWD s.v. backen, wonach der inlautende Konsonantismus auf expressiver

Gemination beruhen soll, und IEW 137, wo ein -s�e/o-Präsens *bh;(�)s�À rekonstruiert

wird); zur Wurzel vgl. zugehöriges ai. bhras òtïra- „Röstpfanne“ < *bhré�-tro-, Nomen

Instrumenti (weitere Formen in EWAia loc. cit.), sowie alat. ferctum „Opferkuchen“, das

ein durch Akzentverschiebung und neue Vollstufe I substantiviertes -to-Partizip *bhér�-to-

fortsetzt, vgl. dazu Vine HSPh 90 (1986) 121ff., EWA II 299ff.; fern bleibt hingegen ahd.

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bräkeln 3

bergita „eine Gebäcksorte“, das wohl ein Lehnwort aus dem Griechischen durch lat.

Vermittlung darstellt, vgl. Neumann HS 111 (1998) 165ff.). Möglicherweise gehört auch

die Sippe von lit. bìrgalas „einfaches Bier“, lett. bi�ga „Kohlendampf, Dunst“ dazu

(LitEW I 44). Alle diese Formen weisen zunächst auf eine Wurzel *bhre�- „braten, rösten“

(LIV 78: *bher�-) hin. Wenn man von einem niederdeutschen Verb mit entsprechendem

unverschobenen Konsonantismus ausgeht, können thür. bräkeln und pracheldürr direkt mit

den indischen und lateinischen Formen verglichen werden, zumal diese Formen im

Germanischen nicht isoliert stehen, sondern mit der Sippe von anord. spraka „knistern,

prasseln“ (vgl. lit. spragù „knistern, prasseln, knacken; platzen; rösten“, tschech. prahnouti

„verdorren, schmachten“, dazu den tschech. ON Praha, ursprünglich „durch Verdorrung

gerodete Stelle“, slov. SUiåLWL „schmoren“, serb. SUåLWL „rösten“) < *(s)phrog°,Í*(s)p

hr eg° und

letztendlich mit ahd. sprehhan, ae. sp(r)ecan „sprechen“ < „Geräusche machen“ <

„prasseln“ verbunden werden kann. Zugrunde liegt eine s-mobile-Wurzel *(s)bhre�- =

*[sphre�-] „prasseln“; „prasseln lassen > braten“ (anders LIV 582: *spreg- und Southern s-

mobile: zu brechen), wobei die baltoslavischen Formen eine unvollständige

Satemvertretung aufweisen (vgl. als Parallele aksl. kamy, lit. akmuo ��vs. ai. D�PDQ-, jav.

asman- „Stein“ < *h2á�mon- (EWAia I 137f.)). Der Wurzelvokalismus von thür. bräkeln <

*brak-LOÀ�ML�D�QD- ist dabei möglicherweise von einer verschollenen urgerm. Kausativ-

Iterativbildung *brakijana- < *bhro�é�e/o- „prasseln (lassen), braten“ beeinflusst worden

oder nach dem Verhältnis mhd. wegen : wackeln auf brechen hinzugebildet worden. Die s-

mobile-Varianten urgerm. *brak- „braten“ vs. *sprek- „prasseln, sprechen“ haben sich

dann durch Bedeutungsspezialisierung verselbstständigt.

B2: Die Bedeutungen „jmd. mit Bitten, Nörgeln, schlechten Nachrichten quälen“ sowie „jmd.

dauernd mahnend, kleinlich tadeln“ rühren aus einer semantischen Verschiebung von

„langsam braten“ > „Geräusche machen“ > „nörgeln“ her. Parallelen dieser

Bedeutungsentwicklung sind frk. brutzeln „braten“ > „nörgeln“ und mhd. brëgler

„Schwätzer“ (Lexer I 346, 26), zu mhd. brëglen (Lexer I 346, 18) und nhd. brägeln,

bregeln „braten, sieden, schmoren; prasseln“ (wohl ein Lehnwort aus dem Slavischen, vgl.

DWb II 291f.; 353; dazu auch fregeln „id.“ (Henisch 1199), mit Anlautssubstitution durch

Einfluss von lat. IU¯J�UH, DWb loc. cit.). Von der Bedeutung „nörgeln, tadeln“ hat sich über

die angenommene Zwischenstufe „murren“ die Spezialbedeutung „nicht richtig arbeiten,

mürrisch dasitzen (u. dabei trinken)“ entwickelt.

Lit: B1 ThWb s.v. bräkeln; L Sp ThGr. 72ff.; ThWb s.v. bräkeln; WB Kr/M 263f.; Egerm

BMZ I 235a, 15; DWb II 291, 72; EWA II 299ff.; EWAia I 137f., II 278; EWD s.v.

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bräkeln 4

backen; Lexer I 346, 18; IEW 137; LitEW I 44; LIV 78; 81; 91; 96; 586; Neumann HS 111

(1998) 165ff.; Southern s-mobile; Vennemann HS 113 (2000) 244f.; Eidg Vine HSPh 90

(1986) 121ff.; B2 DWb II 291f.; 353; Lexer I 346, 18; 26.

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Budike 1

Budike Sb f. „kleines (schäbiges, heruntergekommenes) Haus; kleines Wirtshaus;

Verkaufsstand auf dem Markt“

Z: Thür. Budike swf. „kleines (schäbiges, heruntergekommenes) Haus“ ist aus dem Französischen

entlehnt (frz. Boutique „Speicher, Magazine“). Die Bedeutungsentwicklung von „Laden“ zu

„baufälliges Haus“ ist durch volksetymologische Angleichung an dt. Bude „Haus, Hütte“ < urgerm.

*E�Z�ÀþÀ „Haus“ < idg. *bhii

áh2tah2- „das Verweilen“ (alb. bote „Erde, Welt“) erfolgt.

B: Das in Thüringen weit verbreitete Substantiv Budike f. hat verschiedene Bedeutungen, die

geographisch verteilt sind. Das Wort kennt die abwertende Bedeutung „kleines (schäbiges,

heruntergekommenes) Haus“ nur verstreut in südöstl. Nordostthür., Ostthür., Südostthür.,

sonst selten, doch nicht nördl. Westthür., westl. Zentralthür und südl. Ilmenauthür., vgl. de

gleen Leide ham nor Buddieken „die kleinen Leute haben nur kleine Häuser“ (Merseburg

(ThWb s.v. Budike)). Mit der zweiten Bedeutung „kleines Wirtshaus“ ist Budike hingegen

nur in Worbis, Merseburg, Schmölln, Erfurt, Eisenach, Weimar, Gera und Rudolstadt

(1890) in Gebrauch (ThWb. loc.cit.). Schließlich ist das Substantiv in der Bedeutung

„Verkaufsstand auf dem Markt“ in Sömmerda, Rudolstadt und Saalfeld belegt (ThWb.

loc.cit.). Budike ist auch im Pfälzischen, Hessischen, Rheinischen, Lothringischen und

Elsässischen mit der Bedeutung „baufälliges Haus, ärmliche Hütte“ bezeugt (vgl. PfälzWb

I 1398 s.v. Butik mit Literatur und Belegen) und ist außerdem in den nhd. erweiterten

Standardwortschatz eingedrungen (vgl. EWD s.v. Boutique).

M: Das Lehnwort Budike ist in die produktive schwache Femininflexion eingegliedert worden

(vgl. Akk. Pl. thür. Buddieken).

L: Die dialektale Form Buddieke weist auf Dehnung von betontem /i/ in offener Silbe. Die

Schreibung mit geminiertem <d> zeigt nur die Kürze des vorangehenden Vokals.

WG/Egerm

: Die Betonung der Mittelsilbe bei einem nicht präfigierten Wort ist bereits ein

deutlicher Hinweis auf den Status von Budike als nicht-germanisches Wort. Die

Akzentverschiebung ist im Deutschen nur vereinzelt in Wörtern mit mittleren schweren

Silben belegt, vgl. z.B. nhd. lebéndig, mda. ON Erlángen. Budike ist dabei eine deutsche

Adaptierung von frz. boutique /but'ik(¸)/ „Kramladen“ (Gamillscheg 142), das im 15. Jh.

entlehnt worden und seinerseits eine Entlehnung durch lat. Vermittlung aus mgr. �SRT�NK��DSR�LNL�� Ä6SHLFKHU�� 0DJD]LQ³� PLW� DN]HQWEHGLQJWHU� $SKärese ist, vgl. auch it. bottega

„Laden, Geschäft“. Spätere Neuentlehnungen aus dem Lat. bzw. Frz. sind nhd. Apotheke

„Medizin-, Spezereiladen“ und Boutique „(kleines) Modengeschäft“; vgl. auch nndl.

boetiek, ne. boutique, nschw. butik, nnorw. butikk (EWD s.v. Apotheke, Boutique). Der

Wandel [butik�] > [budik�] ist regelmäßig nach der binnendeutschen

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Budike 2

Konsonantenschwächung (Lenisierung), die einen Großteil des Mitteldeutschen und des

Oberdeutschen im Spätmittelalter betroffen hat (MhdGr 130ff.). Erklärungbedürftig ist

hingegen der Bedeutungswandel von „Speicher, Magazin“ auf „kleines verfallenes Haus“.

Dass das Wort meist kleinere Läden bezeichnet hat, liegt daran, dass das bezeichnete

Geschäft Kleidung, Gewürze und Medikamente verkaufte. Es ist aber auch denkbar, dass

das ndd. Deminutivsuffix -ke (: hd. -chen) eine Rolle bei dem Bedeutungswandel gespielt

hat. Denn für einen norddeutschen Sprecher war das Wort Budike segmentierbar als

Deminutiv von dt. Bude. Dadurch wurde das Wort volksetymologisch an Bude „baufälliges

Haus; Hütte; Zimmer, Wohnung; Laden“ angeschlossen und hat dessen negative

Bedeutungskomponente übernommen (zur Bedeutungspalette des nhd. Wortes vgl.

Stammler 1954: 205-208). Das deutsche Wort Bude ist bereits etymologisch gedeutet

worden (DWb s.v., EWD s.v.), aber die lautlichen Einzelheiten sind bis heute unklar

geblieben. Das Wort ist ab dem Mhd. belegt, vgl. buode, bude (stf. u. swf., vgl. Lexer

s.v.(1,388,1)) „Hütte, Gezelt, Schuppen, Haus“, und entspricht lautlich sowie semantisch

mndd. EÀGH, mndl. boede „Hütte, Gezelt, Schuppen“, nndl. dial. boet, boe, boeie, bòj

„Scheune“ (NedEW 69 s.v. boedel), entlehnt als poln. wruss. buda „Hütte“, lett. buõde,

buõds, buõte, buõts „Bude“ und lit. EÌGà „Hütte“ (LitEW I 61). Der Wurzelvokalismus der

aufgeführten Lexeme entspricht aber nicht dem von mhd. bûde „Hirtenhütte“ > nhd. Baude

„(Berg-)Hütte“ sowie „Tierhöhle“ (ins Tschechische als bouda entlehnt, vgl. Bielfeldt

1965: 25 mit Literatur), ufrk. Dachsbaude „Dachsöhle (EWD s.v. Baude) und aisl. búð f.

„Wohnort, Hütte, Zelt“ - vgl. dazu nisl. fär. búð, nnorw. bud, nschw. ndä. bod, shet. bød

sowie die Lehnwörter me. bouþe aus an. búð (aber ne. booth aus adän. EÀþ). Die erste

Gruppe setzt eindeutig urgerm. *À, die zweite urgerm. *Ì. Da die Formen zweifellos

zusammengehören und auf die Verbalwurzel urgerm. *EÌ- „sein (> verweilen, wohnen)“ <

idg. *bhuh2- „werden“ zurückgehen, ist das Problem im Zusammenhang mit der Vielfalt

des Vokalismus, die in verwandten Formen anderer indogermanischen Sprachen

vorkommen, zu behandeln.

Eidg1

: Die Wurzel *bhuh2- „werden“ hat im Germanischen die subjektresultativische

Bedeutung des dazugehörigen Perfekts „sein“ verallgemeinert (zur Wurzelbedeutung vgl.

Lühr athem. Präs., Lühr 1997: 35-36, LIV 98-99). Die weitere Bedeutungsentwicklung von

„sein“ zu „wohnen“ ist trivial; auch die umgekehrte Entwicklung kann eintreten, vgl. das

urgerm. entreduplizierte Perfekt *was(i) / *Z�]XQþ „war / waren“ aus idg. *h2ies-

„verweilen, (die Nacht) verbringen“ (LIV 293).

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Budike 3

Die Qualität des wurzelhaften Laryngals als h2 wird von Formen wie lit. buvò, air. ba

„war“ < *bhiáh2t oder vom Subst. air. baile m. „Ort; eigenes Land; Dorf“ < urkelt. *bali�o-

„Wohnort“ (LEIA, B-7, EWA II 413) bewiesen, das mit Kürzung des Wurzelvokals durch

die Wirkung des Dybo“schen Gesetzes (vgl. *suHnú- > urgerm. *sunu- (Schrijver 1991:

351-356, mit Literatur)) aus *E�OLhó- < *bhiah2lihó-, einer thematischen Ableitung aus der

akrostatischen -li-Bildung *bhióh2li- / *b

hiáh2li- „das Verweilen“ (vgl. gr. IZOH´M „Lager,

Höhle“ < *bhioh2lehó-), stammt. Einen anderen Hinweis auf h2 bietet der alat. Konjunktiv

Q�� IX�V „sollst nicht sein“ < *fuias < 2. P. Sg. Injunktiv Aorist *bhuieh2-s (Lindeman-

Variante, vgl. Lipp apud LIV 99 Anm. 5). Die germanische Form *EÀþÀ (> Bude usw.)

muss also nicht (wie EWD s.v. Bude) auf eine Vorform **EÀZþÀ mit irregulärer

Beibehaltung eines morphologisch unbegründeten dehnstufigen *o vor Halbvokal +

Okklusiv sowie sukzessivem irregulärem Verlust des zweiten Diphthongsteils

zurückgehen, sondern kann einfacher altes *E�Z�ÀþÀ „Wohnort“ mit urgerm.

dissimilatorischem Schwund von /w/ zwischen labialem Konsonant und À (vgl. got. fon

„Feuer“ < *I�Z�ÀQ <= *p[h2]iÀU� / *puh2nés) < *bhiáh2tah2 „das Verweilen“ fortsetzen.

Diese Analyse wird dadurch gestützt, dass das konkretisierte Verbalabstraktum mit alb.

botë „Erde, Welt; Boden; Lehm“ < *E�W�- < idg. *bhiáh2tah2 (zur Vorform vgl. Demiraj

107, mit Literatur) eine bis ins morphologische Detail genaue etymologische Gleichung

mit dem deutschen Wort bildet. Zur Bedeutungsentwicklung des Abstraktums „das

Werden; das Dasein, das Verweilen“ zum Konkretum „Haus, Wohnort; Erde, Land“ vgl.

dt. Wohnung „Ort, wo man wohnt“ < „das Wohnen“, ai. bhavana- „das Werden; Wohnung,

Haus“, ai. bhW- „Erde, Welt“ und ai. bhWmi- „Erde, Erdboden, Land“ < „das Werden“.

Eidg2

: Die germ. Formen mit wurzelhaftem *Ì� können hingegen lautgesetzlich auf urg.

*bhuh2tah2 mit nullstufiger Wurzel beruhen. Vorzuziehen ist jedoch die Annahme einer

analogischen Umgestaltung nach der Verbalwurzel (vgl. aisl. búa „weilen, wohnen;

bereiten, schmücken, bauen < *wohnbar machen“, ahd. bûan „wohnen, bewohnen“, ae. as.

EÌDQ� ,wohnen, bleiben“, got. bauan „(be)wohnen, ald bauan „ein Leben führen“ <

*EÌMDQD-, vgl. Seebold 124ff., AhdEW II 411 s.v. bûan, Harðarson 2001) oder nach dem

Substantiv ae. as. EÌ n. „Wohnsitz“, aisl. bú n. „Gehöft“, ahd. mhd. bû m. „Wohnung,

habitatio“, nhd. Bau (AhdEW II 411 s.v. bû), da ein ererbtes alternierendes

proterokinetischen Paradigma *bhiáh2-t(a)h2- / *b

huh2-táh2- (Typ *g

ién-h2- / *g

in-áh2-

„Frau“, vgl. Harðarson 1987) bei einer Bildung auf -tah2- ohne Parallelen wäre. Auch das

Nebeneinander von lit. EÌWìs „Dasein, Existenz“ < *bhuh2tí- und bùtas, butà „Haus,

Behausung, Wohnung“ (vgl. apr. EÌWRn „sein“ vs. buttan „Haus“) erklärt sich auf die

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Budike 4

Weise, dass bùtas ein verbales Allomorph lit. bÎ- (vgl. lit. Prät. buvaÊ < *bhuh2-V°, LitEW

I 68) eingedrungen ist. Dasselbe könnte ebenfalls für air. both „Hütte; das Sein“, kymr. bod

„Hütte“ gelten, aber in diesem Fall könnte auch eine lautgesetzliche Dybo“sche Kürzung

eingetreten sein.

Lit.: B EWD s.v. Boutique; PfälzWb I 1398 s.v. Butik; ThWb s.v. Budike; Egerm

Bielfeldt

1965: 25; DWb s.v. Bude; EWD s.v. Apotheke, Boutique, Baude, Bude; Lexer s.v. buode

(1,388,1); LitEW I 61; MhdGr 130ff.; NedEW 69 s.v. boedel; Eidg1

Demiraj 107; EWA II

413; EWD s.v. Bude; LEIA, B-7; Lipp apud LIV 99 Anm. 5; LIV 98-99, 293; Lühr athem.

Präs.; Lühr 1997: 35-36; Schrijver 1991: 351-356; Eidg2

AhdEW II 411 s.vv. bû, bûan;

LitEW I 68; Harðarson 1987; Harðarson 2001; Seebold 124ff.

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Dausch 1

Dausch Sb f. „Mutterschwein“

Z: Das mda. Substantiv Dausch f. „Mutterschwein; Hündin“ (Deminutiv Däuschchen „weibliches

Ferkel“) setzt ein urgerm. Substantiv *þÌVNÀ- f. „trächtiges Tier“ fort. Es handelt sich dabei um die

Substantivierung des mit dem intensivierenden Suffix -ska- gebildeten Adjektivs *þÌ-ska- „immer

wieder anschwellend“ (vgl. ahd. frosc „Frosch“ < *pru-sko- „immer wieder hüpfendes Tier“), dem

seinerseits die idg. Wurzel *teii

h2- „stark sein/werden; schwellen“ (oder *teii

h2-k- „id.“) zugrundeliegt.

B: Das mda. Substantiv Dausch (st.F.) ist verstreut in Henneberg, östl. Sonneberg,

Hildburghausen und Coburg mit der Bedeutung „Mutterschwein, weibl. Schwein“ in

Gebrauch, vgl. ons Dusch muß ball heck „unser Mutterschwein muss bald werfen“,

Meiningen (zu hecken „nisten; gebären“ vgl. DWb s.v.). Das Substantiv wird außerdem als

Kosename und Lockruf für das weibliche Ferkel und das weibliche Schwein (häufig im

Deminutiv als Däuschchen oder Däuschlein) in Westthür. (außer südwestl. Eisenach),

südwestl. Zentralthür., nordwestl. Henneberg., Naumburg, Sömmerda, Stadtroda, Bad

Salzungen, Arnstadt, Meiningen, Erfurt, Gotha, Eisenach benutzt, vgl. z.B. Arnstadt ißt wie

e Duschchen „er ißt wie ein Ferkel“, Meiningen Dusch Dusch (wiederholter Lockruf), usw.

Thür. Dausch ist schließlich in der Bedeutung „Hündin“ in Sonneberg belegt. Zu den

Belegen vgl. ThWb. s.v. Dausch. Das Substantiv Dausch(e), mit der Variante Tausch(e),

„Mutterschwein; Hündin“ ist auch außerhalb des thür. Dialektgebietes verbreitet, vgl.

schwäb. Dausch „Mutterschwein“, bad. Dausch „Mutterschwein; Mutter vieler Kinder“,

hess. „unverschnittenes weibliches Schwein, Mutterschwein“ (DWA 7, SchwäbWb II 117,

BadWb I 442, SHessWb I 1434f., DWb s.vv. Dausch, Tausch).

L: Das Wort ist in vielen mundartlichen Varianten mit abweichendem Vokalismus bezeugt,

die aber auf anlautendes d- und inlautendes mhd. Ì�hinweisen. Vgl. z.B. nördl. Henneberg.

duš, düš mit Kürzung von Langvokal vor stimmlosem Frikativ (Sp ThGr 170f.) und

sporadischer kontextfreier Palatalisierung von (gekürztem) u zu ü (Sp ThGr 53f.); westl.

Henneberg. doš, döš (Suhl), mit regulärer Senkung von u und ü zu o und ö (Sp ThGr 51f.);

südwestl. von Meiningen belegtes douš zeigt Diphthongierung von mhd. Ì, nordwestl. von

Meiningen bezeugte duiš und duš weisen hingegen auf partielle Palatalisierung bzw.

Kürzung von mhd. Ì hin (Sp ThGr 165f.); der Wurzelvokalismus der Formen dåiš

(Mellrichstadt), döiš (um Meinigen) und dauš (südl. Henneberg., östl. Sonneberg,

Hildburghausen, Coburg) ist durch Diphthongierung und teilweise Palatalisierung von

mhd. Ì entstanden (Sp ThGr 163ff.). Die Belege mit anlautendem t (vgl. z.B. Zentralthür.

Tuschmätzchen) sind am ehesten durch Fortisierung (oder hyperkorrekte Aussprache, vgl.

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Dausch 2

Sp ThGr 191) von hochdeutschem d vor Ì�wie in nhd. Tausend < mhd. tûsent < ahd. dûsent

(Braune/Eggers AhdGr 166) zu erklären.

WB: Mda. Dausch kommt als Hinterglied in dem synonymischen Determinativkompositum

Tragedausch vor, als Vorderglied hingegen in thür. Dauschmatz (kinderspr.) m. „Ferkel“,

vgl. Duschmatz (Pößneck), deminutivisch Dischmatzchen (Eisenach), Tuschmätzchen

(Erfurt), eigentlich „Junges des Mutterschweins“ (zum Hinterglied Matz „Kosename für

junge Tiere“ < „kleiner Matthias“ vgl. DWb s.v. und EWD s.v.; vgl. auch thür. Matze2

„Lockruf für Schweine und Kaninchen“ oder Matzeber „Eber“ in ThWb s.vv.). Von

Dausch sind die zwei Deminutivbildungen Däuschchen und Däuschlein abgeleitet, vgl.

einerseits d�ã$ã (nördwestl. von Meiningen), duš$ãn (Westthür.), mit -t-Einschub dutš$ãn

(Eisenach), usw., andererseits dušlã (Suhl), düšlã, döüšlã (um Meiningen), usw. Zu

weiteren Belegen s. ThWb s.v. Dausch; zur Verteilung der Deminutivsuffixe -chen vs.

-lein im thür. Dialektgebiet vgl. Sp ThGr 242f.

WG/Egerm: Das mda. Substantiv Dausch(e), Tausch(e) hat keine sichere Etymologie (vgl.

DWb s.vv.; kein Eintrag in EWD). Der Anschluss an mda. Daus „As, Sau im Kartenspiel“

(so BadWb I 442) scheitert an der Nebenbedeutung „Hündin“ (vgl. SHessWb I 1434f.).

Auch der alternative Vorschlag, das Wort mit dem rhein. Verb dauschen „tosen;

betrunken, erregt sein“ zu verbinden (vgl. SHessWb I 1435), ist aus semantischen Gründen

unwahrscheinlich (rhein. Dausch bedeutet übrigens „Sausen, dumpfes, summendes

Geräusch; Rauschen“, vgl. RheinWb s.v. dauschen; man müßte also von einem parallelen

deverbalen retrograden Bildung Dausch „Erregtsein“ ausgehen, die sich zu „erregtes Tier“

> „weibliches Tier“ hätte konkretisieren müssen).

Das Wort kennt keine außerdeutschen Entsprechungen, zur etymologischen Deutung des

Wortes bieten sich also nur die interne Rekonstruktion des althochdeutschen Substantivs

und der Anschluss an wurzelverwandte Wörter an.

In Anbetracht der verschiedenen Bedeutungen „Mutterschwein“ und „Hündin“ (vgl. auch

den Bezug auf Zustand und Funktion als „gebärendes weibliches Schwein“ bei den

Komposita Tragedausch „trächtige Sau“ und Dauschmatz „Junges des Mutterschweins“)

ist ein Zusammenhang mit Begriffen wie Schwangerschaft, Erzeugung, Mutterschaft

naheliegend. Das Wort ist daher als eine mit dem intensivierend/iterativen Adjektivsuffix

urgerm. *-ska- (f. *-VNÀ-) gebildete Tierbezeichnung ahd. *dûska < urgerm. *þÌ-VNÀ- f.

„(immer wieder) trächtiges Tier“ zu rekonstruieren. Vgl. zur Bildung das Adjektiv ahd.

rasc „schnell, gewandt, kräftig“ < urgerm. *raska- (dazu an. rÆskr „kühn, tapfer“ < *rask-

wa-) < vorurgerm. *rot-ske/o- „schnell laufend“ (zur Wurzel *ret- „laufen“, s. LIV 507)

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Dausch 3

oder das substantiviertes Adjektiv ahd. frosc, an. froskr „Frosch“ < urgerm. *fruska-

„immer wieder springend, hüpfend“ < vorurgerm. *pru-ske/o- (Ableitung von der

Schwundstufe der Verbalwurzel idg. *prei- „springen“, vgl. an. frár „schnell, flink“ <

*frawa- < *proi-ó-, ai. 3.P.Pl.Präs.Ind.M. pravanta „sie springen“ < *prei-o-nto, s. LIV

493) – zum Suffix vgl. Kr/M 194f., mit weiteren Beispielen.

Der Vorform *þÌ-VNÀ- liegt die germ. Wurzel *þÌ- „(an)schwellen“ zugrunde, die von

zahlreichen Nominalbildungen im Germanischen fortgesetzt wird (vgl. z.B. mnd. dûn(e)

„aufgeschwollen; dick, voll“ < *þÌ-na- < *tuh2-no- (MndHWb 88), ahd. dûmo m. n.

„Daumen“ < *þÌPDQ- < *túh2-PÀQ� (EWA II 850) „der große (Finger)“ < „der

Geschwollene“ (IEW 1080 ff., úEWDD s.v. Dausling)). Das Wort bedeutete also

ursprünglich „immer wieder anschwellend“ > „immer wieder schwanger werdend“ und

wurde zu „trächtiges Tier“ substantiviert. Zum Bedeutungswandel „angeschwollen sein“ >

„schwanger sein“ > „gebären“ vgl. das Nebeneinander der Wurzel *seih3- „voll

sein/werden“ (heth. sunnai „füllt“, palaisch VÌQDW „goß aus“ < *su-né-h3-t „füllt“, LIV 539)

und *seiH- „gebären“ (jav. Präs. KXQ�PL „gebäre“ < *su-né-H-mi, ved. Perfekt sasJÎU@Í„hat

geboren“ < *se-soiH- / *se-suH- „ist schwanger“, ai. VÌ- „Erzeuger“, av. KÌ- „Schwein“,

gr. ÃM m. „Eber“, f. „Sau“, lat. VÌV, u. Akk. Pl. sif, alb. thi „Schwein“, ahd. sû, ae. VÌ, aisl.

sýr f. „Sau“, usw. (IEW 1038f.) < uridg. *suH-s f. „Mutterschwein, Sau“), falls es sich mit

Oettinger um einzelsprachliche Bedeutungsspezialisierungen derselben Wurzel *seih3-

„schwellen“ > „voll/schwanger werden“ > „gebären“ handelt (vgl. dazu LIV 538).

Eidg: Die germanische Wurzel *þÌ- „(an)schwellen“ setzt idg. *teih2- „stark sein; fett werden;

schwellen“ (vgl. russ.-ksl. tyti „fett werden“ < *tuh2-ti-, EWA II 672,�-*7����G� úEWDD

s.v. Dausling) fort. Falls das Adjektiv *þÌVND- alt ist, wäre auch eine Ableitung aus der

erweiterten Wurzel *teih2-k- denkbar, etwa *tuh2k-ske/o- > *tuh2ske/o- mit Vereinfachung

der Konsonanten Gruppe *ksk zu *sk wie in urgerm. *IRUVNÀ- „Forschung“ (Abstraktum

zum Präsensstamm *p;�-s�é/ó- „fragen“, vgl. LIV 490; zur Wurzel *teih2-k- s. unten). Die

Bedeutungsspezialisierung zu „schwanger sein > gebären“ ist für diese Wurzel

möglicherweise auch in Bildungen wie dem mit neuer e-Stufe des Grundmorphems

substantivierten Adjektiv *téih2-to- „der Geborene“ vs. Abstraktum/Kollektiv *teih2-táh2-

oder *toi�h2)-táh2- „Geburt; Nachkommenschaft“ > „Volk, Stamm, gens; Land, Nation“

vorhanden (möglich allerdings auch Adjektiv *tuh2-tó- „gefüllt, voll“ vs. Abstraktum

*teih2-táh2- „Fülle“ > „Volk“), vgl. got. þiuda, ahd. diot, diota, as. thiod(a), afries. WKL�G,

ae. ð�RG, aisl. þjóð „Volk, Stamm, Menschen, Heiden, Leute“ (mit Akzent nach dem

Abstraktum/Kollektiv), apreuß. tauto „Land“, alit. tautà „Volk, Nation“ (*tau �Wº <

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Dausch 4

*toi(h2)táh2 - zum Wurzelvokalismus vgl. Petit BSL 95 (2000): 142f.), neben osk. touto,

umbr. tuta „civitas“ < urital. *teiDW�- (mit Synkope) oder *toiW�-, gall. toutas (Briona), PN

Teutomaros, Teutates, air. túath „Volk, Stamm, Land“, nkymr. WÌG „Leute; Gegend“, korn.

tus „Volk, gens“, mit analogischem Laryngalschwund zu *teito- (statt **teiato-) nach

*toi�h2)-táh2- > (de Saussure“sches Gesetz) urkelt. *toiW�- oder mit innergallischen dial.

Wandel *toito- > Teuto- (so McCone 1996: 8). Weitere Belege in IEW 1084, EWA II

684ff. Zum Bedeutungswandel „Geburt; Nachkommenschaft“ > „Volk, Nation, Stamm,

Leute“ vgl. air. clan(n), -�- f. „Stamm, Familie, Sippe“, kymr. plant Pl. „Kinder“ (dazu

Singulativ plentyn „ein Kind“) < lat. planta „Pflanze, Sprössling“, lat. Q�WLÀ, Q�WLÀQLV f.

„Geburt > Nation“ und lat. gens, gentis f. „(adlige) Familie“ (> it. gente „Leute“) < urit.

*genati- / *JQ�WHh- < *�énh1-ti- / *�Eh1-téh- „Geburt“ (zu idg. *teih2tah2- anders Zimmer

Studien z. idg. Wortschatz 326).

Die gleiche semantische Sphäre ist außerdem in Ableitungen der erweiterten Wurzel

*teih2-k- „fett sein/werden, schwellen“ wiederzufinden (IEW 1085), vgl. das

Wurzelnomen ai. túc- f. „Kinder, Nachkommenschaft“ (< *tói(h2)k-s / *tuh2k-és, mit

analogisch durchgeführtem Laryngalschwund aus den starken Kasus nach der Lex de

Saussure/Hirt), ai. tokám n. „Nachkommenschaft“ (wohl aus dem substantivierten Adjektiv

*toi(h2)k-ó-m), ai. tókman- n. „junger Halm, Schößling“, av. taoxman- n. „Same, Keim“ <

*téi�h2)k-mE (mit Laryngalschwund in der Umgebung CHCC, vgl. dazu Hackstein HS

115: 1ff.) und apers. WDXP� f. „Familie, Same, Keim“, mit Überführung des Kollektivs

*téih2k-PÀQ / *tu(h2)k-(m)n-és (Laryngalschwund nach der Wetter-Regel, vgl. dazu Peters

1999: 447) in die -�-Stämme; zu dieser Sippe vgl. EWAia I 651, 670.

Lit.: B BadWb I 442; DWA 7; DWb s.vv. Dausch, Tausch, hecken; SchwäbWb II 117;

SHessWb I 1434f.; ThWb. s.v. Dausch; L Braune/Eggers AhdGr 166, Sp ThGr 51f., 53f.,

163ff., 165f., 170f., 191; WB DWb s.v. und Matz; EWD s.v. Matz; Sp ThGr 242f.; ThWb

s.vv. Dausch, Matze2, Matzeber; Egerm BadWb I 442; DWb s.vv. Dausch, Tausch; EWA II

850; EWDD s.v. Dausling; IEW 1038f., 1080 ff.; Kr/M 194f.; LIV 493, 507, 538, 539;

MndHWb 88; RheinWb s.v. dauschen; SHessWb I 1434f.; Eidg EWA II 672, 684ff.;

EWAia I 651, 670; EWDD s.v. Dausling; Hackstein HS 115: 1ff.; IEW 1084, 1085; LIV

490, 639f.; McCone 1996: 8; Peters 1999: 447; Petit BSL 95 (2000): 142f.; Zimmer

Studien z. idg. Wortschatz 326.

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Dausling 1

Dausling Sb f. „Mastdarm des Rindes“

Z: Thür. Dausling „Mastdarm des Rindes“ ist eine Zugehörigkeitsbildung zu einem Abstraktum urgerm.

*þÌV-tu- m. „Geschwulst“ (vgl. wfäl. GÌVW� „Beule, Geschwulst“, an. þústr „Zorn“ <

„Angeschwollensein“) oder eine Substantivierung des Adjektivs *þÌVD- „groß, angeschwollen, dick“

(vgl. dt. Dausmann „angesehener Mann“). Beide Formen sind aus einer urgerm. Wurzel *þÌV- abgeleitet, die auch im Zahlwort *þÌV-und-¯� „tausend“ vorkommt und aus einem idg. s-stämmigen

Substantiv *teii

h2-s- „Anschwellung, Kraft“ herrührt.

B: Das thür. Substantiv Dausling m. „Mastdarm (Dickdarm) des Rindes (besonders für die

Rotwurst verwendet)“ ist nur im Westthür. und Henneberg. belegt, vgl. Düüsling (um Bad

Salzungen) und Düüstling / Duusling (Schmalkalden) (ThWb s.v. Dausling).

L: Die geographische Verteilung des Wurzelvokalismus henneberg. -uu-�>Ì@�QHEHQ�ZHVWWK�U��-üü- [�@�VSULFKW�I�U�8UVSUXQJ�DXV�PKG��-Ì-, das im nordwestl. Thüringen monophthongisch

bleibt. In der Umgebung von Bad Salzungen, aber nicht in der Stadt selbst, wurde der

Vokal kontextlos palatalisiert, vgl. Sp ThGr 166. Der stimmlose dentale Verschlusslaut in

der Form Düüstling könnte auf Einschub zwischen -s- und -l- beruhen, aber man kann

nicht völlig ausschließen, dass Formen wie Duusling, Düüsling aufgrund

Gruppenvereinfachung ursprüngliches -t- eingebüßt haben.

M/WB: Das m. Substantiv ist eine denominale Ableitung mit dem Suffix -ling, eine durch

Metanalyse entstandene Variante des Suffixes -ing (vgl. mhd. grundelinc zu grundel,

sekundär zu grund, Kr/M III 208f.), das Zugehörigkeit zum Grundwort ausdrückt. Das

Suffix bildet insbesondere Personal- und Sachbezeichnungen nach charakteristischen

Merkmalen der Ableitungsbasis, vgl. EWD s.v. -ing, Munske 1964, Kr/M III 200ff.

(Beispiele von Sachbezeichnungen: Däumling, Fäustling, Fingerling, Frühling, Setzling, s.

dazu van Dam 368). Zur Ableitungsbasis → Egerm1

.

Egerm1

: Für thür. Dausling „Dickdarm“ ist bisher keine Etymologie vorgeschlagen worden.

Das Wort ist entweder eine Zugehörigkeitsbildung zu einem niederdeutschen Substantiv

*dÌVW� m. „Anschwellung, Geschwulst“ oder die Substantivierung eines verschollenen

ahd./andd. Adjektivs *GÌV�n. „angeschwollen“. Die Ableitungsbasis kann also einerseits

mit wfäl. GÌVW� „Beule, Geschwulst“, nordfr. GÌVW� „Klumpen, Haufen; Wulst, Büschel,

Zotte“, aisl. þústr m., þjóstr m. „Zorn, Heftigkeit“ < *þeus-ti- / *þÌV-tei- „(vor Zorn)

Angeschwollensein“ (AnEW 614, EWA II 898) identifiziert werden, andererseits mit thür.

Daus(t)2 m., n. „tüchtige Person, Teufelskerl“ (ThWb s.v. Daus

2), wenn dieses Wort auf

Substantivierung eines Adjektivs *GÌV� „groß, wichtig, dick“ < „angeschwollen“ beruht

(vgl. dazu nhd. mda. Daus m. „ausgezeichnetes und treffliches Wesen, Mensch den man

Page 37: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Dausling 2

mit Wohlgefallen ansieht“, Dausmann m. „angesehener Mann“, DWb s.vv.). Nicht hierher

gehörig thür. Daus(t)1 n. „Spielkarte mit dem höchsten Zählwert, As“ (ThWb s.v. Daus

1),

das eher spätahd. dûs „Zwei auf dem Würfel und im Kartenspiel“ < afrz. dou(e)s „zwei“

fortsetzt, vgl. EWA II 890. Die Beurteilung der Wortsippe von thür. Daus(t)2 m. ist durch

den Umstand erschwert, dass die Herkunft des vielfach belegten auslautenden -t- (ThWb

s.v. Daus2) unklar bleiben muss, denn der stl. dentale Verschlusslaut könnte im Auslaut

geschwunden sein oder, wie es wahrscheinlicher scheint, sekundär durch Epenthese

angefügt worden sein, vgl. nhd. Axt < mhd. ackes, nhd. Obst < mhd. obe��(s. dazu Mhd Gr

161). Beide aufgrund der Belege anzusetzenden Grundformen urgerm. *þÌV-ti- m.

„Angeschwollensein, Geschwulst“ und urgerm. *þÌVD- „angeschwollen, dick“ können so

der -ling-Ableitung zugrundeliegen; die ursprüngliche Bedeutung von mhd. *GÌV�W�OLQJ�ist

in jedem Fall „angeschwollenes Teil“ > „Dickdarm“.

Egerm2

: Die urgerm. Wurzel *þÌV- ist verbal nicht belegt. Außer den obenerwähnten Wörtern

liegt diese Wurzel möglicherweise der Sippe von ahd. dost „Dost“ (EWA II 740ff.) und

dem germ. Adjektiv *þwasta- „fest“ (nicht hierher isl. þvest, þvesti n. „die festen Teilen

des Fleisches“, die Varianten von aisl. þverst(i) sind, vgl. AnEW 629) zugrunde, worauf

das got. Verb ga-þwastjan „stark, fest, sicher machen“ und das Abstraktum got. þwastiþa

„Sicherheit“ beruhen (IEW 1084, Heidermanns 633f.; Casaretto Nom.Wbild. Got. 471).

Die Wurzel kommt auch im Zahlwort ahd. dûsunt, as. WKÌVXQGLJ, mnd. GÌVHQW, mnl.

dusen(t), dusant, duust, afr. WKÌVHQG, ae. ðÌVHQG, got. þusundi „tausend“, aisl. þúsund

(sekundär þúshund, runenschwed. þÌVKXQGUDð, mit Anlehnung an das Wort aisl. hundraþ

„hundert“, vgl. EWA II 900) „1200“, selten „1000“ < urgerm. *þÌV-XQG¯ (weitere Belege

in EWA II 891) vor. Das Wort ist einer sorgfältigen etymologischen Untersuchung in

EWA II 890ff. unterzogen worden. Wegen der Relevanz für die Etymologie von Dausling

muss aber die dort vorgenommene morphologische Analyse des Wortes präzisiert werden:

Wie oben gemerkt, ist es nicht wahrscheinlich, dass die Wurzel *þÌV- verbal verwendbar

war, da keine damit gebildeten Verben inner- sowie außergermanisch belegt sind und die

Semantik eher resultativ ist. Es ist daher am ehesten anzunehmen, dass urgerm. *þÌVXQG¯ „1000“ < „(angeschwollene) Menge“ die Ableitung eines Adjektivs *þÌV-and- „groß“

darstellt, das seinerseits mittels des adjektiverweiternden ablautenden Suffixes idg. *-ont-

(bzw. *-o-nt-) / *-Et- > urgerm. *-and- / *-und- aus dem in thür. Dausling verbauten

urgerm. Adjektiv *þÌVD- „groß, angeschwollen“ abgeleitet ist, vgl. die Bildungsparallele

ai. mah ǯant-, lat. ¯QJ�QV� „groß“ < *A�áh2-ont- / *A�h2-Et-és, zu ai. máhi, gr. P|JD <

*me�h2 n. „groß“ (dazu EWAia II 337ff., mit Literatur).

Page 38: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Dausling 3

Eidg

: Die urgerm. Neowurzel *þÌV- stammt von der Schwundstufe des proterokinetisch

flektierenden idg. s-stämmigen Abstraktums *téih2-os / *tuh2-és- „Angeschwollensein,

Stärke, Kraft“. LIV 639f. setzt einen wurzelhaften Laryngal *h2 wegen gr. V�RM „heil,

gesund“ < *tuh2-eio- an; zweideutig ist hingegen urgerm. *þwasta-, das ein Vorform

*tuh2as-to-, aber auch *tuHos-to- fortsetzen kann (vgl. lat. augustus < *h2aigos-to-, LIV

275; zum Wandel *uHV > germ. *wV vgl. ahd. swîn, as. VZ¯Q, got. swein, an. svín, ae.

VZ¯Q, afr. VZ¯Q�< *suH-ehnó- n. „Schwein“, Stoffadjektiv zu *suH- f. „Sau“, EWD s.v.

Schwein). Das Substantiv ist von av. tauuah- „Vermögen, Kraft“ (AiranW 639) und

indirekt von ai. tavás- „stark, kräftig“, távasvant- „mit Kraft versehen“, tavasiyá- n.

„Kraft“, usw. fortgesetzt (EWAia I 638ff.; s. im Allgemeinen IEW 1080ff.). Das urgerm.

Adj. *þÌVD- setzt wohl eine vorurgerm. Bildung *túh2s-o-, die eine Thematisierung des idg.

Adj. *tuh2-� ÷V� / *tuh2-s-és (vgl. ai. tavás-) darstellt. Das enge semantische Verhältnis

zwischen die Wurzel *teih2- „stark sein; fett werden“ (vgl. russ.-ksl. tyti „fett werden“ <

*tuh2-ti-, EWA 672) und *me�- „groß sein“ ist dabei nicht nur durch die Hesychglosse gr.

WDÆM�� P|JDM, SRO¼M� (Frisk s.v.), sondern auch durch zahlreiche morphologische

Entsprechungen bestätigt, vgl. ai. mahi�á- „groß, mächtig“ : tavi�á- „stark“; máhi�¯- f.

„Fürstin“ < „die Große“ : távi�¯- f. „Kraft, Stärke“; máhas- „Größe“ : av. tauuah-

„Vermögen, Kraft“; ai. mah ǯant- „groß“ §� XUJHUP�� þÌV-and- „groß“ (EWAia II 337ff.,

340). Die Wurzel *teih2- ist auch ohne das Stammbildungselement -s- im Germanischen

vertreten, vgl. z.B. mnd. dûn(e) „aufgeschwollen; dick, voll“ < *tuh2-no- (MndHWb 88),

ahd. dûmo m. n. „Daumen“ < *þÌPDQ- < *túh2-PÀQ� vs. aschwed. þumi „id.“

(verallgemeinert aus dem schwachen Stammallomorph *tuh2-mn-, mit Kürzung nach dem

Osthoff“schen Gesetz oder sekundäre Nullstufe nach EWA II 850) „der große (Finger)“ <

„der Geschwollene“. Zu weiteren Belegen der Wurzel mit Erweiterungen vgl. IEW 1080

ff., EWA II loc. cit.. Semantisch nah stehen die verwandten Wörter an. þjó n.

„Oberschenkel“, ae. þéoh „Oberschenkel, Hüfte“, afr. WKL�FK, ahd. dioh < *téih2ko-m

sowie aksl. WXNt „Fett“, lit. táukas „Gebärmutter; Fettstück“, lett. tàuks „fett, feist“, tàuki

„Fett“, apr. taukis „Schmalz“ < *téih2ko-, neben lit. tùkti, lett. tûkt „fett werden (von

Mastrindern)“, lett. WÌNV „Geschwulst, uterus“, lat. WXFF�WXP�„eine Art gesalzene Rinds-

und Schweinswurst“ (aus *WÌN�WR-, mit Gemination nach der littera-Regel) und mir. tón f.

„Hintern“ < *WXNQ� (< *tuHk-nah2, mit Laryngalreduktion nach der Wetter-Regel). Alle

Formen sind aus einer mit -k- erweiterten Wurzel *téih2k- „fett werden“ abgeleitet (AeEW

363, AnEW 612f., EWA II 671f., LitEW II 1066, 1136).

Page 39: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Dausling 4

Lit.: B ThWb s.v. Dausling; L Sp ThGr 166; M/WB EWD s.v. -ing; Kr/M III 200ff., 208f.;

Munske 1964; van Dam 368; Egerm1

AnEW 614, DWb s.vv. Daus, Dausmann; EWA II

890, 898; Mhd Gr 161; ThWB s.vv. Daus1, Daus

2; E

germ2 AnEW 629; Casaretto

Nom.Wbild. Got. 471; EWA II 740ff., 890ff.; EWAia II 337ff.; Heidermanns 633f.; IEW

1084; Eidg

AeEW 363; AiranW 639; AnEW 612f.; EWA II 671f., 850; EWAia I 638ff., II

337ff., 340; EWD s.v. Schwein; Frisk s.v. WDÆM; IEW 1080ff.; LIV 275, 639f., LitEW II

1066, 1136; MndHWb 88.

Page 40: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Deize, deizen, deizeln 1

Deize Sb f. „Bett“

deizen, deizeln swV „schlafen, schlafen gehen“

Z: Das kinderspr. Wort Deize „Bett“ stellt die Konkretisierung eines Adjektivabstraktums mhd. *t�]H�„Schlaf“ < ahd. *WÌ]¯ „Schläfrigkeit, Betäubtsein“ dar. Die Ableitungsbasis mhd. tûz „ruhig, still“ <

*GÌWWD- ist eine expressive langvokalige Variante des urgerm. Verbaladjektivs *dutta- „betäubt,

schläfrig, verwirrt“ < *dud-na- „erschüttert“, das auf die idg. Wurzel *dheii

dh- „erschüttern“

zurückgeht.

B: Das kindersprachliche Wort Deize (auch Deiz, expressiv redupliziert Deizedeize) „Bett“ ist

vorwiegend in Ost-, Nordost- und Ilmthüringischen belegt, und zwar in Schmölln,

Altenburg (vgl. in de Deiz giehn „ins Bett gehen“), Jena (Lobeda) (mr sinn miede un wulln

Deize mochen „wir sind müde und wollen „Deize machen“ = schlafen“ (zu mr „wir“ vgl.

Sp ThGr 21)), Hohenmölsen und Merseburg (mache Deiz! „schlaf mal“). Das Wort ist

auch als Vorderglied im tautologischen Kompositum Deizebett „Bett“ verbaut

(Sangerhausen, Schmölln, Altenburg). Dazu ist im selben Gebiet das zugehörige schwache

Verb deizen „schlafen (gehen)“, refl. sich deizen „sich schlafen legen“ in Gebrauch

(Merseburg, Hohenmölsen, Schmölln). Die kindersprachliche Wortsippe ist auch im

sächsischen Dialektgebiet gut vertreten (Müll.-Fr. 1,207: deize(l)n, ThWb s.vv. Deiz(e),

Deizebett, Deizedeize, deizen).

M/WB: Deize ist nur im fem. Genus belegt; die Nebenform Deiz ist ebenfalls feminin und

weist optionale Synkope des auslautenden /�/ auf (vgl. dazu FrnhdGr 80). Das synchron

betrachtet tautologische Kompositum Deizebett ist historisch ein Determinativkompositum

„Schlafbett“ (→ Egerm

). Die reduplizierte Form Deizedeize ist hingegen eine typisch

kindersprachliche expressive Bildung mit vollständiger Wiederholung des Stamms (vgl.

z.B. kinderspr. Mama, Papa, Popo, thür. happahappa machen „essen“ (úEWDD s.v.

happen), usw.).

L: Der Wortanlaut des Wortes ist historisch ambig, da der anlautende dentale Verschlusslaut

thür. d mhd./nhd. t und d entspricht (Sp ThGr 181, 191). Auch der Wurzelvokalismus des

Substantivs ist zweideutig. Der Diphthong thür. ei /ai/ kann mhd. ei, eu, ¯�<î> und ��<iu>

fortsetzen. Mhd. ei und öu (> nhd. ei / eu) scheiden jedoch mit Sicherheit aus, da ihnen ein

Diphthong /ai/ im nordwestlichen Thüringen entspricht, aber nicht im Ilmthüringischen,

1RUGRVWWK�ULQJLVFKHQ�RGHU�2VWWK�ULQJLVFKHQ��ZR�GLH�]ZHL�PKG��/DXWH�VWDWWGHVVHQ�YRQ�����vertreten werden (Sp ThGr 136ff., 148ff., 151ff., 173ff.). Der wurzelauslautende

Konsonant z setzt die Vereinfachung einer Geminata *tz in der Stellung nach Langvokal

und Diphthong fort (vgl. z.B. nhd. Weizen (EWD s.v. Weizen)). Für Deize kommen also

Page 41: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Deize, deizen, deizeln 2

vier mögliche mhd. Vorformen in Betracht, *G¯]H, *W¯]H, *d�]H oder *t�]H� (wo <z> für

einfaches /ts/ steht). Zugunsten des letzten Rekonstrukts mit anlautendem *t spricht die

etymologische Analyse des Substantivs.

Egerm1

: Das thür. Substantiv Deize „Bett“ kann als Nomen Loci metonymisch aus dem

Abstraktum „Schlaf, Schlafen“ hervorgegangen sein (vgl. dt. Wohnung „Wohnort“ < *„das

Wohnen“). Die belegte Bedeutung „Bett“ ist möglicherweise aber auch durch Einfluss des

zugehörigen Verbs deizen „sich ins Bett legen“ < „schlafen gehen“ entstanden. Eine

ursprüngliche abstrakte Bedeutung wird auf jeden Fall von der Redewendung Deize

machen „schlafen, „Schlaf machen“„ gestützt. Eine umgekehrte Motivation von „Bett

machen“ zu „Schlaf machen“ wäre dagegen wenig plausibel.

Das Substantiv ist auf eine Vorform mhd. *t�]H „Schlaf“ < vorahd. *WÌ�W�]¯� � � �WÌWs¯���rückführbar und mit den schwachen Verben mhd. tützen „zum Schweigen bringen,

beschwichtigen“ (neben tiuzen = /t�Wsen/ „beschwichtigen“), betützen „still machen, außer

Fassung bringen“ zu verbinden, die ihrerseits wohl zu dem einmal belegten Verb ahd. tuzta

„beschwichtigte“ (Otfrid 1, 11, 41) gehören (BMZ s.vv. betütze, tiu�e, Lexer s.v. tützen,

Lexer Nachträge s.v. betützen; vgl. auch mfränk. beditze(l)n „(ein Kind) beruhigen“, s.

Wolf Unterfränk.Wb.). Mhd. (be)tützen ist wohl ein faktitives Verb (< vorahd. *tutzijana-

[= */tuttsijana-/] < urgerm. *dutt-ija-na-). Es stellt sich zur Sippe von mhd. tûz Adj. „still,

verstockt, heimtückisch“ (ain tausser pankhart, Beh. 44,18, vgl. Lexer s.v. tûz) < vorahd.

*WÌ�W�]D- (mit Geminatenvereinfachung nach Langvokal, vgl. Lühr Expressivität 213, 264)

< urgerm. *GÌWWD- < *GÌGQD- „betäubt“ (zur Rekonstruktion der Wurzel s. unten). Vgl.

auch das Adverb mhd. tûze „still, sanft, ruhig“ (wie tû�e ich mich gebâre MSF. 309,21

(Lexer s.v.)) oder das schwache Verb mhd. tûzen „sich still verhalten“ (Lexer s.v.; vgl.

auch BMZ s.v. tû�e: „verhalte mich still, sei es um zu schlummern, oder aus Betäubung,

oder Trauer, oder um jemand nachzustellen“). Mhd. tûzen setzt wohl ein unbelegtes

schwaches Verb der III Klasse mit essivischer Bedeutung ahd. *WÌ�W�]�Q „still sein“ <

urgerm. *GÌWW-ai-na- fort.

Mit mhd. (be)tützen werden außerdem die nicht umgelauteten Verbaladjektive nhd. bedutzt

„aus der Fassung gebracht“ bei Goethe (vgl. Goethe Wb. II 174), verdutzt „betäubt,

verwirrt, verlegen; erstaunt, verblüfft“ (DWb s.v. verdutzen) verglichen. Diese Wörter sind

erstarrte Passivpartizipien zu den schwachen Verben mhd. vertutzen „betäubt werden,

außer Fassung geraten“, mnd. vortutten „id.“, mndl. dutten „verrückt sein, rasen, wüten“,

nnd. verduttet „betäubt, verwirrt“, nndl. dutten „schlummern, einnicken“, nfries. dutten

„schlafen, träumen, wackeln“, isl. dotta „schlummern, in Halbschlaf sein, vor Müdigkeit

Page 42: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Deize, deizen, deizeln 3

nicken“ < urgerm. schw. Verb *GXWWÀ-ji/a- „schläfrig / betäubt sein“ < „(vor Müdigkeit)

wackeln“ (DWb loc.cit. und Lühr Expressivität 371f.; zum frühnhd. Ghostword tutz

„Schlag“, eigentlich trutz „Trotz“, vgl. Lühr loc.cit.; zum mnd. Verb vgl. Jeroschin îdoch

dô niht vertutte / sîn muot von dem getwange (262 Pfeiffer), dazu DWb loc.cit. mit

Literatur und Lexer s.v. ver-tu��en; zu weiteren verwandten mhd. Formen s. BMZ s.v. tû�e,

NedEW 145f.; zu ndl. dutten anders EWNed s.v.: zu aisl. þjóta „heulen, tosen“, ae. ðeotan,

ðÌWDQ „heulen, brüllen“, ahd. diozan „laut klingen“, got. þuthaurn „Trompete“, aber s.

EWA II 688ff.). Das wurzelanlautende d- (statt t-) der neuhochdeutschen Formen beruht

dabei wohl auf Kontamination mit den mittel- und niederdeutschen Verben.

Egerm2

: Neben den Formen mit wurzelauslautendem *tt sind in den germanischen Sprachen

auch Wörter belegt, deren Wurzel mit *d oder *dd auslautet und die „taumeln, wackeln;

verwirrt sein“ bedeuten, vgl. afries. GXGVO�N�m. „Schlag, der taumeln macht“, westfries.

doddjen „taumeln“, älteres ndän. dudde, ndän. dude „Taumellolch“, nd. dudendop,

dudenkop „schläfriger Mensch“, nnorw. dudra „zittern“ (< *„wackeln“), ae. dydrian

„täuschen“ (< *„verwirrt machen“), ne. dudder „zittern, schaudern“, ne. dodder

„Zittergras“, nnl. dodden, dodderen „schlummern, eingenickt sein“, ofries. duddern,

dudden „betäubt sein, wirr oder schläfrig hinsitzen, träumen, duseln“, ofries. duddig

„betäubt, wirr, dumm, schläfrig“, vielleicht auch nisl. doði „Gefühllosigkeit“, doðna

„gefühllos werden“ (IEW 264f., Lühr Expressivität 371f., mit weiteren Formen). Die

Geminata *dd könnte mit Lühr loc.cit. expressiver Herkunft sein (typisch für Verben, die

schwankende Bewegungen bezeichnen) oder die lautgesetzlich entstandene Geminata *tt

durch Einfluss der Formen auf *d analogisch ersetzt haben. Die hier erwähnten Wörter

setzen also eine urgermanische Wurzel *deud- / *GÌG- / *dud- „erschüttern“ > „(vor

Müdigkeit) wackelig machen, verwirren, schläfrig machen, betäuben“ fort, von der ein

Verbaladjektiv *dud-na- (neben *GÌG-na-) „wackelig, einnickend, verwirrt, schläfrig,

betäubt“ gebildet worden ist. Das Nebeneinander von lang- und kurzvokaligem

Wurzelvokalismus ist hier wahrscheinlich expressiver Natur.

Ferner werden diese Wörter an die Sippe von frühnhd. dauzen, dautzen „anrennen, stoßen“

(< mhd. *GÌ]HQ, wohl mit sekundärer Vokaldehnung expressiven Ursprungs)

angeschlossen (DWb s.vv. dauzen, verdutzen). Als Parallele zum semantischen Wandel

„stoßen“ > „betäuben“ könnte man lat. stupeo „bin betäubt, staune“ < urital. *stup-eh1-

he/o- vs. gr. W¼SWZ „stoße, steche, schlage“ < *tup-hé/ó-, zur Wurzel *(s)teip- „stoßen,

schlagen“, anführen (IEW 1034, LIV 602). Der Vergleich von mhd. *GÌ]HQ „anrennen,

stoßen“ mit mhd. tûzen „sich still verhalten“ kann allerdings aufgrund des abweichenden

Page 43: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Deize, deizen, deizeln 4

Anlauts nicht aufrechterhalten werden. Es handelt sich bei *GÌ]HQ vielmehr um den

schwundstufigen Reflex einer urgerm. Wurzel *þeut- „stoßen“, die eine bisher unentdeckte

Variante ohne s-mobile von urgerm. *staut-a/i- „id.“ < uridg. Präsensstamm *(s)te-stoid-,

zur Wurzel *(s)teid-, darstellt (vgl. got. stautan, ahd. stôzan, ved. tudáti, lat. WXQGÀ, alb.

shtyni „stoßen“, air. do-tuit „fällt“, lat. studeo „bin eifrig“ (IEW 1033f., Seebold WbStVrb

463f., LIV 601)).

Mit den mittelhochdeutschen Formen auf wurzelauslautender Affrikata werden traditionell

auch Wörter mit einfachem -s- verglichen (DWb s.v. verdutzen), vgl. bair. dosen „sich still

verhalten; horchen, nachdenken, schlummern“ (BMZ s.v. tû�e), mhd. WÀVHQ, mnd. d£sen

„schlummern“, d±singe,� GÌVHO „Betäubung“, nhd. Dusel, Dussel „Schwindel, Schlaf;

unverdientes Glück (wie im Schlaf)“ (niederdeutsches Lehnwort, vgl. EWD s.vv. Dusel,

Dussel; die Bedeutung ist wohl vom jiddischen Lehnwort Masel, Massel „unverdientes

Glück“ beeinflusst worden), nndl. duizelig „schwindlig“, ahd. tusic „stumpfsinnig“

(Schützeichel GlW. 125), mnd. GÀVLFK, mndl. d±sich, d£sich, GÀVLFK „betäubt“ (NedEW

144), ae. dysig „töricht, unwissend, blödsinnig“, ne. dizzy „schwindlig“ (AeEW 82), nhd.

dösig (niederdeutsches Lehnwort, vgl. EWD s.v. dösig), afries. GÌVLD „schwindeln“, aisl.

dús „Windstille“, nschwed. dial. dus „still“, dúsa „ausruhen, sich still verhalten“, nnorw.

nschwed. dial. GÌVD� „ausruhen, schlummern“ (AnEW 88); mit Vernerschem Gesetz

außerdem afries. durich, mnd. GÀUH, mhd. WÀUH, WÀUHFKW „Tor, Töricht“ (AeEW 82, EWD

s.v. Tor1). Die Alternanz zwischen der Affrikata tz und dem einfachen Sibilanten s ist aber

im Deutschen unerklärbar und der semantisch attraktive etymologische Anschluss muss

aufgegeben werden (zu mhd. WÀVHQ�und Zugehörigem vgl. vielmehr EWD s.v. dösig, IEW

268-271).

Mhd. *t�]H „Schlaf“ setzt ein Adjektivabstraktum mit umgelautetem langen

Wurzelvokalismus vorahd. *WÌ�W�]¯ < urgerm. *GÌWW¯� / *GÌWWMÀ- fort (zum Lautlichen vgl.

etwa dt. schnäuzen < *VQÌWWLMDQD-, zu Schnauze < *VQÌWWÀ- neben Schnauße < *VQÌWÀ-;

anders EWD s.v. Schnauze). Da die wurzelauslautende Geminata in dieser Form nicht

durch westgermanische Konsonantengemination entstanden sein kann (man würde nach

wurzelhaftem Langvokal aufgrund des Sieverschen Gesetzes *GÌWLMÀ- > vorahd. *WÌ�]�]LMÀ-

> *Deiße erwarten), muss man annehmen, dass die Geminata zur Ableitungsbasis gehörte

und das Abstraktum eine Ableitung des Verbaladjektivs *GÌWWD- „schläfrig, betäubt“

darstellt. Vorahd. *WÌ�W�]¯�bedeutete also ursprünglich „Schläfrigkeit, Betäubtsein“.

Eidg

: Die urgerm. Wurzel *deud- / *GÌG- / *dud- „wackeln lassen, erschüttern“ gehört zur

Sippe des ved. Partizips Präsens dódant- „tobend, widerspenstig, wild“ < *„erschütternd“

Page 44: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Deize, deizen, deizeln 5

und der Hesychglosse gr. T¼VVHWDL� �� WLQ�VVHWDL� „wird erschüttert“ (vgl. IEW 264f.,

EWAia I 731, LIV 148 s.v. *dheid

h-). Die auffällige Wurzelstruktur mit gleichem

Okklusiv sowie der unregelmäßige Vokalismus im Germanischen kann zweifach erklärt

ZHUGHQ��(QWZHGHU�KDQGHOW�HV�VLFK�XP�HLQH�RQRPDWRSRHWLVFKH�:XU]HO��VR�]�%��*RWÀ�������gegebenenfalls mit unregelmäßiger Reduplikation, die lautmalerisch eine schwankende

Bewegung darstellt, oder um eine Neowurzel, die schon grundsprachlich aus einem

Syntagma *dheiH- + d

heh1- > *d

hei(H)d

h(h1)- „wackeln lassen“ (zu diesem Typ vgl. gr.

PDQT�QZ „lernen“ aus *men- + dheh1-, IEW 730)�oder aus einem komponierten Adjektiv

*dhu(H)d

h(h1)ó- „wackelig“ (Typ gr. �JDT´M� < *A�h2d

h(h1)ó-, vgl. dazu Balles Koll.

Freiburg), mit Laryngalschwund in Komposition, abstrahiert wurde. In diesem Fall sind

alle Formen auf die idg. Wurzel *dheiH- „rasch hin und her bewegen, schütteln“

zurückführbar, die von ved. dh̄Çavati „reibt, spült ab“ < *„bewegt hin und her schnell auf

kleinem Raum“, jav. fra-/DXXDWD „soll sich abreiben“ (akrostatisches Wurzelpräsens

*dh�i'- / *d

hei'-), ved. GKÌQyWL „schüttelt“ (< *d

huH-néi-ti; zu diesen und weiteren iir.

Formen vgl. EWAia I 782f.)“, gr. TXgZ�„bin in Bewegung, tobe“, T¼Z „rase“ sowie an.

dýja „schütteln“ (< *dhuH-hé/ó-, vgl. AnEW 89, Lühr Koll. Freiburg 1981 57), got. Nom.

Pl. Part. Prät. af-dauidai „geplagt“ und aksl. daviti „drängen, würgen“ (aus dem

Iterativstamm *dhÀi-he/o-) fortgesetzt ist (zu den Formen vgl. IEW 261ff., LIV 148f.).

Lit.: B Müll.-Fr. 1,207: deize(l)n; Sp ThGr 21; ThWb s.vv. Deiz(e), Deizebett, Deizedeize,

deizen; M/WBúEWDD s.v. happen; FrnhdGr 80; L EWD s.v. Weizen; Sp ThGr 136ff.,

148ff., 151ff., 173ff., 181, 191; Egerm1,2

AeEW 82; AnEW 88; BMZ s.vv. betütze, tû�e,

tiu�e; DWb s.vv. dauzen, verdutzen; EWA II 688ff.; EWD s.vv. dösig, Dusel, Dussel,

Schnauze, Tor1; EWNed s.v.; Goethe Wb. II 174; IEW 264f., 268-271, 1033f.; Lexer s.v.

tützen, tûz, tûze, tûzen, ver-tu��en; Lexer Nachträge s.v. betützen; LIV 601f.; Lühr

Expressivität 213, 264, 371f.; NedEW 144ff.; Schützeichel GlW. 125; Seebold WbStVrb

463f.; Wolf Unterfränk.Wb.; Eidg

AnEW 89; Balles Koll. Freiburg 2001; EWAia I 731,

���I���*RWÀ������,(:����II������I��������/,9����I��V�Y�� dheid

h-; Lühr Koll. Freiburg 1981

57.

Page 45: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

1

Eller f. „landwirtschaftlich nicht genutzte Fläche, Ödland“

Z: Für das ober- und mitteldeutsche Wort Eller f. „wegen geringer Erträge landwirtschaftlich nicht

(mehr) genutzte Fläche, Ödland“ (erster Beleg: mhd. Elle*) kommen mehrere etymologische

Interpretationen in Betrachtung: 1) es handelt sich um ein lat. Lehnwort *aln�ULD�„unwirtliche, an

Erlen reiche Wiese“, eine Deutung, die aber an der geringen Anzahl der Fortsetzer des lat. Wortes

leidet; 2) das Wort ist eine Ableitung aus der Wurzel *h1el- ‚modrig, feucht sein’ und setzt ein

Abstraktum urgerm. *HOLQÀ ‚Sumpf’ < ‚Modrigkeit’ zum Verbaladjektiv *ulina- ‚verfault’ oder ein

Abstraktum urgerm. *HO]À ‚Sumpf’ zum Adjektiv *h1el-s-ó- ‚sumpfig’ oder ein Abstraktum *HO]QÀ�‚Fäulnis’ zum Adjektiv *h1el-s-nó- ‚faul’ fort. Die Adjektive sind ihrerseits vom s-Stamm uridg.

*(s)h1el-os- ‚Feuchtigkeit’ (ai. sáras- ‚Endsee’, gr. ¶¶NNRRTT

‚feuchte Wiese’) abgeleitet.

B: Das thür. Substantiv Eller „wegen geringer Erträge landwirtschaftlich nicht (mehr)

genutzte Fläche, Ödland“ ist im östlichen Itzgründischen belegt. In Henneberg ist das

Substantiv außerdem als Bezeichnung für Weideland in Gebrauch gewesen (1855); vgl.

auch geheegte eller und unbesamte felder (Hildburghausen, 1787). Als Flurname ist das

Wort um Schmalkalden, Neuhaus, Hildburghausen und Meiningen (heilige Eller) bezeugt,

vgl. ThWb s.v. Eller1.

Außerhalb des thür. Dialektgebietes erscheint das Substantiv ab dem 14. Jh. im Österr., Bair.,

Oberfränk. und Hess., vgl. mhd. zwên ellen ‚zwei unfruchtbare Äcker’ (Urbarbuch des

Klosters zu Sonneburg 81,19 [Österreich, 1. Hälfte des 14. Jh.s], vgl. Lexer s.v. elle swm.?,

in DWb2 s.v. 2Eller nicht erwähnt), bair. Ellern ‚unfruchtbare Wiesenänger’, dazu verellern

„Weinberge, Äcker u. drgl. in Ellern oder zu Ellern liegen laßen, veröden“ (Schmeller I

60f., mit Literatur). Nach DWb2 s.v. 2Eller ist „md., obfrk. und steir. mit den Formen eller,

elder, ellern vom 15.-17. Jh. bezeugt, danach noch lexikalisch. Meist im Plur. ‚wegen

schlechter Bodenqualität landwirtschaftlich nicht genutzte Fläche, unfruchtbare Wiese’“.

Vgl. frk. eldern (Würzburg, 1460: uff prache, uff wilde eldern und anders, das man nicht in

hege haben will, mügen sie wol treiben), hess. ellern (Frankfurt 1578), frk. ellern

(Würzburg 1691: ob die aecker, wiesen, gärten und weinberge ... vom ungewitter etwan

ruinirt, oder gar in ellern öd liegen), nassau. ellern (KEHREIN Nassau 1862: auf solchen

ellern wachsen gerne erlen); zu den Belegen vgl. DWb2 loc. cit., mit Literatur.

Das Wort liegt vielleicht den südhessischen Flurnamen Auf dem Elter ([Kf¸m �ld¸r]), Im, Auf

dem Elter und uff den eldern (1495) zugrunde (so Südhess.Flurnamenb. 327f. s.v. Elter,

mit Belegen), das aber vom ebenfalls als Flurnamen bezeugten Homonym mhd. elter,

umgelautete Variante von mhd. altære, altâre ‚Altar’, nicht leicht unterscheidbar ist.

Page 46: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

2

L: Die dialektalen Varianten mit dentaler Okklusiv weisen sporadische d-Epenthese zwischen

ll und r nach erfolgtem Vokalsynkope auf (*ellere > *ellre > *eldre > elder, vgl. zur

Synkope FrnhdGr 80 Anm. 3; als Parallele vgl. das Homonym Eller vs. Elder ‚Erle’ in

ThWb s.v. Erle). Der auslautende Vokal *e ist nach Liquid regelmäßig geschwunden, vgl.

FrnhdGr 81. Die Pluralform Eller weist dialektalen Ausfall von auslautendem -n auf, vgl

Sp ThGr 239.

M: Thür. Eller ist fem. Genus (ThWb s.v. Eller1, DWb2 s.v. 2

Eller). Die südhessischen

Flurnamen bezeugen daneben auch mask. Genus (→ B). Das Wort ist meistens in der

Pluralform Ellern (neben Eller → L) belegt.

Egerm1: Man hat für das Substantiv bisher keine Etymologie gefunden (vgl. ThWb s.v. Eller1).

Zu Recht wird im DWb2 s.v. 2Eller betont, dass wohl kein direkter Zusammenhang

zwischen Eller ‚unfruchtbare Wiese’ und dem Homonym Eller ‚Erle’ besteht, obwohl der

Beleg aus Nassau 1862 auf solchen ellern wachsen gerne erlen (→ B) eine sekundäre

volksetymologische Anknüpfung zwischen beiden Wörtern seitens der Sprecher bezeugt.

Als Parallele für eine Synekdoche ‚Wiesenbaum, Erle’ zu ‚Wiese’ kann die scheinbare

Parallele dt. Weide (Phytonym) zu Weide („Grasland“) nicht herangezogen werden, da die

zwei letzten Wörter mit Sicherheit verschiedener Herkunft sind (mhd. Z¯GH� vs. mhd.

weid(e), vgl. EWD s.vv. Weide1, Weide

2); außerdem ist Eller vom Anfang seiner

Überlieferung an mit lateraler Geminata belegt (→ B); eine direkte Fortsetzung des Wortes

für ‚Erle’ (ahd. elira, erila, vgl. EWA II 1049 ff., Schaffner VG 380ff.) ist somit

ausgeschlossen.

Ein Hinweis auf die erste etymologische Deutung des Wortes könnte von den frühen

Bezeugungen des Ortsnamens Eller bei Düsseldorf stammen, der in Urkunden des 12. Jh.s

als Elnere vorkommt (K. B. Heppe Unser Eller www.garde-eller.de/eller/01geschichte/

01index 01.htm). Die üblicherweise für diesen Namen vorgeschlagene etymologische

Anknüpfung an ahd. elina ‚Unterarm, Elle, Ellenbogen’, daher ‚gekrümmt’ > ‚(Fluss-)

Biegung’ > ‚(feuchte) Wiese an dem Fluss’ (Literatur: xxx) ist schon aufgrund des

suffixalen -ere unwahrscheinlich. Von der Form her setzt der Ortsname am ehesten ein

kollektivisch gebrauchtes Abstraktum lat. *DOQ�ULD > ahd. *elneri fort, eine Femininmotion

einer Ableitung mit dem Suffix -�ULXV�des Phytonyms lat. alnus ‚Erle’ (zur Suffixvariante

ahd. ari, -eri, -iri neben ahd. -�UL� < lat. -�ULXV, -�ULXP vgl. Kr/M III 83f.) mit der

ursprünglichen Bedeutung ‚an Erlen reiche Wiese’. Vom dem auf dem linken Rheinufer

liegenden Kastell Novaesium (heute Neuss) bei Düsseldorf ausgehend pflegten die Römer

Page 47: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

3

Handelsbeziehungen mit den germanischen Siedlungen auf der anderen Seite des Flusses;

das später als Elnere bezeichnete Gebiet war „eine Art Niemandsland, das von den Römern

zeitweise als Viehweide (...) genutzt wurde“ (vgl. K. B. Heppe loc. cit.). Erlen gedeihen

u.a. in unwirtlichen Gebieten, wo keine anderen Pflanzen wachsen können, und bereiten

den Boden für andere Gewächse auf; *DOQ�ULD bezeichnete also ursprünglich eine nur von

Erlen bewachsene Wiese, die für Viehweide, aber nicht (mehr) für landwirtschaftliche

Zwecke benützt werden konnte. Diese Etymologie hat allerdings zwei Schwächen: 1) das

lat. Wort ist nicht direkt belegt, es liegt nur dem ital. Toponym Arnara bei Frosinone

(Latium) zugrunde (mit Liquidenassimilation und regelmäßigem Schwund von -i-

zwischen r und Vokal (vgl. Rohlfs xxx)); im Lateinischen ist nur die Bezeichnung für

‚Erlenwald’ DUQ�WXP belegt, vgl. auch frz. aulnaie, aunaie f. (zur Bildung vgl. lat.

TXHUTX�WXP zu quercus ‚Eiche’); 2) das Wort Eller ist auch in einer Gegend wie Thüringen

verbreitet, wo direkter römischer Einfluss nicht bestanden hat. Dass das Wort vom Limes

her weiter nach Norden oder Osten ausbreitete, ist zwar durchaus möglich, aber nicht

nachweisbar.

Egerm2: Wenn man Eller bei Düsseldorf von der Sippe von thür. Eller trennt und hingegen den

Beleg mhd. zwên ellen ‚zwei unfruchtbare Äcker’ ernst nimmt, muss man von einer Form

mhd. Elle* m. oder f.? ausgehen, die später aufgrund volksetymologischen Einflusses von

Eller ‚Erle’ mit einem Suffix -er erweitert wurde. Das Wort könnte ursprünglich

‚sumpfartige, unwirtliche Gegend’ bedeutet haben und so an die Sippe von aisl. ulna

‚verfaulen’ (nisl. uldna), nnorw. dial. ulna ‚zu faulen anfangen, modrig sein’, nschwed.

dial. ulna ‚ranzig werden’ angeschlossen werden, das ein denominatives Verb aus dem

Verbaladjektiv urgerm. *ulina- ‚verfault’ ist (vgl. nnorw., nschwed. dial. ulen ‚id.’, vgl.

AnEW 633 s.v. ulna). Zur urgerm. Wurzel *ul- (wohl Schwundstufe zu *el-) vgl. noch

ndd. ostfries. olm, ulm ‚Fäulnis, bes. im Holz’, mnd. ulmich ‚vom Fäulnis angefressen’,

mhd. ulmic ‚id.’ sowie das Verb norw. dial. ulma ‚schimmeln’ (IEW 305, mit weiteren

innergermanischen Anknüpfungen).

Eidg: Von der uridg. Wurzel *h1el- ‚modrig sein, verfaulen’ ausgehend (IEW 305) kommen

für mhd. Elle* ‚unfruchtbarer Acker’ drei mögliche Interpretationen in Betrachtung: 1) Das

Wort setzt ahd. *elina < urgerm. *HOLQÀ ‚Morast, Sumpf’ fort (mit Bedeutungswandel

‚Morast’ > ‚unwirtliche Gegend’ > ‚unfruchtbare Wiese’). Urgerm. *HOLQÀ�‚Morast’ würde

seinerseits eine mit neuer Vollstufe versehene Substantivierung vorurgerm. *h1el-enah2-

‚Fäulnis’ des Verbaladjektivs *ulina- < vorurgerm. *h13-eno- ‚verfault’ fortsetzen (mit

Page 48: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

4

regelmäßiger Beibehaltung des silbischen Resonanten vor Morphemgrenze, vgl. aisl.

numenn < urgerm. *numina- < *nA-eno-, s. Seebold StV 357); 2) Mhd. Elle* beruht auf

urgerm. *HO]À ‚Sumpf’ (mit Assimilation *-lz- > westgerm. *-ll-, eine Lautentwicklung, die

allerdings aufgrund des Mangels an einschlägigem Material weder bewiesen noch

falsifiziert werden kann). Wenn aber das Wort ein Abstraktum *h1el-s-áh2 ‚Modrigkeit’ zu

einem aus einem s-Stamm abgeleiteten Adjektiv *h1el-s-ó- ‚modrig’ fortsetzt, wäre es mit

ai. sáras- n. ‚Wasserbecken, Teich, (End-)See’, VDUDV¯- f. ‚Teich, Pfuhl, Sumpf’, sarasyà-

‚zum Teich gehörig’ (dazu sáras-vant- ‚mit einem Endsee versehen’, Sárasvat¯ Name eines

Stromes und seiner Gottheit, av. HaraxvDLW¯, apers. /KDUDXYDW¯-/ ‚Arachosien’) und gr. ¶NRT

n. ‚feuchte Wiese, sumpfige Niederung, Sumpf, Marschland, Aue’, gr. ¶NHLRT ‚sumpfig’

(IEW 901, EWAia II 708, Stüber 2000 HS 113: 132-142) vereinbar. Dabei wäre für die

graeco-arischen Wörter eine Form mit s-mobile *(s)h1él-os- ‚Feuchtigkeit, Modrigkeit’

anzunehmen (anders, aber aus semantischen Gründen unwahrscheinlich Stüber loc. cit.:

*sel-os- ‚das Bleiben, das zum Stillstand Kommen’). 3) Dem mhd. Wort könnte auch eine

Vorform urgerm. *HO]QÀ < *h1el-s-náh2 zugrundeliegen, die sich über *el(l)na zu mhd.

Elle* entwickelt hätte. In diesem Fall wäre das Wort mit lit. álksna ‚Lache, Sumpf’ (mit

Metatonie wegen der fem. Motion; zum anit-Charakter der Wurzel vgl. lit. a5P¡V / e5P¡V ‚aus dem Körper fließende Materie’ und almuõ ‚Eiter’) und lett. al(u)ksna ‚einschießende,

morastige Stelle, besonders im Walde’ (LitEW I 8 s. v. a5P¡V) < vorurbalt. *h1ol-s-nah2

‚das Morastigsein’ vergleichbar (zum lautlichen vgl. lit. e5ksnis ‚Erle’ < *elsnha- oder

kalkšnóti < kalšnóti, vgl. EWA II 1063, 6PRF]\�VNL������+6���������; zur Bildung vgl.

gr. ¥YPJ ‚Spreu’ < *h2ak’-s-nah2 zu *h2ak’-os- ‚Ähre’ > got. ahs ‚id.’, vgl. Casaretto

WbGot 374; zu o-stufigen Ableitungen vom s-Stamm vgl. die in Deutschland und

Skandinavien belegten Fluss- und Ortsnamen Alster, Elster, Alost, Alisti bei Udolph

Germanenproblem 221, 225, der aber von einem Suffix -st- ausgeht). Die germanischen

und baltischen Wörter würden verschiedene Abstraktbildungen zu einem vom -s-Stamm

*(s)h1él-os- ‚Sumpf, Morast’ abgeleiteten Adjektiv *h1el-s-nó- ‚sumpfartig, morastig’

fortsetzen. Insgesamt sind die Deutungen 2 und 3 weniger plausibel als die Deutung 1, da

sie Zusatzannahmen wie den Wandel von urgerm. *-lz- > *-ll-, eine Wurzel mit s-mobile

und Endbetontheit bei eines sekundären Abstraktum auf -nah2- erfordern.

Lit.: B DWb2 s.v. 2Eller; Lexer s.v. elle swm.?; Schmeller I 60f.; Südhess.Flurnamenb. 327f.

s.v. Elter; ThWb s.v. Eller1; L FrnhdGr 80 Anm. 3, 81; Sp ThGr 239; ThWb s.v. Erle; M

Page 49: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

5

DWb2 s.v. 2Eller; ThWb s.v. Eller1; Egerm1 DWb2 s.v. 2

Eller; EWA II 1049 ff.; EWD s.vv.

Weide1, Weide

2; K. B. Heppe Unser Eller www.garde-eller.de/eller/01geschichte/

01index01 .htm; Kr/M III 83f.; Rohlfs xxx; Schaffner VG 380ff.; ThWb s.v. Eller1;

Literatur zu Eller-Düsseldorf xxx; Egerm2 AnEW 633 s.v. ulna; IEW 305; Eidg Casaretto

WbGot 374; EWA II 1063; EWAia II 708; IEW 305, 901; LitEW I 8 s. v. a5P¡V; 6PRF]\�VNL� �����+6� ����� �����8GROSK�*HUPDQHQSUREOHP������ �����6HHEROG�6W9������Stüber 2000 HS 113: 132-142.

Page 50: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Eulenmiege 1

Eulenmiege Sb f. „dünner Kaffee“

Z: Das Kompositum nordthür. Eulenmiege f. (neben Eulenseiche „id.“) bedeutet wortwörtlich

„Eulenharn“ und stellt eine abschätzende/scherzhafte Bezeichnung für „dünnen Kaffee“ dar. Das

Hinterglied ist ein Lehnwort aus mnd. P¯JH f. „Harn“, ein nordseegerm. Denominativ zum

Präsensstamm urgerm. *P¯J-a/i- < uridg. *h3méhh�h

-e/o-, vgl. an. míga, ae. P¯JDQ�(nur nordgerm. und

nordseegerm.), ai. méhati, lat. PHLÀ und gr. ³P³P̄L̄LFHFHLLQQ

„harnen“.

B: Das Substantiv Eulenmiege „dünner Kaffee“ ist nur um Heiligenstadt (westl. Nordthür.) in

der Form Ulenmieje (→ L) belegt. Ebenfalls im Nordthür. ist auch das Synonym

Eulenseiche (Nordhausen, Worbis Ulenseichen) gebräuchlich (ThWb s.vv.).

M/WB: Das fem. Substantiv ist ein Determinativkompositum, dessen Vorderglied in der

nasalhaltigen Kompositionsform Eulen- (schw. Fem., vgl. EWD s.v. Eule) vorkommt.

L: Die mda. Form Ulenmieje ist durch zwei Besonderheiten gekennzeichnet: 1) Das Fehlen

des Umlauts im�.RPSRVLWLRQVYRUGHUJOLHG��ÌO�n-/ „Eule“ (vgl. hingegen mhd. iuwel, iule <

ahd. ûwila, ûla < *uwwilan-), das nicht auf Suffixtausch beruht (vgl. z.B. die ae.

Entsprechung ÌOH < *uwwalan- (EWD s.v. Eule, úEWDD s.v. Muhol)), sondern

(zusammen mit der Bewahrung des langen Monophthongs) ein typisches Merkmal des

Nordthür. darstellt, vgl. nordthür. (nordl. Eichsfeld) ÌUã „eure“, ]ÌZHO�„Säule“ (Diskussion

in Sp ThGr 168-170 und ThWb s.v. Eule, mit weiteren Belegen); 2) der Wurzelvokalismus

ie (= /�/) in -mieje, der durch Kontraktion von ererbtem *¯ (→ Egerm

) vor -g-

zustandegekommen ist, weist eindeutig auf niederdeutsche Herkunft hin (Sp ThWb 124).

Dasselbe Phänomen ist auch in angrenzendem hess. Dialekt beobachtbar, wo ein Verb

mijen „harnen, pissen“ (nur im westfäl. und sächs. Hessen) belegt ist und normalhess.

seichen „id.“ ersetzt (vgl. Idiotikon von Kurhessen 1868: 269 s.v. mijen).

WG/Egerm

: Das Kompositum Eulenmiege ist eine abschätzende/scherzhafte Bezeichnung für

„dünnen Kaffee“. Ein solches Benennungsmotiv ist auch beim Synonym Eulenseiche

vorhanden. Das Hinterglied -miege (sowie -seiche) hat die Grundbedeutung „Harn, Urin“,

die Komposita bedeuten also „Eulenharn“. Der Bezug auf die Eule ist unklar, vermutlich

aufgrund der dunklen Farbe des Kaffees, das mit der Nacht und metonymisch mit dem

Nachtvogel assoziiert werden konnte, vgl. das ebenfalls nordthür. Kompositum Eulenflucht

f. „Dämmerung“ < mnd. ulenvlucht „Abenddämmerung“ (zur Farbenassoziierung vgl.

außerdem thür. (abschätzend) Negerschweiß m. „dünner Kaffee“ Quedlinburg,

Nordhausen, Eisleben, Sonneberg). Der Verweis auf Harn ist hingegen durch die

Temperatur des gerade gekochten Kaffees bedingt, vgl. die semasiologische Parallele thür.

Farzbrühe „dünner Kaffee“ (Apolda Faartzbriehe, Sonneberg Fatzbrüh (ThWb s.v.

Page 51: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Eulenmiege 2

Farzbrühe)), it. dial. broda nera „schwarze Brühe“, „Kaffee“. Das Kompositum

Eulenmiege ist erst nach Bekanntwerden und Verbreitung des Kaffees gebildet worden.

Dasselbe gilt für Farzbrühe, Eulenseiche und Negerschweiß.

Das Hinterglied -miege „Harn“ ist auch verbaut im Determinativkompositum nordthür.

Miegente f. „Ameise“ (Miamechen Worbis, Mieente einmal bei Quedlinburg) bezeugt,

dessen Hinterglied emete „Ameise“ auf niederdeutsche Herkunft des Wortes hinweist (vgl.

auch thür. Pissmeise, engl. pissmire, dt. mda. Saichmotze, Seichamse, Anbeiße(r), mnd.

migamke „Ameise“ usw. (ThWb s.vv. Miegente, Pissmeise, MndW IV 1582 s.v. mige).

Das Benennungsmotiv kommt vom juckenden Biss dieses Insektes, vgl. DWb I 277,

Schumacher 1963: 311).

Die zugrundeliegende urgerm. Verbalwurzel *m g- „harnen“ (st. Verb aisl. Präs. míga,

Prät.Sg. mé, Pl. migo, ae. Präs. m gan, Prät.Sg. P�J, mnd. m gen, mndl. myghen, ofries.

m gen) ist nur durch s-Erweiterung im Hochdeutschen belegt, vgl. ahd. mixin (Gl.) „ruder“

< *mih-s-na- „Mist“ und mist m. < *mih-s-tu- „id.“ (got. maihstus), s. dazu WStV 347f.,

Tiefenbach 1980: 45-49, Neri 2003: 320f., Hill 2003. Die Wortsippe von -miege „Harn“ ist

im Mittel- und Oberdeutschen sonst nicht belegt. Es handelt sich dabei also um ein

niederdeutsches Substantiv, dessen unerweiterte Wurzel schon in as. miggi < *mig-ja-

belegt ist (vgl. die Glosse miggi „Urin, ligurius vocatur quod fiat ex urina“, SchGlWb VI

370), vgl. dazu ae. micga m. „Harn“, migge f. „id.“ < *mig-MD�À-n-, ae. migol

„harntreibend“ Adj. < *mig-ula- und ae. migoða „Urin“ (WStV 348).

Das fem. Substantiv kommt im Mittelniederdeutschen, Mittelniederländischen und

Neufriesischen vor, vgl. mnd. m ge f. „Harn“, m gen st.V. „harnen“, mndl. mige > nndl.

mijge „Harn“, mndl. myghen > nndl. mijgen „harnen“, ostfries. m ge f. „Harn“, m gen

„Harnen“ (MndW IV 1582 s.v. mige, WofrSp II 600). Das Fehlen jeglicher Spur von

Miege außerhalb des Nordseegermanischen spricht für eine jüngere deverbale Bildung

*m JÀ- „Harn“. Das nd./ndl./fries. st. Verb ist hingegen direkt mit aisl. míga und ae. m gan

vergleichbar und setzt urgerm. *m g-a/i- „harnen“ fort (WStV 347).

Eidg

: Der dem nordseegerm. Substantiv *m JÀ- zugrundeliegende Präsensstamm urgerm.

*m g-a/i- führt auf eine uridg. thematische Bildung *h3meh�h-e/o- „harnen“, die in anderen

idg. Sprachen gut bezeugt ist, vgl. ai. (ved.) méhati „harnt, pisst“, jav. (fra-�PD�]DLWL�„pisst

darüber hinaus“ < *(pro-)méh�h-e-ti 3.P.Sg.Ind.Präs.Akt. (EWAia II 381), lat. PHLÀ, meiere

„pissen“ möglicherweise gr. (Hes.) ³P ¯LFHLQ�„harnen“ (falls mit iotazistischer Schreibung

für ³PHgFHLQ, vgl. LIV 302 Anm. 5 mit Literatur) und arm. mizem „harne“, falls nicht iran.

Lehnwort (Klingenschmitt AltarmV 173 Anm. 16, LIV 302 Anm. 6, mit eventueller

Page 52: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Eulenmiege 3

Erklärung des Fehlens des prothetischen Vokals). Der Ansatz des anlautenden Laryngals

*h3- beruht ausschließlich auf dem Zeugnis des Altgriechischen, das einen prothetischen

Vokal o- aufweist, vgl. gr. 3.Sg.Ind.sigm.Aor.Akt. ÌPL[HQ (Hipponax) „pisste“ (LIV 2001

302, mit weiteren Beispielen). Außer dem thematischen Präsenstamm ist auch ein n-Infix-

Präsens *h3mi-né-�h-ti / *h3mi-n-�h

-énti zu postulieren, vgl. aav. minaš „beträufelst (?)“,

lat. PLQJÀ, mingere „harnen“, alit. PLQåX > lit. Påù, lett. mìåX „id.“; im Altindischen sind

außerdem ein Kausativ ámehayan (3.Pl.) „brachten zum Pissen“ und ein thematisches

Aorist amiham bezeugt, deren grundsprachliches Alter aber nicht gesichert ist (LIV 2001:

301f., EWAia II 381, mit Literatur).

Lit.: B ThWb s.vv. Eulenmiege, Eulenseiche; M/WB EWD s.v. Eule; L EWDD s.v. Muhol;

Idiotikon von Kurhessen 1868: 269 s.v. mijen; EWD s.v. Eule; Sp ThGr 124, 168ff.; ThWb

s.v. Eule; Egerm

DWb I 277; Hill 2003; MndW IV 1582 s.v. mige; Neri 2003: 320f.;

SchGlWb VI 370; Schumacher 1963: 311; ThWb s.vv. Farzbrühe, Miegente, Pissmeise;

Tiefenbach 1980: 45-49; WofrSp II 600; WStV 347f.; Eidg

EWAia II 381; Klingenschmitt

AltarmV 173 Anm. 16; LIV 301f.

Page 53: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Färe, Färesau, fären 1

Färe Sb f. „weibliches Ferkel“

Färesau Sb f. „Zuchtschwein“

fären swV „Junge gebären“

Z: Das Wort Färe (f.) „weibliches Ferkel“ setzt eine urgerm. Motionsbildung *IDUK¯�f. zu urgerm. *farha-

m. „Ferkel“ fort. Die Ableitungsbasis entspricht etymologisch lat. porcus, mir. orc, aksl. SUDV usw. <

uridg. *por�o- m. „junges Schwein“, ein substantiviertes resultatives Adjektiv „gesprenkeltes Tier“

(aus der Wurzel *per�- „sprenkeln; färben“).

B: Thür. Färe „weibliches Ferkel“ ist nur in Bad Salzungen (Hennebergisch) belegt. Dazu ist

das schwache Verb fären „ferkeln, Ferkel gebären“ in Hildburghausen (vgl. die Sau hat

gefärt „die Sau hat geworfen“) bezeugt. Komponiert kommt das Wort in Färesau

„weibliches Zuchtschwein“ (Bad Salzungen) vor. Auch im Obersächsischen ist das

Kompositum Färsau (neben Färchmutter) belegt (OSächsWb I 585, ThWb s.vv.).

M/WB: Das Wort ist ein starkes Femininum (vgl. den Kompositionsvokal in Färesau). Das

zugehörige schwache Verb fären „junge Schweine gebären“ ist ein aus Färe gebildetes

Denominativ (wie mutatis mutandis thür. ferkeln „id.“ aus Ferkel, fickeln aus Fickel oder

schweinen aus Schwein) (ThWb s.v. ferkeln). Das Determinativkompositum Färesau

„Mutterschwein, weibliches Zuchtschwein“ ist wie südwestl. Westthür. Ferkelsau „id.“

gebildet (ThWb s.v.).

L: Der Wurzelvokalismus <ä> weist nicht auf sekundären Umlaut eines morphologisch

unerklärbaren (→ Egerm

) Langvokals *� vor *i/j� �!� ��ª/ um Bad Salzungen), sondern auf

offene Aussprache von primär umgelautetem Kurzvokal ahd. *e < *a_i/j mit

spätmittelhochdeutscher Dehnung in offener Silbe vor r �WK�U��KHQQE����¤/) (zur allgemeinen

Vertretung dieses Lauts im thür. Dialektgebiets vgl. Sp ThGr 72ff.).

Egerm

: Bei dem Lemma des ThWb s.v. wird zur Etymologie von thür. Färe „weibliches

Ferkel“ auf dt. Färlein „Ferkel“ (DWb s.v.) verwiesen. Dieser an und für sich

naheliegende Zusammenhang wird nicht erörtert. Lautliche, morphologische sowie auch

semantische Details sprechen aber gegen eine Gleichsetzung dieser beiden Wörter. 1)

Thür. Färe kann nicht eine deminutive Vorform *Färle oder ähnl. fortsetzen, da ein

Schwund des lateralen Resonanten in diesem Kontext ohne Parallelen ist. Dt. l schwindet

in den thür. Mundarten in- und auslautend nur in Folge nachvokalischer Velarisierung, vgl.

z.B. son „sollen“, mo „mal“, wo „wohl“ (Sp ThGr 231); man würde in unserem Fall

umgekehrt Schwund von r vor l erwarten, vgl. thür. henneb. kaãl „Karl“ (Sp ThGr 233). 2)

Im hennebergischen Dialekt um Bad Salzungen ist das Deminutivsuffix -(ãU�$ã und nicht

-(ãr)lã (ostwärts erst ab dem Gebiet um Meiningen) in Gebrauch, vgl. die Karte in Sp ThGr

Page 54: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Färe, Färesau, fären 2

242; ein Genuswechsel von Neutrum zum Femininum für eine Deminutivform ist auf jeden

Fall unwahrscheinlich in Anbetracht der vielen konkurrierenden neutralen

Deminutivformen wie Ferkel, Ferken, Ferkchen usw. (ThWb s.v. Ferken); 3) Vom

semantischen Gesichtspunkt wäre die Wahl eines Deminutivsuffixes zur Kennzeichnung

eines weiblichen Tiers gegenüber ebenfalls neutralem deminutivem Ferkel unverständlich.

Da der umgelautete Wurzelvokalismus nicht durch die Wirkung eines Deminutivsuffixes

erklärbar ist, spricht der Umlaut für eine alte fem. Bildung mit Motionssuffix -¯-/-MÀ-. Das

Wort ist im Alt- oder Mittelhochdeutschen nicht belegt, sondern nur seine Ableitungsbasis

ahd. far(a)h n. -s-Stamm „Ferkel“ > mhd. farch (vgl. dazu EWA III s.v. farah, mit Belegen

und Literatur), mit dem Deminutiv farhilî(n) n. „kleines Ferkel“ (> nhd. Ferkel, dial.

Fack(e)l, Fickel, Färle, Ferlin, Ferlein usw., vgl. DWb s.vv.), dazu ndd. varken, verken <

*farh-N¯Q (vgl. DWb s.v. Farken, EWA III s.v. farhilî[n]). Das germ. Wort für „Ferkel“ ist

als *farh-a- (m.?) zu rekonstruieren, vgl. außer ahd. far(a)h ae. fearh, ferh, komponiert

aisl. seim-farri m. n-St. „Goldeber“ (< *farha-n-). Die -s-stämmige Flexion des ahd.

Wortes ist wohl sekundär nach zum selben semantischen Feld gehörigen neutralen -s-

Stämmen wie lamb „Lamm“ oder chalp „Kalb“.

Da die Motionsbildungen auf -¯-/-MÀ- zu thematischen Substantiven im Germanischen

durch einfachen Stammwechsel ohne V�ddhierung der Wurzel erfolgt ist, muss der

Wurzelvokalismus des fem. Substantivs dem seiner Basis entsprechen (anders bei -i-

Stämmen, vgl. got. qens „Frau“ < *gi�Q-i- „weiblich“ zu *g

ión- / *g

ién- „Frau“, vgl.

Darms 1ff., 74-77). Für thür. Färe ist also eine Vorform ahd. *IHU�L�K¯ „weibliches Ferkel“

zu rekonstruieren. Zum Wandel *IDUK¯ > *fer(i)hi > Färe vgl. urgerm. *PDUK¯ > ahd.

mer(i)hi > nhd. Mähre „Stute“, Motionsbildung zu ahd. marah- „Pferd“ (in marahscalc

„Pferdeknecht“ verbaut, vgl. EWD s.v. Mähre).

Das thür. Verb fären „junge Schweine werfen“ setzt hingegen ein denominales Verb *farh-

ija-fort (mit der Suffixvariante -ija- nach schwerer Silbe), das Entsprechungen im dän.

Verb fare „gebären (von der Sau)“ oder ne. farrow „id.“ hat (zu den germ. -ja-

Denominativen zu thematischen Stämmen s. Kr/M 247ff.).

Eidg

: Urgerm. farha- weist auf uridg. *pór�o- „junges Schwein“ fort, vgl. zum Akzent auch

lit. par �ãDV� „männliches, verschnittenes Schwein“, zum Wurzelvokalismus o lat. porcus

„zahmes Schwein“, mir. orc „junges Schwein; Tierjunges“; das Wort ist auch verbaut in

apreuß. prastian „Ferkel“ (entlehnt aus dem Slavischen?) sowie in ursl. *pras-int- > aksl.

pUDV „Schwein, Ferkel“, sb.-kr. prâse, tschech. prase usw. (vgl. EWA III s.v. farah, mit

weiteren Beispielen). Das Wort kommt häufig in Deminutivbildungen vor, vgl. lat.

Page 55: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Färe, Färesau, fären 3

porculus < *por�e-lo- und (mit Doppeldeminutiv) porcellus < *por�e-le-lo- (dazu

nochmals deminuiert im it. porcellino), neben lit. paršEOLV (LitEW 542) und ahd. farhilî(n),

die parallel entstandene einzelsprachliche Bildungen darstellen (dazu Schuhmann Freiburg

Idg. Nomen). Idg. *pór�o- m. setzt ein durch Akzentverschiebung substantiviertes

resultatives Adjektiv *por�ó- „gesprenkelt“, zu *per�- „sprenkeln“ fort (vgl. gr. ORLS´M

„übriggeblieben“ < *lohkió- zu *lehki- „zurücklassen“) und bedeutete ursprünglich

„gesprenkeltes Tier“, mit Spezialisierung auf das junge Schwein aufgrund der typischen

fleckigen Fell- oder Hautfärbung. Zu diesem Benennungsmotiv „gesprenkeltes (Tier)“ für

Zoonyme vgl. die etymologisch zugehörigen Substantive gr. SU´[ „Hirsch, Cervus

Capreolus“ < *pró�-s (mit regulärer Metathese *RVKs < *VRKs, vgl. lat. augeo <

*h2aig-e/o- vs. got. wahsjan < *h2iog-s-éhe/o-, LIV 274f., 288f. oder lit. al üNDV „heiliger

Hain“ < *h2álko- vs. ved. ráks �DWL�„schützt“ < *h2lék-s-e-ti, LIV 264, 278), gr. S|UNRM�„eine

Art von Adler“, gr. S|UNK� „ein Flussfisch“, usw. (weiteres Material bei Griepentrog

Wurzelnomina d. Germ. 110, 194, 390, mit Literatur). Zur Wurzel *per�- „sprenkeln;

färben“ (vgl. z.B. ahd. far(a)uua „Farbe“ < urgerm. *IDUJZÀ- „Farbe“ < *por�-i-áh2-) vgl.

IEW 820f., Widmer 2. GS Schindler (in Druck). Aus morphologischen und semantischen

Gründen weniger wahrscheinlich ist hingegen die Deutung von idg. *pór�o- „Ferkel“ als

„Aufwühler“ (so EWA III loc. cit.), da der Wurzelakzent bei einem thematischen Nomen

Agentis (gegenüber dem oxytonen Typ wie in gr. IRQ´M� f.� „Mörderin“, ai. ghaná- m.

„Waffe“ < *gih

on-ó- „Töter, tötend“) sowie die Benennung „Aufwühler“ gerade für ein

junges Schwein schwierig wären.

Die Motionbildung *farh-¯ ist mit dem femininisierenden germ. Suffix -¯- / -MÀ- < idg. -ih2-

/ -háh2- abgeleitet (durch Vermischung von zwei ursprünglichen Typen herstammend, vgl.

hysterokinetisch ai. v;k ¯ÇÕ- „Wölfin“ zu v Ç;ka- „Wolf“ vs. proterokinetisch a.i. n̄ÇDU¯- „Frau“

zu nar- „Mann“, dazu Kr/M 67f.), aber die Wurzelbetonung spricht für eine erst

innergermanische Neubildung (sonst wäre aus idg. *pór�o- eine oxytone Motionsbildung

*por�-íh2 > urgerm. **IDUJ¯ > **ferge zu erwarten).

Lit: B OSächsWb I 585, ThWb s.vv Färe, fären, Färesau; M/WB ThWb s.vv. ferkeln,

Ferkelsau; L Sp ThGr 72ff.; Egerm

EWD s.v. Mähre; Darms 1ff., 74-77; DWb s.vv.

Farken, Färle, Färlein, Ferlin, Ferlein, Fickel; EWA III s.v. farah, farhilî[n]; Kr/M

247ff.; Sp ThGr 231, 233, 242; ThWb s.vv. Färe, Ferken; Eidg

EWA III s.v. farah;

Griepentrog Wurzelnomina d. Germ. 110, 194, 390; IEW 820f.; Kr/M 67f.; LIV 264,

Page 56: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Färe, Färesau, fären 4

274f., 278, 288f.; LitEW 542; Schuhmann Freiburg Idg. Nomen; Widmer 2. GS Schindler

(in Druck).

Page 57: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

1

Finne f. „Pickel auf der Haut“

finnig Adj. „mit Pickeln übersät“

Z: Das mda. viel verbreitete Subst. Finne f. ‚Pickel, Eiterbläschen’ beruht auf mhd. phinne ‚Fäulnis (im

Fleisch von Zuchttieren); Pflock’. Während die Bedeutung ‚Pflock’ ursprünglich ist (< *SLQQÀ-,

entlehnt aus lat. penna, pinna ‚Feder, Flosse, Zinne’), ist die Bedeutung ‚Fäulnis’ durch Kontamination

von mhd. phinne und finne < *ILQQÀ- [+n] ‚Ranziges, Fäulnis’, ein Erbwort ohne sichere Etymologie:

entweder aus *IHQMÀ- ‚Feuchtigkeit, Fäulnis’ zur Sippe von germ. *fanja- ‚Sumpf’ oder zu *fenja-

‚Mitesser’ zur Sippe von lat. penus ‚Vorrat’ oder von *ILQZÀ- / *ILQQÀ- ‚strotzende (Pustel)’ zur idg.

Wurzel *pehh

H- ‚strotzen, fett sein’ oder von *ILQMÀ- ‚Stich’, zur idg. Wurzel *pehh

H- ‚spitz sein’.

B: Das Substantiv Finne ‚Pickel, Eiterbläschen auf der Haut’ ist in Bernburg, um Hettstedt

und um Langensalza, um Sonneberg belegt (ThWb s.v. Finne). Mit derselben Bedeutung

erscheint das Wort auch als Kompositionshinterglied in thür. Liebesfinne (Langensalza).

Zu Finne ist das possessive Adjektiv finnig ‚mit Pickeln übersät’ in Bernburg belegt. Die

Bedeutung ‚Pickel, Eiterbläschen’ ist für das Wort auch außerhalb des Thüringischen

bekannt, vgl. obersächs. Finne f. ‚Pickel’ (WObSM I: 623 s.v. Finne2), pomm. Finn f.

‚Pickel, Pustel’ (dazu Pl. Finnen ‚rote Blattern’, Pomm.Wb. I: 799 s.v. Finn), meckl. Finn

f. ‚Pustel, Ausschlag’ (nur im Kompositum Hurenfinnen, MecklWb II: 913 s.v. Finn). Die

Bedeutung kommt auch im Oberdeutschen vor, vgl. bair. Finne ‚Blatter, scrophula, tuber’,

mit dem Adj. finnecht, finnig (Schmell I: 722) sowie schweiz. Finnen, Bluetfinne

n ‚Pustel

auf der Haut; Blutgeschwür’ (SchwId I: 838f., DWb s.v. Blutfinne). Das Wort bezeichnet

im Thüringischen sowie in anderen dt. Mundarten (s.u.) außerdem auch die Trichine bei

Schlachttieren, vgl. thür. Finne ‚Bandwurm’ (Erfurt), übertragen (im Plural) ‚kleine

muskelartige Einschlüße im Schmer’ (Hettstedt, Halle, Eisenach), vgl. ThWb loc. cit. (mit

unterschiedlicher Einordnung der Bedeutungen), vgl. auch thür. finnig ‚vom Bandwurm

befallen’ (er sal … keyn pfinnigk schwein schlachten 1487 Statuten Gera, fynnicht …

vleisch Erfurt nach Brandis Hs., vgl. ThWb. s.v. finnig) und Finnenschnitzer

‚Fleischbeschauer, Person, die bei den Schlachttieren die Untersuchung auf Trichinen

durchführt’ (ThWb s.vv. Finnenschnitzer, Fleischbeschauer, mit weiteren Synonymen).

Vgl. dazu obersächs. Finne f. ‚blasenähnliche Larve des Bandwurms im Fleisch von

Wirbeltieren’ fachspr. (WObSM loc. cit.), pomm. Finn f. ‚Larve des Bandwurms’ vereinz.

(Dat Schwien hett Finnen, Pomm.Wb loc. cit.), pomm. Finnen(be)kieker m.

Fleischbeschauer (PommWb I: 799 s.v. Finnen(be)kieker), meckl. Finn f. ‚Blasenwurm

des Schweines, auch Trichine (vor der Kostprobe vom frischgeschlachteten Schwein

Page 58: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

2

wurde tüchtig Kæm (Kümmelschnaps) getrunken, damit die Finnen ersäuft würden; s. auch

Finnensluck ‚Finnenschluck’; MecklWb loc. cit.), luxemburg. Finn f. ‚Trichine im

Schweinefleisch’ (LuxWb I: 373), elsäß. finnig [finik Ensisch] Adj. lungenfaul (Dië Küeh

ist

finnig, WElsM I: 118), schweiz. Finnen f. ‚Würmchen im Fleisch in Gestalt runder,

weißer Körnchen’ (‚Finnen oder Pfinnen [Pl.], eine nicht seltene Krankheit der Kühe’),

‚die Perlsucht beim Rindvieh (So ein Rind inwendig Fülina [faule Stellen] hätte, es wäre

an der Lunken oder Lebren oder anderstwo, und darum das Rind umgefallen [krepiert]

wäre und doch nit die lauter [nicht geradezu] Pfinna erfunden wurden, so soll ein

Vergleich geschehen, vgl. SchwId loc. cit., mit Literatur), schweiz. finnig, pfinnig ‚mit der

Finnenkrankheit behaftet’ (Das man pinniges [sic] fleisch nit soll under das bergin

[Schweinefleisch] henken, SchweizId s.v. finnig), schweiz. Pfinnigung ‚Finnenkrankheit’

(SchweizId s.v. Pfinnigung), bair. Pfinne f. ‚lepram, phinne’ (contra pfynn porcorum

recipe de una camisia tincta menstruo et lava in aqua et funde illam aquam super cibum

porcorum), bair. pfinnig, finnig (‚muscidus est schimlig, rancidus pfingig, Clm. 15319 (sec.

XV. 20), f. 117), zimb. finnegh ‚unrein, unlauter, impuro, immundo’ (pinnig heißt in Algäu

eine Kuh, welche, obschon rindersüchtig, weder zum Kälbern, noch Mästen sich eignet,

Schmell I: 433), schwäb. Pfinne f., nur Pl. ‚Drüse, Pustel im Fleisch der Tiere, bes. bei den

Schweinen, daneben Finne, wohl schriftsprachlich’, schwäb. pfinnig ‚durch Pfinnen

verdorben, vom Fleisch des Rindviehs oder bes. des Schweins ein gesetzl. „Hauptmangel“.

(Nebenformen: phinnig, pfünig, pfinnig, SchwäbWb I: 1048f. s.vv. Pfinne, pfinnig).

Thür. Finne f. ‘Miete für Feldfrüchte im Freien’ ist wohl nicht hierhergehörig; thür. Finne

‘Höhenzug am NW-Rand des Thüringer Beckens, zwischen Unstrut und Saale’ (im

Spottvers auf der Finne gibts große Schüsseln und wenig drinne, Wähler Vk 201, vgl.

ThWb s.v. Finne) ist schon im Jahr 1106 als *Finn(e) belegt (in silva Vin, vgl. Udolph

Germanenproblem 304, mit weiteren Belegen) und somit mit Finne ‚Pustel’ etymologisch

nicht verwandt (→ Egerm).

L: Die älteren obdt. Formen weisen anlautende Affrikata pf- auf, während die nddt. Formen

mit f- anlauten; das thür. Adjektiv pfinnigk (1487, Statuten Gera) weist ebenfalls auf alte

Affrikata hin, die sich durch eine Lenisierungsstufe der Verschlusskomponente bf- zu f- in

fast ganzem Thüringen entwickelt hat (als bf- z.T. noch im Süden Thüringens bewahrt, vgl.

die Karte in Sp ThGr 204). Es ist außerdem möglich, dass der ab dem 15. Jh. in den

Standardwortschatz des Deutschen eingedrungene fachspr. Terminus Finne f. ‚Larve,

Page 59: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

3

Pustel’ (EWD s.v. Finne1, DWb s.v. Finne), wohl niederdeutscher Herkunft (→ E

germ),

einen Einfluss auf die mda. Formen ausgeübt hat.

WG: Das Wort ist ab dem Mittelhochdeutsch als phinn(e), pfynn, vinne, finne und finde

st./sw.f. mit den Bedeutungen ‚Nagel’ und ‚Fäulnis, Ranziges’ belegt (vgl. dazu auch mhd.

pinne ‚Pfrieme, spitzes Werkzeug’). Daneben ist auch das Adjektiv mhd. phinnic, pfinnig,

pfinnicht, vinnic, finnik, vinneht ‚faul, ranzig’ bezeugt (vgl. pfinniges vleisch, pfinnige

würtse, pfinnige sau, bildlich pfinnige lêre; mhd. pint, pinde st./sw.m. ‚Penis, membrum

virile’ ist wohl eine Weiterbildung zu pinne), vgl. Lexer s.vv. phinne, phinnic, pinne, pint,

BMZ s.vv. phinne, vinne, vinnec, DWb s.vv. Pinn, Pint. Die Bedeutung ‚Geschwür’ für

mhd. finne (so Paul DWb 275) liegt hingegen nicht vor.

Egerm

: Die obdt. Wörter mit anlautender Affrikata pf- setzen eine Grundform *SLQQÀ [+n] >

mhd. phinne fort, die mehrmals in der Literatur als Lehnwort aus lat. pinna f.

‚Mauerspitze, Zinne; Fächer am Wasserrade, Schaufeln; Pfeil; Flosse, Flossfeder der

Fische’ identifiziert wurde (vgl. DWb s.v. Finne, Lexer s.v. phinne, BMZ s.v. phinne; zu

lat. pinna s. Georges-LDHW Bd. 2, S. 1712 s.v. pinna2) und sich direkt mit dem ndt.

Lehnwort dt. Pinn m., Pinne f. ‚kleiner spitziger Pflock, Nagel, Stift zu verschiedenen

zwecken; kleiner spitziger Stab beim Feldmessen; Schwungfeder des Falkenflügels’ (DWb

s.v. Pinn), mnd. pinne, pin ‚Pfrieme’ (woher an. pinni ‚Stift, Pflock, Nagel’, nisl. pinni,

schwed. pinne, shetl. pinni, pinnek), mndl. pinne, penne f., pinne, pin m. ‚Pflock, Spitze’

(nndl pen), spät-ae. pinn ‚Bolzen, Pfeil; Pflock, Stift’, woher an. pinnr (ne. pin, fär. pinnur)

vergleichen läßt, vgl. AnEW 425 s.v. pinni, NedEW 514 s.v. pen, AeEW 246 s.v. pinn.

Wenn man von mlat. pinna, penna ‚Feder; Spitze, Gipfel, Zinne’ ausgeht (mit

semantischem Zusammenfall von lat. penna ‚Feder, Flügel’ und pinna ‚Floße; Schaufel am

Wasserrad; Mauerzinne’; vgl. dazu mazed. SHQXU� ‚Nagel’, ait. penna ‚Gipfel’, it. pennone

‚Fahnenstange’, prov. pena ‚Zinne’, apg. pena ‚Fels’ usw., Mayer-Lübke 539 s.v. p±QQD;

vielleicht auch in vielen ital. Ortsnamen mit der Bedeutung ‚Berg, Gipfel’, vgl. z.B. Penna

Sant’Andrea in der Region Marche, sowie im Namen der Gebirgskette lat. $SSHQQ¯QXV�und

dem Oronym 3HQQ¯QXV�[und 3HQ¯QXV�mit PDP¯OOD-Regel, d.h. Degemination vor betonter

Silbe], falls nicht Substratwort oder gallisches Lehnwort [vgl. g. pennos ‚Kopf; Spitze,

Gipfel’, Holder 1962, 966]; zu den lat. Formen vgl. LatDic 135 s.v. �SHQQ¯QXV, 1330 s.vv.

penna, 3HQQ¯QXV), ist zwar eine Bedeutungsentwicklung zu ‚Pflock, Nagel, Pfrieme’

plausibel (thür. Finne ‘Höhenzug am NW-Rand des Thüringer Beckens, zwischen Unstrut

und Saale’ kann allerdings aufgrund der frühen Belege vin (1106), Vinne (1144), Uinna

Page 60: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

4

(1168), Finne (1570) keine Entlehnung aus mlat. penna darstellen; zu Etymologie und

Literatur vgl. Udolph Germanenproblem 304); schwierig bleibt jedoch die Bedeutung

‚Fäulnis, Ranziges; Trichinen im Zuchttierfleisch’. Dazu ist das Vorhandensein der

Variante mit anlautendem f- aufgrund des Alters und der Verbreitung schwerlich durch

frühe Entlehnung aus dem Althochdeutschen (mit Lautersatz von pf- durch f-) zu erklären:

vgl. ae. finiht ‚faul, ranzig’ (ne. finny, vinny ‚modrig, schimmelig’; vgl. AeEW 105, OED

s.v. finny, vinny), mndl. vinne, bloedvinne ‚Namen verschiedener Krankheiten, auch bei

Tieren’ (ndl. bloedvin, dial. vinne ‚Pickel, Geschwür’), vinnich, vinnigh ‚ranzig’ (vgl.

mndl. vinnigh verken ‚porcus grandinosus’, vinnigheyt der verckenen ‚grando, lepra qua

porci infestantur’, ndl. dial. vinnig; vgl. MndW IX 524-525 s.vv. vinne [2], vinnich [2]),

mnd. vinne, vinnich. Ebensowenig ist eine Rückführung der Homonyme ae. finn ‚Flosse’

(AeEW 105), mnd. finne ‚id.’ (woher die frühnhd. Entlehnung Finne ‚Rückenflosse großer

Fische’; EWD s.v. Finne), mndl. vinne ‚Flosse, Feder; Stachel, scharfe Spize’, ab dem 16.

Jh. ‚Stück, Einschnitt, caesura, incisura, incisio’ (vgl. een vinne vleesch ‚ein Stück

Fleisch’), mndl. vinnich ‚scharf’; MndW IX 524-525 s.vv. vinne [1], vinnich [1]) direkt

auf lat. pinna möglich. Es wäre daher denkbar, dass *SLQQÀ- [+n] ‚Spitze, Nagel; Fäulnis,

Ranziges’ und *finnÀ- [+n] ‚Floße; Fäulnis; Trichinen im Zuchttierfleisch, Pickel’ zum

Erbwortschatz des Germanischen gehören und keine lat. Entlehnungen darstellen. Der

unterschiedliche Anlaut p ~ f könnte dann auf das Nebeneinander von s-mobile-Varianten

*sp- vs. *p- > urgerm. *sp- ~ *f- mit sekundärem Verlust von *s- weisen, vgl. z. B. an.

pallr ‚erhöhte Diele, Podest, Bank’, an. spÆlr ‚Speiler, Stange’, an. fiÆl ‚Brett, Diele’ oder

ae. prica ‚Punkt, Stich, Fleck’, nnorw. dial. sprekla ‚Flecken auf der Haut’, an. freknóttr

‚gesprenkelt’ (vgl. Lühr / Matzel KZ 99 (1986) 262ff.). Als Alternative wäre anzunehmen,

dass *SLQQÀ- [+n] tatsächlich aus dem Lateinischen entlehnt wurde, aber durch Einfluss

von ererbtem oder aus dem Niederdeutschen entlehntem *ILQQÀ- [+n] die Bedeutung

‚Fäulnis, Ranziges’ im Deutschen angenommen hat. Diese Annahme wird durch das

Fehlen dieser Bedeutung für *SLQQÀ- in den übrigen germanischen Sprachen, wo das Wort

ausschließlich ‚Spitze u.ähnl.’ bedeutet, gestützt.

Eidg

: Die etymologische Deutung von ur(west)germ. *ILQQÀ- [+n] ‚Fäulnis, Ranziges;

Trichinen; Pickel’ hängt von der Bestimmung der primären Bedeutung des Wortes ab. Es

gibt in der Tat verschiedene Möglichkeiten:

1) Die Bedeutung ‚Fäulnis’ ist die ursprüngliche. In solchem Fall wäre eine Verbindung mit

der Sippe von urgerm. *fanja- n. ‚Sumpf’ denkbar (vgl. got. fani ‚Schlamm’, an. fen

Page 61: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

5

‚Sumpf’, ae. fen(n), fæn(n) ‚Sumpf’, fyne ‚Feuchtigkeit, Morast’, fynig ‚schimmelig’,

afries. fen(n)e ‚nasse Wiese’, mnd. ven(ne), mndl. vene, venne ‚sumpfiges Land,

Torfboden’, vunsc, vuns ‚muffig’, as. feni, ahd. fenna, fennî ‚Sumpf’; dazu apreuß.

pannean ‚Moosbruch’, lit. SHQ¡ ‚portulakähnlicher Afterquendel, Peplis portula

(Sumpfpflanze)’, paniabùd¡ ‚Perlpilz’, lett. pane, SD¼D�‚Pfütze, Mistjauche’, gall. Akk. Sg.

anam ‚paludem, Morast’, mir. an ‚Harn, Wasser’, en ‚Wasser’, enach ‚Sumpf’, FlN k)PRT �‚Inn’, ON Pannonia; ferner mit Tektalerweiterung (*pen-k-) wohl ai. paóka- m. n.

‚Schlamm, Kot, Sumpf’, ahd. fûht, fûhti, ae. fûht ‚feucht’ < *funh-ta-, -tija- (AnEW 117

s.v. fen, AeEW 120, IEW 807f. s.v. pen-2, EWA III (im Druck) s.v. fenni, LEIA A-71 s.v.

an, LitEW I 537, 570). Man müßte in diesem Fall von einem substantiviertem Adjektiv

urgerm. *fenja- ‚Feuchtes, Sumpfiges, Schimmeliges’ (vgl. ae fyne ‚Feuchtigkeit’, fynig

‚schimmelig’ < *fun-i-) ausgehen und eine frühe Bedeutungsentwicklung zu ‚Faulheit’ und

weiter zu ‚Faulheit des Fleisches (von Zuchtieren)’ und endlich zu ‚Trichinen’, annehmen.

2) Wenn die Bedeutung ‚Trichine’ primär ist, wäre eine Grundform *fenja- ‚Mitesser’

anzusetzen, deren Kollektiv *IHQMÀ als Fem. umgedeutet wurde (vgl. lat. comedo ‚Fresser’

> ‚Mitesser ‚Pickel, Komedone, Schwarz- und Weißköpfe’; nach dem DWb s.v. Mitesser

„hielt [man] die verstopften Poren für kleine Würmer, die von der Nahrung ‚mitessen’“;

vgl. auch aht. mado m. ‚Made’ < *moth2o- ‚Fresser’, ú EWDD Meddel). Vergleichbar

wäre die Sippe von lat. penus, -oris ‚Mundvorrat’, ai. panasáÓÍ m. ‚Brotfruchtbaum,

artocarpus integrifolia, Jak; Dorn; Art Schlange; bestimmte Krankheit’, panasám ‚Frucht

des Brotfruchtbaums’, SDQDV¯, SDQDVLN�� f. ‚eine bestimmte Krankheit, Pusteln um die

Ohren und im Nacken’ (LEW II 238 s.v. penus, IEW 807 s.v. pen-1). Der

Bedeutungswandel von ‚Mitesser’ zu ‚Trichine, Bandwurm’ bis zu ‚Pickel, Pustel’

andererseits könnte auch dadurch erfolgt sein, dass das von Trichinen angefallene

Tierfleisch pustelartig aussieht. Die Wurzel *pen- ist wohl auch in got. <fenea>

‚Gerstenspeise’ bewahrt (aus *pen-ih2 / *pen-hah2- ‚Fütterung, Nahrung’, Feist 147f.);

wenn allerdings die primäre Bedeutung der Wurzel ‚füttern, ernähren’ war (vgl. lit. pe �QDV ‚Futter’, penù, penKti ‚füttern, mästen’, lett. penêt ‚verwöhnen’), ist ein Nomen agentis

*fenja- ‚Mitesser’ nur unter der Annahme einer konversen Bedeutung (‚zu Essen

bekommen, essen, fressen’) oder medialen Bedeutung (‚sich füttern, essen, fressen’) der

Wurzel annehmbar.

3a) Liegt die Grundbedeutung ‚Pustel, Bläschen, Pickel’ vor, könnte westgerm. *ILQQÀ [+n]

auf der idg. Wurzel *pehH- für ‚schwellen, strotzen’ beruhen. Als Grundform ist urgerm.

Page 62: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

6

*ILQZÀ- ‚Anschwellung’ anzusetzen, ein Abstraktum eines Adjektivs *finwa- ‚schwellend’,

das morphologisch entweder als Rückbildung aus dem -nu-Präsens *finwa/i- (thematisiert

aus vor-urgerm. 3. Pl. *pi-ni-énti, umgestaltet von einem n-Infix-Präsens *pi-néH-/-nH-´

genauso wie jav. fra-pinaoiti ‚bringt zum Gedeihen, macht schwellen’, ai. SLQY�Qá-

‚strotzend’ usw., vgl. EWAia II 83f.) oder eine Thematisierung des proterokinetischen

Abstraktums *péhH-i; / *piH-ién- ‚Fett’ oder des amphikinetischen Possessivadjektivs

*péh-ion- / *piH-in-´ (cfr. ai. pUvas- n., gr. ¾qDS n. ‚id.’, ¾�[P ‚fett, fruchtbar, reich’, vgl.

EWAia II 139, GEW II 532), *piHiE-ó- ‚mit Fett versehen, Pustel’ > *piHnuió- (zur

Metathese vgl. got. asilu-qaírnus ‚Eselsmühle’ < *gierh2nu-, zu *g

ireh2-ion- / *g

u;h2-in-´

‚der Schwere (Stein)’ (Neri SostGot 275ff., Casaretto WortbGot 371ff., mit Lit.); als dritte

Möglichkeit wäre auch eine direkte Herleitung aus dem Stamm des idg. n-Infix-Präsens

*pi-néH-/-nH-´ zu erwägen (> urgerm. *finna/i- durch die Wirkung der Lex Lühr

[Resonantengemination durch Laryngal, vgl. Lühr MSS 36 (1976)]. Aufgrund von ai.

(AV+) prá-S¯QD- ‚strotzend’, S¯Qá- ‚fett, feist, dick’ < *piH-nó- wäre auch ein urgerm. Adj.

*fina- (mit Kürzung durch Lex Dybo) möglich, woraus ein -¯-/-MÀ-Substantiv *ILQ¯- / *ILQMÀ-

‚das Strotzen’ oder ‚Fett’ hätte gebildet werden können; westgerm. ILQQÀ- wäre dann durch

Verallgemeinerung des schwachen Kasus und Resonantengemination vor -j- entstanden.

Von der Bedeutung ‚mit Fett versehen’ hätte das Substantiv *ILQQÀ- die Bedeutung ‚Pustel,

Pickel; Hautauswuchs’ angenommen, die sich zur Bedeutung ‚Bandwurm’ (als

Hautauswuchs im Fett der Tiere gedeutet) entwickelt hätte.

3b) Die Bedeutung ‚Pickel, Pustel’ könnte aber auch eine ältere Bedeutung ‚Stich; Punkt’

fortsetzen (vgl. it. punti neri ‚schwarze Mitesser’) und somit zur im Germanischen gut

vertretenen idg. Wurzel *(s)pehH- ‚spitz sein; stechen’ gehören (vielleicht erweitert aus

*speh2-, vgl. ai. sphiyá- m. ‚Schulterblatt, Vorderruder, Feldspatel’ < *sph2-ihó- zu gr.

U¾�bJ ‚Ruderblatt, Spatel, flache Rippe, Schulterblatt’, ae. spade, spadu ‚Spaten’ usw. <

*sph2dh-ah2 sowie gr. UX�P� ‚Keil’ < *sph2-�Q, ae. VSÀQ, ahd. VS�Q < urgerm. *VS�QX-

‚Span, Schnitzel’ < Akk. Sg. *sph2�Q-A mit analogisch durchführter Dehnstufe aus dem

Nom. Sg., vgl. urgerm. *IÀWX- < Akk. Sg. *SÀG-A, vgl. EWAia II 779 und Neri apud Vine

MSS 62 (2002)). Zur Wurzel vgl. lat. VS¯FD, VS¯FXV ‚Ähre’, VS¯FXOXP� ‚Lanzenspitze’ <

*spiH-kah2, ahd. speihha, as. VS�FD, ae. VS�FD ‚Speiche, Strahl’ < *spoh(H)-gah2-; mhd.

VS¯O�‚Spitze des Speeres’, nhd. dial. Speil ‚Span, Splitter, Keil’, tschech. spíle ‚Stecknadel’,

lat. S¯OXP ‚Wurfspeer’, S¯OD ‚Pfeiler’; lat. VS¯QD ‚Rückgrat, Dorn’, VS¯QXV� ‚Dornstrauch’,

russ. spina ‚Rücken’, ält.poln. spina ‚Rückgrat’ < *spiH-nah2, dazu as. ahd. spinela,

Page 63: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

7

spenula ‚Haarnadel’ mit Kürzung nach Dybo (vgl. vielleicht auch lat. S¯QXV�‚Pinienbaum’

< *(s)p(e)iH-no- *der Spitzige; zur Bedeutung vgl. dt. Fichte < *SHXKWÀ ‚die Spitzige’); ae.

VS¯U ‚Halm, Schößling’, mnd. VS¯U ‚Keim-, Grasspitze, Ähre, Turmspitze, sehr kleiner

Mensch’, mnld. spier ‚Schößling, spitzer Pfahl’, an. spíra ‚Stiel, junger Sproß, Rohrstab’,

nnorw. dial. VS¯U�‚kleine Makrele’, nnorw. pîr ‚kleine Makrele’, ofries. pîr ‚Sandwurm’ <

*spiH-ro/ah2- usw. usf. (IEW 981). Beispiele mit innergermanischen s-mobile sind

reichlich belegt: vgl. Lühr / Matzel KZ 99 (1986), 263-264, 268-271. Wenn man lat. pinna

aus *S¯QD (mit Wirkung der litera-Regel; zur Regel vgl. Lühr Expressivität 77ff.; etwas

abweichend Benedetti SSL 36 (1996)) ableitet, wäre es möglich ein Adjektiv *piH-nó-

‚spitz’ anzusetzen, das im Germanischen durch Dybo’sche Kürzung als *fina- fortgesetzt

wäre. Daraus könnte ein Abstraktum *ILQ¯- / *ILQMÀ- ‚Spitzigkeit; Spitze’ entstanden sein,

das durch innerparadigmatische Verallgemeinerung des Allomorphs *ILQMÀ- zu westgerm.

*ILQQÀ [+n] ‚Flosse; Spitze’ hätte führen können (vgl. mndl. vinne ‚Floße, Feder; Stachel,

scharfe Spize’). Die Bedeutung ‚Stich’ hätte sich dann metonymisch aus ‚Spitze’

entwickelt (eine Alternative wäre die Annahme einer retrograden Bildung aus einem

denominalen Verb *fin-ja/i- ‚mit einer Spitze behandeln, stechen’: vgl. als Parallel ofries.

pîren ‚stechen, sticheln’ zu an. spíra ‚Rohr, schlanker Baum’ und ae. VS¯U ‚spitz

zulaufendes Gewächs, Spitze’ usw.). Die Bedeutungswandel von ‚Stich’ zu ‚Punkt’ hätte

dann eine genaue Parallele in lat. SÌQFWXP�‚Stich; Punkt’ (zu SXQJÀ ‚stechen’, LEW II 383

s.v. pugil).

Lit.: B ThWb s.v. Finne; WObSM I: 623 s.v. Finne2; PommWb. I: 799 s.v. Finn; MecklWb

II: 913 s.v. Finn; Schmell I: 722; SchwId I: 838f.; DWb s.v. Blutfinne; ThWb. s.v. finnig;

ThWb s.vv. Finnenschnitzer, Fleischbeschauer; Pomm.Wb I: 799 s.v. Finnen(be)kieker;

LuxWb I: 373; WElsM I: 118; SchweizId s.v. Pfinnigung; Schmell I: 433; SchwäbWb I:

1048f. s.vv. Pfinne, pfinnig; ThWb s.v. Finne; Udolph Germanenproblem 304; L Sp ThGr

204; EWD s.v. Finne1; DWb s.v. Finne; WG Lexer s.vv. phinne, phinnic, pinne, pint;

BMZ s.vv. phinne, vinne, vinnec; DWb s.vv. Pinn, Pint; Paul DWb 275; Egerm DWb s.v.

Finne; Lexer s.v. phinne; BMZ s.v. phinne; Georges-LDHW Bd. 2, S. 1712 s.v. pinna2;

DWb s.v. Pinn; AnEW 425 s.v. pinni; NedEW 514 s.v. pen; AeEW 246 s.v. pinn; Mayer-

Lübke 539 s.v. p±QQD; Holder 1962, 966; LatDic 135 s.v. �SHQQ¯nus, 1330 s.vv. penna,

3HQQ¯QXV; Udolph Germanenproblem 304; AeEW 105; OED s.v. finny, vinny; MndW IX

524-525 s.vv. vinne [2], vinnich [2]; AeEW 105; EWD s.v. Finne; MndW IX 524-525

s.vv. vinne [1], vinnich [1]; Lühr / Matzel KZ 99 (1986) 262ff.; Eidg AnEW 117 s.v. fen;

Page 64: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

8

AeEW 120; IEW 807f. s.v. pen-2; EWA III (im Druck) s.v. fenni; LEIA A-71 s.v. an;

LitEW I 537, 570; DWb s.v. Mitesser; LEW II 238 s.v. penus; IEW 807 s.v. pen-1; Feist

147f.; EWAia II 83f.;� EWAia II 139; GEW II 532; Neri SostGot 275ff.; Casaretto

WortbGot 371ff.; Lühr MSS 36 (1976); EWAia II 779; Vine MSS 62 (2002); IEW 981;

Lühr / Matzel KZ 99 (1986), 263-264, 268-271; Lühr Expressivität 77ff.; Benedetti SSL 36

(1996); LEW II 383 s.v. pugil).

Page 65: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Flomen 1

Flomen Sb m. (n. f.) „Schmer, Schmerklumpen, Fett“

Z: Thür. Flomen „Schmer, Schmerklumpen“ (meist Pl.) ist ein niederdeutsches Lehnwort (vgl. mnd.

vlome „tierisches Fett“, südnnd. Flaumen). Das m. Wort setzt ein n-stämmiges Substantiv ndt.

*IOÀPDQ- fort, das durch Kontamination von urgerm. *IOÀPÀ- [+n] f. „(Fett-)Haut, Deckung“ und

*IO�1man- m. „id.“ (> mhd. flæme und mittel- und oberdt. Flame(n), Fläme(n) „dünne Haut; Fetthaut,

Fett“) entstanden ist. Urgerm. *IO�1man- m. beruht seinerseits auf einer geschlechtigen amphikinetisch

flektierenden idg. -men-Bildung *pleh1-mon��

/ *p33

h1-mn- „die Einhüllende“ aus der erweiterten Wurzel

*pl-eh1-. Dieses substantivierte Adjektiv liegt auch den baltischen Wörtern für Haut lit. SO¡Q¡� „dünnes

Häutchen“, SO¡Qìs „Häutchen“, lett. ple �QH „dünne Schicht“ und apr. pleynis „Hirnfell“ zugrunde.

B: Das thür. Substantiv Flomen bedeutet „Schmer, Schmerstollen“. Der Schmerstollen ist ein

aus der Bauchwand des Schweines gelöster, enthäuteter und in länglicher Form

zusammengerollter Schmerklumpen (andere Synonyme im Thüringischen: (Fett-)Blume,

(Schmer-)Brot, Fettpflaume, Fettwecke, (Schmer-)Laib, Niere(nschmer), Schmerklumpen,

Schmerlappen, Schmerlasche, Schmerrolle, (Schmer-)Wecken, Schmerwurst, Stollen, vgl.

ThWb s.v. Schmerstollen). Das Wort gehört zur Fleischersprache und ist als Flom(en) m.

und Flum(en) m. verstreut im westl. Nordthür. und im nordl. Nordostthür., außerdem bei

Apolda, Saalfeld, Greiz, Worbis (hier in der Variante Pflam), Flomen n. bei Sonneberg,

Flome f. bei Hettstedt belegt. Bei Artern ist auch die Redewendung du kreist Flum! „du

kriegst Hiebe“ bezeugt. Das Substantiv kommt auch komponiert als Fettflomen,

Fett(p)flaume „Schmerstollen; beleibter Mensch“ bei Bernburg vor (Belege bei ThWb

s.vv. Fettflomen, Flomen). Als Vorderglied ist das Wort weiterhin im Kompositum

Flomenfett „Schmerfett“ verbaut, vgl. Flom- bei Halle, Flum- bei Heiligenstadt, Flum(e)n-

bei Worbis; bei Hettstedt heißt das Kompositum Flomenschmalz (ThWb s.vv. Flomenfett,

Flomenschmalz). Die thür. Formen entsprechen den niederdeutschen Wörtern )OÀP�HQ��„Nierenfett der Schweine, Schmalzfett der Gänse, Fett der Fische“ (Ost- und Westpreußen,

Pommern-Rügen, Altmark, Holstein, Niedersachsen, Westfalen) und Flaumen „id.“ (im

Harz, von Braunlage bis Blankenburg, außerdem von Wernigerode bis Ballenstedt, Stettin,

Berlin, Dortmund, usw.; zur geographischen Verteilung der zwei Wörter mit

monophthongischem und diphthongischem Wurzelvokal ausführlich Damköhler 1927:

187ff, mit Literatur).

Im Ober- und Mittedeutschen zeigt das Wort abweichenden Vokalismus und eine viel

breitere Bedeutungspalette. Belegt ist in den rheinischen Mundarten neben Flum(en) m.

„Fleisch-, Haut-, Fetteile unter dem Bauche des Schweines“ hauptsächlich Flame, Fläme

„die auf wenig fettreicher oder schon einmal abgerahmter Milch sich bildende dünne

Rahmhaut; Haut über dem Schmalz; die die Feder, das Nierenfett, einhüllende Haut; durch

Page 66: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Flomen 2

Erkältung über dem Auge sich bildendes Häutchen; die Haut, die sich bei Hautschürfungen

dann bildet, wenn der Heilprozess beginnt; schmierige, hautig-fleischige Masse, die als

Vorzeichen beim Kalben erscheint; dünner Anhauch von Schaum, Schimmel; die Weiche

beim Vieh zwischen Bauch und Hinterschenkel, Leistengegend; auch zwischen Brust und

Hüften; namentlich beim Pferde, selten vom Menschen“; vgl. außerdem die Redewendung

in die Flam greifen „in die Tasche greifen, um Geld hervorzuholen; die Börse ziehen“ (da

die Börse eine getrocknete Schweinsblase war, so erhielt diese die Bezeichnung Flam);

dazu auch das Kompositum Flämstück n. „Leder von der Flame, Weiche; Fleischstück,

Lendenstück“ und das Adjektiv flämig „häutige Umhüllung habend bei gallertartiger

Masse“; zu weiteren Formen und Belegen vgl. RheinWb s.v. Flame, flämig, Flämstück.

Im Pfälzischen sind die Formen Flame, Fläme f. und Flamen, Flämen m. mit u.a.

folgenden Bedeutungen bezeugt: „dünne, halb durchsichtige Haut auf rohem Schmalz,

zwischen Muskeln; Haut, die die Leibesfrucht bis zur Geburt umgibt; die auf entrahmter

Milch sich bildende dünne Rahmhaut; die Weiche zwischen Rippen und Hinterschenkeln

des Tieres, besonders bei Rind und Pferd (häufig im Pl.); die Haut zwischen Euter und

Hinterbein bei der Kuh“ (vgl. PfälzWb s.v. Flame, mit weiteren Belegen und

Bedeutungsangaben). Im Schweizerdeutschen ist das Substantiv )O�P�HQ� m. „Decke von

Rahm auf der Milch, Decke von Eis an den Fenstern, belegt; zugehörig sind die Formen

)O�PH�Q�� f. „Euter trächtiger Kühe, dessen Adern sich mit Milch füllen; Eingeweide-,

Nierenfett der Schweine; Seite Schweineschmalz, wie man es vom Tiere abzuziehen

pflegt“ und Flom „feine Leinwand (bei Fenstern verwendet)“. Hierher stellt sich vielleicht

auch elsäß. Flamm(en)kuchen „Quiche, Speckkuchen mit einem Sahne- oder Sauerrahm-

Guss“ (falls mit Kompositionskürzung des Vokals im Vorderglied und

volksetymologischem Anschluss an das Wort Flamme). Vgl. außerdem Flemlin „weiche

Hirnhaut“, schwäb. Flemmle „krankhafte Trübung des Auges“ und schw.dt. g’flämt „mit

kleinen Wolken bedeckt (vom Himmel)“ (SchwId I 1195ff., mit Literatur; vgl. außerdem

DWb s.v. Flemle „membranae et vaginae viscerum“, und Christmann 1930: 232ff., mit

weiteren Formen und Belegen).

M: Die thür. Belege sprechen eindeutig für ein schwach flektiertes Substantiv Flom, Flomen

m., vgl. auch das Kompositionsvorderglied Flomen-, Flumen-. Die jeweils einmal belegten

Varianten neutr. Flomen und fem. Flome sind sekundär (das Genus Femininum ist wohl

durch volksetymologische Anlehnung an Pflaume zu erklären, vgl. Pflam bei Worbis, das

Neutrum durch Einfluss von dt. Fett). Das thür. Substantiv (zusammen mit den meisten

Page 67: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Flomen 3

niederdeutschen Belegen, vgl. Christmann 1930: 232) ist meist im Plural gebraucht (vgl.

ThWb s.v. Flomen).

L: Die Varianten IOÀP� und IOÌP° weisen niederdeutschen bzw. verhochdeutschten

Wurzelvokalismus auf (EWD s.v. Flomen, Christmann 1930: 232). Die Variante Pflam

beruht hingegen auf volksetymologischer Umgestaltung nach dt. Pflaume (ThWb. s.v.

Fettflomen); thür. Flaumen- weist südniederdeutsche Lautung auf (Damköhler 1927:

187ff). Die auch außerthüringisch belegten Formen mit -a- und -ä-Wurzelvokal setzen eine

andere Ablautstufe der Wurzel (→ Egerm

, Eidg

) fort.

Egerm

: Das thür. Wort ist aus dem Mittelniederdeutschen entlehnt, vgl. mnd. vlome sw. m.?

„Nierenfett, Schmalzfett“ (EWD s.v. Flomen). Ungewiss ist, ob auch mnd. vlome f.

„Fischschuppen; Metallplatten von Schuppenform (am Panzer, an silbernen Gefäßen)“

dazu gehört. J. ten Dornkaat Koolman (WOFr 517f.) geht von einer

Bedeutungsentwicklung von „Deckung“ zu „Haut; Schuppen“ aus.

J. Grimm hält hingegen „Schmutz“ für die ursprüngliche Bedeutung und schließt mnd.

vlome „Schmalz“ und südnd. Flaumen der Sippe von ahd. (Worolt-)floum (Otfrid V 1, 21)

„(Welt)boden, colluvies (mundi)“ und dt. mda. flümig „schmutzig, unrein“ an (DWb s.vv.

Flaum, flümig; vgl. dazu rhein. flom „trübe“, Flüm m. „schleimiger Auswurf“, flümen „sich

trüben“, aufflümen „eine Flüssigkeit aufrühren, dass sie trübe wird“, s. RheinWb s.vv.,

schw.dt. flüme(n) vulgär „scheißen (von Rindern, auch von Kindern)“, vgl. SchwId 1198).

Weiterhin ist nach Grimm dt. mda. Fleme „adeps renalis, ventralis, Bauchfett, Nierenfett

von Schweinen, Gänsen, Fischen, im Gegensatz zu dem von Rind und Hammel, welches

Talg genannt wird“ mit diesen Wörtern zu vergleichen. Dieses Wort setzt zusammen mit

der in den rheinischen und pfälzischen Mundarten bezeugten Form Fläme(n) das mhd.

Substantiv flæme swf. „innere Fetthaut“ fort (vgl. Lexer Nachträge s.v. flæme) und ist mit

ahd. -floum aufgrund der Wurzelstruktur (einfacher Wurzelvokal vs. Diphthong)

inkompatibel. Die diphthongische Form Flaumen ist durch südniederdeutsche

Diphthongierung von nd. )OÀPHQ entstanden (vgl. südnd. Blaut „Blut“, Bauk „Buch“,

Schau „Schuh“, Schaule „Schule“ (Christmann 1930: 231f.). Der Vergleich von Grimm

muss also aufgegeben werden (zu einer alternativen Etymologie vgl. AnEW 129 s.v.

flaumr). Aus dem gleichen Grund ist eine Herleitung aus der Wurzel *fleu- „schwimmen,

schweben“ unmöglich.

Die mda. Formen Flamen / Flämen einerseits und )OÀPHQ / Flaumen / )OÌPHQ andererseits

sowie mhd. flæme und nd. vlome stellen jeweils einen westgermanischen n-Stamm

*IO�PDQ- m. mit der Bedeutung „Deckung, Haut; Fetthaut“ und eine Abstraktbildung

Page 68: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Flomen 4

*IOÀPÀ- [+n] f. „id.“ dar. Die maskulinen Wörter mit À-stufiger Wurzel (*IOÀPDQ-) sind

wohl durch Kontamination aus den zwei obengenannten Bildungen entstanden. Von

diesem Ansatz lassen sich alle belegten Bedeutungen herleiten; die im Thüringischen

belegte Bedeutung „Fett“ ist als die „obenaufschwimmende Haut und Decke der Milch“

oder die „Fetthaut“ auffassbar (vgl. auch WOFr 517). Die femininen Formen mit

umgelauteten �-Wurzelvokalismus setzen wohl eine Motionsbildung auf *IO�P¯- / IODPLMÀ-

oder *IO�P�Q�¯- / IODP�Q�LMÀ-fort.

Eidg

: Nach Christmann 1930: 237 und EWD s.v. Flomen ist die obengenannte Wortsippe auf

die indogermanische Wurzel *pelh2- oder *pleh2- „ausbreiten“ zurückzuführen („Wohl zu

der gleichen Grundlage wie bei Fladen und flach; es bezeichnet (vermutlich) die

ausgebreitete Fläche“). Dieser Anschluss ist jedoch aus semantischen Gründen bedenklich,

da ein solches Benennungsmotiv eher für Produkte von Hautverarbeitung (z.B. Pergament)

zutreffen würde, als für die Haut selbst; außerdem wäre in diesem Fall die Herleitung von

mnd. vlome „Schuppe“ aus dieser Wurzel wenig plausibel. Auch machen die Formen auf

Fla° und Flä° < westgerm. *fl�� diesen Anschluß aus morphologischen Gründen

unwahrscheinlich, denn von einer Wurzel *pleh2- hätte nur eine Dehnstufe *SO�K2- >

urgerm. *IO�- (durch die Wirkung des Eichnerschen Gesetzes, vgl. IdGr Lautlehre 132f.)

zum belegten Ergebnis westgerm. *IO�- führen können, was allerdings in Anbetracht des

daneben erschlossenen e- oder o-stufigen Allomorphs *IOÀ� < *ple/oh2- morphologisch

kaum zu rechtfertigen wäre (man müsste annehmen, dass das Westgermanische beide

Allomorphe eines akrostatischen Paradigmas *pO�K2-mE / *pleh2-mn- bewahrt hätte). Die

Deutung des EWD muss also aus semantischen, phonologischen und morphologischen

Gründen aufgegeben werden.

Die germanische Wortsippe lässt sich vielmehr mit den baltischen Wörtern für „Haut“ lit.

SO¡Q¡� „dünnes Häutchen, Membrane, Regenbogenhaut, Iris, dünne Scheibe“, SO¡Qìs

„Häutchen“, lett. ple �QH „dünne Schicht“ und apr. pleynis „Hirnfell“ (IEW 803, LitEW I

615) vergleichen, die eindeutig auf die Vorform urbalt. *SO�QLho-, *SO�QLh�- „Haut“

hinweisen. Es handelt sich um eine ho-Ableitung *pléh1-(m)n-iho- aus einem Abstraktum

uridg. *pléh1-mE n. „Bedeckung, Einhüllung“, das seinerseits aus einer erweiterten idg.

Wurzel *pleh1- „einhüllen“ abgeleitet ist (zur Vereinfachung idg. -mn- > -n- vgl. lat. vellus

„abgeschorene Wolle des Schafes; Vlies“ < *h2iel(m)no-s- < *h2ielh1/3mn-o- + -s- vs. arm.

JHáPQ�„Wolle, Vlies“ < *h2ielh1/3mE, IEW 1139, oder ai. Instr. Sg. D�Q��< *h2a�-(m)n-eh1

zu D�PDQ- „Stein“ < *h2a�-mon-, IdGr Lautlehre 159; zur Wurzel *pleh1- vgl. IEW 803;

zum Benennungsmotiv „Bedeckung, Einhüllung“ für die Haut vgl. die Substantive lat.

Page 69: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Flomen 5

cutis und urgerm. *KÌGL] „Haut“, die ein idg. -ti-Abstraktum zur Wurzel *(s)keiH-

„bedecken, umhüllen“ (IEW 952) fortsetzen).

Aus dem starken Stammallomorph eines zur selben Wurzel gebildeten amphikinetisch

flektierenden substantivierten Adjektivs *pléh1mon- / *p3h1mn- „die Einhüllende“ >

„Haut“ ist hingegen die urgermanische Form *IO�1man- verallgemeinert worden. Aufgrund

innerdeutscher Paradigmenspaltung sind dann zwei mask. Substantive *IO�PDQ- / *IO�PLQ-

> mda. Flame(n), Fläme(n) entstanden; die zugehörigen femininen Formen setzen einen

movierten Stamm *IO�P¯- (oder *IO�P�Q�¯-) fort. Die fem. Formen mit À-Vokalismus

weisen hingegen auf ein o-stufiges Abstraktum *ploh1mah2 „Einhüllung“ > urgerm. *IOÀPÀ

+ -n > Flomen, Flaumen. Zum Nebeneinander von mask. -mon-Adjektiven und fem.

-mah2-Abstrakta vgl. gr. WHODPÊQ�„Gürtel, Band“ < *telh2mon- „Träger, der Tragende“ vs.

gr. W´OPK „Härte, Mut“ < *tolh2mah2 „Trägfähigkeit“ oder gr. �NPZQ�„Meteoritenstein;

Amboß“, ai. D�PDQ- „Stein“ < *h2a�-mon- „spitzig, eine Spitze habend“ vs. gr. �NP��„Spitze“ < *h2a�-mah2.

Aus der gleichen Wurzel abgeleitet sind auch lit. SO¡Y¡� „dünne weiche Haut, Häutchen auf

der gekochten Milch, Bauchhaut bei Schlachttieren“, lett. plêve „dünnes Häutchen (über

der Milch, am Fleisch), dünnes durchsichtiges Zeug, Narbe“ (LitEW 620, mit weiteren

Anschlüssen) < *pleh1-i-íh2 oder -íhah2 und möglicherweise auch lat. palea f.

„Getreidehülse, Spreu; Stroh; Erzschaum; das rote Läppchen unter dem Schnabel des

Hahnes“ und palear, -�ULV� n. < *SDOH�-li „Wampe; Kehle der Wiederkäuer“

(Walde/Hofmann LEW 238), falls aus *p3h1-éhah2 „Haut (besonders der Getreide)“ <

*„Häutiges“.

Die unerweiterte Wurzel *pel(H)- „einhüllen, bedecken“ liegt in vielen einzelsprachlichen

Wörtern für „Haut“ und „Umhüllung“ zugrunde, vgl. gr. {UXVg�SHODM n. „Hautkrankheit“,

S|OPD n. „Sohle am Fuß oder Schuh“, gr. S|SORM�m.�„Umhüllung, Schleier“, ae. filmen

„Häutchen“, lat. pellis „Fell“, ahd. fel, ae. fell, aisl. fjall „Haut“, got. þruts-fill „Aussatz“,

aksl. pelena, r. pelena, tschech. pléna, plína „Windel, Tuch, Hülle“ (IEW 803, EWA III

s.v. fel, mit Literatur).

Lit.: B Christmann 1930: 232f.; Damköhler 1927: 187ff; DWb s.v. Flemle; PfälzWb s.v.

Flame; RheinWb s.v. Flame, flämig, Flämstück; SchwId I 1195ff.; ThWb s.vv. Fettflomen,

Flomen, Flomenfett, Flomenschmalz, Schmerstollen; M Christmann 1930: 232; ThWb s.v.

Flomen; L Christmann 1930: 232; Damköhler 1927: 187ff; EWD s.v. Flomen; ThWb. s.v.

Fettflomen; Egerm

AnEW 129 s.v. flaumr; Christmann 1930: 231f.; DWb s.vv. Flaum,

flümig; EWD s.v. Flomen; IEW 1139; Lexer Nachträge s.v. flæme; RheinWb s.vv.

Page 70: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Flomen 6

aufflümen, flom, Flüm, flümen; SchwId 1198; WOFr 517f.; Eidg

Christmann 1930: 237;

EWA III s.v. fel; EWD s.v. Flomen; IdGr Lautlehre 132f., 159; IEW 803, 952;

Walde/Hoffmann LEW 238; LitEW I 615, 620.

Page 71: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Gaffe, gaffen, Gaffloch, Dachgaffe 1

Gaffe Sb f. „Dachfenster“

gaffen swV „neugierig betrachten; sehen“

Gaffloch Sb n. „Dachfenster der Scheune“

Dachgaffe Sb f. „Dachfenster“

Z: Thür. Gaffe f. „Dachfenster“ ist entweder eine Rückbildung aus dem Verb dt. gaffen „(an)starren“ mit

einer konkreten lokalen Bedeutung „Ort, von dem man anguckt“ oder ein ursprüngliches Nomen

Agentis *„Gucker“, das übertragen als „Auge des Hauses“ verstanden wurde. Möglich ist aber auch

eine ältere Abstraktbildung „Öffnung“ aus der urgerm. Wurzel *gap- „(den Mund) öffnen“, woraus

auch dt. gaffen mit der semantischen Entwicklung „(den Mund) öffnen“ > „mit offenem Mund

(an)starren“ entstanden ist. Urgerm. *gap- stellt ein durch phonologischen Wandel bedingtes

Allomorph von uridg. *�hhh

eh2p(-s)- „klaffen, den Mund aufsperren“ fort, das hier zum ersten Mal

angesetzt wird.

B: Das Substantiv Gaffe, Goffe, komponiert Dachgaffe „Dachfenster, liegendes Fenster im

Dach“ ist verstreut im nordwestlichen Südostthüringen (Gera, Zeulenroda, Pößneck) und

bei Altenburg belegt (ThWb s.vv. Dachgaffe, Gaffe). Mit der Bedeutung „Dachfenster der

Scheune“ ist außerdem das Kompositum Gaffloch in der Umgebung von Eisenberg und in

Naumburg bezeugt (ThWB s.v. Gaffloch). Das zugehörige Verb gaffen „etwas neugierig

betrachten, sehen“ ist verstreut in Sondershausen, Gera, Hohenmölsen in Gebrauch, vgl.

auch das Nomen Agentis Gaffer (Schmölln und Pößneck – ThWB s.v. gaffen)

M/WB: Thür. Gaffe hat fem. Genus, aber die ursprüngliche Deklinationsklassenzugehörigkeit

ist nicht bestimmbar. Der sicher umlautlose Wurzelvokalismus in Goffe schließt auf alle

Fälle einen alten -¯-/-MÀ-Stamm aus (→ L). Die Substantiva Dachgaffe und Gaffloch sind

Determinativkomposita mit dem Substantiv Gaffe als Hinter- bzw. Vorderglied. Das

Nomen Agentis Gaffer „jemand, der neugierig betrachtet“ ist aus dem schwachen Verb

gaffen abgeleitet und bildet seinerseits die Basis des frequentativen Verbs thür. gaffern

„sich oberflächlich umschauen, unaufmerksam sein“ (Langensalza), vgl. ThWb s.v.

gaffern.

L: Die Varianten Gaffe / Goffe deuten auf ursprünglichen kurzen Wurzelvokal /a/, der sich

im mittleren Thür. zu [å], im Ostthür. und nördl. Südostthür. weiter zu [Æ] verdumpft hat

(Sp ThGr 12f.).

Egerm: Thür. Gaffe bedeutete ursprünglich „Fenster“ und ist wahrscheinlich eine Ableitung

aus dem Verb dt. gaffen „(an)starren“, thür. gaffen „neugierig betrachten; sehen“ (vgl. zu

diesem Typ dt. Bleiche zu bleichen, vgl. Lühr Nhd 165). Möglich ist ein Nomen Loci „Ort,

von dem man anguckt“ oder ein Nomen Instrumenti „Mittel, mit dem man guckt“. Eine

Page 72: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Gaffe, gaffen, Gaffloch, Dachgaffe 2

Stütze für diese Etymologie kommt von anderen Synonymen für Dachfenster aus dem

Thüringischen, vgl. z.B. Dachgucke f. oder Guckloch n. (zu gucken) neben Gaffloch n.

Daneben ist eine Bedeutung „der gafft, anguckt > Auge“ (Nomen Agentis) denkbar, vgl.

thür. Augenfenster ‘augenähnliches halbrundes Dachfenster“. Zur Metapher des Fensters

als Auge des Hauses (einmal wegen seiner Form, einmal aufgrund seiner Funktion) vgl.

russ. okno „Fenster“ (zu aruss. oko „Auge“), got. augadauro („Augentür“), aisl. vindauga,

ae. ZLQGH�JH („Windauge“) „Fenster“ oder nhd. Bullauge. Eine dritte Möglichkeit ist die

Annahme einer ursprünglichen Bedeutung „Öffnung“. Die Bezeichnung des Fensters als

Loch ist im Thüringischen geläufig, vgl. die schon genannten Wörter Guckloch oder

Gaffloch (in diesem Fall wäre Gaffloch durch Kontamination von Gaffe mit Guckloch zu

erklären). Eine Bedeutung „Öffnung“ für Gaffe ist aber nur durch etymologische

Überlegungen zu erweisen: Die Bedeutung von gaffen „anstarren“ ist aus einer älteren

Bedeutung „mit geöffnetem Mund anschauen“ herzuleiten, vgl. EWD s.v. gaffen.

Dazugehörig sind die althochdeutschen Verben kapfên (> mhd. kapfen, obd. gapfen) neben

kaffen „hochblicken, aufschauen“ (woraus das Abstraktum ahd. geffida f. „Betrachtung“

gebildet wurde), mhd. gaffen „gähnen“, nhd. gaffen „neugierig betrachten“ (woraus das

Frequentativum thür. gaffern „sich oberflächlich umschauen, unaufmerksam sein“

abgeleitet wurde) sowie mnd. mndl. gapen, nd. gappen „den Mund aufsperren“, jappen

„nach Luft schnappen“, an. gapa „das Maul aufsperren“, nisl. fär. norw. schwed. gapa

(entlehnt als me. gapen), shetl. gab „geschwätzig sein“ < *den Mund öffnen, wohl auch ae.

ofergapian „vergessen, vernachlässigen“ < *„übersehen“ (vgl. AnEW s.v. gapa, DWb.

s.vv. gaffen, gappen, jappen, EWD s.v. gaffen, RheinWb s.v. gaffen, Ahd.As.Glossenwb.

144, ThWb. s.vv. gaffen, gaffern). Neben den Verben ist in den altgermanischen Sprachen

noch das neutrale Substantiv *gapa- belegt, vgl. an. gap n. „Öffnung, Loch; Schrei, Ruf;

törichtes Benehmen“, nisl. fär. norw. schwed. gap, ndän. gab, dazu shetl. gab „Öffnung“

(AnEW loc. cit.). Die germ. Verben mit Geminata *pp (> ahd. pf) setzen wohl eine

denominale Bildung *JDSQ�ML�D- fort, der ein verschollenes Verbaladjektiv *gapna-

„geöffnet, aufgesperrt“ zugrundeliegt. Thür. Gaffe kann also auch ein Abstraktum *JDSÀ-

f. „Öffnung, Loch“ direkt fortsetzen.

Eidg: Die Sippe von dt. gaffen stammt aus einer urgerm. Wurzel *gap- „klaffen, gähnen, den

Mund öffnen“, die nach EWD s.v. keine genauen außergermanischen Entsprechungen

haben soll. Nach IEW 422 setzt urgerm. *gap- eine Vorform idg. *�h¸b- (in moderner

Notation *�H-b-) fort, die durch Erweiterung der den einzelsprachlichen Verben ahd.

ginen, an. gína, ae. as. J¯QDQ „klaffen, gähnen, schnappen“ (n-Infixpräsentien), lat. KL�UH

Page 73: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Gaffe, gaffen, Gaffloch, Dachgaffe 3

„klaffen, gähnen, den Mund aufsperren“, K¯VFÀ�„klaffe“, KL�VFÀ „sich spalten, öffnen“ (vgl.

dazu lat. KL�Wus „Öffnung, Kluft, Schlund“), osk. eehianasúm „emittandarum, fugandarum

(hostiarum)“, u. ehiato „emissos“, lit. åLyMX, åLyWL� „gähnen“, sbkr. zjyti „den Mund

aufsperren“ < baltosl. *åM�- zugrundeliegende Wurzel *�K��L�- „gähnen, klaffen“ (so notiert

in IEW s.v.; nach LIV 173 *�heh1h- „den Mund aufsperren, gähnen“) entstanden ist. Dazu

wird auch ai. K�SKLN�- „das Gähnen“ gestellt (s. EWD s.v. gaffen), das, wie man annimmt,

ein sekundäres *ph aus *p fortsetzen sollte (möglicherweise abgeleitet aus einem

Abstraktum uriir. *�haHp-h2 > * Åjh�Sh

i „das Gähnen“ – zum Lautwandel vgl. ai. mahi n.

„groß“ < *PD�hi < uriir. *ma�h-h2 = gr. P|JD�[IdgGr 138f.]). Vgl. außerdem ae. geaflas Pl.

„Kiefern“, das auf ein Nomen Agentis urgerm. *gaf-lá- „Klaffer“ zurückgehen kann (dazu

schwed. på gavel „halb offen“, an. gafði „(er) gähnte“, gafa* „den Mund aufsperren“, vgl.

AeEW s.v. geaflas, AnEW s.v. gafði).

Der direkte Anschluss der germ. Wortsippe an die Wurzel von lit. åLRSVyWL „mit offenem

Mund dastehen“, lett.�å�SVWîtiês „sich räkeln, recken, klettern“ < *„gähnen“, s. LitEW II

s.v. åLRSVyWL (vgl. dazu die Glosse lat. KLSSLW�UH „oscitare, gähnen, den Mund aufsperren“

(Walde/Hofmann LEW I 648f.) < *K¯S-LW�UH [iteratives Verb, mit regulärer

Quantitätsmetathese wie bei O¯WHUD�> littera], ursl. *]LSDWv „keuchen, nach Luft schnappen“

oder ae. J¯IHU „Fresser“, aisl. gífr „Unhold“, nhd. dial. geifen, geiben, geipen „gähnen,

gaffen, gierig verlangen“, geifeln „spottend lachen“, ndl. gijbelen „kichern“; daneben ae.

gipian „nach Luft schnappen“, nd. J¯SHQ�„id.“, nschwed. J¯SD�„den Mund verziehen“ mit

germ. *-p-) wird von EWD s.v. gaffen strikt abgelehnt, denn diese Verbindung „würde

einen sonst nicht bezeugten Übergang von ig. *ghj- > g. g- voraussetzen“. Diese Ansicht

kann aber nicht geteilt werden: Im Urgermanischen wurde eine vorvokalische Gruppe *Kj

(Konsonant + palataler Approximant) zu *K vereinfacht, wenn keine synchrone

Morphemgrenze dazwischen lag. Vgl. die Endung des Gen. Sg. f. des Personal- und

Demostrativpronomens got. °izos, Dat. Sg. F. °izai, Gen. Pl. F. °izo < idg. *°eshah2s,

*°eshah2ah, *°eshah2ÀP�(aus *-s(m)hah2-, s. Gippert FS Rasmussen), sowie vielleicht auch

die thematische Endung des Gen. Sg. got. -is, ahd. -as < *-i/as@Í< *-e/osho (aber in diesem

Fall ist auch Vermischung von nominalen *-osho mit pronominalem *-eso denkbar, vgl.

russ. þHVR „wessen“ < *kieso). Zur fraglichen lautlichen Umgebung (#gjV > #gV-) vgl. ahd.

gestre, gestaron, gesteren, ae. giestron „gestern“, got. gistra-dagis „morgen“ < urgerm.

*ges-tra- < idg. *dh�hhes-tro-, zu lat. hesternus „gestrig“ < urit. *$HVWUH-no-, aisl. í gÙU

„gestern“ < urgerm. *J�] < idg. *dh�hh�V vs. í gjár < *JLM�] < *d

h�hih�V� (endungsloser

Lokativ), zu ai. hyás, av. ]\À, gr. FT|M, alb. dje, lat. heri, ir. indé „gestern“ < idg. *dh�hhes

Page 74: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Gaffe, gaffen, Gaffloch, Dachgaffe 4

[+i] (zu diesen Formen vgl. Lipp Palatale [im Druck]), oder aisl. gói f., góimánaðr „der

Monat von Mitte Februar bis Mitte März, Schneewinter“ (AnEW s.v. gói) < urgerm. *JÀn

„Winter, Schnee“ < idg. *�h(i)hÀP „id.“, zu gr. FLÊQ f. „Schnee“, av. zy^ f. „Winter“, arm.

jiwn „Schnee“, lat. hiems f. „Winter, Sturm“ (GEW II 1080f., Lühr Skalde Egill 179f.,

Friedman IESB 10 [2003]: 7). Eine Herleitung der germ. Wurzel *gap/f- (mit

verschiedenen Auslautsallophonen in Folge der Stimmtonassimilation an darauffolgende

Morpheme, s. unten) aus einer Grundform urgerm. *g(j)ap/f- bereitet also keine lautlichen

Schwierigkeiten. Was den Auslaut betrifft, ist eine weitere Wurzel urgerm. *gaisp-

„gähnen“ (vgl. die schwachen Verben nisl. fär. geispa, nnorw. geispa, gjespe, nschwed.

gäspa sowie ne. gasp „keuchen, nach Luft schnappen“ < ae. *J�VSLDQ�< *gaisp°, s. dazu

AnEW s.v. geispa) belegt, die wohl durch reguläre Metathese aus *gaips- entstanden ist

(vgl. dt. Wespe < mhd. webse) – die germanische Lautverschiebung musste hier

ausbleiben. Aufgrund von ursl. *]LSDWv und lat. hipp- ist die Wurzel als *�hheh2p- / *�hih2p-

zu bestimmen. Diese Wurzel hat sich zuerst zu urgem. *JÀI- / *J¯I- entwickelt. Von einem

Desiderativstamm *�heh2p-s- wurde daneben schon grundsprachlich eine neue Wurzel

*�hheh2ps- / *�hih2ps- gebildet (vgl. lit. åLRSVyWL), die im Urgermanischen als *JÀSV- /

*J¯SV- fortgesetzt wurde. Das Schwanken zwischen auslautendem *-f- und *-p- beruht also

auf Vermischung der zwei homonymen Wurzeln. Aufgrund des Jod-Schwunds wurden im

Urgermanischen drei Neowurzeln verallgemeinert: 1) Zu *JÀI�S- wurde eine normalstufige

Wurzel *gaf/p- gebildet nach dem Ablautmuster germ. a : À, vgl. an. kala „frieren“ < *kal-

a/i-, Prät. kól, Adj. kóll „kühl“ < *NÀO-a- oder fara „fahren“ < *far-a/i-, Prät. fór, Adj. fø �U�„beweglich“ < *IÀU-i- (Seebold StV 188, 288); 2) *J¯S�I- und 3) *J¯SV- wurden hingegen

als vollstufige Wurzeln interpretiert, wozu eine Abtönungsstufe *gaisp- gebildet wurde,

vgl. an. bíta „beißen“ < *beita/i-, Prät. beit, Adj. sár-beitr „schmerzlich beißend“ < *bait-

a- (Seebold StV 96f.).

Ein direkter Vergleich zwischen germ. *gaf/p- und die ai. K�SKLN�- zugrundeliegende

Wurzel uriir. *�haHp- ist hingegen abzulehnen, da die iir. Wurzel ganz isoliert steht und

wohl sekundär eine Kontamination zwischen idg. *�heh2- und oben eingeführte *�hheh2p-

darstellt. Zur Wurzel *�eh2- vgl. Lipp Palatale (im Druck); anders LIV 173: *�heh1h-; aber

eine Analyse *�heh2- neben *�h

h2-eh- ist vorzuziehen, vgl. das Nebeneinander der Wurzel

*seh2- neben *sh2-eh- „binden“ oder *dheg

ih- neben *d

hgih

-eh- „durch Feuer zerstören /

zerstört werden“ (zu den Wurzeln vgl. LIV 133, 150f., 544, mit von hier zum Teil

abweichenden Interpretationen).

Page 75: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Gaffe, gaffen, Gaffloch, Dachgaffe 5

Lit: B ThWb s.vv. Dachgaffe, Gaffe, gaffen, Gaffloch; M/WB ThWb s.v. gaffern; L Sp ThGr

12f.; Egerm Ahd.As.Glossenwb. 144; AnEW s.v. gapa; DWb s.vv. gaffen, gappen, jappen;

EWD s.v. gaffen; Lühr Nhd 165; RheinWb s.v. gaffen; ThWb. s.vv. gaffen, gaffern; Eidg

AeEW s.v. geaflas; AnEW s.vv. gafði; geispa; gói; EWD s.v. gaffen; Friedman IESB 10

[2003] 7; GEW II 1080f.; Gippert FS Rasmussen; IdgGr 138f.; IEW 422; Walde/Hofmann

LEW I 648f.; Lipp Palatale (im Druck); LitEW II s.v. åLRSVyWL; LIV 133, 150f., 173, 544;

Lühr Skalden Egill 179f.; Seebold StV 96f., 188, 288.

Page 76: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

gelmen, gelmern 1

gelmen swV „leicht schlafen“

gelmern swV „id.“

Z: Das sw.V. thür. gelmen „leicht schlafen“ ist eine denominale Ableitung zu mhd. galm „Schlaf,

Betäubung“. Das etymologisch isolierte deutsche Substantiv beruht auf entlehntem vulgärlat. *calma

„Windstille, Ruhe“ < mittellat. cauma „Hitze, Glut“ (< gr. NDNDÂÂPDPD

„id.“); die Anlautlenierung *k > hd.

g kann durch zahlreiche Parallele gestützt werden (vgl. z.B. ahd. gamiza „Gemse“ < vulgärlat.

*camÀFHD, it. camoscio, it. dial. camozza).

B: Die Verben thür. gelmen „leicht schlafen, schlummern, duseln“ und seine Variante

gelmern „id.“ sind im Nordostthür. und Ostthür. (Naumburg, Zeitz) bis zur Grenze mit

dem nordthür. Dialektgebiet (Artern, Sangerhausen) verbreitet, vgl. südöstl. Nordostthür.

jalme(n), Zeitz galme, Halle galmen, Eisleben jämen und Artern ich haa de ganze Nacht

jegalmert (Belegen bei ThWb s.vv. gelmen2, gelmern).

M/WB: Thür. gelmen und gelmern sind schwache Verben, wie auch der sekundäre Umlaut

zeigt (→ L); gelmern ist ein mit deverbalem Suffix -er(n) gebildetes frequentatives Verb

zu gelmen, vgl. zu diesem Typ nhd. folgern, schlingern, steigern zu folgen, schlingen,

steigen (dazu Fleischer/Barz 349).

L: Der Wurzelvokalismus a ([a], >�@��VHW]W�NXU]HV�PKG��ä mit Sekundärumlaut fort (Sp ThGr

27ff., vgl. z.B. Pößneck opwassre „abwässern“, Schmalkalden machtlich „mächtig“);

gelmen stammt von mhd. *gälmen her. Das Nebeneinander von anlautenden j- und g- ist

mundartlich verteilt (nordöstliches vs. norwestlich-südliches Thüringen, vgl. Sp ThGr 184,

198); der Laut j- stellt das Frikativierungsprodukt von mhd. g- vor Vokal dar (Sp ThGr

������ YJO��1HXKDXV� >M�UG�r] „Gärten“. Die Nebenform jämen weist optionalen Schwund

von inlautendem -l- auf wie in šumaisdãr „Schulmeister“ (Sp ThGr 231) und setzt dieselbe

mhd. Vorform wie gelmen fort.

Egerm: Für thür. gelmen

2 ist noch kein etymologischer Anschluss vorgeschlagen worden (vgl.

ThWb s.v. gelmen2: „etym. unklar“). Ein Vergleich mit gelmen

1 „laut schreien“ und somit

mit ahd. galm, calm „Schall, Hall“ (DWb s.v. Galm1) ist wegen dem Fehlen einer

plausiblen semantischen Verbindung unwahrscheinlich. Auch Anschlüsse an thür. Galm

„Verlangen, Gier“ (ThWb s.v. Galm) oder an nhd. mda. Galm „Qualm, Dunst, Gestank“

sind aus demselben Grund unbefriedigend (vgl. DWb s.v. Galm2). Das zugrundeliegende

mhd. *gälmen stellt vielmehr eine Ableitung des einmal belegten Substantivs mhd. galm

„Betäubung“ dar (sein herz das lag in schâches galm (: twalm) Hätzl. 29a., vgl. Lexer

Nachträge s.v. galm, DWb s.v. Galm3); mhd. galmeten „getäubt“ ist aufgrund seiner

Page 77: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

gelmen, gelmern 2

Überlieferungslage hingegen unsicher (vgl. DWb s.v. galmen „schlummern“: Lesart ir

galmeten sinne (statt galmenden) bei Trist. 11814 in der Strassburger Handschrift).

Für mhd. galm ist ein Vergleich mit mhd. qualm „Beklemmung“ und mhd. twalm

„Betäubung, Ohnmacht; Schlaf, Traum, Vision“ erwogen worden (vgl. Lexer s.vv. qualm,

twalm, DWb s.v. Galm3, mit Literatur; zu einem möglichen Zusammenhang zwischen

qualm und twalm vgl. EWD s.v. Qualm). In Folge der Entlabialisierung des Anlauts

müsste dann qualm zuerst zu kalm geworden sein (vgl. mhd. quëc > këk „Keck“, quam >

kam, quât > kât „Kot“, MhdGr 154) und dann zu galm; aber eine Lenierung von

anlautendem mhd. k aus qu hat keine Parallele. Außerdem ist unwahrscheinlich, dass das

mit mhd. galm reimende Wort twalm dessen Vorform ist.

Unklar ist es schließlich, ob das mitteldeutsche Verb kalmen „leicht schlummern“ (belegt

z.B. in Leipzig, vgl. DWb s.v. kalmen mit Belegen und Literatur) zur Sippe von mhd. galm

„Betäubung“ oder zu der von qualm „Beklemmung“ gehört, da beide Möglichkeiten

lautlich und semantisch gut bestehen. Außerdeutsch sind keine Entsprechungen zu mhd.

galm oder thür. gelmen zu verbuchen.

Eidg: Da die bisher vorgeschlagenen Etymologien für mhd. galm aus formalen oder

inhaltlichen Gründen inadäquat sind, wird im Folgenden eine neue Deutung

vorgeschlagen. Das Substantiv ist ein Lehnwort aus vulgärlat. *calma „Windstille; Ruhe“

(vgl. it. calma, frz. calme m., sp. calma, pg. calma „id.“, mit der verbalen Ableitung it.

calmare „beruhigen“, Meyer-Lübke 171; dazu it. calmo, frz. calme Adj. „ruhig“). Von der

im Vulgärlatein schon verallgemeinerten Bedeutung „Ruhe“ zur belegten Bedeutung von

mhd. galm „leichter Schlaf, Betäubung“ ist die semantische Entwicklung trivial. Das

Substantiv ist unabhängig auch ins Englische (vgl. me. calme, ne. calm „ruhig“, to calm

down „sich beruhigen“) und Niederländische (vgl. kalm, kalmte „Windstille, Ruhe“)

entlehnt worden, woher es dann wieder ins Hochdeutsche eingedrungen ist (vgl. nhd.

Kalme „Windstille“), s. dazu NedEW 298, DWb s.v. Kalme.

Die Anlautlenierung vulgärlat. k > hd. g kann mit zahlreichen Beispielen untermauert

werden: vgl. nhd. Gartine < mndl. gardine „Bettvorhang“ < frz. courtine < kirchenlat.

FRUW¯QD „Vorhang“ (EWD s.v. Gartine, Meyer-Lübke 210), mhd. galmei „Kieselzinkspath,

Kieselgalmei“ < sp. calamina < gr. NDGPHgD (Lexer s.v. galmei); oberd. Guckummer

(neben Kukumer) „Gurke“ < lat. cucumis, cucumer (DWb. s.vv. Kukumer, Guckumer,

EWD s.v. Gurke, Meyer-Lübke 219), schweizerdt. Gulm „oberste Bergkuppe“ < lat.

culmen „Gipfel“ (SchwId I 233); besonders aussagekräftg sind einerseits ahd. gamiza

„Gemse, wilde Bergziege“ < vulgärlat. *FDPÀ[, *FDPÀFHXV, -a (vgl. it. camoscio, it. dial.

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gelmen, gelmern 3

camozza, frz. chamois, s. Meyer-Lübke 170f.), vgl. dazu nürnberg. jems, iembs „id.“ (DWb

s.v. Gemse), andererseits ahd. gougal, goucal „Narretei, Zauberei“, gougalôn, mndd.

gokelen, mndl. gokelen „Narrenpossen treiben, gaukeln“, dazu thür. Gäukel (Mansfeld,

Sangerhausen, Nordhausen M�Nãl) < mittellat. cauclearii „Wetterzauberer“ (EWD s.v.

gaukeln, ThWb s.v. Gäukel), weil beide Formen zeigen, dass das Lenierungsprodukt mhd.

g- < vulgärlat. k- mundartlich weiter zu j- spirantisiert werden konnte. Es steht also nichts

im Wege, thür. gelmen „Schlummern“ als Denominativ zu mhd. galm „Betäubung“ <

vulgärlat. calma „Windstille, Ruhe“ zu bestimmen.

Das lat. Wort gehört zur romanischen Sippe von log. kama „Hitze“, engad. k“oma „das

Ausruhen“, obw. kauma „Schattenstätte“, prov. cauma „Hitze“ < mittellat. cauma, -atis

„Hitze, Glut, Verbrennung“ (Meyer-Lübke 171) < gr. NDÂPD n. „id.“ (-men-Abstraktum

zur idg. Wurzel *keh2i- „anzünden, verbrennen (LIV 345)). Der Wandel mittellat. cauma

> vulgärlat., it. calma ist wohl nicht dissimilatorischer Natur, sondern durch

volksetymologischen Anschluss an die Sippe von lat. calor „Wärme“, caleo „bin warm“

usw. erfolgt (NedEW 298). Die semantische Entwicklung zur Bedeutung „Windstille“ ist

beruht dabei auf Metonymie „Hitze“ > „bei der Hitze zustandekommende Windstille“.

Lit.: B ThWb s.vv. gelmen2, gelmern; M/WB Fleischer/Barz 349; L Sp ThGr 27ff., 184,

198f., 231; Egerm / E

idg EWD s.v. Gartine, gaukeln, Gurke, Qualm; DWb s.v. Galm1,

Galm2, Galm

3, galmen, Gemse, Guckumer, Kalme, kalmen, Kukumer; Lexer s.vv. galmei,

qualm, twalm; Lexer Nachträge s.v. galm; LIV 345; Meyer-Lübke 170-171, 210, 219;

MhdGr 154; NedEW 298; SchwId I 233; ThWb s.vv. Galm, gelmen2, Gäukel.

Page 79: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Happen, Haps, happig, happen, hapsen 1

Happen Sb m. „mundgerechtes Stück“

Haps Sb m. „Bissen; Nuckel, Brustwarze“

happig Adj. „gierig“

happen swV „mit dem Maul zu fassen suchen; fressen“

hapsen swV „schwer atmen, keuchen“

Z: Thür. Happen swm. „mundgerechtes Stück“ setzt ein urgerm. substantiviertes

Adjektiv *happa-n- „Anteil“ fort, das durch die Wirkung des Klugeschen Gesetzes

aus vorurgerm. *kh2p-nó- „gefasst, zuteil bekommen“ stammt und zu der idg. Wurzel

*keh2p- „fassen, schnappen“ gehört.

B: Das Substantiv Happen m. „mundgerechtes Stück“ ist in Nordthür., Nordostthür., Ostthür.

und verstreut in Ilmenauthür. in Gebrauch, sonst in thür. Dialektgebiet nur selten

anzutreffen. Außerdem wird das Wort häufig als Deminutiv mit der Bedeutung „ein

bisschen“ verwendet. Belege sind: e Hüppchen Wurscht (Weißenfels) „ein Stück Wurst“,

gäbb mer e Häppchen Stulln (Schmölln) „gib mir ein Stück Stollen“, dän juten Happen

hewe ich bis zuletzte uff (Eisleben) „das gute Stück hebe ich bis zuletzt auf“, kenn

Häppchen bange (Heiligenstadt) „kein bisschen ängstlich“, e Häppchen schnell

(Hohenmölsen) „ein bisschen schnell“, s treppelt nor a Happchen (Artern) „es tröpfelt nur

ein bisschen“, n Häppelchen (Eichsf. 1912) „ein bisschen“ (ThWb s.v. Happen).

Komponiert kommt das Substantiv im Thür. vor in Maulhappen „kleines Stückchen, ein

Bissen“ (Quedlinburg), Anstandshappen „Anstandsbissen, aus Höflichkeit übriggelassener

Speiserest“ (nur verstreut im nördl. Nordostthür., Zentralthür., nördl. Ostthür., selten östl.

Südostthür., Eisenach, Hildburghausen), Masthappen „Mastbissen, der letzte Bissen einer

Mahlzeit“ (Altenburg), Respektshappen „Respektsbissen, das Letzte in der Schüssel“ (nur

Eisleben), Schmackhäppchen n. „Leckerbissen“ (nur Worbis), Schnapphäppchen n.

„Kostprobe, Leckerbissen“ (nur Halle/Saalkreis), Zuckerhäppchen (ThWb. s.vv.). Das

Substantiv ist außerdem in der Variante Happ m. belegt (Rudolstadt) und kommt

komponiert in Pfingsthäpp m. „ein Leckerbissen, den man sich bis zum Schluß aufhebt“

(nur Altenburg) vor. Schließlich ist Happen auch in der kinderspr. Interjektion

happahappa verbaut (in der Wendung happahappa machen „essen“, Sonneberg).

Das Wort ist auch außerhalb des thür. Dialektgebietes in vielen dt. Mdaa., vor allem aber

im Niederdeutschen mit der Bedeutung „Bissen“ belegt, vgl. EWD s.v. Happen, DWb s.v.

Happe: „in Niederdeutschland heimisches Wort, von dem die Ausläufer bis nach

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Happen, Haps, happig, happen, hapsen 2

Oberdeutschland reichen und das auch spärlichen Eingang in die Schriftsprache gefunden

hat“.

Neben dem Substantiv ist auch das Adjektiv happig „gierig“ (meist aufs Essen bezogen)

selten bezeugt: aß dich bei der Oma sott, ower hau nich su happch ein! (Pößneck). Weitere

Bedeutungen des Adj. sind: „habgierig“ (Altenburg, Eisenach, Bad Salzungen, dar is ower

happch Gera), „eilig“ (Hildburghausen), „viel, stark, übertrieben“ (selten Nordthür.

Ostthür., Bernburg, Langensalza, Weimar, Eisenach, Saalfeld, eene happche Gälle (Kälte)

Weißenfels, der Rein kamb happich Mühlhausen, gomm mir nor nich gleich so happch!

Naumburg 1893) (ThWb. s.vv.).

Zugehörig sind außerdem das stm. Haps „Nuckel, weibliche Brustwarze; Biss, Bissen“

(Eisenach, Jena, mit een Haps hatten hinnerjefressn „mit einem Bissen hatte er ihn

gefressen“, Bernburg), das Adj. haps „gierig“ (vgl. haps essen Sondershausen) und wohl

das stf. Happe, Häppe „Nuckel, weibliche Brustwarze; einfache Weidenpfeife; Mundstück

an der Weidenpfeife; Kinn, Mund“ (ThWb. s.v. Happe).

Zu dieser Wortsippe gehören schließlich die schwachen Verben thür. happen „mit dem

Maul zu fassen suchen, fressen“ (Bernburg, Wernigerode 1890, Heiligenstadt,

Mühlhausen), auch präfigiert abhappen swV. „etwas abbeißen“ (Bernburg) und aufhappen

swV. „aufessen“ (Bernburg), sowie hapsen „schwer atmen, nach Luft schnappen, keuchen

(nur verstreut im westl. Nordthür. Westthür., mittl. Zentralthür., südl. Ilmthür., Pößneck);

Essen gierig in sich hineinschlingen, fressen“ (Bernburg, Artern, ebs. hapschen

Naumburg); dazu abhapsen swV. „etwas abbeißen (Bernburg), refl. „sich abmühen“ (nur

Neuhaus, Saalfeld) und erhäpsen swV. „etw. bewältigen“ (äch kanns bäld näch ärhäpse

Rudolstadt, dar kann ver Fätte nich erhapse Neuhaus) (ThWb s.vv.).

Außerhalb Thüringens sind die Verben happen und happsen (mit der Variante happern)

„gierig (nach Essen) schnappen“ vor allem im niederdeutschen und niederländischem

Sprachgebiet sowie in mitteldeutschen Dialekten (Hessisch, Schlesisch) verbreitet, vgl.

DWB s.v. happen

L: Da es sich um ein niederdeutsches Lehnwort handelt (→→ E), ist die bilabiale Geminata pp

nicht zu mitteldt. pf verschoben worden. Das Nebeneinander von umgelautetem und

unumgelautetem Wurzelvokalismus in Happe / Häppe sowie hapsen / erhäpsen (→→ WB)

ist mundartlich bedingt und weist auf umgelautete mnd. Formen (vgl. Sp ThGr 27ff.).

M: Thür. Happen „Mundstück“ gehört zur Flexion der schwachen Maskulina. Das

Nebeneinander von Happ und Happen ist wohl auf paradigmatische Aufspaltung eines

mask. n-Stammes zurückzuführen, wobei Happen das Stammallomorph der obliquen

Page 81: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Happen, Haps, happig, happen, hapsen 3

Kasus fortsetzt. Happe / Häppe „weibliche Brustwarze“ ist hingegen ein starkes

Femininum mit i-Umlaut des Wurzelvokals, also eine alte ¯-Motionsbildung (< *KDSS¯). WB: Das Substantiv Happ / Happen kommt häufig in der Deminutivform Häppchen, sowie

als Hinterglied in zahlreichen Determinativkomposita vor, vgl. Maulhappen,

Anstandshappen, Masthappen, Respektshappen (mit Kompositionsfugenkonsonant s, vgl.

dazu Lühr Nhd. 150), Schmackhäppchen, Schnapphäppchen, Zuckerhäppchen (zum

Begriff „Determinativkompositum“ vgl. Lühr Nhd.153f.). Das dazugehörige schwache

Verb happen „zu fassen versuchen, essen“ < „etwas als Anteil bekommen, etwas zu

eigenem Anteil machen“ ist eine denominale Bildung faktitiver Bedeutung. Die nominalen

Bildungen mit einem s-Suffix (subst. Haps „Nuckel; Bissen“, Adj. haps „gierig“) sind

hingegen Rückbildungen aus dem schwachen Verb hapsen „nach Luft schnappen; gierig

essen“, eine intensive Bildung auf -sen < *-LVÀQ- (zu s-Bildungen, die das Raffen

bezeichnen, vgl. an. glepsa, glefsa „schnappen, beißen“, rifsa „an sich reißen“, nhd.

grapsen (dazu Kr/M 255, mit weiteren Beispielen)). Nach hapsen ist auch ndd. jappen zu

japsen „id.“ umgebildet worden (zum ndd. Verb vgl. EWD s.v. jappen). Das einmal

belegte Verb hapschen mit der Suffixvariante -schen < *-�L�VNÀQ- ist eine iterative Bildung,

dessen Verhältnis zu happen und hapsen dem zwischen grappen, grapschen und grapsen

„heftig erfassen, ergreifen, raffen“ entspricht (s. dazu DWb s.vv.).

WG: Die Grundbedeutung von Happen ist „Bissen, eine bestimmte Menge (von Essen), die

geschnappt, gefasst wird“; von dieser Bedeutung her ist Bedeutungsentwicklung zu stf.

Happe „weibliche Brustwarze“ sowie zu stm. Haps „weibliche Brustwarze; Bissen“

innerhalb des Wortfeldes „Essen; Ernährung (der Kinder)“ eingetreten. Die Bedeutung von

hapsen „schwer atmen nach Luft schnappen“ ist hingegen eine Spezialisierung von

„schnappen“, wie die Bedeutung „Essen gierig in sich hineinschlingen“ des Verbs zeigt

(vgl. das Adj. haps „gierig (auf das Essen)“). Ein weiterer Bedeutungswandel liegt bei

thür. erhäpsen vor (→→ B): „verschlucken“ hat sich im übertragenen Gebrauch zu

„verkraften, bewältigen“ entwickelt.

Egerm

: Mda. Happen hat bisher in der einschlägigen Literatur keine überzeugende Etymologie

gefunden. Nach der heutigen communis opinio handelt es sich um „eine Lautgebärde wie

auch die Interjektion happ(s), also „das Erschnappte“, vgl. Sommer 1977: 3-6, EWD s.v.

Happen. Die Existenz von frz. happer „wegschnappen“ (12. Jh., vgl. EtWFrSpr 516,

RomEtW 340 (4036 *happare (Schallwort) „packen“)) spricht aber für ein beträchtliches

Alter der Wortsippe (pace NedEtW 236), denn dieses Verb ist wahrscheinlich aus dem

Niederländischen entlehnt.

Page 82: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Happen, Haps, happig, happen, hapsen 4

Eidg

: Die Entstehung der Geminata -pp- ist anders zu beurteilen als bisher, d.h. sie beruht auf

keine Lautgebärde (so z. B. NedEtW 236), sondern auf der Wirkung des Klugeschen

Gesetzes (vgl. dazu Lühr Expressivität 191ff.). Die Basis von mda. Happen ist ein urgerm.

substantiviertes Adj. *happa-n- „Anteil“ < „das Gefasste“, das seinerseits aus einem

älteren *habna- < *kapnó- entstanden ist. Es handelt sich um ein -no-Partizip (mit

erwarteter Schwundstufe der Wurzel) vorurgerm. *kh2p-nó- „gefasst, geschnappt“ > „zuteil

bekommen“ zur idg. Wurzel *keh2p- „fassen, schnappen“ (LIV 344f.), die auch lat. FDSLÀ

„fassen, nehmen“, got. hafjan „heben“ < *kh2p-hó-, ahd. KDE�Q „halten, haben“ < *kh2p-

h1hó-, gr. NÊSK�„Griff (eines Schwertes / Ruders)“ < *kóh2p-ah2 usw. zugrundeliegt (vgl.

dazu Seebold WGStV 244f., mit weiteren Beispielen). Eine semantische Parallele liefert

gr. N�SWZ�„schnappen, schlucken“ < *„fassen“; zur Bedeutung vgl. auch gr. ~IDJRQ „aß

(auf)“, eine ererbte Aoristbildung zur idg. Wurzel *bhag- „als Anteil bekommen“ (LIV 65).

Das dazugehörige Verb happen „schnappen“ ist auch im Niederländischen belegt

(NedEtW loc. cit.) und setzt wohl eine faktitive denominale Bildung *happ-À�MD�QD-

„etwas zu Anteil machen“ fort.

Außerwestgerm. Vergleichsformen zur Wortsippe von Happen sind bisher nicht ausfindig

gemacht worden. Der etymologische Anschluss an *keh2p- „zuteil werden“ führt aber auch

zu aisl. happ n. „Glück“ (woher durch Entlehnung me. hap „Zufall, Glück“, ne. happen

„geschehen, sich ereignen“). Das Wort ist mit aksl. NREv „W¼FK, Geschick“ und air. cob

„Sieg“ verglichen worden (AnEW 209), was aber die Geminata im Germanischen nicht

erklärt (< *kab-na-? Zur Problematik vgl. Lühr Expressivität 248f.). Auch der Anschluss

an nschwed. hampa sig „sich ereignen“ beweist keine Vorform *hampa- > aisl. happ, da

das schwedische Verb seinen Nasalkonsonant wohl einer Neuerung verdankt (vgl. dazu

Lühr Expressivität 119f.).

Wenn man hingegen vom urgerm. Adj. *happa- => Subst. n. *happan „Anteil“ ausgeht, ist

ein semantischer Wandel zu „Schicksal, Glück“ durch semantische Parallelen

wahrscheinlich zu machen, vgl. gr. PRmUD „Schicksal“ < *smórih2 zu *smer- „Anteil

bekommen“ (LIV 570), gr. D×VD�„Schicksal“ < *Háhtih2 zu *Hah- „geben; nehmen“ (LIV

229: h1ah-) oder ai. bhága- „Anteil, Besitz, Glück“ (EWAia 239).

Lit: B EWD s.v. Happen; DWb s.vv. Happe, Happen; ThWb s.v. Happen; L Sp ThGr 27ff.;

WB EWD s.v. jappen; DWb s.vv. grappen, grapschen, grapsen; Lühr Nhd. 150, 153f.;

Kr/M 255; Egerm

EtWFrSpr 516; EWAia 239; EWD s.v. Happen; NedEtW 236; RomEtW

340; Sommer 1977: 3-6; Eidg

AnEW 209; LIV 65, 229, 344f., 570; Lühr Expressivität

119f., 191ff., 248f.; NedEtW 236; Seebold WGStV 244f.

Page 83: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Hattel, Hättel 1

Hattel, Hättel Sb f. „Ziege“

Z: Thür. Hattel, Hättel f. „Ziege“ (Dem. „Ziegenlamm“) hat Entsprechungen in vielen ober- und

mitteldeutschen Dialekten und ist mit mhd. hatele f. „Ziege“ sowie mit rhein. Hätzel f. „Schaflamm“

verwandt. Die deutschen Wörter lassen sich mit an. haðna (f.) „Ziege“ vergleichen und setzen

verschiedene Allomorphe eines n-stämmigen Substantivs urgerm. *hadan- / *hadn- „Hüpfer“ und

eines Nomen Agentis *KDGLOÀ- f. „id.“ fort. Die s-mobile-haltige Wurzel *(s)keHt- (-h2-?) liegt auch lat.

catulus „Tierjunges“ und umbr. katel „id.“ zugrunde. Ferner sind mit dieser Wortsippe russ. NRWLWvV¶D�„Junge werfen“ sowie lit. skantù „hüpfe“, lat. scatere „hervorquellen“ und die Hesychglosse {V{VNNDW�PL]HDW�PL]HQ�Q���{��{VVN�UN�ULL]]HHQ�Q�

„hüpfte“ urverwandt.

B: Das Substantiv Hattel, Hättel ist ein Kosename und ein Lockruf für die „Ziege“. Das Wort

ist im südlichen Südostthür. in Gebrauch (ob. Schwarza, südl. Pößneck, nördl. Schleiz,

Zeulenroda, Greiz und um Mansfeld), im nordöstl. Itzgründ. konkurriert sie mit Heppel

„id.“. Häufig wird das Wort im Deminutiv verwendet (vgl. sei Gas sei Hattela, anner Viah

hoter net gehot, Coburg); das Wort bedeutet außerdem „Ziegenlamm“ (vorwiegend im

Deminutiv). Mit abwertender Übertragung auf Menschen oder andere Tiere bedeutet H.

„Mädchen“ (Neuhaus), vgl. auch alte Hattel „wildes, ausgelassenes Mädchen“ (Saalfeld),

weiterhin „Pferd“ (Gera, Pößneck) und „Kuh“ (Neuhaus). Zu den Belegen vgl. ThWb s.v.

Hattel1. Das Wort tritt auch als Kompositionsvorderglied in thür. Hattelmäh

„Schmeichelname für die Ziege“ (Saalfeld) auf, vgl. ThWb s.v.

Ab mittelhochdeutscher Zeit ist das Wort im ganzen deutschen Sprachraum reichlich

belegt, vgl. mhd. hatele st.F. „Ziege“ (BMZ s.v., Lexer s.v.), schweizerdt. Hattlen sw.F.

(Dim. Hätteli) „Ziege; Zicklein; junges weibliches Kaninchen; weibliches Lamm“ neben

Hättlen „übermütiges, ausgelassenes Mädchen“ (SchwId II 1768), bair. Hett, Hettel,

Hettelein, tirol. Hattl, Hettl, Hödl „Ziege; Bock“, voralberg. Hattele, Hättele „junge

Ziege“, bad. Hadl, Hatl¸ f. „weibliche Ziege“ (dazu „weiblicher (Stall-)Hase“,

„weibliches Schaf“, „kicherndes junges Mädchen“, „einfältiges Weib“, „mageres

Frauenzimmer“, usw.), Häddl f., +GO¸ n. „junge Ziege, Zicklein“ (vgl. Bad. II 571f., mit

ausführlichen Belegen), elsäss. Hättel f. „Ziege (Kose- und Rufname); magere Kuh;

mageres böses Weib“ (WbEls 387f.), pfälz. Hattchen, Hattel n. „Ziege“ (PfälzWb s.v.),

rhein. Hitte f., Hittchen n. „Ziege“, Hit m. „mageres, altes Pferd“, Hättchen „Lockruf für

kleine Ziegen“ (vgl. daneben Hätzel f. „Schaflamm“, Hitze f. „Ziege“, Hitz „Lockruf für

Schafe; mageres, altes Pferd“, RheinWb s.vv.), südhess. Hättel (hG3) f. „Lockruf für die

Ziege“ (aldi Häddl f. „geschwätziges mageres Weib“), Demin. KG¸l¸, KGLO¸, „Zicklein“,

übertr. „Mädchen, die sich auffällig benimmt und närrisch tut“ (Südhess. III 155). Vgl.

ferner DWb s.vv. Hattel, Hettel1, Hettel

2.

Page 84: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Hattel, Hättel 2

M/WB: Das in vielen Dialekten weit verbreitete Genus Femininum spricht gegen eine

synchrone Segmentierung Hatt-el mit Deminutivsuffix wie von Schwentner PBB 48

(1924): 303 vorgenommen.

Egerm: Die von Wilhelm Wackernagel vorgeschlagene Deutung des Wortes als „meckerndes

Tier“ (aus dem bair. Verb hetteln „meckern, meckernd lachen, kichern“, vgl. DWb s.v.

Hettel mit Literatur) ist abzulehnen, da das Verb eine geographisch sehr begrenzte

Verbreitung hat. Außerdem wäre eine Übertragung des Appellativs auf andere, nicht

meckernde Tiere unverständlich. Naheliegend ist hingegen die entgegengesetzte Richtung

der Ableitung: Das Verb hetteln ist mit der Bedeutung „wie eine Ziege meckernd lachen“

aus bair. Hettel gebildet.

Die mundartlichen Varianten setzen die Allomorphe ahd. *hatilÀ (vgl. thür. südhess. f.

Hättel, tirol. Hattl, bair. Hettel) neben der Kurzform *KDWW¯ > *KWW¯�(> rhein. f. Hitte – zur

dial. Schließung des umgelauteten Vokals vgl. rhein. Hippe < mhd. hæpe) fort, andererseits

spiegelt mhd. hatele wohl ahd. *KDWDOÀ wider. Die expressive Geminata -tt- in *KDWW¯ ist

damit zu begründen, dass es sich um ein Kosewort handelt (vgl. Otto neben Odward). Der

Wandel mhd. hatele > Hattel ist hingegen lautgesetzlich und beruht auf Beibehaltung eines

Kurzvokals in offener Silbe vor der Gruppe -tel im Spätmittelhochdeutschen (vgl. Mhd.Gr

75, 130). Anders zu beurteilen sind die dialektalen Formen auf -tz- (vgl. rhein. Hätzel und

Hitze), deren Stamm wohl aus dem Urwestgermanischen ererbt und durch

Konsonantengemination vor -n- lautgesetzlich entstanden ist (s. unten). Die auf -l

auslautenden Stämme lassen sich zum Teil vergleichen mit der Wortsippe von an. haðna f.,

nisl. haðna, nnorw. hadna, K�QD, nschwed. dial. häna, hen(n)a „Ziege“ (AnEW 200) <

urnord. *KDGLQÀn (mit regulärer i-Synkope nach leichter Silbe vor folgendem Langvokal).

Die westgerm. Entsprechung dieser Form ist *KDGD�LOÀ- [+n], möglicherweise eine

Kontamination zwischen urgerm. *KDGD�LQÀ-, (mit Suffixwechsel) und einem Nomen

Agentis *KDGLOÀ- (zu diesem Typ vgl. urgerm. *f(l)ugila- *„Flieger“ > „Vogel“).

Andererseits sind die dt. Formen mit Affrikata -tz- auf die Wirkung des Klugeschen

Gesetzes bei einer Grundform *hadnV- > *hattV- (> vorahd. *hatzV-) zurückzuführen. Die

zwei somit rekonstruierten Allomorphe urgerm. *KDGL�DQÀ- (neben *KDGLOÀ-) und *hadnV-

zeigen eine in Urgermanischen vorgenommene Recharakterisierung durch das fem. Suffix

-À- eines grundsprachlichen ablautenden geschlechtigen -n-Stammes *hadan- / *hadin- /

*hadn- „hüpfendes Tier“ (→ Eidg). Zu den zu Feminina umgebildeten substantivischen n-

Stämmen vgl. z.B. urgerm. *flekkan- m. vs. *IOHNNÀQ- f. „Flecke, Stück Fleisch“, *luppan-

Page 85: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Hattel, Hättel 3

m. vs. *OXSSÀQ- f. „Floh“ oder *VODNNÀQ- f. vs. *slakka- m. „Schnecke“ (Lühr Expressivität

216, 222f., 244).

Eidg

: Der in IEW 534 unter einer Wurzel kat- „Junge werfen; Tierjunges“ verzeichnete

Vergleich der germanischen Formen mit lat. catulus „Tierjunges, bes. aus dem Geschlecht

der Hunde“, u. katel „id.“ oder russ. dial. NRWvND�„Lamm“ (so auch Walde/Hofmann LEW I

183, wo auch ein mit lautlichen Problemen behafteter Vergleich dieser Wortsippe mit mir.

cadla „Ziege“ hinzugefügt wird) bereitet morphologische Schwierigkeiten. Das Material

ist heterogen und die semantischen sowie morphologischen Unterschiede zu den

germanischen Wörtern offensichtlich. Das slavische Wort gehört zu den Verben russ.

NRWLWvV¶D� „Junge werfen (von Katzen, Mardern, Iltissen, Hasen, Schafen, Ziegen)“, ukr.

NRW\W\��D�„Junge werfen, von Katzen, Schafen, Hasen, Rehen“, bulg. NRW¶t�VH�„kätzeln“,

skr. kòtiti(se) „werfen von Hund, Katze, dial. auch von allen Tieren“, slov. kotiti „ Junge

werfen“, tschech. kotiti se „kätzeln“, poln. NRFLü�VL „werfen von Katzen, Hasen, Rehen,

Ziegen, Schafen, Bären“, osorb. NRüRZDü�„trächtig werden“ < ursl. *NRWLWL� V „Jungtiere

werfen, trächtig werden“ (die Bedeutung „kätzeln“ ist wohl durch Einfluss von r. kot, ukr.

kit, aruss. ksl. NRWvND, bulg. kot, skr. kot, tschech. poln. nsorb. kot „Kater, Katze“ <

vulgärlat. cattus „Wildkatze“ entstanden, vgl. REW I 643). Einzelsprachlich fortgesetzt

sind ein Verbaladjektiv ursl. *NRWv-na f. „trächtig“ (vgl. ukr. kitna, skr. skotna, poln.

kotna), ein Abstraktum *NRWt „Brut“ (ukr. obkit „Zeit des Lammens“, skr. slov. kot „Brut“,

slov. skot „das Junge, Gezücht“, poln. wykot „Lammen, Zickeln“) und ein Nomen Actionis

/ Loci südsl. *koti-(d)lo- (bulg. kotilo „Wurfstätte, Wurf, Nachkommenschaft“, skr. kotilo

„Wurfstätte“), vgl. REW I 645. Allen slavischen Wörtern liegt das Verb *NRWLWL��V��mit der

Wurzel *kot- „Junge werfen“ < *„hervorbringen, hervorspringen lassen“ aus der

Schwundstufe *kHt- von uridg. *keHt- „(hervor)springen“ zugrunde.

Die italischen Wörter lat. catulus „junger Hund“ (Dem. catellus „Hündchen“ < *katele-lo-,

vgl. auch catul na��FDUÀ��„Hundefleisch“) und umbr. katel, Gen. katles „id.“ sind Nomina

Agentis auf -elo- zur selben Wurzel *keHt- „(hervor)springen“, also *kHt-eló-

„springendes Tier“ > „Tierjunges“, das mit dem Allomorph urgerm. *KDGLOÀ- f. direkt

vergleichbar ist (ein den slav. Formen entsprechendes Resultativ „Geworfenes“ ist

hingegen mit der Funktion des Suffixes *-elo- nicht vergleichbar). Anders Untermann

2000 s.v. katel (Deminutiv eines verschollenen *kato-).

Die n-stämmige Formen urgerm. *hada/in- / *hadn- lassen sich aus einem

amphidynamisch flektierenden Nomen Agentis *kHt-ón- / *KHt-n- „Hüpfer, Springer“

herleiten (mit innerparadigmatischer Verallgemeinerung der Wurzelschwundstufe der

Page 86: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Hattel, Hättel 4

schwachen Kasus). Zu diesem Typ vgl. urgerm. *kuman- „wer kommt“, *tuhan- / *tugan-

„Führer“, *numan- „Nehmer“, *luppan- / *OXSSÀQ- „springendes Insekt“, *ludan-

„Sprößling“, usw. (Material und ausführliche Behandlung dieser Formen in Schaffner

Suffix *-on- (im Druck) s.vv.).

Die hier rekonstruierte, allen aufgeführten Wörtern zugrundeliegende Wurzel *keHt-

„(hervor)springen“ ist verbal in ihrer Variante mit s mobile in vielen Einzelsprachen

belegt: Vgl. das n-Infixpräsens lit. skantù „hüpfen, springen; sich beeilen“ (Inf. skàsti, Prät.

skatau �), mit Verallgemeinerung des schwachen Allomorphes eines ablautenden

Paradigmas *skanet- / *skant- < *skH-né-t- / *skH-n-t- (LIV 551, LitEW II 798, mit

weiteren Formen), lat. VFDWÀ (Inf. scatere) „hervorquellen“ < *skHt-é/ó- (Walde/Hofmann

LEW II 491) sowie die Hesychglosse gr. {VNDW�PL]HQ� �� {VN�UL]HQ� „hüpfte“ (LitEW

loc.cit.), die wohl auf wurzelhaften Laryngal *h2 weist (anders Schrijver Laryngeals 432).

Die dialektalen Formen westfäl. VFKÀW, nd. schåd „Laich“ < westgerm. *VN�GD-, worauf das

denominale Verb nfränk. schaiden „laichen“, nd. schaden „id.“ < westgerm. *VN�GÀQ-

beruht, setzt wohl eine V�ddhi-Ableitung urgerm. *VN�GD- < *VN�+Wy- „zum Fisch oder

Frosch gehörig“ fort, deren Basis ein verschollenenes Wurzelnomen *skó/éHt- / *skHt-

„(hüpfender) Fisch, Frosch“ ist (vgl. die Ableitungen ae. sceadd „Maifisch“, ne. shad, nhd.

Schade m. „id.“, norw. dial. skadd „kleiner Schnepel (Fischsorte)“, an. skaddr (Beiname),

cymr. ysgadan „Hering“, nir. scadán „id.“, DWb s.v. Schade, IEW 950, AnEW 479).

Lit: B Bad. II 571f.; BMZ s.v. hatele; DWb s.vv. Hattel, Hettel1, Hettel

2; Lexer s.v. hatele;

PfälzWb s.v. Hattchen, Hattel, RheinWb s.vv. Hättchen, Hätzel, Hitte, Hitze; SchwId II

1768; Südhess. III 155; ThWb s.vv. Hattel1, Hattelmäh; M/WB Schwentner PBB 48

(1924): 303; WbEls 387f.; Egerm AnEW 200; DWb s.v. Hettel; úEWDD s.v. Bansen; Lühr

Expressivität 216, 222f., 244; Mhd.Gr 75, 130; Eidg AnEW 479; DWb s.v. Schade; IEW

534, 950; Walde/Hofmann LEW I 183, II 491; LitEW II 798; LIV 551; Schaffner Suffix

*-on- (im Druck); REW I 643, 645; Schrijver Laryngeals 432; Untermann 2000 s.v. katel.

Page 87: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

1

Krutscher m. „Bauer mit wenig Landbesitz; schlechter Arbeiter“

krutschen swV „unnütz herumstehen, langsam und liederlich arbeiten“

Z: Das im östl. Mitteldeutschen verbreitete Substantiv Krutscher „schlechter Arbeiter“ ist ein Nomen

Agentis, das vom schwachen Verb krutschen (neben rheinl. krutscheln) „liederlich arbeiten; schlecht

gehen können“ abgeleitet ist. Daneben ist auch ein Substantiv Krutsche „körperlich unterentwickelte

Person“ in den obersächs. Mundarten belegt. Wenn man das vorliegende Sprachmaterial mit der

Sippe von schweiz.dt. FKU�]HQ „krabbeln, kriechen“ vergleicht, ist es möglich, eine urgerm. Wurzel

*kret- „kriechen, krumm gehen“ zu rekonstruieren, die an ai. gardabhá- „Esel“, lat. gradior „schreite“

und jav. aiwi-g¸̧

r¸̧

d- „eintreten, beginnen“ angeschlossen werden kann. Wenn man hingegen krutschen

von schweiz.dt. FKU�]HQ� trennt und aus einem Grundmorphem urgerm. *kreud- ausgeht, ist ein

etymologischer Anschluss an die unerweiterte Wurzel idg. *greii

(H)- „sich bücken, krümmen;

kriechen“ (vgl. daneben *greii��

H)-b-, *greii

H-p- und *greii��

H)-g- „kriechen“) möglich.

B: Das thür. Substantiv Krutscher m. kommt mit zwei verschiedenen Bedeutungen vor: 1)

„Bauer mit wenig Landbesitz (abwertend)“ (verstreut in östl. Ostthür., südöstl. Südostthür.,

um Langensalza bezeugt; dazu verstärkt kleener Krutscher um Zeitz und Altenburg

belegt); 2) „liederlich arbeitender Handwerker, schlechter Arbeiter“, mit vielen

Synonymen im Thür., vgl. ThWb. s.v. Pfuscher (um Gera, Schmölln und Greiz belegt).

Vgl. ThWb s.v. Krutscher. In den benachbarten obersächsischen Mundarten erscheint das

Wort außerdem mit den Bedeutungen „körperlich unterentwickelte, verkümmerte Person;

Schulanfänger“ und „Betreiber einer kleinen Landwirtschaft, eines kleinen

Handwerksbetriebs oder Ladens; einer, der oberflächlich, schlecht arbeitet“ (WOSM 672).

Zu dem Substantiv gehören thür. Krutsche f. „kleiner Bauernhof“, obersächs. Krutsch m.

Flurname (Bezeichnung von Feldern, Wiesen) sowie appellativisch „körperlich

unterentwickelte, verkümmerte Person (meist männlich); nicht (mehr) brauchbares Gerät,

unnütze Gegenstände; Person, die zu nichts mehr nütze ist“, obersächs. Krutsche f.

„körperlich unterentwickelte, verkümmerte Person; kleines Bauerngut,

heruntergekommenes Anwesen“ (ThWb s.v. Krutscher, WOSM 672). Neben den

Substantiven ist auch ein im östl. Ostthür. vorkommendes schwaches Verb krutschen

„unnütz herumstehen, langsam und liederlich arbeiten“ sowie obersächs. krutschen,

herumkrutschen „sinnlos umherlaufen, sich nutzlos beschäftigen“ bezeugt. Das Verb findet

sich auch im Westen, vgl. rheinl. krutschen swV „knirschen, knarren (von ungeschmierten

Geräten); zusammengekauert dasitzen, kränkeln; kriechen“ sowie die Ableitung rheinl.

krutscheln „knirschen auf den Zähnen; etwas mit Geräusch zerbeißen; schlecht gehen

können“ (RhWb s.vv. krutscheln, krutschen).

Page 88: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

2

M/WB: Das mask. Substantiv Krutscher ist eine Ableitung mit dem Suffix -er zur Bildung

von Nomina Agentis aus dem Verb krutschen „liederlich arbeiten“ (→ Egerm

). Das im

Obersächs. belegte Substantiv Krutsche ist hingegen eine Rückbildung aus dem Verb (zu

diesen Wortbildungstypen vgl. Lühr Nhd 165, 183). Zu den deverbalen

Frequentativbildungen mit dem Suffix -eln wie krutschen => krutscheln vgl. Lühr Nhd

170.

Egerm

: Nach Eichler Etym. Wb. 73: Krutsch sind die Substantive Krutsch m. „kleines,

unansehnliches Kind“ und Krutsche f. „verkümmertes, unansehnliches Mädchen;

überhaupt etwas verkümmertes“ nur mit Vorsicht als Lehnwörter aus dem obersorb.

Komparativ krótši ‚kürzer’ zu krótki ‚kurz’ einzustufen (so z.B. nach Bielfeldt SW 281,

MFr II 115, WOSM 672, ThWb s.v. Krutscher), da sich „Entlehnungen aus slaw.

Komparativen [...] höchst selten [finden]. Die Erklärung ist von germanistischer Seite zu

prüfen“. Gegen die Annahme eines slavischen Lehnworts spricht außerdem die

Verbreitung des Verbs, das auch im Rheinländischen vorkommt. Die Bedeutungen von

Krutscher als „Betreiber einer kleinen Landwirtschaft, eines kleinen Handwerksbetriebs

oder Ladens; einer, der oberflächlich, schlecht arbeitet“ sind sekundäre

Bedeutungsentwicklungen aus der im Obersächs. noch belegten Bedeutung „verkümmerte

Person“. Die ursprüngliche Semantik des zugrundeliegenden Verbs wird von den rheinl.

Formen krutschen und krutscheln „zusammengekauert dasitzen, kränkeln; kriechen;

schlecht gehen können“ angegeben. Der Krutscher ist wohl ursprünglich der „Kriecher;

gekrümmte, kränkliche Person; jemand, der schlecht gehen kann“ (woraus die

Bedeutungen „liederlicher Arbeiter“ und „verkümmerte Person“ hervorgehen). Neben den

rheinl. Verben ist das etymologisch zu dieser Wortsippe zuzuordnende pfälz. Verb krotteln

„kriechen, mühsam gehen; klettern“ zu erwähnen (PfälzWb s.v. krotteln). Semantisch

ansprechend, aber lautlich schwierig ist der Anschluss dieser Formen an schweiz.dt.

FKU�]Hn, FKUÀ]Hn

, FKU�]OHn, FKUÀ]OHn

„krabbeln, kriechen, besonders von kleinen Kindern,

auch von Kröten; mühsam klettern“ (vgl. auch schweiz.dt. &KU�], &KUÀ] f. „langsame,

hilflose, schwächliche, kränkliche Person“, en alter� &KU�]HU, &KUÀ]HU m. „alter, sich

mühsam herumschleppender Mann“, FKU�]HWHn, FKUÀ]HWHn

„langsames, mühsames

Arbeiten“), das nach dem SchwId 923 eine unbelegte Intensivbildung ahd. *FKU�FFH]]DQ

zu FKU�FFR „Haken“ < *„Krümmung“ fortsetzt. Möglich wäre, von einer Vorform urgerm.

*NU�WW-i/a- > ahd. *NU�W]L�D- „kriechen, krumm gehen“ neben schwundstufigem *krutt-a-

ski/a- > ahd. *krutzaski/a- „id.“ auszugehen. In diesem Fall wäre pfälz. krotteln entweder

Page 89: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

3

ein Lehnwort aus dem Niederdeutschen (vgl. als mögliche verwandte Verben norw. krutla

„langsam arbeiten“, schwed. krottla „id.“ neben dem Substantiv krottlare „elender

Arbeiter, Pfuscher“, DWB s.v. krozen) oder eine Umgestaltung von *krotzeln o. ä. nach

pfälz. Krotte „Kröte“ in Anlehnung an der kriechenden Bewegungsart dieses Tiers. Unklar

ist allerdings, ob eine ahd. Form *krutzaski/a- lautgesetzlich krutschen ergeben würde (vgl.

als mögliche Parallele nhd. klatschen < klatzschen (EWD s.v. klatsch)).

Eine zweite etymologische Deutung dieser Wortsippe besteht in dem Ansatz einer

Verbalwurzel urgerm. *kreud- „kriechen“, die eine Variante mit abweichendem

Auslautskonsonantismus der synonymen Wurzeln *kreuk- und *kreup- (vgl. ahd. kriohhan

„kriechen“, ae. crypel „Krüppel“, an. kriúpa, ae. FU�RSDQ, afr. NUÌSD, mnd. krepen, krupen

„kriechen“, dazu das Iterativ afr. NU�SD�„demütig gebeugt gehen“, ae. cry ¼pan „kriechen“

IEW 389, Seebold StVb 310, Lühr Expressivität 357f.) darstellt. In diesem Fall würde

pfälz. krotteln direkt ahd. *krut-DOÀ�-ji/a)- fortsetzen, während krutschen ebenso

lautgesetzlich auf ahd. *krut-a-ski/a- beruhen würde (zu den Verbalsuffixen vgl. Kr/M

256, 263).

Eidg1

: Die miteinander konkurrierenden Präsensbildungen urgerm. *NU�WW-i/a- „kriechen,

krumm gehen“ und *krutt-a-ski/a- „id.“ (dazu norw. krutla- „langsam arbeiten“ < *krut-

DOÀ�-ji/a)-) deuten auf eine urgerm. Wurzel *NU�W�W�- (mit expressiver Gemination) hin, die

keine sicheren außergermanischen Komparanda hat. Die aus dem germanischen Material

transponierte vorgermanische Wurzel *gred- (das Allomorph urgerm. *krut(t)- wäre durch

eine analogisch nach dem starken Allomorph *NU�W�W�- erfolgte Metathese der

schwundstufigen Vorform *g;d- > *kurt- entstanden) könnte mit dem etymologisch

unklaren und isolierten Substantiv ai. gardabhá- m. „Esel“ (EWAia I 473)

zusammenhängen, wenn man von einer Grundbedeutung „unter einem Gewicht

krumm/langsam gehendes Tier“ ausgeht. In diesem Fall würde ein Zoonym *gordE-bhó-

zugrundeliegen. Zum Tiernamen bildenden Suffix *-bho- vgl. z.B. gr. µNDXRT „Hirsch“

(m.), „Hirschkuh“ (f.) < *h1élE-bho- (Weiterbildung eines n-Stammes *h1el-én-, vgl. gr.

±NN�T „Hirschkalb“, arm. HáQ, lit. élnis, aksl. MHOHQv, kymr. elain usw. „Hirschkuh“, vgl.

GEW I 483f., IEW 303f.) oder ai. v;s �DEKi- „Stier, Bulle“ < *h2i;sE-bhó- neben ai. v;s �DQ-

Adj. „männlich, kräftig; zeugungskräftiger Mann, männliches Tier“ (EWAia II 575f.),

Nomen Agentis zur Wurzel *h2iers- „(Samen) gießen“. Eine weitere

Anschlussmöglichkeit stellen die Verben lat. gradior „schreiten“ < *gred-hé/ó- und jav.

aiwi-g¸r¸/PDKL „wir beginnen“ < *g;d-més + i (AIrW 514f.; anders Kellens 1984: 117,

Page 90: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

4

118 Anm. 2, McCone 1998: 473: +-g¸r¸nmahi ‚singen’) dar (der in LEW I 615

verzeichnete Vergleich mit air. in:greinn „verfolgen“, aksl. JUGÆ „gehen, kommen“ (<

*ghri-n-d-), got. grid, mhd. grit „Schritt“ und lit. grìdiju „gehen“ ist unmöglich, da alle hier

aufgelisteten Formen eine Wurzel idg. *ghrehdh

- enthalten, vgl. McCone loc. cit. mit

Literatur, LIV 203). Dieser Vergleich kann jedoch nur aufrechterhalten werden, wenn man

für urgerm. *NU�W�W�-i/a- eine Herleitung aus einem akrostatischen („Narten“)

Wurzelpräsens uridg. *JU�G- „immer wieder schreiten“ > „mühsam fortschreiten“ >

„krumm gehen, kriechen“ annimmt (die jungavestische Form 1. P. Pl. Aktiv kann auch ein

Nartenpräsens fortsetzen, da Verben mit den Wurzelstrukturen CER(C) und CREC auch in

der akrostatischen Flexion des Plurals und Duals Aktiv sowie ins ganze Medium

einzelsprachlich die schwundstufige Wurzel eingeführt haben, vgl. Narten Kleine Schriften

105).

Eidg2

: Wenn man dagegen eine Wurzel urgerm. *kreud- ansetzt, sind keine direkten

außergermanischen Komparanda vorhanden. Der erweiterten Wurzel *kreu-d- (genauso

wie *kreu-k- und *kreu-p-) liegt ein Grundmorphem uridg. *grei(H)- zugrunde (IEW

388f.), dessen Bedeutung „kriechen“ durch semantischen Wandel aus „sich bücken,

krümmen“ entstanden ist, vgl. norw. kryl „Buckel“, kryla „krummrückig sein“ sowie

schwed. dial. krylas i hop „zusammenkriechen“, norw. dial. krylt „bucklige Person“. Mit

Labialerweiterung (*greiH-p-) ist die Wurzel in gr. FS{¾�T „gekrümmt, krummnasig, mit

einer Habichtnase“ (IEW 389, GEW I 329f.) und FS{¾�RODL „krumm werden (von den

Nägeln)“ < *gruHp-ó- „krumm“ fortgesetzt. Mit -b-Erweiterung sind neben den

Fortsetzern von urgerm. *kreup- auch lit. JUXELQ¡ �WL „straucheln, stolpern“ und wohl

grùb(l)as „Unebenheit, kleiner Erdhügel“ einzuordnen (IEW loc.cit.; anders LitEW I 172).

Der Anschluss weiterer Formen ist unsicher (vgl. das im IEW 388-390 gesammelte

Material).

Lit.: B RhWb s.vv. krutscheln, krutschen; ThWb. s.vv. Krutscher, Pfuscher; WOSM 672;

M/WB Lühr Nhd 165, 170; 183; Egerm

Bielfeldt SW 281; DWB s.v. krozen; Eichler Etym.

Wb. 73: Krutsch; EWD s.v. klatsch; IEW 389; Kr/M 256, 263; Lühr Expressivität 357f.;

MFr II 115; PfälzWb s.v. krotteln; SchwId 923; Seebold StVb 310; ThWb s.v. Krutscher;

WOSM 672; Eidg1,2

AIrW 514f.; EWAia I 473, II 575f.; GEW I 329f., 483f.; Kellens 1984:

117, 118 Anm. 2; LEW I 615; LitEW I 172; LIV 203; IEW 303f., 388-390; McCone 1998:

473; Narten Kleine Schriften 105.

Page 91: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Lach, Lache, lachen 1

Lach Sb m./n. „Grenzstein, Feldgrenze“

Lache Sb f. „Grenze“

lachen swV „grenzen (an), verlaufen“

Z: Das im thür. Dial. bezeugte Verb lachen (mit [B

B

]) „grenzen (an), verlaufen“, die Sb. Lach m.

„Grenzstein, Feldgrenze“, Lache f. „Grenze“ und verschiedene Ableitungen gehen auf eine

german. Wurzel *lF

F

1k- „Rand, Grenze; grenzen an, enden“ zurück, die mit Annahme eines

geschwundenen s-mobile an die uridg. Wurzel *sleh1g/H

H

-�ÄDQV�(QGH�JHODQJHQ³��JULHFK�����&�„aufhören, enden“, osk. slaagí- „Grenze“) anschließbar ist. Die von Kluge in EWD vertretene

Zusammenstellung mit aind. lák�man- „Marke zur Kennzeichnung des Viehs“ muss aus

lautlichen Gründen aufgegeben werden.

B: In thür. Mundarten sind belegt: lachen swV „grenzen, verlaufen“; Lach m./n. „Grenzstein,

Grenzrain zwischen Feldstücken, Grenze“; Lachbaum „Grenzbaum“; Lache f. „Grenze;

Einschnitt an Baumstämmen zur Harzgewinnung“; Lachstatt f. „Grenzstätte in der Flur“;

Lachstein m. „Grenzstein zwischen Feldern und Fluren“; Lachweg m. „Grenzweg“: der

Acker loucht ufs Haus zu „der Acker grenzt an das Haus“, s Looch stimmt nimmer „der

Grenzstein stimmt nicht mehr“, di Louch löft ufn Baam zu „die Grenze geht auf den Baum

zu“, dort bei dan Loochsteen gett der Wach links neis Holz „dort bei dem Grenzstein führt

der Weg links in den Wald hinein“ (ThWb s.v. lachen, Lach, Lache).

Aus anderen dt. Dialekten gehören hierher: frk. lachen swV „(einen Baum) mit einem

Zeichen versehen“, z.B. in Grenzbäume lachen; in schwäbischer Form lauchen (aus mhd.

lâchen), z.B. vier jauchert holz, wie solche allenthalben vermarkt, verlaucht und versteinet

sind (Schmid SchwäbWb 337); (die coburgischen und gothaischen Ordnungen) gebieten,

dasz ... keine Weisztannen gelachet oder gerissen werden sollen (Stisser Jagdhistorie 231);

bair. einen Baum lacken bedeutet „ihn kennzeichnen durch ein Merkmal, das man

einschlägt“ (Schm BayerWb 1, 1432); vgl. ferner bair. Geläck, Gelack n. „Grenzzeichen“,

z.B. das erste Gläckh (ist) mit X in eine zwislige Feichten geschlagen „das erste

Grenzzeichen ist mit X in eine gegabelte Fichte geschlagen“ (Schm BayerWb 2, 431);

Geläckbaum „Grenz-, Markbaum“ (Schm BayerWb 1, 1432); Lachbaum „Grenzbaum“,

z.B. Lachböum setzen auf die anstösz und marchen = ponere in confinio arbores (Maaler

1561 (1971²): 258c); alemann. lochbeume = in jure forestali dicuntur arbores antemissae

et terminales (Stieler 1691 (1968²): 114); als man an die Gränzpfähle und Lochbäume der

heutigen Lust gekommen war (Jean Paul, Hesp. 2, 23). Lachgang m. „Gang zur

Besichtigung der Marken, Grenzbegehung“ wird in Hessen auch noch als Flurname

Page 92: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Lach, Lache, lachen 2

verwendet (Vilmar Idiotikon 252). Außerdem ist ein seltenes nhd. Lacht f. „Harzriss;

Rindenstreifen“ (erster Beleg 1835) mit davon abgeleitetem Verb lachten „mit Harzrissen

versehen“ bezeugt (DWb s.vv. Lacht, lachten).

Aus älterer Zeit stammen mhd. lâchen, lâchenen „(einen Grenzbaum) mit einem Zeichen

versehen“ oder „(einen Baum) zur Harzgewinnung anritzen“; ahd. l�h m., l�hha f.

„Grenzzeichen, -markierung“, mhd. lâche, lâchene, lauche f. „(in einen Baum)

eingehauene Grenzmarkierung; ein Einschnitt (an Nadelbäumen), der zur Gewinnung von

Harz dient“, z.B. alemann. in den lâchinan und gemerken, die ze Kinaberg und in das

vorder holz und in das hinder holze hörent. (Beck de jure lim. 506 aus dem Jahr 1352);

susz wurden die zwing und ben, marchen und lochenen entscheiden und theilt, und wurden

zu allen theilen die markstein gesetzt (Basler chron. 1, 128, 13); ahd. l�hboum (Grimm

Rechtsalt. 544, 545), mhd. lâchboum, lâchenboum „Grenzbaum“.

M: Das Verb lachen, mhd. lâchen bildet ein schwaches Part.II gelacht, älter gelachet. Ein

Präteritum ist nicht bezeugt. Zu der mhd. Form lâchene f. gehört der Pl. lâchinan,

lochenen; lâchinan zeigt den regulären N.Ak.Pl. eines fem. ô-St., der schon im Ahd. aus

der schwachen Deklination übernommen ist (Mittelhd Gramm 88, 198). Ein frühnhd.

schw. Plural Lachen kann dagegen sowohl zu Lach m. als auch zu Lache f. gehören.

WB: Das schwache Verbum lachen, mhd. lâchen „(einen Baum) mit einer Markierung

versehen“ ist eine explizite Ableitung von mhd. lâche f. „Grenzmarkierung im Baum“

mittels des Suffixes mhd. -en (aus ahd. -ôn) in instrumentativer Funktion, genauso auch

mhd. lâchenen von der im Nhd. nicht mehr bezeugten Form mhd. lâchene und lachten von

Lacht. Die Funktion des Suffixes zeigt sich in zahlreichen weiteren Verben wie z.B. nhd.

salben „mit Salbe versehen“, danken „mit Dank versehen“ (Mittelhd Gramm 256).

Mit Lach „Grenze, Grenzzeichen, -markierung“ als erstem Kompositionsglied sind die

Determinativkomposita Lachbaum „Grenzbaum“, Lachstein „Grenzstein“, Lachweg

„Grenzweg“, Lachstatt „Grenzstätte“ und Lachgang „Grenzbegehung“ zusammengesetzt.

Dasselbe Lach ist die Grundlage für bair. Geläck und Gelack (mit fehlendem Umlaut, zum

-ck s. L), ein Kollektivum des Typs dt. Feld : Gefilde, Wasser : Gewässer. Wegen der

späten und seltenen Belege kann Lacht f. keine alte Ableitung mit einem *ti-Suffix sein,

sondern eine junge Bildung mit funktionslosem unetymologischem -t (:�L).

L: Die thür. Mundarten zeigen den Langvokal in der Stammsilbe, wie er auch in den mhd.

und ahd. Belegen vorkommt: [l*x] ist bezeugt in Zeulenroda und Stadtroda, [loux] in

Sonneberg, [l�x] um Sonneberg (ThWb s.v. Lach). Die dialektale Aussprache von Lach

mit -o- [*] wie z.B. im Thür. oder Alemann. hat zu einer falschen (Volks-)Etymologie,

Page 93: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Lach, Lache, lachen 3

nämlich Anschluß an Loch „Loch, Höhlung“, geführt: die natürlichen [Grenzen] sind ...

bäum, welche man die lochen oder lochbäume, von den löchern die man kreuzweisz darein

hauet und ausbohret, zu nennen pfleget. (Beck de jure lim. 1, 6.). Die bair. Formen Geläck,

Gelack und lacken mit -ck anstelle von erwartetem -ch könnten durch Einfluss von Lack in

dessen ursprünglicher Bedeutung „Harz, das aus einem Baum fließt“ (DWb s.v. Lack; Aler

1727: 1264b) bedingt sein; vgl. die Belege von Lache „Einschnitt an Bäumen zur

Harzgewinnung“, lachen „einen Baum zur Harzgewinnung anritzen“ und Lacht „Harzriss“

unter B. Die oben angeführte alemann. Pluralform lâchinan zum Sg. lâchene zeigt den

Endvokal -a- gegenüber abgeschwächtem lochenen (Mittelhd Gramm 88, 204). Lacht hat

ein unetymologisches -t, das nach /n, r, s, f, ch/ antreten kann, wie z.B. in mhd. habech :

nhd. Habicht, mhd. saf : nhd. Saft (Mittelhd Gramm 161) sowie analogisch frz. (vin) sec :

nhd. Sekt.

WG: Zwei semantische Untergruppen sind zu erkennen: Selten und nur in jüngeren Belegen

wird das „Einritzen von Bäumen zum Zwecke der Harzgewinnung“ (in Lache und lachen,

Lacht und lachten, mhd. lâchen(en)) bezeichnet. Häufiger sowie auch älter bezeugt ist die

Bedeutung „Grenzmarkierung, Grenze“ und „Einritzen von Bäumen zum Zwecke der

Grenzmarkierung“ (vgl. ahd. l�h, l�hboum; mhd. lâche, nhd. Lach, Lache „Grenze“, die

Komposita Lachbaum, Lachgang, Lachstatt, Lachstein, Lachweg, in denen das Wort Lach

gleichbedeutend ist mit dem Wort Grenze, sowie das Verbum nhd. lachen, mhd.

lâchen(en)). Da es außer as. l�c m. „Grenzmarke“ keine etymologisch verwandten Wörter

in anderen germanischen Sprachen gibt, sind zwei semantische Entwicklungen möglich:

1. Die ursprüngliche Bedeutung ist „Einritzen (von Bäumen)“. Daraus hat sich einerseits

die Bedeutungskomponente „zum Zwecke der Grenzmarkierung“ entwickelt, andererseits

wurden Verb und Subst. auch im konkreten Sinne für die Bezeichnung der

„Harzgewinnung“ verwendet.

2. Die ursprüngliche Bedeutung ist „Grenze“. Früher hat man Grenzsteine mit

eingravierten Markierungen aufgestellt oder Grenzmarkierungen in Bäume oder Pfähle

geritzt bzw. geschnitten. Dann wurden die Wörter auch auf das Einschneiden von Bäumen

zur Harzgewinnung übertragen. Die Bedeutung „Grenze“ ist noch deutlich sichtbar in den

o.g. Komposita Lachbaum, -weg, -gang etc. und in Lache f. „Grenze“.

Die unter 2. dargestellte Entwicklung ist aufgrund semantischer Parallelen vorzuziehen,

vgl. z.B. das Nebeneinander von ahd. mhd. marc(h)a f. „Grenzgebiet“ (mhd. marcboum,

nhd. Markbaum „Grenzbaum“, mhd. mar(c)scheide „Grenzscheide“) und mhd. marke,

mark n. „Zeichen“ mit der Ableitung ahd. markôn, mhd. marken „mit Zeichen versehen,

Page 94: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Lach, Lache, lachen 4

markieren“, tirol. marchen „Grenzzeichen setzen“ (mhd. mark(e) : ahd. markôn, mhd.

marken mit demselben Ableitungsmuster wie lach(e) : lachen). Diese Wörter sind mit lat.

margo „Rand, Ende; Grenze“ verwandt. Die Grundbedeutung der german. Wörter Lach,

Lache ist dann „Rand, Grenze“. Von da hat sich – wie bei Mark und Marke – die

Bedeutung „Grenze“ erweitert zu „Kennzeichen einer Grenze“ mit dem Verb

„kennzeichnen einer Grenze“.

Egerm

: Die Wörter zeigen einen einheitlichen langen Stammvokal /�/, der sich auf vorahd. *�

und german. *� oder *�1 zurückführen lässt. Da german. *� nur in der Lautgruppe *�h aus

*a¾K entstanden sein kann, scheidet diese Möglichkeit aus, da ein *la¾K- zu german. *l�h-

und dies zu nhd. l�h-, nicht l�ch-, geführt hätte (wie *þi¾K� zu ahd. d�h�, nhd. (ich) ge-

deihe). Daher bleibt nur ein *�1 als mögliche Vorstufe. Der durch die zweite

Lautverschiebung entstandene ahd., mhd. und nhd. Spirant -ch-�>$@�VHW]W�VR�HLQ�JHUPDQ�� k

fort, wie es unmittelbar in as. l�c „Grenzmarke“ mit [k] fortgesetzt ist. Daraus ergeben sich

folgende german. Vorformen: *l�1k-a- m. für ahd. lâh, as. l�c, mhd. lâch, nhd. Lach m.,

*l�1k-�- f. für mhd. lâche, nhd. Lache f., *l�1k-�n für mhd. lâchen, nhd. l�chen, die alle auf

eine german. Wurzel *l�1k- „Grenze; grenzen an, enden“ weisen. Diese Wurzel hat keine

Entsprechung in anderen germanischen Sprachen.

Eidg.

: Lautlich kann die german. Wurzel *l�1k- eine uridg. Wurzel *leh1g/�- oder, mit

Annahme eines s-mobile, eine uridg. Wurzel *sleh1g/�- fortsetzen. Im German. sind

Formen ohne s-mobile bei anderen Wörtern gut bezeugt, z.B. Dach und das lat. Verb teg�

gegenüber gU��12��&�ÄGHFNHQ³��XQG�NRPPHQ�DXFK�QHEHQ�)RUPHQ�PLW�s-mobile (Southern s-

mobile 240) vor, z.B. schmelzen : engl. to melt. LIV² 565 bietet das Verb *sleh1g/�- „ans

(QGH� JHODQJHQ³�� GDV� QXU� LQ� JU�� ���&� ÄDXIKören, ablassen, enden“ eine primäre verbale

Entsprechung hat. Osk. slaagí- „Grenze“ ist als Nominalbildung aus uridg. *s�h1g/�-i-

(ursprgl. ein proterodynamisches Paradigma Nom. *sléh1g/�-i-s, Gen. *s�h1g/�-éi-s)

zugehörig (Joseph, Glotta 60: 112-115) und kann in der Bedeutungsentwicklung mit den

deutschen Substantiven verglichen werden (:�WG). Nhd. Lach m. beruht so auf uridg.

*(s)leh1g/�-o- und Lache f. auf uridg. *(s)leh1g/�-ah2-. Im Griech. sind mit dem Adj.

���2�!� "�� -.�� - �� LQ� �� �1 �� 0N"� ���2�!�.�� � Ä]X� GHQ� IHUQVWHQ� *UHQ]HQ� GHU� ,QVHO³��/\NRSKURQ�� XQG� GHP� 6XEVW� 6XEVW�� �����"� � �s)leh1g/�-ti-) „das Aufhören, Ende, Tod“

(Aischylos) Wörter bezeugt, die die ursprgl. Bedeutung zeigen.

Page 95: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Lach, Lache, lachen 5

Die Zusammenstellung der german. Sippe mit aind. lák&-man- n. „Marke zur

Kennzeichnung des Viehs“, lak&-ya- „ins Auge zu fassen, Ziel, Kennzeichen“ bei

Kluge/Seebold (EWD s.v. Lache²) muss aufgegeben werden, weil das kurze -a- des Aind.

(aus uridg. *-e-, *-a- oder *-o-) nicht mit dem german. *�1 (aus uridg. *eh1)

übereinstimmt. lák&-man- und lak&-ya- gehören als l-Formen zu aind. rak& „bewachen,

behüten, beschützen“ (EWAia II, 472f.).

Lit.: B ThWb Lach, Lache, lachen; DWb Lache, lachen, Lacht, lachten; Schmid SchwäbWb

337; Stisser Jagdhistorie 231; Schm BayerWb 1, 1432 und 2, 431; Maaler 1561 (1971²):

258c; Stieler 1691 (1968²): 114; Jean Paul Hesp. 2, 23; Vilmar Idiotikon 252; Beck de jure

lim. 506; Basler Chron. 1, 128,13; Grimm Rechtsalt. 544, 545. M Mittelhd Gramm 88,

198. WB Mittelhd Gramm 256. L ThWb Lach; Beck de jure lim. 1.6; DWb Lack, Aler

1727: 1264b; Mittelhd Gramm 88, 161, 204. Eidg

LIV² 565; Joseph Glotta 60:112-115;

EWD Lache²; EWAia II, 472f.

Page 96: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Lahne, lahnen, lähneln 1

Lahne Sb f. „Heureihe; baumloser Streifen eines Gebietes“

lahnen, lähneln swV „(Heu) in Reihen zusammenrechen“

Z: Das thür. Wort Lanne, Lahne (mit sek. Dehnung) „Heureihe, baumloser Geländestreifen“ gehört

neben bair. Lahne, tirol. Lan, kärnt. Lâne „baumloser Streifen nach einer Erdabrutschung“, norddt.

Lahne „aufgeschütteter Damm, Deich“ zu weiteren german. Wörtern wie aengl. lane, nengl. lane

„Weg, Gasse, Gang“ u.a. (→→ Egerm

) und weisen auf ein f. *la-QÀ < uridg. *h1lah2-náh2-„Gang, Weg;

Trift, Reihe“. Die zugrundeliegende Wurzel ist uridg. *h1elh2-/h1leh2- „dahinziehen, hinaus-,

hineingehen; treiben“.

B: In thür. Mundarten sind die Substantive Lahne, Lanne f. „Heureihe“ neben

gleichlautendem Lahne f. „dünner Metalldraht, Gewebe; Bleckstückchen als Schmuck“

belegt, die aber voneinander zu trennen sind (→ WG), zwei Verben lahnen, lannen und

lähneln „(Heu) in Reihen zusammenrechen“: mr wende noch ämal un nach rachemer

gleich Lannle „wir wenden noch einmal und dann rechen wir gleich Heureihen

zusammen“, dos Hö wärd off Lann gerächt „das Heu wird in Reihen gerecht“, in Erfurt

l�n# „Heureihe“; dos Hö wärd gelannd „das Heu wird in Reihen zusammengerecht“

(ThWb s.v. Lahne, lahnen, lähneln).

Aus anderen dt. Mundarten gehören hierher: bair. Lahne „baumloser Streifen, der sich vom

Berg herabzieht“, z.B. dort öffnet sich ein riesenhaftes, von steilen Lahnen und kahlen

Felswänden völlig einsames und geschlossenes Thal, das berühmte Falzthurnthal. An einer

steilen Lahne in der Höhe von mehreren hundert Fuß lag noch ewiger Schnee in großen

Massen. Die Schatten der südlichen nahen Felswände verhindern, daß jemals die Sonne

diese Lahnen berührt. (Didaskalia 5. oct. 1871); tirol. lan, län und kärntn. lâne „Lawine,

Erdabrutschung“, z.B. in schnealâne, erdlâne oder gruntlâne; schleswig-holst. Lahnen

bezeichnen „Dämme zur Sicherung der Watten“, im schleswig-holsteinschen Deichbaue

werden Lahnen oder Lahnungen die Dämme genannt, die man zur Sicherung der Watten

anlegt, Erdlahnen, wenn sie von bloßer Erde errichtet sind, Buschlahnen, wenn man sie

außerdem noch mit Busch oder Stroh bekleidet (Jacobsson 1781: 6, 408a.).

M: Lahne und Lanne f. mit dem dial. Pl. Lann < *l�nen sind fem. �-Stämme wie ahd. geba f.

„Gabe“ (MhdGr 87f.).

WB: Das Deminutiv Lannle (Itzgrund) ist mit der dialektalen Form des Suffixes -lein

gebildet, das im SWThür. sehr häufig als bedeutungsleere, grammatikalisierte

Worterweiterung verwendet wird, z.B. BaxlÅa „Bächlein“, G�müslÅa „Gemüse“; manche

Simplicia sind dadurch schon ungebräuchlich geworden (Sp ThGr 243). Von Lahne, Lanne

„Heureihe“ sind die schw. Verben lahnen und lannen, Ptz. II gelannt, mit dem Suffix -en

Page 97: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Lahne, lahnen, lähneln 2

in faktitiver Bedeutung „Heureihen machen, in Reihen zusammenrechen“ abgeleitet.

lähneln ist ein Intensivum wie drängeln.

L: Die thür. Wörter Lahne, Lanne, lahnen, lannen, lähneln zeigen ein Nebeneinander von

Kurzvokal und Langvokal. Langvokale sind durch Dehnung in offener Silbe entstanden

(Sp ThGr 17ff.). Nicht möglich ist der umgekehrte Fall ein sekundären Kürzung eines alten

Langvokals, da diese in der Regel nur vor stl. Frikativen geschieht wie z.B. in [šlÆ�f] „Schlaf“ (Sp ThGr 101f.).

WG: Das vom Norden bis in den Süden Deutschlands bezeugte Wort Lahne hat in den

Dialekten landschaftsbedingte Sonderbedeutungen entwickelt: Im Alpengebiet bezeichnet

es die von Schnee- oder Erdabgängen gerissenen Furchen bzw. Bergstürze und wurde hier

teilweise mit dem Wort Lawine vermischt, vgl. neben den Formen Lahne, Lahn auch

Lauene, Laune, Laue (DWb s.v. Lahne und Lawine). Im norddeutschen Raum werden die

aufgeschütteten Dämme Erdlahne (aus Erde) und Buschlahne (verstärkt und abgedeckt

durch Büsche oder Stämme) genannt (→ B). Die ursprüngliche Bedeutung ist also „Gasse,

Gang, Weg“ und „aufgeschüttete Reihe, Heureihe“ (→ Egerm). Dt. Acker, das zu der lat.

Wurzel agere „treiben, führen“ gehört, und Trift von treiben zeigen eine vergleichbare

semantische Entwicklung.

Thür. Lahne, Lanne „Heureihe“ muss von homophonem Lahne f. „dünner Metalldraht;

Metallplättchen (als Stoffbesatz)“, Goldlahn, Silberlahn „dünner Draht aus Gold / Silber“

getrennt werden. Diese Wörter wurden schon von Grimm (DWb 6,77) als Lehnwörter aus

frz. lâme „dünnes Metallblech, dünner Metallfaden“ (aus lat. lamina „id.“) erkannt; dazu

gehört vielleicht auch thür. Lamatüchle „besonderes Tuch aus Wollgewebe“ (evtl. mit

Metallfäden oder -plättchen bestickt) (ThWb s.v.).

Egerm: Lanne f. (mit dial. Vokaldehnung Lahne, → L) weist auf eine german. kurzvokalige

Form *ODQÀ- f. „Gang, Weg; Reihe“, die in anderen german. Sprachen gut bezeugt ist:

aengl. lanu (N.Sg. �-St.) f. neben lane, Pl. lonan, lanan (n-St. *lan�n-) f. „Gasse, Gang,

Weg“ (Vermischung von �- und �n-St. ähnlich wie im Dt.), nengl. lane „id.“, mndl. lane,

afries. låne „Weg, Gasse“, mnord. N.Sg. lÅon (< *lanu < *lan�) f. „Häuserreihe bzw. der

Weg dazwischen, Straße; Haufen“, nnorw. laan „langes Gebäude; Haufen“; nschw. låne

„Gang zwischen Stall und Scheune“ (de Vries s.v. lÅon; Holth. s.v. lane). Das Wort ist auch

als Lehnwort Lano „Gang, Allee“ in die ostseefinnischen Sprachen eingedrungen

(LÄGLOS II s.v. Lano). Auch die finn. Entlehnung deutet auf einen f. �-St., der im Aengl.

einen aus dem alten �-St. hervorgegangenen �n-St. neben sich hat.

Page 98: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Lahne, lahnen, lähneln 3

Eidg: Die von de Vries s.v. l Åon vorgeschlagene Verbindung mit gr. ±�.*�&�� $RU�� Å�.1.�

„(an)treiben, fahren, dahinziehen; hinauf-, hinausgehen“ und armen. elanem, Aor. eli

„hinaus-, hinaufgehen“ zur uridg. Wurzel h1elh2- „dahinziehen, gehen; treiben“ (LIV 235)

muss genauer ausgeführt werden.

Gr. ±�.*�&�LVW�DXV�YRUJU�� ela-in-he/o- entstanden, einer Ableitung mit dem denominalen

Suffix *-he/o- von einem heteroklitischen Nominalstamm *ela-iar-, *ela-un- (Frisk

GrEtWb I, 482f.). Armen. elanem (urarmen. *ela-ne/o-) hat ein themat. n-Suffix, das dem

gr. Typ 4�.!2��&� �5L[� +LVW*U�� ����� *.� $DUP9E� ����� ����� HQWVSULFKW�� XQG� NDQQ� DXV�uridg. *h1elh2-ne/o- hergeleitet werden (GK AarmVb 160). Die griech. und armen. Formen

zeigen eine Ablautstufe *h1elh2-. – Die german. Form *la-n� f. „Reihe, Gang, Weg“ muss

von einer anderen Ablautstufe frühuridg. *h1leh2- oder *h1loh2- > späturidg. *h1lah2- oder

*h1loh2- stammen, wo vor einem mit Resonant beginnenden Suffix der Laryngal in

unbetonter Silbe regelmäßig geschwunden ist wie in got. sunu-, dt. Sohn < *su(H)-nú-, got.

wair, ahd. wer „Mann“ < * i(H)-ró- (Dybos Gesetz). Ein späturidg. *h1lah2-náh2 oder

*h1loh2-náh2 hat dann ganz lautgerecht german. *O�Q� ergeben. Primäre no- oder Q�-

Ableitungen bezeichnen unter anderem Nomina actionis (Risch Wb, Brugmann,

Wackernagel etc.) . Für german. *ODQÀ ergibt sich dann eine Bedeutung „Gang, Weg;

Trift“. Eine semantische Parallele liegt in dt. Trift „Weide; Weg, Pfad (für das Vieh)“ :

treiben vor.

Lit: B ThWb, Jacobsson; M MhdGr; WB Sp ThGr; L SpThGr; WG ThWb; DWb; Egerm

Aengl. El; Aisl. Gr; de Vries; Holth; Afries Wb ; LÄGLOS ; Eidg LIV; Rix HistGr; GK

AarmVb; Brugmann; Ringe Laws.

Page 99: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Laich Sb m., n. „Frosch-, Kröten-, Fischeier“

laichen swV „Eier ablegen“

Laichbaum Sb m., Laichweide Sb.f. „bestimmte Art von Weidenbaum“

Entenlaich Sb.m. „Wasserlinse“

Z: Das Substantiv Laich samt seinen Ableitungen wurde bisher zu dem im Mhd. bezeugten Verb leichen

„hüpfen, springen“ gestellt mit der Begründung, dass manche Fischarten zu ihren Laichgründen

flussaufwärts springen. Doch ist dieses Argument sachlich kaum gerechtfertigt, da Laich die Eier aller

Fischarten und Amphibien bezeichnet (:�:*���'DKHU�ZLUG�KLHU�Laich mit seiner dialektalen Variante

Schleich, die auf ein s-mobile deutet, zu einer uridg. Wurzel*slei£ „schmieren, glatt machen“ gestellt:

Die Eier der Fische und Amphibien zeichnen sich gegenüber Vogeleiern durch ihre schützende

Schleimhülle aus.

B: Das Wort Laich wird im thüringischen Dialekt in denselben Bedeutungen verwendet wie

das hochdeutsche Wort. Dazu passen auch die verdeutlichenden Komposita Froschlaich

und Laicheier. Von Laich ist auch das schwache Verb laichen „Eier ablegen“ abgeleitet,

z.B. in dar Frosch laicht oder de Furalln lächen. Das Kompositum Entenlaich bezeichnet

eine Wasserpflanze, und zwar die Wasserlinse (:�WG). Laichbaum und Laichweide sind

besondere, aus Samen gezogene Weiden, die nicht gestutzt werden, um lange Stämme für

die Weiterverarbeitung zu erzeugen, vgl. z.B. die Zeitungsannonce 9 Festmtr. prima

Eschenholz, 3 Festmtr. Weide (Laichbäume) giebt ab A. Dunkel, Stotternheim (Erfurt,

Stotternheim 1911; ThWB s.v. Laichbaum).

Im hessischen Dialekt ist das neutrale Kollektiv Gelaich(e) noch häufiger anzutreffen als

das Simplex Laich. Doch auch dieses ist hier bezeugt als Laich m. „gallertartige Eimasse

der Fisch, Frösche, Kröten“ (SüdhessWb IV, 97). Daneben existiert eine

bedeutungsgleiche Form Schleich (SüdhessWb V, 407f.), die außerdem noch „schleimiger

Belag auf Teichen“ und überhaupt „schleimige, schmierige Dinge“ bedeutet. Davon ist

dann wiederum ein Adj. schleichig „schmierig, schleimig, sandig“ abgeleitet (SüdhessWb

V 409). Diese Beleg mit Anlaut sch- zeigen, dass in Laich und seinen Ableitungen eine

Form ohne s-mobile vorliegen dürfte und die Wörter somit von leichen, lecken „springen,

hüpfen“ getrennt werden müssen (:�Egerm).

Im bairischen Dialekt bezeichnet Laich zusätzlich schleimige, klebrige eklige Flüssigkeiten

und wird übertragen verwendet für schlechte Getränke, z.B. schlechtes Bier (Schm. I,

1419).

Das Badische bietet Laich m. (nur Neuenheim f.) in verschiedenen Bedeutungen, die durch

den Einfluss des homonymen Verbs leichen „springen, hüpfen, spielen“ (:�WG, Egerm)

Page 100: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

zustandegekommen sind: „Fisch-, Froschlaich“; „Paarungszeit der Fische und Frösche“;

Fischschwarm zur Laichzeit“ und „im Liebesspiel befindliche Fische“ (BadWb III, 354).

Auch im Nddt. ist das Wort bezeugt als Leik „Fischlaich“, z.B. in ne dicke Schicht Leek

(MeckWb IV, 893), auch das Verb leiken kommt dort vor, jedoch in übertragener

Bedeutung „dünn werden“, z.B. in hei hett aewer Winter düchtig leikt „er ist über den

Winter ziemlich dünn geworden“. Die Übertragung kommt von der Beobachtung, dass

Fische, die geleicht haben, dünner geworden sind. Eine andere übertragene Bedeutung liegt

vor in hei leikt üm mi rüm „er knutscht mich ab, schleimt um mich herum“ (MeckWb IV,

893).

Das Elbische schließlich bietet /�N als „Laich von Fischen und Lurchen“ sowie „großer

Schmierfleck auf der Kleidung“, das zugehörige Verb O�NHQ bedeutet nur „Laich ablegen“

(MitTElbWB II, 838).

M/WB: Laich ist ein meist st. mask. oder (selten) ntr. a-Stamm und Hessisch Gelaich(e) eine

ntr. Kollektivbildung wie Gebilde oder Gemäuer. Laichbaum und Laichweide sind

Determinativkomposita. Dagegen stellt Entenlaich ein exozentrisches Kompositum dar. Es

bezeichnet nicht den Laich einer Ente, sondern eine Pflanze, die wie Laich aussieht und

gerne von Enten gefressen wird: die Wasserlinse. Eine semantisch ähnliche Bildung ist

Entengrütze (:�WG).

laichen ist ein von Laich abgeleitetes schwaches Verb.

L: Die uneinheitliche Wiedergabe des Diphthongs [ai] in der Verteilung der thüringischen

Belege zeigt, dass das Wort in der Lautung vom Hochdeutschen beeinflusst worden ist:

meist tritt [ai] DXI�XQG�YHUVWUHXW�IDOVFKH�9HUPXQGDUWOLFKXQJ�]X�>¯@�XQG�>L@�LP�1RUGWK�U��XQG�nördlichen Zentralthür. (ThWb s.v. Laich). 6RQVWLJH� %HOHJH� PLW� >�@� G�UIWHQ� GXUFK�volksetymologischen Anschluss an das Verb legen (wie in Eier legen) zustande gekommen

sein.

WG: In der älteren Literatur (z.B. bei Lexer, BMZ, Grimm u.a.) wird Laich zu dem mhd. st.

und sw. Verbum leichen „hüpfen“ gestellt mit der Begründung, dass Fische flußaufwärts

hüpfen, um zu ihren Laichgründen zu gelangen. Tatsächlich hat sich in manchen Dialekten

(z.B. im Badischen, :� B) unser Wort semantisch und lautlich mit dem Verb leichen,

lecken „springen, hüpfen“ vermischt (so auch EWD s.v. Laich: „die Berührung mit Leich

ist sekundär“). Nur wenige Fischarten (z.B. Forellen und Lachse) springen flußaufwärts zu

ihrem Laichgründen; andere Fischarten sowie Frösche und Kröten tun dies nicht. Dazu

kommt noch, dass Laich und laichen nicht den Fischzug, sondern das Ablegen der Eier

bezeichnen. Fisch- und Amphibieneier unterscheiden sich von Vogel- oder

Page 101: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Schildkröteneiern durch eine schleimige Gallertschicht, die die empfindlichen Eier vor

dem Austrocknen schützt. Außerdem sind sie in klebrigen Klumpen zusammengeballt (vgl.

die Abbildungen unten). Wie die Belege zeigen (:� B), steht auch in den meisten

übertragenen Verwendungen diese typische Schleimigkeit im Vordergrund.

Die Wasserlinse besitzt kleine, schleimige grüne Blätter, die an der Oberfläche

schwimmen und von Enten als Nahrung verwendet werden; diese Beobachtung dürfte

neben der äußeren Ähnlichkeit (außer der Farbe) zu der Bildung Entenlaich „Wasserlinse“

beigetragen haben. Aufgrund ihres Aussehens wird die Wasserlinse auch Entengrütze

genannt.

Laichbaum und Laichweide bezeichnen Weiden, die aus Samen (also dem Laich der

Weiden) gezogen worden sind. Im Gegensatz zu anderen Baumarten vermehren sich

Weiden sehr häufig vegetativ, d.h. nicht durch Aussamung, sondern durch Abbruch von

Zweigen. Auch aus den kleinsten Zweigstückchen kann wieder ein ganzer Baum werden.

Ebenso wie die Eier der Amphibien und Fische sind die Samen der Weiden sehr

empfindlich gegenüber Austrocknung. Sie benötigen daher einen gut durchfeuchteten

Standort, um ankeimen zu können. Sie gelten als Erstbesiedler in Auengebieten. Außerdem

wurden die Laichbäume nicht gestutzt, sondern konnten zu großen Bäumen mit Nutzholz

wachsen.

Durch sekundäre orthographische Änderung wurde Laich von Leich „Lied“ und Leiche

geschieden.

Egerm: Laich, mhd. leich m. „Fisch-, Froscheier“ ist ein st. Mask., das neben mnddt. leik,

nnddt. Leik noch im Schwedischen lek „id.“ bezeugt ist. Die dialektalen Formen Schleich

und schleichig zeigen eine Variante mit s-mobile (Southern) und ermöglichen so einen

semantisch plausiblen Anschluss an die weit verbreitete Wortfamilie von Schleim,

schleimig, zu der auch das Verb schleichen, ursprünglich „rutschen, gleiten“ (so noch im

hess.Dial.), gehört. Nhd. Laich, nddt. Leik und schwed. lek können auf german. *laika- m.

„Schleim, Schmiere“ bes. „schleimige Fisch-, Froscheier“ zurückgeführt werden, die s-

mobile-haltige Variante Schleich auf german. *slaika- m. Daher können die in den

dialektalen Wörterbüchern immer als ‘Übertragung’ gekennzeichneten

Bedeutungsvarianten „Schmiere; schmieriger Fleck; schmieriges, ekliges Getränk;

Schlamm“ noch die alte allgemeinere Bedeutung enthalten; in Laich und Schleich „Fisch-,

Froscheier“ hat dann eine Bedeutungseinengung mit anschließender Lexikalisierung

stattgefunden.

Page 102: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Die in *(s)laika- enthaltene Wurzel *slik-, VO¯N-, slaik- (aus uridg. *sli�-, sle��-, slo��-; :�E

idg) ist als st.Verb in nhd. schleichen, schlich, geschlichen, ahd. VO¯KKDQ, Prät. sleih, mndt.

sliken erhalten (Seebold StV 428f.). Falls der Guttural eine schon uridg.

Wurzelerweiterung war (:� Eidg), können ferner folgende Ableitungen angeschlossen

werden:

Mit german. *m: nhd. Schleim, ahd., nddt. VO¯P, aengl. VO¯P, aisl. slím m. „Schleim“ setzen

german. *VO¯-ma- „id.“ fort; ohne s-mobile vielleicht ahd. leim m. „klebrig-feuchte Masse,

Lehm“ < german. *laima-; ahd., anord., aengl. O¯P m. „Leim, Mörtel“ (IEW 662f.; Holth

AEW 202f.; AislEW).

Mit german. *w : nhd. Schleie f., Schlei m., ahd. VO¯H, VO¯JR m., f., aengl. VO¯Z m. „id.“

weisen auf eine westgermanische Lexikalisierung von *„Schleimfisch“ > „Schleie“ und

lassen sich auf german. *VO¯-wa-, *VO¯-ZÀ- zurückführen (IEW 663; EWD s.v. Schleie).

Mit german. *d: Mhd. sliten „gleiten, rutschen“ mit ahd. slito „Schlitten“ (< *„Gleiter“),

aengl. VO¯GDQ, VO�d, sliden „ausrutschen, ausgleiten“; awnord. sleði „Schlitten“ deuten auf

eine german. Verbalwurzel *slid-, *VO¯G-, slaid- „gleiten, rutschen“ (Seebold StV 427f.).

Mit german. *p: Seebold stellt ferner eine german. Wurzel *sleip-a- „schleifen; rutschen“,

z.B. in ahd. bi-VO¯IDQ „ausrutschen“ als mögliche Wurzelerweiterung einer älteren Wurzel

*slei- hierher (Seebold StV 429f.).

Die von Grimm in DWb s.v. Leich vorgeschlagene etymologische Verbindung mit russ.

klëk „Froscheier“ (< *kliko-) kann wegen des Anlauts nicht aufrechterhalten werden. Russ.

klëk gehört wahrscheinlich zu lit. klèkti�ÄJHULQQHQ³��9DVPHU�,������7UXEDþHY�������� E

idg: Die in Laich, Schleich und dem st. Verb schleichen enthaltene Wurzel german. *slik-,

VO¯N-, *slaik- muss zu einer uridg. Wurzel *sle��- „schmieren, glatt machen“ gestellt

werden (LIV² 566f.). Dt. schleichen ist ein themat. e-stufiges Präs. *slei�-e/o-; dem air.

Verb sligid „schlagen“ < *slig-e/o-, fo-slig „schmieren“ liegt wahrscheinlich ein altes

schwundstufiges themat. Präsens (‚tudáti-Typ’) zugrunde (zur semantischen Entwicklung

vergleiche dt. „jemandem eine schmieren“ = jemanden schlagen“ oder Streich „Schlag“).

Das ahd. Präteritum sleih und das air. Perf. selaig sind unter einem uridg. Perfekt *se-

slo��-e vereinbar. Darüber hinaus hat auch das Air. m-Ableitungen einer Wurzel *slei-:

slim i-st. Adj. „glatt, rutschig, trügerisch“ < *sli-m-i- und slimrad „rutschige, glibberige

Masse, Schleim“ < *slima-/i-(r�tu-); slemun „glitschig“ < *slim-no-.

Substantivische Bildungen sind in anderen idg. Sprachen ebenfalls bezeugt: Lat. O¯PXV <

*(s)lei-mo-� Ä%RGHQVFKODPP�� .RW³�� � JULHFK�� �0��.�� ÄQDFNWH� 6FKQHFNH³� �� �V)lei-ma-k-;

JULHFK���0��+��ÄIHXFKWH�:LHVH��6XPSI³��� �V�OHLPÀQ-��JULHFK���0q "�ÄJODWW³���*(s)lei- o-;

Page 103: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

lat. l�uis „glatt, schlüpfrig“ < *(s)lei- -i-. (W/H I, 789; 799; 804f; Chantraine II 627ff.)

Gehört hierher evtl. lat. lig�tus „eine Fischart“ < *(s)ligah2-to- „mit Schleim versehen“?

Lit: B ThWb s.v. Laich, Laichbaum; SüdhessWb IV, 97, V, 407ff.; Schm. I, 1419; BadWb

III, 354; MeckWb IV, 893; MitElbWb II, 939; L ThWb s.v. Laich; WG Lexer s.v. laich;

BMZ s.v. laich; DWb s.v. Laich; EWD s.v. Laich; Egerm Southern; Seebold StV 427ff;

IEW 662 f.; Holth AEW 202f.; AislEW; Vasmer I 567; TrubaþHY���������Eidg LIV²566f.;

W/H I, 789, 799; Chantraine II 627ff.

Page 104: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Leche, Lecke, lech, leck, lechen, lecken 1

Leche, Lecke Sb f. „Dachtraufe“

lech, leck Adj. „undicht, rissig, eingetrocknet“

lechen swV „undicht sein, eintrocknen; Durst haben“

lecken swV „(Blumen) gießen“

Z: Die im thür. und anderen md. und obd. Dialekten bezeugten Wörter Leche f. „Dachtraufe“, lech und

lechicht „undicht, rissig; eingetrocknet“, lechen „undicht sein, eintrocknen; durstig sein“ und lechzen

„dürsten“ sind die hd. Entsprechungen von nd. Leck, leck, lecken. Die hd. Wörter mit lautgesetzlichem

ch sind nach EWD s.v. leck „verloren“. Dagegen sprechen aber zahlreiche Belege. Zu derselben

Wurzel gehören auch Wörter aus anderen german. Einzelsprachen wie z.B. aisl. stV leka, Prät. lak

„undicht sein, lecken“, lekr „leck, undicht“, leki m. „Leck“ und das alte Kaus. aengl. leccan und thür.

lecken „benetzen, gießen“. Diese Wörter erweisen eine german. Wurzel *lek- „undicht sein, tropfen“

mit einem Kaus. *lak-jan „benetzen, gießen“ (< *„(Wasser) tropfen lassen“) und gehen auf eine sonst

nur noch im Kelt. bezeugte Wurzel *leÏÏÿÿÐÐ����

„tropfen“ zurück.

B: In den thür. Mdaa. sind folgende Wörter belegt: lech, leck Adj. „undicht, rissig“, z.B. (eine

Holzwanne, ein Faß) ist lech oder es lach; das Faß is bei der Trockenhät janz leck

jeworrn; Leche, Lecke f. „Dachtraufe, untere Kante der Dachrinne, von der das Wasser

abtropft“; lechen, selten auch lecken swV „undicht und daher trocken und rissig werden“

(von Holzgefäßen), oft mit Verbpräfixen aus- ein- er- ver- zerlechen; die Bedeutung

„eintrocknen“ wird auch metaphorisch gebraucht als „vor Durst schmachten“, z.B. der

Hoind lecht „der Hund lechzt, hat Durst“, wozu auch der Ausdruck hä hät Lech „er hat

großen Durst“ gehört; schließlich gibt es noch lechzen swV „undicht werden, tropfen“ und

„großen Durst haben“, z.B. das Faß lechzt awer, dar Zuber lachzt „der Zuber ist undicht“;

die Tiere lechzen bei där jrußen Hitze, und lecken swV „mit Wasser besprengen,

benetzen“, z.B. kannst mou de Blummen gelecke; es het nur so geleckt „es hat nur ein

wenig geregnet“ (ThWb).

Aus dem schwäb., schweiz., bair., tirol., hess. und rhein. Dialekt gehören hierher: lech Adj.

das Schiff ist lech, navis lacera et concussa est (18. Jhd., Steinbach lexicon latinogerm. 1,

1007). Im Rhein. heißt lech „hungrig, durstig“. Auch das Verb lechen „undicht, rissig

werden, tropfen“ ist in diesen Dialekten vertreten: si land das holz nit als lang ligen bisz

das es wol mug werden gedigen. darumb tuot der becher lechen und kübel und geltan

brechen und das winfasz rinnen. (14. Jhd., Teufels Netz 11115). Die Bedeutung

„ausgetrocknet, durstig sein“ ist ebenfalls bezeugt, z.B. ihm brannte der Busen, ihm lechte

der Mund (SchwäbWb 1081f.). Ferner sind noch ein Adj. lechicht „rissig, leck“, z.B. die

Kanne ist lechicht, cantharus manat (Steinbach lexicon latinogerm. 1, 1007, 1008), und

Page 105: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Leche, Lecke, lech, leck, lechen, lecken 2

das swV lechzen „dürsten“, mhd. lëchezen, lëhazen, bezeugt, z.B. der hirs lehazte nâch

dem wa��er (Lexer s.v. lëchezen; HessWb 2,72; RheinWb 5,268, DWb s.v. lech, lechen).

Die ndd. Formen lauten leck Adj. „undicht“ (speziell von Schiffen), Leck n. „undichte

Stelle“ (vor allem bei Schiffen, aber auch bei Deichen) und lecken „undicht sein,

heraustropfen“ (DWb s.vv.), z.B. in aller Wein ist aus dem Fasse geleckt (Adelung); dat

Schipp lekket (Schambach 121b).

lecken „benetzen, gießen“ ist schon im Ahd. bezeugt: ingieng ih in thîn hûs, uua��ar ni

gâbi thû mînên fuo�on; thisiu abur mit irâ zaharin lacta inti mit irâ fahsu suarb (Tatian

138, 11).

M: lech ist ein primäres a-st. Adj., neben dem ein st. n. Lech, Leck, Pl. Leche, Lecke

„undichte Stelle“ steht. Davon sind einerseits das Adj. lechicht (ô WB) und andererseits

das sw. Verb lechen, lecken sowie ein Intensivum lechzen abgeleitet. Das Subst. Lech

„Durst“ o.G. ist nur einmal belegt, Leche, Lecke ist ein sw. Fem. In lecken „besprengen,

begießen“ mit dem Prät. lacta liegt eine alte Kausativbildung vor (ô WB).

WB: Lechicht ist mit -icht, einem Suffix zur Bildung von Adjektiven aus Subst. wie z.B.

töricht von Tor „dummer Mensch“, abgeleitet und heutezutage auf Mundarten beschränkt.

Die Ableitungsbasis ist in Leche, Leck(e) „undichte, wasserdurchlässige Stelle;

Dachtraufe“ bezeugt. Das t ist bei diesem Suffix sekundär und schon in mhd. -oht, -eht,

-iht und teilweise in ahd. -aht, -oht angetreten, vgl. got. stainah-s gegenüber ahd. steinah(t)

und mhd. steinicht „steinig“ (MhdGr 161; Haltenhof -icht). Im Nhd. ist das Suffix meist

durch -ig ersetzt worden (EWD s.v. -icht). Leche f. „Dachtraufe“, Lecke f. „undichte

Stelle“ sind sw. fem. n-St., die schon ab dem Ahd. mit den starken Fem. zusammengefallen

sind (MhdGr 198). Lech und Leck n. (im Ndd. selten auch m.: dat Schipp het enen Leck;

BremWb 3, 50) erweisen sich mit dem Nom.Pl Lecke, Dat.Pl. Lecken als starke Subst. Von

Lech, Leck n. m. oder Leche, Lecke f. stammen die schwachen Verben lechen, lecken.

lechzen, mhd. lechazen, lechezen zeigen das intensivierende Suffix -(e/a)zzen, das sich im

Ahd. und Mhd. ausbreitet, z.B. ahd. krockezzan, mhd. krochzen, kröchzen „krächzen“ oder

atumezzen „(heftig) atmen“ (Kr/M III 259ff.). lecken „benetzen, begießen“ mit dem Prät.

lacta ist ein Kausativ „tröpfeln machen“ und beruht auf german. *lak-jan < uridg. *log-éhe-

wie z.B. ahd. decken, Prät. dacta (ô Egerm

; Braune/Eggers AhdGr 289; LIV s.v. *leÏ�Ð

S.

397).

L: Die thür. Belege [O$>�� >O�$>, für lech�XQG� >OJ@� I�U� leck (nur NOThür.) deuten auf einen

alten Kurzvokal mhd. e (Sp ThGr 21ff.). ch ist die lautgesetzliche md. und obd.

Entsprechung des nd. k und im Thür. die übliche Lautform (Sp ThGr 212ff.). Die Formen

Page 106: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Leche, Lecke, lech, leck, lechen, lecken 3

Leck, leck und lecken sind in die Schriftsprache eingedrungen als „ursprünglich

niederdeutsches Seemannswort, dessen hd. Entsprechung lech verloren gegangen ist“

(Kluge/Seebold in EWD s.v. leck). Die zahlreichen dial. Belege lech, Lech(e), lechen,

lechicht zeigen aber eine weite Verbreitung der hdt. Form.

Egerm

: Neben den oben angeführten dt. Wörtern, die auf eine german. Wurzel *lek- „undicht,

leck sein; tropfen“ zurückgehen, bieten auch andere german. Sprachen Fortsetzer dieser

Wurzel. Im Aisl. ist ein primäres Verb leka, Prät. lak (5.Kl.) „leck sein, tropfen“ bezeugt,

im Afries. ein stV bileka „austrocknen“ (Holthausen AfriesWb s.v.), im Ahd. ein swV

lechen „undicht sein“ (Seebold GermanStV 330). Das german. Kausativ *lak-jan liegt vor

in ahd. lecken, Prät. lacta, *„(Wasser) tropfen lassen“ ô „benetzen, begießen“ mit

regulärer Konsonantengemination vor j im Westgerman. (Kr/M I 104ff.), vgl. thür. lecken

in kannst mou de Blummen gelecke (ô B), und aengl. leccan „bewässern, benetzen“, z.B.

in VXPX�WZLJX�K��OHNWH�PLG „er begoß einige Zweige“ (Bosworth/Toller; Holthausen AEW

s.v. leccan). Ein n-st. Subst. aisl. leki m. „Leck“ steht neben den dt. fem. À�Q�- St. Lecke,

Leche „Dachtraufe“ < german. *lek-an- bzw. *lek-À�Q�-, ferner ist das starke a-st. Adj. aisl.

lekr „leck“, hd. lech, ndd. leck < german. *lek-a- „leck, undicht, rissig“ bezeugt

(Heidermanns PA 372f.). Dazu gehört noch aengl. hlec „leck, rissig“ mit unechtem h-

(Heidermanns PA 373; Seebold GermanStV 263, 330 mit weiteren Beispielen für diese

Erscheinung im Aengl.).

Eidg

: Die german. Wurzel *lek- mit den Ableitungen *lek-a- stV Kl.5 „undicht sein, lecken“

(< uridg. *le����e/o-), lek-a- stAdj. „undicht, leck“ (< uridg. *le����o/ah2�, *lek-À�Q�- f.

„Leck, undichte Stelle“ (< uridg. le����ah2-�und dem Kaus. *lak-jan (< uridg. *lo����éhe-)�„benetzen, gießen“ geht auf eine uridg. Wurzel *le�����„tropfen“ zurück (LIV² 397), die

auch in den keltischen Sprachen bezeugt ist. Das air. denominale �-Verb legaid

„schmelzen, sich auflösen“ (DIL s.v.; < urir. *leg-�-he/o-) lässt indirekt eine urir.

Ableitungsbasis *leg-�- (< uridg. *le����ah2-) erschließen und stimmt so mit german. lek-

À�Q�- f. „undichte Stelle“ (*„wo es tropft“) überein. Im Kymr. ist ein Adj. llaith „feucht,

nass“ (GPC s.v.; < urkymr. *lek-to- < uridg. *le����to-)�„betropft, benetzt“ bezeugt. Dieses

Adj. liegt in einer Ableitung mit dem Adj.-Suff. -ach ebenfalls in air. lechdach „flüssig;

Liquida“ vor (DIL s.v.; sprachwissenschaftliche Fachbezeichnung, z.B. in emnad mutae re

lechdaig „Verdopplung von Mutae vor Liquiden“, in den air. Glossen zum lat.

Grammatiker Priscian, z.B. SG 16b7), das eine Lehnübersetzung von lat. (littera) liquida

sein muss, da es – anders als mutae – aus lautlichen Gründen kein echtes lat. Lehnwort sein

Page 107: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Leche, Lecke, lech, leck, lechen, lecken 4

kann. Fortsetzer aus anderen idg. Sprachen fehlen; die Wurzel ist also nur im Kelt. und

Germ. bezeugt.

Lit: B ThWb s.v. Leche, lech, lechen, lecken; Steinbach lexicon latinogerm. 1, 1007-8;

Teufels Netz 11115; SchwäbWb 1081f.; Lexer s.v. lecken, lëchezen; Hess Wb s.v. lech;

Rhein WB 5,268; DWb s.v. Leck, leck, lech, lechen, lecken; Schambach 121b; tatian

138,11; WB MhdGr 161, 198; Haltenhof -icht; EWD s.v. -icht; BremWb 3,50;

Braune/Eggers AhdGr 289; Kr/M III 259ff.; LIV² 397; L Sp ThGr 212ff; EWD s.v. leck;

Egerm

Holthausen AfriesWb s.v. bileka; Seebold GermanStV 263, 330; Bosworth/Toller

s.v. leccan; Holthausen AEW s.v. leccan; Kr/M I 104ff; Heidermanns PA 372f; Eidg

LIV²

397; DIL s.v. legaid, lechdach; GPC s.v. llaith.

Page 108: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

lendern Adj. „dürr, abgemagert“

lehnerig Adj. „faul, schlapp, energielos“

Lehnerich Subst.m. „großer, dünner, träger Mensch“

lehnern, lendern, schlendern swV „müßig, faul, schlapp herumgehen“

Z: Das Adj. lendern < german. *(s)landrja- „kriechend“ > „dünn, kraftlos, schwach“ und seine

zahlreichen Verwandten lassen sich mit lit. lendù, l 1­VWL�„kriechen“ sowie aind. randh- „unterliegen“,

Kaus. randháya- „unterwerfen“ < „kriechen machen“ verbinden. Das Kausativ ist in einer durch das

Adj. umgebildeten Variante *slandrijan „kriechen machen“ > „schwächen, ausmergeln“ in einigen

german. Sprachen bezeugt. Das aind. Adj. radhrá- „schlapp, ermattend, müde werdend“ < uridg.

*lEE

dhró- „kriechend“ ist bis auf den Ablautvokal mit dt. lendern gleichzusetzen Doch auch die

Bedeutung „kriechen“ hat sich in zahlreichen wgerman. Wörtern fortgesetzt, vor allem in der Sippe

von schlendern „langsam, gemütlich gehen“. Die in LIV2 und Seebold StVb vorgeschlagene

Verbindung mit uridg. *h3sleidh- „fehlgehen, ausgleiten“ wird aus morphologischen und semantischen

Gründen zugunsten der oben genannten Etymologie aufgegeben (:�(idg).

B: In verschiedenen thür. Gebieten (Naumburg, Zeitz, Stadtroda) ist das Adjektiv lendern

„dürr, abgemagert“ bezeugt, z.B. in hurch, Anneres, deine Uchsen sahn olleweile racht

ländern aus. Eine übertragene Bedeutung ist „fade, geschmacklos“ von Speisen. Dazu

dürfte das mit dem Suffix -ig abgeleitete Adj. lehnerig „faul, schlapp, energielos“ (Coburg,

Weimar) gehören, das eine volksetymologische Umgestaltung erfahren hat (ThWb s.v.; :�WG).

In anderen Dialekten ist ebenfalls eine adjektivische Ableitung mit dem Suffix -ig bezeugt:

Schwäbisch land(e)rig „dünn, mager“ (SchwäbWb 4, 952). Häufiger sind hier Varianten

mit dem Anlaut s oder sch (der ein altes s-mobile fortsetzt, vgl. Egerm): Holsteinisch

slanterig, slanderig, slenterig, slenderig „schlotternd, kraftlos“ (SchlHoWb 4, 526f.; 540);

mecklenburgisch slanderig, slenderig, slenterig „nachlässig gekleidet“ (MeckWb 6, 328,

345, 348); berlinerisch schlenderig „nachlässig, träge, lahm“; schlandrig „nachlässig,

schlampig“ (BranBerlWb 3, 1103).

Auch Substantive gehören zu der Sippe von lendern, die teilweise ebenfalls wieder den

Anlaut s oder sch aufweisen: Thür. Lehnerich m. „großer, schlaksiger, fauler Mensch“ (mit

derselben volksetymologischen Umgestaltung wie in lehnerig, siehe WG), Schlender m.

„Bummelei, Umweg“ (ThWb s.v.); schwäbisch Lander „schlechte, mickrige Kartoffel“

(SchwäbWb 4, 952); rheinisch Geländer „magere Kuh“ (RheinWb5, 87; dies evtl.

metaphorisch aus Geländer „Stangenzaun“, siehe WG); hess. Schlender m. (f.)

„langsamer, träger Mensch“ (SüdhessWb 5, 421); berlinisch Schlander m. „nachlässig

Page 109: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

gekleidete Person“ (BranBerlWb 3, 1103); Schlinder f. „Schlitterbahn“ (BranBerlWb 3,

1126).

Ferner sind in vielen Dialekten Komposita bezeugt: Thür. Schlendergang „Spaziergang;

Umweg“, Schlendermarkt „Markt in Zeitz, Pegau und Gera, auf dem sich das Gesinde

verdingte“, der auch als Heiratsmarkt angesehen wurde; mecklenburgisch Slandergang m.

„Schlendergang, Bummelei“, z.B. in der Redensart Lang un slank hett Slandergang, kort

und dick hett keen’n Schick (MeckWb 6, 328); Slintergang „heimlicher Weg zur

Liebschaft“ (MeckWb 358), rheinisch Lanterfant m. „einer, der mit Trödeln den Tag

zubringt“ (RheinWb 5, 117).

Schließlich gehören hierher noch zahlreiche schwache Verben: Thür. ländern, lehnern

„gehen, trödeln, sich herumtreiben“, schlendern „langsam gehen, bummeln“, schlandern

„Schlittschuh fahren“; berlinisch ländern, lindern „sich faul und langsam bewegen;

trödeln“; „mit Schlittschuhen auf dem Eis fahren“, schlendern, schlentern, schlindern

„Schlittschuh fahren“ (BranBerlWb 3, 24; 121; 1116; 1126); obersächs. angeländert

kommen „langsam angeschlendert kommen“, schlindern „auf dem Eise gleiten“

(WbOsächsMda 3, 11; 4, 19); rheinisch lendern „schlendern“ (RheinWb 5, 389f.), lentern

„faulenzen“ (RheinWb 5, 391, zum t vgl. WG); holsteinisch slantern, slandern, slendern

„schlendern; schlottern“ (SchlHoWb 4, 526f.; 540); mecklenburgisch slandern

„schlendern“ (MeckWb 6, 328f.); hessisch schlandern, schlendern „langsam, energielos

gehen; langsam, träge arbeiten“ (SüdhessWb 5, 368; 421); schlandern, schlendern

„langsam, schleppend gehen“ (HessNassWb 3, 201; 227), schlindern „auf dem Eise

gleiten“ (HessNassWb 237).

Das Niederländische bietet slinderen swV „gleiten, kriechen“ und mndl. slinder Adj.

„dünn, mager“.

M/WB: Das Adj. lendern stammt aus einem älteren *lender, das nach dem Vorbild des

Niederdeutschen mit einem aus den obliquen Kasus stammenden n versehen wurde wie

z.B. albern 8�PKG��alwære (EWD s.v. albern), wodurch es sich den Materialadjektiven

auf -ern angleicht (vgl. auch WG). Die Adj. lenderig, s(ch)lenderig, landerig,

s(ch)landerig „dünn, mager; schwach, kraftlos; träge; schlampig“ zeigen das häufige Adj.-

Suffix -ig (Lühr Nhd 165), das an die Basis lender, schlender, schlander angefügt worden

ist. Das thür. Subst. Lehnerich ist eine scherzhafte Bildung in Anklang an Enterich,

Gänserich (Lühr Nhd 167). Schlender, Schlander „träger, schlampiger Mensch“ und

Lander „schlechte, mickrige Kartoffel“ sind Substantivierungen des Adj., da eine agentive

-er-Ableitung von dem Verb schlendern, schlandern zu *Schlenderer usw. geführt hätte

Page 110: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

wie z.B. bei zaubern zu Zauberer. Die Komposita Schlendergang, -markt, Slandergang,

Slintergang, Lanterfant haben als Erstglied einen Verbalstamm (s)lender-/ (s)lander- (vgl.

die Beispiele Schillerfalter : schillern, Zauberstab : zaubern).

Die Verben ländern, lehnern, lindern, schlendern, schlandern, schlindern sind schwache

Verben, die neben lender, schlender stehen wie hungern neben Hunger oder sichern neben

sicher (Henzen DtWortb 227).

L: Im Thür. ist die lautliche Variante [l�QGQrn] in Zentral-, West- und Ostthür. belegt, die

Aussprache [OQGQrn] beschränkt sich auf Nordostthür. und einige Gebiete im Süd- und

Südwestthür. Die Verteilung deutet im Thür. klar auf ein altes zu ä bzw. e umgelautetes a

(Sp ThGr 27).

Für die Erklärung der lokal begrenzten (berlinisch-brandenburgisch, obersächsisch,

mecklenburgisch, nassauisch) Formen Schlinder „Schlitterbahn“, schlindern „schlittern,

auf dem Eis gleiten“, lindern „sich träge und faul bewegen“, Slintergang mit i gibt es zwei

Möglichkeiten: Sie sind an das Verb schlittern „gleiten, rutschen“ angeglichen oder durch

sich ausbreitende nddt. Hebung des e zu i vor Nasal + Konsonant zustande gekommen

(Stellmacher NddtSpr 44). Da die oberdt. Dialekte und das Englische keine Formen mit i

aufweisen, kann es sich nicht um die schon im Urgermanischen entstandene Hebung von e

zu i vor Nasal + Konsonant handeln (Kr/M I 57).

Der Unterschied zwischen a und e ist entweder sprachhistorisch bedingt (:�Egerm) oder

kann in einigen Fällen auch durch das teilweise Fehlen des Umlauts vor allem in nddt.

Dialekten hervorgerufen sein (Lübben MndGr 29f.).

Das Nebeneinander von d und t kann durch Austauschbarkeit von d und t hinter n zustande

gekommen sein, worauf auch das Nebeneinander von beiden Formen im gleichen Dialekt

weist; vgl. Frnhd Gr 94: „Im Ergebnis hat vorahd. nd im Spätmhd. und Nhd. deshalb einen

doppelten Schreib- und schließlich auch Lautstand“. Ursprünglich ist hier ein ahd. *t zu

erwarten, das im Verb far-slintan „verschlingen“, slintan „schlingen“ und im Subst. slunt

m. „Schlund“ auch bezeugt ist. Daneben steht aber auch schon im Ahd. ein d, z.B. in slindo

„Schlinger“ (vgl. auch Schatz AhdGr. 124 f. mit zahlreichen Beispielen).

Ausschließliches t in rheinisch lentern und Lanterfant (mit -fant als sekundärer

Rückbildung von frz. enfant „Kind“ oder eher aus ital. fante < *infante zu lat. infans

„Kind, unmündiger Mensch“; so EWD s.v. Fant) ist vielleicht durch sekundären Einfluß

von frz. lentemente „langsam“ zu erklären.

WG: Das Adj. lendern und seine Sippe haben sich durch lautliche Überschneidung mit

einigen anderen Wörtern in manchen Dialekten verändert: So wurde durch

Page 111: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

volksetymologische Anlehnung an Lander „Dachschindel; Latte“ (z.B. SchwäbWb 4, 951)

und das dazugehörende Kollektiv Geländer „Stangenzaun“ das rheinische Wort Geländer

„magere Kuh“ gebildet, das ein altes Länder, Lender „mageres Stück Vieh“ (vgl. schwäb.

Lander „schlechte, mickrige Kartoffel“) ersetzt haben könnte; andernfalls liegt hier einfach

nur metaphorischer Gebrauch des Wortes Geländer „Stangenzaun“ :� ÄPLW� VLFKWEDUHQ�Rippen wie ein Stangenzaun“ :�ÄPDJHUH�.XK³�YRU�� An lehnen angeglichen sind thür. Lehnerich m., lehnerig und lehnern als Variante von

ländern „schlendern“.

Thür. Dürrlender m. „magere, schwächliche Person, mageres, schwaches Tier“ ist

wahrscheinlich in Anlehnung an Lende als „dürre Lenden habend“ zu interpretieren (vgl.

Dürrleder „dss.“ mit Leder) und hier fernzuhalten.

Egerm

: lendern ist eine mit -n erweiterte Form (:�M/WB) ohne s-mobile, die zu mengl.

slendre „schlank, dünn, schmächtig“, nengl. slender „dünn, schmächtig; kraftlos, schwach“

(OED-Online s.v. slender), mndl. slinder „tenuis, exilis“ stimmt und einen german. Ansatz

*(s)lend(a)ra- / *(s)landrija- „dünn, schmächtig“ (Heidermanns PA 510) ermöglicht. Nach

Heidermanns sind die beiden Bildungen *(s)lend(a)ra- und *(s)landrija- ihrerseits

Rückbildungen von den schwachen Verben *slend(a)rÀQ und *slandrijan in mnd., mndl.

slinderen „gleiten, kriechen“ (Heidermanns PA 78). Im Engl. gibt es ein seltenes

schwaches denominales Verb to slender in der Bedeutung „dünn machen, ausmergeln“

(OED-Online s.v. slender), dazu gesellt sich nnorw. slindra „schwächen, ausmergeln“.

Beide setzen die alte Kausativbildung *slandrijan „schleichen, kriechen machen“ :�„schwächen“ fort, worauf der engl. Vokal e weist, der aus a umgelautet sein muss (ein

altes *e hätte vor Nasal + Konsonant zu i werden müssen; :�L). Ndl. slinderen „kriechen,

langsam gehen“ geht dagegen auf die *ÀQ-Bildung *VOHQGUÀQ „schleichen, kriechen“ mit

nicht-kausativer Bedeutung und regelrechtem Lautwandel e_N+K > i zurück. Die

deutschen Verben schlendern, lendern, ländern, schlindern etc. zeigen Vermischung

beider Bildungen.

Wenig wahrscheinlich ist die Annahme, dass *(s)lendra- eine e-vollstufige Bildung mit

dem Suffix -ra- zu einem starken Verb *(s)lenda- sein könnte. Seltene Fälle von e-

Vollstufe sind wohl erst innergermanisch entstanden wie auch die häufigeren Fälle mit

innergermanischem Ablautsvokal a (Heidermanns PA 67); für -ra- mit e-Vollstufe bei

einem primären Verb sind nur zwei unsichere Beispiele zu verzeichnen: *dem(b)-ra-

„dunkel“ (Heidermanns 44; 151; nur ahd, mhd. timbar, timber) und *¾d-ra- „rasch“

(Heidermanns 44; 173). Bei den sekundären Bildungen kann nur ein unsicheres Beispiel

Page 112: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

mit e-Vokalismus angeführt werden: *-sweibra- „nachgiebig“ (in anord. ósvífr

„unnachgiebig“) zu dem german. Präsensstamm *VZ¯ED- „aufhören“ (Heidermanns PA 66;

576).

Das Suffix -ra- leitet zwar häufig Adj. von primären Verben ab, doch im German. sind

überwiegend Fälle mit Schwundstufe (z.B. ahd. lungar „schnell“; Heidermanns PA 388f.)

oder a-Stufe (< uridg. *o; z.B. ahd. mhd. swangar, swanger < german. *swangra-

„schwerfällig“, Heidermanns PA 572) bezeugt.

Die Formen mit Wurzelvokal a (Lander, land(e)rig, slanderig, schlandrig usw.) weisen

durch das Fehlen des Umlauts auf eine german. Form *(s)landra-, das ohne weiteres zu

dem starken Verb *slend-a- „kriechen, schleichen; schlingen“ (Seebold StV 432) gestellt

werden kann. Heidermanns (PA 44) verzeichnet 8 Beispiele (davon eines unsicher) für

Primäradjektive mit Suffix -ra- und german Wurzelvokals a aus uridg. *o. Dazu gesellt

sich nun noch als neuntes Beispiel *(s)landra- „kriechend“, das zu „schwach, kraftlos;

dünn“ lexikalisiert wurde. Eine semantische Parallele hierzu ist st. schlank, das zu dem

Verb slenk-a- „schleichen, kriechen“ (Seebold StVb 433) gehört.

Die Basis der -ra-Ableitung ist das starke Verb slend-a- „schlingen“, das in got. fra-

slindan (nur 1x belegt, übersetzt griech. �.2.���0��� ÄKHUXQWHUVFKOXFNHQ�� YHUVFKOLQJHQ³���ahd. slintan, slinden (slant, sluntun, gisluntan) „schlingen“, fraslintan „verschlingen“,

mndt., nndt., mnl. slinden „schlingen“ (Lehmann GotWb s.v fraslindan; DWb s.v.

schlingen²) bezeugt ist. Dazu gehören die Subst. ahd. slunt m., asächs. slund m. „Schlund“

(< german. *slund-az) und ahd. slinto „Fresser“ (< german. *slend-ÀQ). Im Deutschen ist

dieses Wort zu schlingen (schlang, geschlungen) geworden, wobei zwei Ursachen

auszumachen sind: Es gibt ab und zu die Schreibung ng für älteres nd oder nt, z.B. in

hinger < hinder, hinter (Frnhd Gr 145), zum zweiten dürfte aber auch die Nähe zum

starken Verb schlingen (schlang, geschlungen) „kriechen, sich winden“ eine große Rolle

gespielt haben, denn die Fälle mit Schreibung ng statt nd oder nt konnten sich

normalerweise in der Hochsprache nicht durchsetzen. Dies spricht aber dafür, dass in den

älteren Sprachstufen eine Bedeutung „kriechen“ neben einer neueren Bedeutung

„schlingen, runterschlucken“ weiterbestanden haben muss, wahrscheinlich aufgrund der

daneben stehenden Ableitungen *VOHQGUÀQ „gleiten, kriechen; langsam gehen“ und

*slandrijan „kriechen lassen“, und dass die schon lange bekannte Etymologie von german.

*slend-a- „schlingen, runterschlucken“ aus „(hinunter)gleiten, rutschen“ (Seebold StVb

432; Heidermanns PA 510; Feist GotWb 164f.) richtig ist. Zur Semantik vgl. dt. das gleitet

Page 113: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

runter wie Öl, das Essen rutscht heute gut oder neg. die Erbsen wollen nicht rutschen

(DWb s.v. rutschen).

Folgendes ist also festzuhalten:

Das starke Verb *(s)lend-a- „kriechen, schleichen; schlingen“ (got. fra-slindan

„verschlingen“, ahd. slindan, slintan etc.) hat ein german. a-stufiges ra-Adjektiv

*(s)landra- „kriechend, langsam gehend; müde, schlapp, energielos, dünn“ neben sich, das

seinerseits als Ableitungsgrundlage für eine *ÀQ-Bildung *�V�ODQGUÀQ (dt. dial. schlandern,

landern) oder *�V�OHQGUÀQ „kriechen, gleiten; langsam gehen“ (mit dem Vokalismus des

Grundverbs *(s)lend-a-, dt. schlendern, schlindern, lendern, lindern etc.) und eine

kausative *jan-Bildung *slandrjan „kriechen lassen“ (> engl. to slender, nnorw. slindra

„dünn machen, schwächen, ausmergeln) dient. Daraus wiederum ist das Adj. *(s)landrija-

rückgebildet, das in lendern vorliegt. Die Wurzel hat ein s-mobile (weitere zahlreiche

Beispiele für diese Erscheinung bei Southern, s-mobile 188ff.).

Eidg

: Nach LIV² 307 (Seebold StVb 432 folgend) ist die dem got. -slindan „schlingen,

schlucken“ zugrunde liegende Wurzel uridg. *h3sleidh- „ausgleiten, fehlgehen“, wobei ein

uridg. n-Infix-Präsens *h3sli-né/n-dh- zu german. *slindan und – mit Ablautentgleisung –

zur starken Flexion *sland, *gislunden geführt haben soll. Die Bedeutung des uridg. Verbs

und seiner Fortsetzer ist terminatives „ausgleiten, ausrutschen, fehlgehen“, *(s)lend-a-

„gleiten, kriechen“ ist dagegen durativ. Die n-Infix-Ableitung ist nur in diesem german.

Verb bezeugt. Um die schwierige Annahme einer Analogiebildung von *slindan mit

festgewordenem n-Infix und sekundär eingeführtem Ablaut nach dem Vorbild von ahd.

bindan, band, gibunden zu umgehen, wird hier eine andere idg. Deutung vorgenommen,

deren Vorteile in einer problemlosen Rückführung auf eine uridg. Wurzel und in

leichterem semantischen Anschluß liegen. Zwar gibt es Fälle wie rinnen, in denen ein n-

Infix fest geworden ist, doch erstens hat man daneben auch in anderen idg. Sprachen eine

n-Infix-Bildung und zweitens ist hier durch die Wurzelstruktur (Wurzel *h3reiH- hätte ein

german. r�-a-/rijja- ergeben ohne auslautenden Konsonanten) ein nachvollziehbarer Grund

vorhanden.

German. *(s)lend-a- kann lautlich genau an lit. lendù, l Å­VWL „schleichen, kriechen;

eindringen“, Kaus. landìnti „zum Kriechen veranlassen“ (LEW I 377) und aind. randh- /

radh- „unterliegen, erliegen“, Kaus. randháya- „unterwerfen“ (EWAia II 431f.)

angeschlossen werden. LIV² 412 s.v. lendh rekonstruiert ausgehend vom Aind. als

Bedeutung der Wurzel „sich senken, nach unten geraten“; doch lassen sich einige

Textstellen des Kausativs randhaya- RV noch mit der Bedeutung „kriechen machen“

Page 114: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

übersetzen (wie auch lit. und german. auf die Bedeutung „kriechen, schleichen“ deuten),

z.B. ánuvrat�ya randháyann ápavrat�n [...] índra� „Indra ist der, welcher die

Unbotmäßigen vor dem Botmäßigen kriechen macht“ (I, 51,9) in Bezug auf die Schlange

V�tra; „kriechen machen“ kann als Geste der Unterwerfung und Demütigung semantisch

zu „unterwerfen“ geführt haben. Im Lichte von german. *(s)landra- „kriechend“ >

„schlapp, kraftlos“ kann das aind. Adj. radhrá- < *l�dh-ró- „ermattend, müde werdend,

schlapp“ mit derselben semantischen Entwicklung an german. *(s)landra < *slondhró- (als

Ersatz von schwundst. *(s)l�dhro- ?) angeschlossen werden, dazu schließlich auch noch

npers. razd(a) „müde, erschöpft“< iran. *razda- < uridg. *l�dh-to- „hingekrochen“ o.ä.

(aind. raddhá- „unterlegen“).

Für das Uridg. ergeben sich also folgende Ansätze: Ein themat. Prs. *lendh-e- in german.

*(s)lend-a- „kriechen; schlingen“ und lit. lendù, lÅ­VWL „kriechen, schleichen“; ein Kaus.

*londh-éie- in aind. randháya- „unterwerfen“ (< „kriechen machen“), lit. (umgestaltet)

landìnti „kriechen machen“ und german. (umgestaltet unter Einfluß des Adj. *slandra- ?)

*slandrjan „kriechen machen“.

Dazu kommen die Adj. german. *(s)landra- < uridg. *(s)londhro-, das vielleicht aus

*(s)l�dhró umgestaltet ist, und aind. radhrá- < uridg. *l�dhró- mit derselben

Bedeutungsentwicklung „kriechend“ > „erschöpft, schlapp, müde“.

Lit.: B ThWb s.v. lendern, schlendern, Lehnerich, lehnern, Schlender; SchwäbWb 4, 952;

Schl.HoWb 4, 526f.; 540; MeckWb 6, 328f.; 345; 348; 358; BranBerlWb 3, 24; 121;

1103; 1116; 1126; RheinWb 5, 87; 117; 389ff.; Südhess.Wb 5, 368; 421; WbOsächsMda 3,

11; 4, 19; HessNAssWb 3, 201; 227; 237; M/WB EWD s.v. albern; Lühr Nhd 165; 167;

Henzen DtWb 227 L Sp ThGr 27; Stellmacher NddtSpr 44; Kr/M I 57; Lübben MndGr

29f.; FrnhdGr 94; Schatz AhdGr 124f; EWD s.v.Fant; WG SchwäbWb 4, 951; Egerm

OEW-Online s.v. slender; Heidermanns PA 44; 66f.; 78; 151; 173; 510; 572; 576; Seebold

StVb 432f.; Lehmann GotWb s.v. fraslindan; DWb s.v. schlingen ²; FrnhdGr 1145; Feist

GotWb 164f.; Southern s-mobile 188ff.; Eidg LIV² 307, 412; Seebold StVb 432; LEW I

377; EWAia II 431f..

Page 115: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Leuchse, Leuchel, Leucher 1

Leuchse Sb f. „Stützverbindung zwischen oberem Leiterbaum und Achsende am

Leiterwagen, Runge“

Leuchel Sb m. „Riedgras, Schilf“

Leucher Sb m. „chirurgisches Instrument“

Z: Thür. Leuchse f. und dazugehörende Komposita (→→ B) weisen auf ein german. *leuh-VÀ- „Verbindung

(am Wagenkasten)“ und haben eine semantische und derivative Parallele in Achse f. aus german.

*DKVÀ- „Achse, Führung (der Wagenräder)“. In *leuh-VÀ- liegt eine uridg. Wurzel *leug/£- „biegen“

vor, die in nominalen Ableitungen die Bedeutung „bLHJVDPHU�=ZHLJ³�DQJHQRPPHQ�KDW��YJO��JU���*� "�und dt. Leuchel m. „Schilfrohr“ (→→ E

germ4) sowie Leucher m. „chirurgisches Instrument“ (→→ B, E

germ2).

Biegsame Zweige wurden verwendet, um Dinge zusammenzubinden, vgl. got. ga-, us-OÌNDQ, ahd.

OÌKKHQ, engl. to lock (mit Schwundstufe, →→ Egerm3�� XQG� GDV� JU�� GHQRPLQDOH� 9HUE� �#�)&� ÄIHVW-,

zusammenbinden“. Die Bedeutung „binden, festmachen“ ist so auch in einige Nominalbildungen

eingedrungen.

Die süddt. Wörter Liechel m. „Hacke“ und liechen stV „ausziehen, ausrupfen“ gehören dagegen zu

einer anderen uridg. Wurzel *leug-/leuÿÿ

- „abrupfen, herausziehen“ (ôô

EWDD Lock).

B: In thür. Mdaa. ist ein fem. Sb. Leuchse „Stützverbindung zwischen oberem Leiterbaum

und Achsende am Leiterwagen“ belegt, z.B. in trö emal di zerbroche Lösche bänn Wähner

(Wagner), hä soll me gleich e neu mach „trag mal die zerbrochene Leuchse zum Wagner,

er soll mir gleich eine neue machen“. Zu diesem Simplex gehören folgende Komposita:

Leuchsblech n. „Blechbeschlag an Leuchse und Leiterbaum“; Leuchs(en)holz n. „Leuchse

am Leiterwagen, Runge; Leuchsennagel m., Leuchsenstift m. „Nagel, der Rad und Leuchse

an der Achse festhält“; Leuchsenring m. „Eisenring, der die Leuchse mit dem Leiterbaum

verbindet“, z.B. in da Leustenring is geplatzt, un die Fuhr Hei wär üm e Hoor

ümgeschmissen; Leuchs(en)schelle f. „dss.“; Leuchsenschere f., Leuchs(en)tülle f.,

Leuchswiede f. „Eisenbeschlag am unteren Leuchsenende, mit Ring zum Aufstecken an die

Radachse“; Leuchsenstäbel m., Leuchs(en)stützel m., Leuchsrunge f., Leuchsstößel m.

„Leuchse“; Leuchs(en)stütze f. „Stütze an der hinteren Runge“ (ThWb s.vv.).

Aus anderen Dialekten stellen sich hierher: bair.-österreich. Leuchse(n), Leusten f.

„Verbindungsstab, Runge eines Leiterwagens“ (Jacobsson 6, 453b), z.B. in schwingen

ihnen (den Pferden) den Haber mit der Streugabel und schlagen ihn ein mit der Leuxen

und striegelns mit der Faust um den Kopf (von Leuten, die ihre Pferde quälen) (Mathesius,

Syrach 2, 70b), und schwäb. Leuchsel „dss.“ (Schm.² 1, 1428).

Der früheste Beleg liuhse stammt aus dem 15. Jhd. (Lexer s.v. liuhse; EWD s.v. Leuchse).

Als s-lose Formen sind wahrscheinlich Leuchel m., Leuchelgras n. „Riedgras, Schilfrohr“

(→ Egerm4) und Leucher m. „chirurgisches Instrument zum Entfernen abgebrochener

Page 116: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Leuchse, Leuchel, Leucher 2

Pfeilspitzen aus Wunden“ zugehörig, z.B. in so aber ein pfeileisen dermaszen tief in fleisch

oder im gebein liege, so brauch erstlich dies instrument, so ein leucher genannt wird (Ryff

Chirurgie (1559) 29a.). Es handelt sich um ein längliches Instrument mit ein oder zwei

gebogenen Spitzen, mit dem man die abgebrochene Pfeilspitze herausholen konnte (→

Egerm2).

M: Die mehrfach bezeugte Kompositionsform Leuchsen- mit der dialektalen Variante

Leuchs- (→ L) zeigt ein Fugenelement -(e)n, dessen Ursprung in der Flexion der

schwachen Substantive liegt (Lühr Nhd 151). Schon im Ahd. haben sich aber die

schwachen fem. n-Stämme mit den starken fem. À-St. vermischt (Mittelhd Gr 198).

WB: Die Determinativkomposita (→ B) können semantisch in zwei Gruppen eingeteilt

werden. Zum einen sind es die Komposita Leuchsenstäbel, Leuchs(en)stützel,

Leuchsrunge, Leuchsstößel, die den gleichen Teil des Wagens wie das Simplex Leuchse

bezeichnen. Sie haben ein Zweitglied mit der Bedeutung „Stab, Stange, Stütze“, welches

das teilweise nicht mehr verständliche Leuchse wiederholt. Es handelt sich hierbei um

verdeutlichende Zusammensetzungen wie z.B. in Lindwurm (Lühr Nhd 161). Die

Komposita Leuchs(en)holz und Leuchsenwiede (Wiede = Weide) verweisen auf das

Material, aus dem die Leuchse hergestellt wird, bzw. woraus die Leuchsenwiede, die jetzt

aus Eisen ist, ursprünglich hergestellt wurde. Die Komposita Leuchsenblech, Leuchsnagel,

Leuchsenring, Leuchsenschelle, Leuchsenschere, Leuchsenstift, Leuchsenwiede bezeichnen

dagegen Zusatzteile, die zur Befestigung der eigentlichen Leuchse dienen.

Die Ableitung Leucher ist mit dem Suffix -er gebildet, das hier die Funktion eines Nomen

Instrumenti hat wie z.B. dt. Regler „ein Gerät zur Regelung der Leistungsintensität an

Maschinen“ oder Schalter „Vorrichtung zum Schließen, Unterbrechen, Umschalten des

Stromkreises“ (Paul DtWb 719; Engel; Fleischer/Barz 151ff,). Es bedeutete ursprünglich

„(Heraus-) Bieger“ von tiefsitzenden Gegenständen in Wunden (→ B).

Demgegenüber hat Leuchel m. „Schilfrohr, Riedgras“ ein l-Suffix wie Nagel m. oder

Giebel m. (Kr/M III 84 f); feminine l-Bildungen sind bei Pflanzenbezeichnungen des

öfteren anzutreffen wie z.B. in Nessel, Mispel, Mistel etc. (Balles HS 112: 137-142.).

Möglich ist aber auch ein mask. Nomen Agentis Leuchel „der Bieger, sich Biegende“, wie

Gimpel eigtl. „der Hüpfer“ oder ahd. wibil „Käfer“, eigtl. „der hin- und her läuft“ (Kr/M III

86f.).

L: Die mda. Varianten mit -sch- oder -s- anstelle von -chs- entsprechen der normalen

Entwicklung von mhd. -hs- zu nhd- -chs- bzw. -ks- (Sp ThGr 178f., 214).

Page 117: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Leuchse, Leuchel, Leucher 3

Der n-Abfall bei Leuchswiede, Leuchsblech, Leuchsholz etc. (→ B) ist in den meisten thür.

Mdaa. belegt und dient als eines der wesentlichen Abgrenzungsmerkmale zwischen dem

md. Sprachgebiet in NW-Thür und dem frk.-obd. Sprachgebiet im restlichen Thüringen

(Sp ThGr 223ff., mit Verbreitungskarte).

Die dialektale Form Leusten [loisdn] zeigt eine lautliche Entwicklung wie in Deichsel zu

[däisdl] (DWA 8, Kt.1). Weil diese Veränderung nicht regelmäßig eintritt, könnte auch

volksetymologischer Anschluß an Leiste oder Leisten eingetreten sein (ThWb s.v.

Leuchse).

WG: Die Leuchse ist ein Stab oder Stock, der die unteren Teile eines Leiterwagens an den

vier Ecken mit den oberen als Stütze verbindet, und besteht meist aus Holz, nur selten aus

Eisen. Am unteren Ende ist sie in die heutzutage eiserne Leuchsenschere (Leuchsentülle,

Leuchswiede, s.u.) gefasst und mit dem Achsende durch den Leuchsennagel oder

Leuchsenstift verbunden. Am oberen Ende ist sie durch einen eisernen Leuchsenring und

eine Leuchsenschelle am oberen Leiterbaum befestigt; auf diese Weise werden die

schrägstehenden Leitern gestützt. Vereinzelt geht die Bezeichnung auch auf die geraden

Stützstreben des Kastenwagens über. Leuchswiede bedeutet dasselbe wie Leuchsenschere

und zeigt, dass das Bauteil offenbar früher aus einer Wiede „Weidengerte“ gefertigt wurde

(ThWb s.v.). Das Wort hat also eine Bedeutungserweiterung erfahren, da neue Materialien

zur Herstellung dieses Geräts verwendet wurden, vgl. z.B. (Schreib-) Feder oder

Goldplombe (Lühr Nhd 257).

Egerm1

: Mhd. liuhse f. und nhd. Leuchse f. weisen auf einen schwachen n-Stamm oder einen

starken À-Stamm *OHXKVÀ f. (→ M), wobei der n-Stamm *leuh-s-À-n- f. von dem À-Stamm

abgeleitet wird. Das Formans -s- kann das auf folgende Weise erklärt werden:

1. Es liegt eine thematische Ableitung eines alten s-Stammes vor wie z.B. in got. weihs <

german * ¯Ks-a- „Dorf, Siedlung“ zu uridg. * é��os n. „Ort, Stelle“ (Schaffner VG 592,

mit weiteren Beispielen).

2. Eine schon mit -s- erweiterte Wurzel ist thematisiert worden; dieser Ableitungstyp ist

z.B. in german. *DKVÀ- f., ahd. ahsa f. „Achse“ (außer dem Genus = aind. ák&a- m. „Achse

am Wagen“, von einer s-Erweiterung der uridg. Wurzel *h2a�-) bezeugt (Kr/M III 134;

EWAia s.v. ák&a-).

3. *OHXKVÀ�Q�- ist eine alte -so-/sah2-Ableitung wie z.B. german *sahsa-, ahd. sahs n.

„Messer“ von der uridg Wurzel *sek(H)- „abtrennen, schneiden“ (LIV 524; Schaffner VG

242; Kr/M III 134f).

Alle drei Möglichkeiten führen also zu einer synchronen germanischen *sa-�VÀ-Bildung.

Page 118: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Leuchse, Leuchel, Leucher 4

Egerm2

: Leucher m. „chirurgisches Instrument zum Entfernen von abgebrochenen Pfeilspitzen

aus Wunden“, ursprünglich „Bieger“, ist mit dem Suffix -er in der Funktion eines Nomen

Instrumenti (→ WB) gebildet, was zu der oben (→ B) beschriebenen Einsatzmöglichkeit

eines solchen Gerätes stimmt. Einem hd. *leuch- entspricht eine german. Wurzel *leuk-

„(sich) biegen“, die für die Erklärung von Leuchse als alte *-sah2-Ableitung spricht

(Möglichkeit 3, s.o.), zur Bildeweise vgl. z.B. *DKVÀ- f., ahd. ahsa „Achse“, *KDKVÀ- f.,

ahd. hahsa „Haxe“, *sahsa- n., ahd. sahs „Messer“ (Kr/M 134ff.).

Egerm3

: Eine schwundstufige Form der Wurzel liegt in german *luk- vor, vgl. got. ga-OÌNDQ

„schließen“, us-OÌNDQ�„öffnen“ (mit sekundärer Dehnung nach dem Vorbild von � > *ei bei

der 1. Klasse der st.Vb. (Kümmel in LIV² 416)), ahd. OÌKKDQ, engl. to lock „schließen“ <

uridg. *leug/�- „biegen“. Die Bedeutung „schließen“ ist somit aus „(einen Verschluß)

zusammenbiegen, (etwas) zusammenbinden“ entstanden (LIV² 416).

Egerm4

: Die griech. Entsprechungen dieser Sippe (→ Eidg) zeigen, dass Zweige oder Äste zum

Zusammenbinden verwendet wurden. Dieselbe semantische Entwicklung kann die

vollstufige german. Form *leuk- „(sich) biegen“ : *l(e)uka- „biegsame Pflanze“ > „binden“

mitgemacht haben. *leuhVÀ- f. als „Biegung, Verbindung (von Wagenseiten)“ findet damit

eine Parallele in *DKVÀ f. „Achse; Führung (der Wagenräder)“ < uridg. *h2a�so-/ah2-

(EWAia s.v. ák&a-; LIV² 255f.), das in das gleiche Wortfeld „Bauteile am Wagen“

eingegliedert ist.

Leuchel m. „Schilfrohr“, „sich biegende; biegsame Pflanze“ ist semantisch unmittelbar mit

JULHFK���*� "�ÄELHJVDPHU�:HLGHQ]ZHLJ³�]X�YHUJOHLFKHQ� E

idg: Fortsetzer der uridg. Wurzel *leug-/leuÿ�� H[LVWLHUHQ� LQ�JULHFK���*� "� I��P��ÄELHJVDPHU�

Weidenzweig, Ast“ und den dDYRQ� DEJHOHLWHWHQ� 9HUEHQ� �#�)&� ÄIHVWELQGHQ��]XVDPPHQELQGHQ³���#���&�ÄELHJHQ��GUHKHQ³�VRZLH��*��� "�ÄJHIORFKWHQ³���*�� ��Ä'UHKXQJ��9HU]ZHLJXQJ³��/,9ð������/�6�V�YY���)ULVN�V�Y���*� "���

Lit: B ThWb s.v. Leuchse; Jacobsson 6, 453b; Mathesius, Syrach 2, 70b; Schm Bair Wb 1,

1428; Lexer s.v. liuhse; EWD s.v. Leuchse; Ryff, Chirurgie 29a; M Lühr Nhd 151; Mhd Gr

198; WB Lühr Nhd 161; Paul Dt Wb 719; Engel; Fleischer/Barz 151ff.; Kr/M III 84f;

Balles, HS 112: 137-142; L Sp ThGr 178f; 214, 223ff; DWA 8, Kt. 1; WG ThWb s.v.

Leuchse; Lühr Nhd 257; Egerm Schaffner VG 592, 242; Kr/M III 134ff; EWAia s.v. ák&a-;

LIV 255f, 416, 524; Eidg�/,9������/�6�V�YY���*� "���#�)&��)ULVN�V�Y���*� "�

Page 119: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

1

liedschäftig Adj. „altersschwach, abgenutzt, ohne rechten Halt“

liedschäftlich Adj. „dss.“

Z: Die beiden thür. Adj. liedschäftig und liedschäftlich sind nur noch im unterfränk. und hess.

Dialektgebiet bezeugt; der älteste Beleg stammt aus dem Jahre 1473 (Unterfranken). Die Adjektive

sind Ableitungen mit den auch heute noch produktiven Suffixen -ig und -lich von einem zu

erschließenden Adj. *liedschaft, das „an den Gliedern verletzt, abgeschabt“ bedeutet hat. Das

Vorderglied ist semantisch verblasst und die Adj. haben die allgemeine Bedeutung „altersschwach,

abgenutzt“ angenommen. Diese Etymologie wird unterstützt durch parallele Bildungen wie liedschart,

-schert „an den Gliedern verletzt“, von denen ebenfalls ein Adj. liedschartig, -schertig abgeleitet

worden ist. Die Basis *liedschaft ist ein Kompositum aus den Bestandteilen lied- (zu nhd. Glied) und

-schaft (zu nhd. schaben). Die unklare Etymologie von Glied und sein Verhältnis zu Wörtern wie nhd.

Elle wird in Egerm1

, Eidg1(a)

und Eidg1(b)

geklärt: Glied bzw. älteres li(e)d sind tu-Abstrakta einer uridg.

Wurzel *leiH- „biegen“; Elle hingegen ist ein altertümliches Kompositum „Hin-, Ab-bieger“ und

enthält ebenfalls die uridg. Wurzel *leiH- „biegen“.

B: Im südwestlichen Thüringen ist ein seltenes Adjektiv liedschäftig „altersschwach,

wackelig, ohne rechten Stand“ bezeugt, das sich auf Menschen bezieht, z.B. in a is dös

Johr sehr lidscheftig worn „Er ist in diesem Jahr ziemlich altersschwach geworden“, oder

auf Pflanzen und Kleider. Daneben gibt es ein weiteres nur in der Gegend um Coburg

belegtes Adjektiv liedschäftlich „wackelig, ohne rechten Stand; schadhaft“ (ThWb s.v.

liedschäftig, -lich).

Außer im südwestl. Thür. ist das Adjektiv liedschäftig nur noch im unterfränkischen und

hessischen Dialektgebiet bekannt und bedeutet dort „wackelig, altersschwach, abgenutzt“,

z.B. fränk. dei Mais is fei recht lidschäfdich worn oder des Kleid is scho arch liedschäfdich

und in einem hess. Mundartgedicht: Liedschäftig kann man sein, wenn nicht mehr mittun

die Bein’ (Omborscher Gebabbel 1).

In der Gerichtsordnung von Theilheim in Unterfranken aus dem Jahre 1473 steht der

früheste Beleg dieses Wortes: ein glidtschefftige wunden zehen pfundt heller, soviel war

die Buße für eine solche Verletzung (Grimm Weisth. 6,84; DWb s.v. Gliedscheftig).

M/WB: liedschäftig und liedschäftlich sind mit den produktiven Adjektiv-Suffixen -ig und

-lich (Fleischer-Barz 256ff., 260ff.; Lühr Nhd 165ff.) von einem nicht bezeugten mhd.

*(ge)lid-schaft abgeleitet. Der mhd. Beleg glidtschefftig zeigt die mit g(e)- präfigierte, im

heutigen Hochdeutschen übliche Form des Subst. Glied (EWD s.v. Glied) als glidt; das g-

ist hierbei aus ge- verkürzt wie in glauben aus mhd. g(e)louben oder Gleis neben nhd.

Geleise aus mhd. geleis. Die unverkürzte Form gelit gibt es ebenfalls im Mhd. (Lexer 820),

wie auch die unerweiterte Form lit „Körperteil, Glied, Gelenk“ (Lexer 1938f.; :�Egerm1).

Page 120: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

2

Diese Form ist heute noch in einigen obd. Dialekten bekannt, z.B. in schweiz. Lid „Stück

Fleisch; Viertel eines geschlachteten Rindes oder Schweins“ (Tobler Appenzeller Volksl

295). Da im Mhd. nur die Ableitung mit dem Suffix -ig bezeugt ist, könnte es sich bei dem

seltenen liedschäft-lich um eine jüngere gleichbedeutende Bildung mit dem produktiven

Suffix -lich handeln, wie z.B. auch von Gram die synonymen Adj. grämig und grämlich

„feindselig, feindlich; mürrisch, unfroh“ (mhd. grämic, gremelich, gremlich; BMZ, Lexer

s.v.) gebildet worden sind (DWb s.v. Gram, grämig, grämlich).

In dasselbe semantische Feld wie liedschäftig fallen auch die Adjektive nhd. (dial.)

liedschartig, -schärtig, mhd. lidschertic und gelitschertic „an den Gliedern zerhauen,

verletzt“ (Lexer 820, 1901). Diese sind mit dem Suffix -ig von mhd. lide-schart und gelit-

schert „an den Gliedern verletzt, zerhauen“, z.B. in gelitscherte Wunden „Wunden, bei

denen Glieder abgehauen oder verstümmelt wurden“, abgeleitet und zeigen somit dasselbe

Bildungsmuster wie liedschäftig und glidtschefftig. Mhd. (ge)lit-schart, -schert sind

adjektivische Determinativkomposita mit der Bedeutung „an den Gliedern geschnitten,

verletzt“ (Lühr Nhd 158, 160). -schart, -schert ist ein Adj., das mit dem german. Suffix

*-þa-/-þÀ- von der in scheren, mhd. schern, ahd. sceran „schneiden, verletzen“ (EWD s.v.

scheren1) vorliegenden uridg. Wurzel 2. *sker- „scheren, kratzen, abschneiden“ gebildet ist

(LIV² 556f.). Eine parallele Bildung liegt in liedschäftig und glidtschefftig vor: Die daraus

zu erschließende Ableitungsbasis *(ge)lid-schaft ist mit dem Adjektiv -schaft „geschabt,

gekratzt; verletzt“ zusammengesetzt. -schaft ist von schaben, ahd. scaban, scapan

„kratzen, schaben; stoßen“ abgeleitet (:�Egerm2).

Weitere semantisch vergleichbare Bildungen sind z.B. gliedschrötig (zu ahd. VFUÀWDQ

„schneiden“, nhd. schroten) und gliedbrestig (zu ahd. brestan „zerbrechen“, nhd. bersten)

„an den Gliedern verletzt, verstümmelt“.

WG: Ausgehend von der ursprünglichen Bedeutung „an den Gliedern verletzt, abgeschabt“

ist das Vordergliedes li(e)d semantisch verblasst und hat eine allgemeine Bedeutung

„altersschach, abgenutzt“ bekommen. Dies konnte eintreten, weil sich ab dem Mhd. die

Kollektivbildung G(e)lied gegenüber dem Simplex Lied durchgesetzt hat. Das Simplex ist

nur noch in einigen Dialekten bekannt; die Hoch- und allgemeine Umgangssprache hat es

möglicherweise aus Gründen der Homonymenvermeidung gegenüber Lied „Gesang“ und

Lid „Augendeckel“ aufgegeben.

Egerm1

: Das nhd. Subst. Glied ist eine schon in spätahd. gilit n. (12. Jhd.) bezeugte

Kollektivbildung mit dem Präfix ge-, die von dem Simplex ahd. lid „Glied, Körperteil“

abgeleitet ist wie z.B. Gedärm von Darm (Lühr Nhd 172f.). Ahd. lid wird in der Regel als

Page 121: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

3

m. i-St. und nur selten als n. s-St. flektiert (AhdGr 186, 203), als Erstglied von Komposita

hat ahd. lid aber den alten u-St. bewahrt, der auch in anderen german. Sprachen bezeugt

ist: got. liþus m. „Glied“ (Casaretto 2004: 525f.), anord. liðr m. „Glied, Gelenk“, aengl.

leoþu- „id.“ als Kompositions-Erstglied (aengl. liþ n. ist sekundär in die Klasse der n. a-St.

eingegliedert worden; Neri 2003: 242), afries. liþ, lid und asächs. lið m. „id.“, die alle nach

Neri 2003: 242 den u-St. fortsetzen. Ein Hinweis auf das Alter des u-St. ist auch die

Adjektiv-Ableitung *liþu-Àa- in anord. liðugr „frei, ungehindert; biegsam“ neben *liþ-aÀa-

in aengl. liðig „elastisch, biegsam“, afries. lethich, ledich, mhd. lidec, ledic „frei,

ungehindert“, wobei dem german. Suffix *-aÀa- auch u-Stämme als Ableitungsbasis

dienen (Kr/M III 191f.; zur Bedeutung vgl. Neri 2003: 243f.). German. *li-þu- ist ein altes

tu-Abstraktum mit der ursprünglichen Bedeutung „Beweglichkeit, Biegsamkeit, Biegung“,

das eine konkrete Bedeutung „bewegliches (Körperteil)“ angenommen hat.

Bedeutungsübergänge von Abstrakta zu Konkreta sind selten, aber trotzdem bezeugt: Ein

ähnlicher Bedeutungsübergang hat z.B. von Wache „Wachsamkeit, Bewachung“ zu

„bewachender (Mensch)“ geführt. Weitere Derivate der in *li-þu- zugrunde liegenden

Wurzel sind anord. limr m. „Glied, Gelenk; Zweig“, lim n. „Zweig“ und aengl. lim n.

„Glied, Zweig“< german. *li-ma-. Ein primäres Verb ist nicht bezeugt, denominale

Ableitungen begegnen aber in den schwachen Verben aisl. liða „in Ordnung bringen,

beugen, gliedern“, ahd. OLGÀQ „zerstückeln“, die beide das german. denominale Verbsuffix

*-ÀQ zeigen (Kr/M III 238ff.), und aengl. �-liðian swV „teilen, zergliedern“ mit dem Suffix

*-jan (Kr/M III 243ff.).

Egerm2

: Der zweite Bestandteil des Wortes liedschäftig gehört zu einem st. Verb ahd. scaban,

mhd. schaben (schuop, geschaben), das im Frnhd. – wie andere Verben auch (FrnhdGr

231) – zu einem schw. Verb schaben (schabte, geschabt) umgestaltet worden ist (DWb,

EWD s.v. schaben). Wie unter M/WB gezeigt wurde, ist ein nicht bezeugtes Adj. *schaft

„zerkratzt, abgeschabt, verletzt“ die Ableitungsbasis für -schäftig: *-schaft ist eine

adjektivische Bildung mit dem german. Suffix *-þa-/-þÀ- (< uridg. *-to-�W�-), das bei den

schwachen Verben und den Präterito-Präsentien zur Bildung der Perfekt-Partizipien

verwendet wurde (Kr/M III 141ff.). Doch gab es darüber hinaus weitere Bildungen mit

diesem Dentalsuffix; sie leben als Adjektive fort wie z.B. tot „gestorben“ (= got. dau-þ-s,

anord. dau-ð-r, aengl. G�D-d zum Verb anord. dey-ja, asächs. GÀ-ian „sterben“) oder kalt

(eigentlich „gefroren“; kalt = anord. kal-d-r zum Verb kala „frieren“; Kr/M III 142).

Genauso wie das mhd. Adj. schart, schert „geschnitten, verwundet“ (ahd. scart, aengl.

VüHDUG „zerhackt, verstümmelt; schartig“; Kr/M III 142, Holth AEW 273) vom st. Verb

Page 122: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

4

scheren (Part. II ge-schoren) ist das aus liedschäftig zu erschließende Adj. *schaft von dem

ursprünglich st. Verb schaben abgeleitet, und zwar mit demselben Lautwandel, der in dem

heute nicht mehr gebräuchlichen Adj. haft : haben vorliegt und der Substantivierung Haft.

Das Adjektiv tritt in den Komposita des Typs schauderhaft, märchenhaft usw. auf (EWD

s.v. Haft). In dem schwachen Partizip II geschabt ist der Lautwandel von uridg. *-bh+t- >

vorgerman. *-pt- > german. *-ft- (Kr/M I 109) nicht durchgeführt, da geschabt eine sehr

junge (frnhd.) sekundäre Bildung ist und unter dem paradigmatischen Einfluß von schaben

steht. Vergleichbar ist auch hier das Nebeneinander von haben : gehabt, -b- ist im Partizip

durch Paradigmenzwang erhalten; das aus dem verbalen Komplex herausgelöste Adj. -haft

hat dagegen die lautgesetzlich richtige Form, da es nicht dem Paradigmenzwang unterlag.

Nhd. schaben (mhd. schaben, schuop, geschaben, ahd. scaban, Part. II giscaban) gehört zu

got. skaban, anord. skafa (skóf, skafenn), aengl. sceafan (scôf, scafen), asächs. scaban und

setzt somit ein gut bezeugtes germanisches st. Verb *ska^-a- (Seebold StV 401f.) fort.

Eidg1(a)

: German. *li-þu- „Biegung, Biegsamkeit“ und *li-ma- „gebogen“ :� Ä*HERJHQHV��Gelenk, Zweig“ können auf uridg. *lí-tu- und *li-mó- oder auf *líH-tu- und *liH-mó-

zurückgehen (Casaretto 2004: 525; Neri 2003: 242ff.; s.o. Egerm1

). Dabei ist *liH-mó- mit

lautgesetzlichem Laryngalschwund (Dybos Gesetz, wie z.B. in got. wair, anord. verr, ahd.

wer; air. fer, kymr. gwr„Mann“; lat. v�r < * �ro- < uridg. * iH-ró-) direkt zu german.

*lima- (anord. limr m. „Glied, Gelenk; Zweig“, lim n. „Zweig“ und aengl. lim n. „Glied,

Zweig“) geworden. In *líH-tu- muss ein analogischer Prozess die Kürze des Vokals

bewirkt haben, der z.B. auch zu german. *kwiþ/ðu- oder friþu- aufgrund von

paradigmatischem Ausgleich geführt hat (zu*kwiþ/ðu- Schaffner VG 501ff.; anders dazu

Neri 2003: 321ff.; 2006: Anm. 117 – Dybos Gesetz gilt nicht vor *t, vgl. Neri 2006: Anm.

117). Grundlage für unser Wort ist ein proterokinetischer Typ (nach Schaffner VG 84ff.,

Neri 2003: 91ff.) mit Nom. *lé�H-tu-s, Gen. *liH-té/ó -s, Instr. *liH-t -éh1; der Nom.

wurde lautgesetzlich zu *lé�-tu-s, der Instr. ebenfalls lautgesetzlich (nach der „Wetter“-

Regel; Neri 2006: Anm 60) zu *lit eh1; der Gen. ist analogisch zu *li-té/ó -s umgestaltet

worden und dann auch der Vokal im Nom. nach dem Instr. gekürzt.

Die uridg. Wurzel *leiH- bedeutet nach LIV² 405 „sich anschmiegen“, nach EWAia II 474

f. „sich verstecken“: Aind. layI ist meist mit Präverb ní- „nieder“ als ni-láyate „sich

verstecken“ bezeugt und heth. u-lae- nur mit Präverb „sich verstecken“ (Oettinger Stb

363f.). Die Präverbien zeigen eine Richtung ‘nach unten’ an, was – im Lichte der

germanischen Wörter – einen Bedeutungsansatz „sich biegen“ für das Simplex

wahrscheinlich macht: ni-láyate bedeutet „sich niederbiegen, -beugen, sich ducken“ (Part.

Page 123: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

5

ní-O¯QD- „geduckt, versteckt“; hierher auch RV 10,42,1 lºyam „geduckt“; EWAia II 475)

und heth. u-lae- „dss.“. Unter der Bedeutung „sich biegen, beugen“ können auch die lat.

nominalen Entsprechungen O¯PXV�� -a, -um „schief, schräg; schielend“ < *„gebogen“ (aus

*líh-mo- : anord. limr m. „Glied, Gelenk, Zweig“, lim n. „Zweig“ < *liH-mó-, s.o.), Subst.

O¯PXV��-¯ m. „schräg mit Purpur besetzter Schurz der Opferdiener“ einbezogen werden. Zu

trennen ist hiervon lat. O¯PHV, das besser zur uridg. Wurzel *h2leis- „Furchen ziehen“

zustellen ist (:�(:''�Liere). Auch lat. lituus, -¯ „Krummstab der Auguren“ kann hier

problemlos angeschlossen werden: Auszugehen ist von einem uridg. tu-Abstr. *líH-tu- (das

genau den german. Formen entspricht) „Biegung“, das als themat. Adj. *liH-t -ó- „eine

Biegung habend“ ebenfalls der „Wetter“-Regel unterliegt und Laryngalschwund zeigt:

*liH-t -ó- > *lit o- zu lat. lituus. (W/H I 815f.).

Eidg1(b)

: Im EWD (das dem IEW 307f. folgt) wird Glied mit dem dt. Subst. Elle f.

zusammengestellt („kann eine Erweiterung sein“). Diese Zusammenstellung bietet aber

große lautliche und morphologische Schwierigkeiten; man könnte ihnen nur begegnen,

wenn Elle und seine germanischen sowie indogermanischen Entsprechungen als fem.

Erweiterung *h2/3o-liH-n-áh2 von einem mit der Präp. *h2/3o- präfigierten

hysterokinetischen n-St. *h2/3o-liH-»n, -liH-n-és als Nomen agentis „Ab-bieger, Hin-

Bieger“ :�Ä(OOHQ-bogen“ bestimmt werden (zu der seltenen Präp. *h2/3o- vgl. z.B. uridg.

*h2/3o-sd-o- wörtl. „An-satz, Auf-satz“ (am Baum) :�Ä$VW³��� Doch legt das Wort Elle eine andere etymologische Deutung nahe: Nhd. Elle, ahd. elina f.

(EWA II 1044ff.) samt anord. alin f., aengl. eln f., afries. (i)elne f. „Unterarm, Elle“ <

german. *al±QÀ-; anord. Åoln f. „dss.“ ist aus der german. Form *alÎQÀ- mit auch sonst im

Anord. beobachtbarem Vokalwechsel beim Suffix (Kr/M III 107) entstanden, der eine

Metanalyse von *ali-QÀ- zu *al-LQÀ- vorausgegangen sein muss. Nur got. aleina f. zeigt

langes -¯- und führt zu einer german. Variante *DO¯QÀ- (Casaretto NW 321). Abgesehen von

dem anord. Beispiel mit Vokalwechsel führen die germanischen Belege auf zwei german.

Formen:

1. *DOLQÀ- < vorgerman. *(H)oli(H)náh2- mit Eintreten von Dybos Gesetz oder mit

Laryngalschwund in Komposita (wie z.B. in air. enech „Gesicht“ < vorir. *en±Nwo- < uridg.

*eni-h3kwó-) und

2. *DO¯QÀ- entweder < *(H)oliHnah2- mit Beibehaltung des Laryngals (möglicherweise eine

sehr frühe Variante mit substantivischem Akzent *(H)olíHnah2-) oder aus

*(H)olei(H)náh2-, einer Form, in der der Laryngal ebenfalls lautgesetzlich geschwunden

Page 124: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

6

wäre (Schaffner VG 502; Casaretto 327); *-ei- hätte dann regelgerecht german. langes -¯- ergeben.

Zu den german. Wörtern gehören ferner lat. ulna „Ellenbogenknochen“ < vorlat. *ol�Q�- <

uridg. *h2/3o-liH-n-áh2- (mit Laryngalschwund durch Dybos Gesetz wie in lat. v�r „Mann“

< * iH-ró- oder durch Laryngalschwund in Komposita, s.o.) sowie mir. uilen �, f.

„Ellenbogen, Unterarm; Winkel“ < vorir. *olÍn�-. Da die britann. Form elin „Ellenbogen“

mit -i- aus *¯ eindeutig die Länge des -�- beweist (*� hätte kymr. y ergeben), scheint auch

den keltischen Formen die substantivische Akzentvariante *h2/3olíHnah2- wie im

Gotischen zugrundezuliegen. Daneben gibt es im Kymr. auch noch das Wort olwyn „Rad“

< *(H)olei(H)nah2-, das im Suffix zu der anderen Erklärung von got. aleina passen könnte.

Armen. RáQ, Gen. RáLQ „Rückenwirbel, Rückgrat, Schulter“ aus vorarmen. *(H)oli(H)n-

zeigt eine etwas andere Bedeutung, die durch Kreuzung mit folgenden semantisch

ähnlichen, lautlich aber nicht übereinstimmenden Wörtern beeinflusst worden ist.

Armen. owln, Gen. owlan „Hals, Schulter“ (< vorarmen. *ÀOHQ-, *oln-) und griech. �N�P �N�PJ� „Ellenbogen, Unterarm; Matte, Stroh“ (< vorgriech. *ÀO»n-�� ÀOpQ�-) sind aus

folgenden Gründen davon zu trennen:

1. Der anlautende Langvokal stimmt nicht zu dem Kurzvokal der anderen Belege, es muss

somit ein anderes Präfix (*�, d.H. *oh1-, z.B. in aind. º „her“) oder eine andere mit

Laryngal anlautende Wurzel vorliegen; der Laryngal hat dann die Länge des Vokals

bewirkt.

2. In den armen. und griech. Belegen ist schwerlich eine -i-haltige Wurzel nachzuweisen.

Eine mögliche Vorform *À-/oH-lih-»n > *�li�»n- > �l�»n hätte in den meisten griech. Dial.

zu einer Form mit geminiertem -��- geführt, vgl. griech. ¥NNRT „anderer“ < *al�o-. Ein nur

einmal bei Hesych bezeugtes �NN�P� ��V�P�VR��ESDY�RPRT�MDO¾�P�„die Beuge des Arms“

genügt nicht, um eine solche Etymologie abzusichern: �NN�P� kann� eine innergriech.

themat. Ableitung des n-Stammes *ÀO-n-ó- sein (Frisk GEW II 1146f.).

Eidg2

: Die dem german. Verb *ska^-a- „schaben, kratzen“ (primäres Verb in got. skaban

„scheren“, ahd. scaban „schaben“) zugrunde liegende idg. Wurzel *skabh (oder besser

skh2ebh; LIV² 549) ist als themat. Präsens *skh2éb

h-e- auch in anderen idg. Sprachen

bezeugt: lat. scabere „kratzen, reiben“ und lit. (nur lexikalisch) skabù, skàbti „abpflücken“;

im Griech. ist ein s-Aorist µUMDZD „er grub auf“ belegt. Dazu wurde ein *-�e/�o-Präs.

JHELOGHW��JULHFK��1���2&�ÄDXIJUDEHQ³�XQG�OLW��skabiù, skÀEWL „schaben, hobeln; schnitzen,

meißeln; rupfen“.

Page 125: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

7

Lit: B ThWb liedschäftig, -lich; Omborscher Gebabbel 1 (http:www); Grimm Weisth. 6,84;

DWb Gliedscheftig; M/WB Fleischer-Barz 256ff., 260ff.; Lühr Nhd 165ff.; EWD Glied;

Lexer 820; 1901; 1938f., Tobler Appenzeller Volksl 295; Lexer, BMZ grämic, gremelich,

gremlich; DWb Gram, grämlich, grämig; LIV² 556f.; Egerm1

Lühr Nhd 172f.; AhdGr 186,

203; Casaretto 2004: 525f.; Neri 2003: 242ff.; Kr/M III 191f.; 238ff.; 243ff; E germ2

DWb,

EWD schaben; Kr/M III 141ff.; Holth AEW 273; EWD Haft; Kr/M I 109; Seebold StV

401f.; Eidg1(a)

Neri 2003: 242ff. 321ff.; Schaffner VG 501ff.; Neri 2006: Anm.117; Neri

2006: Anm. 60; LIV² 405; EWAia II 474f.; Oettinger Stb 363f.; W/H I 815f.; Eidg1(b)

EWD

Glied; IEW 307f.; Kr/M III 107; Casaretto NW 321, 327; EWA II 1044ff.; Schaffner VG

502; Frisk GEW II 1146f.; Eidg2

LIV² 549; Frisk GEW II 718ff.; LitEW.

Page 126: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Liehe 1

Liehe Sb f. ? „kleine Schale oder Pfanne mit brennenden Kienholzspänen (als Lampe) zur

Beleuchtung der Zimmer“

Z: Das thür. Wort Liehe hat drei morphologische Deutungen: a. Es ist durch Genuswechsel aus älterem

mask. *lieh(e) entstanden (:�0�:%��XQG�VHW]W eine german. Form *léuh-an- m. fort, die 1. aus den

starken Kasus eines ablautenden mobilen vorurgerm. n-St. *léuk-on-, *luk-én-, *luk-n-´ entstanden ist

(die schwachen schwundstufigen Kasus haben zur Herausbildung eines neuen Wortes german. *luh-

an-, *luÀÀ

-an- mit grammatischem Wechsel (ôô

Egerm2) geführt, das in mehreren german.

Einzelsprachen belegt ist) oder 2. eine Ableitung mit individualisierendem n-Suffix von einem o-

stämmigen idg. Adj. *leuk-ó/áh2 „hell, leuchtend, weiß“. b. 3. Eine dritte Möglichkeit ist die Herleitung

aus einer german. fem. Form *léuh-À- mit Substantivierungsakzent vom uridg. Adj. *leuk-ó/áh2- „hell,

leuchtend, weiß“, falls Liehe f. tatsächlich das ursprüngliche Genus aufweist.

Die german. Wörter gehören zu der uridg. Wurzel *leuk- „leuchten, hell sein“ (ôô

Eidg). Nominale

Ableitungen dieser Wurzel sowohl in german. als auch anderen idg. Sprachen haben teilweise eine

Bedeutungsverschiebung von abstraktem „Licht, Helligkeit“ zu konkretem „Gerät zum Leuchten,

Leuchte(r), Lampe“ erfahren, die auch bei anderen gleichbedeutenden Wurzeln anzutreffen ist (ôô

Eidg

). Die von ThWb s.v. Liehe zweifelnd angeführte Gleichsetzung mit (nicht bezeugtem) ahd. *hleo,

Gen. *hliwi (= mhd. lie, liewe „(Garten-) Laube“) ist aus semantischen Gründen aufzugeben.

B: In Thüringer Mdaa. ist ein seltenes, altertümliches Subst. Liehe f. „Schale oder Pfanne (als

/DPSH��� LQ� GHU�.LHQKRO]VSlQH� EUHQQHQ�� XP� GLH� 6WXEH� ]X� EHOHXFKWHQ³� DOV� >O¯Q] oder mit

Auslautkürzung (:�L��>O¯@�EHOHJW��7K:E�V�Y��Liehe). Über dieser Schale befindet sich der

Liehhut als Bedeckung gegen das Rauchen bzw. Rußen der Späne (ThWb s.v. Liehhut).

Aus anderen dt. Dialekten ist nur tirol. Liehe f. [l��] „Kamin, Feuerstelle“ bezeugt

(Kranzmayer 1960: 185).

M/WB: Liehe ist ein fem. *À- oder *ÀQ-Stamm. Die Flexion der starken fem. À-Stämme hat

sich schon im Ahd. mit der Flexion der schwachen n-Stämme vermischt (Mhd Gr 198).

Aus dem Kompositum Liehhut ist ebenfalls keine eindeutige Bestimmung der

Flexionsklasse möglich, da die Form mit n-Abfall auch in Komposita vorkommt (:�L).

Liehhut könnte jedoch auch ein altes mask. Vorderglied *lieh oder *liehe (< *leuh-an-)

neben Liehe f. aufweisen und die Annahme eines auch sonst häufigen Genuswechsels

wahrscheinlich machen. So wäre mask. *lieh(e) erst sekundär zur fem. Form Liehe

übergegangen wie viele andere alte mask. Subst. auch, z.B. ahd. binuz, mhd. bin(e)z m. :

nhd. Binse f. oder mhd. loh, lohe m. „Flamme, Lohe“ : mhd. lohe f., nhd. Lohe f. (Frnhd Gr

175f., EWD s.v. Binse, Lohe). Liehhut ist jedenfalls ein Determinativkompositum mit

ähnlicher Bedeutung wie z.B. Lampenschirm oder Lichthut.

L: Die thür. LauWIRUP� >O¯@� QHEHQ� >O¯�] zeigt den auch in anderen dt. Dialekten häufigen n-

Schwund im Auslaut (Sp ThGr 222ff.). Diese Form könnte im Determinativkompositum

Page 127: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Liehe 2

Liehhut (vielleicht < *Liehenhut) vorkommen wie in Leuchsholz neben Leuchsenholz (:�Leuchse), falls nicht ein altes Mask. *lieh(e) bewahrt ist.

Egerm1: Das Subst. Liehe „Schale mit brennenden Kienspänen zur Beleuchtung von Zimmern“

ist von den Bearbeitern des ThWb zweifelnd mit – nicht bezeugtem – ahd. *hleo, Gen.

*hliwi „witterungsgeschützter Raum“ verbunden worden. Diese Etymologie muss aus

semantischen Gründen aufgegeben werden, denn das erschlossene ahd. *hleo und sein

belegter Fortsetzer mhd. lie, liewe f. „(Garten-) Laube“ gehören zu aisl. hlõ, hl« n. „Schutz;

Leeseite“, aengl. hlõo(w) n., afries. hl „Schutz“, as. (Akk.) hleo, hlea „Schirm, Obdach,

Decke“. Alle diese Wörter stammen aus german. *hlewa- „windgeschützter Raum,

windgeschützte Seite“ (Harðarson Prät 61), das auch ins Finnische als levo „Dachboden,

Außendach“ entlehnt worden ist (LÄGLOS II 196f.). Zugrunde liegt „[...] eine uridg.

Bildung *�ól-u / Gen. *�l-é -s „Umhüllung, Schutz, Schirm“ (von der Wurzel *�el-

„umhüllen, schirmen“), die in gleicher Weise zu urgerm. *hlewa- umgebildet worden ist

wie uridg. *dór-u / G. *dr-é -s […] und *�ón-u / G. *�n-é -s […] zu urgerm. *trewa-

„Holz, Baum“ bzw. *knewa- „Knie“.“ (Harðarson Prät 62).

Egerm2: Liehe schließt sich dagegen lautlich und semantisch gut an die german. Wurzel *leuh-

„leuchten, hell sein“ an, die in got. liuhaþ n. „Licht“ < german. *leuh-Dÿ-, as., ahd. lioht

„licht, hell“, mhd. lieht < german. *leuh-t-a- (Heidermanns PA 70) und Ableitungen dieser

Wörter wie z.B. *leuht-jan-, ahd. liuhten „leuchten“ bezeugt ist.

Ein anderes Suffix zeigen aisl. ljómi, aengl. O�RPD, as. liomo m. „Licht, Glanz“ < aus

german. *leuh-man- m. < vorurgerm. *leuk-mon- (de Vries s.v. ljóma).

1. Mhd. loh m., mhd. lohe m. und f., nhd. Lohe f., „Flamme, Licht“ (mit Genuswechsel),

lichterloh „mit leuchtender Flamme“ sowie – mit grammatischem Wechsel – aisl. logi m.

„Lohe, Flamme, Licht“ (de Vries s.v.) und afries. loga m. „Flamme, Lohe, Feuer“ <

schwundstufigem german. *luh/À-an- werden von Schaffner (VG 555-557) als Erweiterung

eines uridg. Wurzelnomens *léuk-, *luk-´ f. mit dem Suffix *-on- erklärt (auch Lühr 1988:

318 erwägt solchen Ursprung) und als vorurgerm. *léuk-on- : *luk-n-´ m. angesetzt.

Verallgemeinerung der Schwundstufe und Beibehaltung des mobilen Akzents (Lühr 1988:

318) führten dann über vorurgerm. *lúk-on- bzw. *luk-én-/*luk-n-´ zu den german.

Varianten *lúh-an- bzw. *luÀ-án- „Lohe, Flamme, Licht“ (Schaffner VG 556). Zum

Unterbleiben der n-Gemination vgl. Lühr 1988: 327-328 mit weiteren Beispielen.

2. Eine andere Basis für die n-Ableitung sieht Lühr (1988: 319) in einem o-stämmigen

Adjektiv: „Schließlich besteht die Möglichkeit, daß das Nebeneinander von

wurzelbetonten und suffix-/endungsbetonten Wortformen innerhalb eines Paradigmas von

Page 128: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Liehe 3

HLQHP�1HEHQHLQDQGHU�ZLH� JULHFK�� �0*��� ÄGHU�ZHLße Ausschlag“ und �0#�)"� ÄKHOO�� NODU��weiß“, ai. k�&$á- „schwarz“ und k ��&$� „die Schwarze“ zur Bezeichnung der Nacht

herrührt. Im Germanischen müßte dann in diesem Fall an entsprechende Bildungen das

individualisierende n-Suffix angetreten sein.“

Egerm3: Für Liehe, Lieh- sind drei morphologische Deutungen möglich:

a. Liehe steht aufgrund sekundären Genuswechsels neben älterem mask. *lieh(e) < german.

*léuh-an- m. „Licht, Flamme“, das evtl. in Liehhut erhalten ist (:� M/WB). Das

Nebeneinander von vollstufigem, wurzelakzentuiertem *léuh-an- und schwundstufigem,

suffix- oder endungsbetontem *luh/À-an- „Licht, Flamme, Lohe“ (ô Egerm2) beruht auf

1. Paradigmenspaltung eines ursprünglich ablautenden mobilen Paradigmas vorurgerm.

*léuk-on-, *luk-én-, *luk-n-´ (ô Egerm2

1.). Vergleichbar sind german. *a^-unái- : *a^-

unói : *a^-anói- m.f. „Neid, Missgunst“, die nach Schaffner (VG 447f) „zur

Rekonstruktion zweier Paradigmen mit bis in urgermanische Zeit lebendigem

Wurzelablaut [...] urgerm. *anáiz, Sg. Gen. unó z mit dem grammatischen Wechsel der

Verner-Varianten *-ái/ói- als Reflex der Mobilität des proterokinetischen Paradigmas

vorurgerm. *h3ónh2-ti- : h3Eh2-téi- [führen]. In der Entwicklung zu den altgermanischen

Einzelsprachen hin wurde die paradigmatische Allomorphie des Wurzelablauts [...] und

des grammatischen Wechsels [...] verschieden ausgeglichen.“ In Liehe läge so der letzte

Rest der von Schaffner postulierten vorurgerm. starken Kasusform *léuk-on- neben den

schwachen Formen *luk-én-/*luk-n-´ vor, die in den german. Einzelsprachen

verallgemeinert worden sind.

2. Auch ein o-stämmiges Adjektiv ist als Ableitungsbasis möglich (:�Egerm2 2.). Durch die

n-Erweiterung kann eine Bedeutungsveränderung eintreten, da das n-Suffix im

Germanischen oft eine individualisierende Funktion hat, die mit einer Substantivierung

einhergeht, z.B. german. *^lakka- „Schwärze“ (später auch in konkreter Bedeutung

„Tinte“) mit verbautem n-Stamm, das von einem Adj. *^laka- „schwarz“ abgeleitet ist

(Lühr 1988: 229, 317). Vorurgerm. *léuk-on-, *luk-én- bedeutete dann zuerst „Helligkeit,

Licht“ wie in Lohe und den anderen german. Belegen (:�Egerm2), später hat dann *lieh(e),

Liehe die konkrete Bedeutung „Licht-Gerät, Lampe“ angenommen (:�Egerm4).

Es gibt aber auch Fälle ohne wesentliche Bedeutungsdifferenz, z.B. aisl. holmr m. neben

holmi m. „Insel“ (Lühr 1988: 318), so dass auch eine Ableitung von einem

gleichbedeutenden Wurzelnomen *léuk-, *luk-´ „Licht, Helligkeit“ denkbar ist.

b. 3. Liehe f. ist alt und setzt german. *léuh-.(n)- f. „das Lichte, die Helligkeit“ als

Substantivierung (mit Akzentrückziehung auf die erste Silbe) eines uridg. Adj. *leuk-

Page 129: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Liehe 4

ó/áh2- „hell, klar, weiß“ fort. Das gleiche Nebeneinander von Adj. und fem. Abstraktum

findet man auch z.B. in ahd. faro „farbig“ und farawa „Farbe“ oder ahd. liub „lieb“ und

liuba „Liebe“ (Kr/M III 62ff. mit weiteren Beispielen). Das primäre Adjektiv als

Ableitungsbasis von Liehe ist in den german. Sprachen jedoch nicht erhalten.

Egerm4: Wörter für abstraktes „Licht, Leuchten, Hellsein“ nehmen häufig die konkrete

Bedeutung „Gerät, Mittel zum Leuchten, Hellsein“ an. Dies ist z.B. in mhd. lieht „Licht“

und „Kerze“ geschehen. Auch Komposita zeigen die konkrete Bedeutung „Kerze“, z.B.

mhd. lieht-stoc wie kerzen-stoc „Halter der Kerze“; und mhd. liuhte f. „Licht, Helligkeit“

und „Apparat zum Leuchten, Lampe“ (Lexer s.v. liuhte) entspricht nhd. Leuchte, das nur

noch das „Gerät zum Leuchten“ bezeichnet; z.B. ist im Bair. die Leuchte, Kienleuchte eine

Art kleiner Wandherd oder Kamin in Bauernstuben, auf welchem von Scheiten aus Kien-

oder Ahornholz ein Feuer mehr zum Erleuchten als Erwärmen unterhalten wird (Schm

BairWb 1, 1430). Dieselbe Art Wandherd oder kleiner Kamin wird im tirol. Dialekt durch

Liehe [l��] bezeichnet (ô B).

Wann sich in Liehe die Bedeutungsverschiebung von „Licht“ zu „Lichtgerät“ ereignet hat,

ist nicht mehr festzustellen, da auch in anderen idg. Einzelsprachen entsprechende

semantische Veränderungen zu beobachten sind (:�Eidg). Diese Bedeutungsverschiebung

konnte in verschiedenen Zeiten und Sprachen unabhängig voneinander eintreten.

Eidg: Die german. Form *léuh-an- / *luh-án- „Licht“ ist 1. eine n-Erweiterung entweder des

uridg. Wurzelnomens *léuk-, *luk-´ f. „Licht“, das in lat. lJx f. „Licht“, aind. rúc- bezeugt

ist (zu diesem Typus ablautender Wurzelnomina vgl. Schindler 1972: 31-38, zu rúc-

Schindler Wn 41) oder 2. eines o-stämmigen Adjektivs *leuk-ó-/áh2-. Das Wurzelnomen

und das Adj. gehören zu der uridg. Wurzel *leuk- „leuchten, hell sein“, die in zahlreichen

idg. Einzelsprachen fortlebt (LIV² 418f., EWAia s.v. ROC).

3. Die german. Form *léuh-.- führt auf ein uridg. Abstraktum *leuk-ah2- „das Lichte, die

Helligkeit“ neben einem primären Adjektiv *leukó-/áh2- „hell, licht, weiß“, die auch in

anderen idg. Sprachen bezeugt sind: griech. NHWM^T „hell, weiß“ : NH_MJ „weißer

Hautausschlag; weiße Pappel“; aind. rocá- „leuchtend“ : róca-, roká- m. „Licht,

Helligkeit“ (EWAia s.v. ROC; Frisk s.v. NHWM^T). Die semantische Veränderung von „Licht“ zu „Licht spendendes Gerät, Lampe“ kommt

bei dieser Wurzel auch in anderen idg. Sprachen vor, z.B. in griech. N_YPRT „Leuchte(r)“ <

*luk-s-no- und lat. lucerna „Lampe“ < *luk-es-nah2-, von dem air. lúacharn, lócharn f.

„Lampe“ < *leuk-es-nah2- nur in der Ablautstufe der Wurzel verschieden ist (IEW 687ff.).

Page 130: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Liehe 5

$QGHUH�JOHLFKEHGHXWHQGH�9HUEHQ�ZLH�]�%��JULHFK������0���ÄOHXFKWHQ��VFKHLQHQ³��/,9�����s.v. leh2p-) zeigen bei den nominalen Ableitungen ebenfalls den Übergang vom

DEVWUDNWHUHQ�Ä/LFKW³�]XP�.RQNUHWXP�Ä/DPSH³��]�%��LQ�JULHFK��������XQG��.���"��-?GRT f. „Fackel; Signalfeuer“, von dem über romanische Vermittlung das dt. Wort Lampe entlehnt

worden ist.

Lit: B ThWb s.v. Liehe, Liehhut; Kranzmayer 1960; WB MhdGr 198; Frnhd Gr 175f.; EWD

s.v. Binse, Lohe; L Sp ThGr 222f; EWDD s.v. Leuchse; Egerm ThWb s.v. Liehe; HarÞarson

Prät 61f.; LÄGLOS II 196f.; Heidermanns PA 70; de Vries s.v. ljóma, logi; Schaffner VG

447f., 555-557; Lühr 1988: 229, 317ff., 327f.; Kr/M III 62ff; Lexer s.v. lieht, liuhte; Schm

BairWb 1, 1430; Eidg Schindler 1972: 31-38; Schindler Wn 41; LIV² 402, 418f.; EWAia

s.v. ROC; Frisk s.v. �0#�)"���,(:����II��

Page 131: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Liene 1

Liene Sb f. „Sau, Mutterschwein“, nur historisch belegt:

Z: Das zweimal nur in einer Urkunde aus dem Jahre 1596 in Burgk (Nähe Schleiz) belegte f. Subst. leyne

„Mutterschwein“ findet sich auch in obdt. und mdt. Dialekten als Lehne oder Liene. Der früheste

Beleg für alemann. liene stammt aus dem 15. Jhd. Ein in der einschlägigen Literatur immer wieder

zitiertes mfrk. leha „Mutterschwein“ existiert nicht (:�%���'DV�:RUW�liehe ist auch ins Frz. (und nur

dorthin) als (älter) lée, (jünger) laie „Mutterschwein“ entlehnt worden (:� :*���Liene ist eine n-

Erweiterung von liehe wie auch Biene neben mhd. bie, dial. nhd. Beie, Bie „Biene“ (:�:%��(germ).

Liehe und Liene gehören zu einer uridg. Wurzel *leu- „beschmutzen“ und bedeuten „die Dreckige,

Suhlerin“. Die Bedeutungsentwicklung zu „Sau, Mutterschwein“ lässt sich durch Parallelen stützen

(:�(idg).

B: Das Subst. Liene f. ist im Thür. nur zweimal in einer Urkunde belegt: … 36 schefl 1 viertl

32 mahs habern von nachfolgenden vhie als: 30 pferden, 79 khuen, 12 jehrigen, 8 heurigen

kalben, 8 leynen, 2 jehrigen schweynen, … (1596; Urk.-Best. Burgk S. 15) und … 1 leyne

… (ebd. S. 12) (ThWb s.v. Liene). Möglicherweise gehört das Kompositum Lienebuttchen

„kleine Bonbons, die Kaufleute den Kindern als Zugabe schenken“ hierher; die

kindersprachlichen Bezeichnungen für Bonbons sind vielfältig und bedienen sich auch

mancher Wörter für Tiere, z.B. Rattenknochen oder Zuckerfisch (ThWb s.v. Bonbon) nach

der länglichen oder rundlichen Form. Lienebuttchen sind dann etwa „Schweinekuhlen“

(Buttchen „Vertiefung, Kuhle, kleines Loch“; ThWb s.v.).

Das Wort gehört zu spätmhd. liehe, liene f. „wilde Sau, Bache“, in neuerer Zeit auch Lehne

(Lexer, BMZ s.v. liene; DWb s.v. Lehne; Campe III 69; Adelung 2, 1980): waß sie allso

von schwinen und beeren fähent, da sollent sie von eim beren das höpt und von eim

hawenden schwin und einer lienen öch das höpt geben, und von eim frischling nuntz (15.

Jhd. Schwarzwald; Weisthümer 1, 386); da kam ein grosze lien har gsprungen vor den

hunden mit jren jungen (16. Jhd.; bei der Sauhatz; Wickram bilger 18b); alte sau heiszt ein

hauend schwein, zwei järig schwein ein backer, schweinmutter ein leen oder bach (16.

Jhd.; Sebiz Feldbau 569); wer einen wilden eber fahet, der ist einen zaumen schuldig und

sechtzig schilling. wer eine liehe fahet, der ist schuldig ein zaume saw und sechtzig

schilling (Weisthümer 2, 153).

Die Zusammenstellung mit dem folgenden Beleg, der bei Lexer, BMZ, Adelung 2, 1980

und Meyer-Lübke REW 4973 angeführt ist, muss abgelehnt werden: Ut unusquisque iudex

per villas nostras singulares etlehas, pavones, fasianos, enecas, columbas, perdices,

turtures pro dignitatis [recte statt dignitahs] causa omnimodis semper habeant. (Capitulare

de villis Karls des Großen, Satz 40). Zwar wird üblicherweise etlehas als et lehas aufgelöst

und lehas als „Schwein“ interpretiert. Dagegen spricht aber, dass alle Tiernamen in dieser

Page 132: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Liene 2

Aufzählung nur Namen für Vögel sind; die Schweinehaltung kommt in einem anderen

Absatz des Textes vor (zu einer anderen Interpretation vgl. Ziegler in Vorber.).

M: Der Plural von liene, thür. leyne lautet leynen, auch ein G. und D.Sg. lienen, die auf einen

schwachen Stamm deuten, sind in anderen Dial. bezeugt (:�B). Schon im Ahd. sind die st.

f. À-Stämme und die schwachen f. n-Stämme teilweise zusammengefallen (Braune/Eggers

AhdGr 194; MhdGr 198; FrnhdGr III138ff.) wie z.B. in mhd. zunge, Gen. Sg. zungen oder

bîne, Gen. sg. bînen „Biene“ (MhdGr 204).

WB: Die mhd. Belege des ohnehin nicht häufig bezeugten Wortes zeigen zwei Varianten:

liene und liehe ohne -n-. Vgl. dazu das Verhältnis von dial. Beie, Bie, mhd. bîe und Biene,

mhd. bine (:�Egerm). liehe kann ein [lÍ(j)e] mit unorganischem, graphischem -h- wie in

niehe „nie“, nuhen „nun“, gehen usw. wiedergeben (Frnhd Gr 126). Ebenso wie bei B(e)ie

und Biene kommen beide Formen liehe und liene nebeneinander vor.

L: Ausgehend von den oben (:� B) angeführten spätmhd. und frnhd. Belegen ist die

zugrundeliegende mhd. Form als liehe und erweitertes liene mit Diphthong -ie- zu

bestimmen. Dieses mhd. -ie- wurde im Zuge der Monophthongierung zu nhd. -¯-. Die thür. Belege leyne Sg. und leynen Pl. lassen zwei Interpretationsmöglichkeiten zu:

1. Sie zeigen entweder die lautgesetzliche Entwicklung des mhd. Diphthongs <ie> zu der

am Rande des zentralthür. Gebietes und in der Gegend um Schleiz vorkommenden

'LDOHNWYDULDQWH� >OLQ�], geschrieben <leyne> (Sp ThGr 122ff.); häufiger ist im Thür. als

)RUWVHW]HU�GHV�PKG��'LSKWKRQJV��LH!�GHU�/DXW�>�>�RGHU�>¯@�� 2. Oder es handelt sich um Belege einer Schreibung für dialektales [�] mit

Dehnungszeichen <i, y> wie z.B. in preister� >SU��@� Ä3ULHVWHU³�� leyf� � >O�Y@� ÄOLHE³��GLH� LP�Mfrk., Ost-, Niederhess. und Wthür. bis ins 17. Jhd. vorkommt (FrnhdGr 69); zur Senkung

(bzw. Schreibung) von mhd. ie zu � im Rip., Niederhess. und Wthür. vgl. FrnhdGr 62.

Da die Belege aber in einer Urkunde aus Burgk (Nähe Schleiz, nicht Wthür.) vorkommen,

ist der erste Lösungsvorschlag vorzuziehen.

Die Formen lien und leen anderer Dialekte zeigen die häufig auftretende Apokope von

unbetontem -e im Auslaut, vgl. auch bach statt Bache (:�B; FrnhdGr 80f.).

WG: Die spärlichen Belege für afrz. lée, frz. laie „Sau, Mutterschwein“ (Adelung 2, 1980;

Meyer-Lübke REW 4973) werden von manchen Forschern als Entlehnungsgrundlage des

mhd. liehe und liene angesehen (Lexer, BMZ s.v. liene). Dagegen nehmen Diez (Wb

romSpr 2,355) und Meyer-Lübke (REW 4973) umgekehrt für frz. laie ein Lehnwort aus

dem Dt. an. Für diese Sichtweise spricht, dass keine weitere romanische Sprache Fortsetzer

dieses Wortes zeigt. Das Frz. stützt aber die Vermutung, dass liehe die ältere Form des

Page 133: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Liene 3

Wortes darstellt (:�WB, Egerm). Die Bedeutung ist ursprünglich „wilde Sau, Bache“ im

Gegensatz zur „zahmen Sau“, das Wort wurde dann aber teilweise auch als Bezeichnung

für die zahme Sau, die Junge hat, verwendet (:�B).

Egerm: Neben liehe steht die Form liene wie neben nhd. dial. Beie, Bie, ahd. as. E¯D n., mhd.

bîe die Form Biene, mhd. bine, ahd. bina f., bini n., as. bina n. < german. *ELQÀ-, -ni-, -na-.

Die anderen german. Sprachen zeigen hier ausschließlich n-lose Formen, z.B. aengl. E�R f.,

anord. bý n. „Biene“ < german. *bi(j)a(n)- n., *EL�M�À�Q�- f. Vom obliquen Stamm *bin-

sind dann durch Anfügung weiterer Ableitungssuffixe *bin-a- n., -i- n. , -À- f. entstanden

(EWD s.v. Biene). Ähnliches ist auch in liene aus liehe eingetreten: Vom obliquen Stamm

lie(h)en- < ahd. *lion- < frühahd. *OLR�M�À�Q�- < german. *leu-MÀ�Q�- f. ist eine

innerdeutsche Erweiterung frühahd. *lion-À�Q�- f. > mhd. liene gebildet worden. liehe und

liene f. „(wilde) Sau“ haben in anderen german. Sprachen keine direkte Entsprechung, die

zugrundeliegende Wurzel uridg. *le - „beschmutzen, besudeln“ ist jedoch mit anderen

Ableitungen in allen german. Sprachen bezeugt (ú EWDD s.v. Laum). Ähnliche

Bildungen mit fem. *-MÀ�Q�- sind z.B. dt. Mähre, mhd. wülpe „Wölfin“, ahd. reia

„Rehgeiß“, aengl. bicce „Hündin“, die teilweise n-Erweiterungen alter *¯-�MÀ- Stämme

(uridg. *-ih2/�ah2-) sind (Kr/M III 98ff.) und meist neben Mask. stehen. Ob es neben dem

fem. liehe ursprünglich ein Mask. gegeben hat, ist jedoch nicht nachzuweisen.

Eidg: Das german. Transponat *leu-MÀ�Q�- aus uridg. *le -�ah2- gehört zu der Wurzel *le -

„beschmutzen“ (LIV² 414). Die Suffixe *-�o- m. und *-�ah2- f. haben auch im German.

mehrere Funktionen (Kr/M III 70ff.), unter anderem die Bildung von Nomina agentis, vgl.

z.B. anord. seggr, aengl. secg „Mann, Gefährte, Gefolgsmann“ (< *„Folger“; lat. socius

„Freund, Gefährte“ < *sok h2(i)-�o- ist Umbildung eines uridg. *sok h2��-, sok h2i- in aind.

sákh�y-, sakhi- m.f. „Freund, Genosse, Gefährte“; EWAia II 684f.; Lühr HS 104: 17317;

Schrijver LatLar 249) oder von Adjektiven, z.B. ahd. luggi „lügnerisch“, und von fem.

Zugehörigkeitsbildungen, vor allem als n-Erweiterung (:� Egerm). liehe aus *le -�ah2-

bedeutet also ursprünglich etwa „die (sich im Dreck) Beschmutzende, die Dreckige,

Suhlerin“. Die Affinität von Schweinen zu Dreck oder Matsch ist hinlänglich bekannt, vgl.

z.B. lat. troia „Mutterschwein“ (davon das it. Verb intrugliare „pantschen, im Matsch

herumwühlen, sich beschmutzen“ und das campid. Adj. troyu „schmutzig“), das aus urital.

*trog-L�- „die Dreckige, Dreckwühlerin“ hergeleitet wird (Walde/Hofmann LEW II 708;

Meyer-Lübke REW 8933) und zu einer uridg. Wurzel *(s)ter�-/(s)tre�- „beschmutzen“ (dt.

Dreck; EWA II 764f.) mit Auslautsvariante *(s)ter�- (LIV² 600) gehört. Auch

Page 134: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Liene 4

volksetymologische Umbildungen wie bair. Sau-lache (Schm BairWb 2,199) aus Suhl-

lache (DWb s.v. Suhllache) eigtl. „Lache zum Suhlen“ zeigen diese semantische Nähe.

Vgl. z.B. auch (eine best. Person, die) gleich wie ein wildes schwein durch schilff und

dickes rohr kömpt aus der tiefsten suul und mit gewalt hervor (1636; Werder Ariost 14, 96)

oder den lat. Ausdruck sus lutulentus „sich im Matsch suhlendes Schwein“ (lutulentus ist

eine Ableitung von lat. lutum, s.u.). Eine ähnliche Vorstellung liegt auch McCone“s

etymologischer Deutung von air. torc, ky. twrch „Eber, Keiler“ als *t or�o- „Wühler“

samt jav. �ïarãsa- zur uridg. Wurzel *t er�- „aufwühlen, graben“ (LIV² 656) zugrunde

(McCone MSS 1994: 99f.).

Die uridg. Wurzel *le - ist in mehreren idg. Sprachen bezeugt, als Verb aber nur in lat. pol-

luere� ÄEHVFKPXW]HQ�� EHVXGHOQ³� �%RFN� /DW9E��� 1RPLQDOH� $EOHLWXQJHQ� VLQG� JU�� �#��.� Q��„Waschwasser, abgewaschener Schmutz“ < uridg. *lu-sm�- (LIV² 414 Anm.1), lat. lutum n.

„Matsch, Dreck, Pfütze“ < *lu-to-, air. loth� ��� I�� Ä6FKPXW]³� �� lu-tah2; gr. N�bSRP „geronnenes Blut“; air. con-lúan „Hundekot“ < *�uno-le -no-; lit. lutýnas „Pfuhl,

Lehmpfütze“ (IEW 681).

Lit: B ThWb s.v. Liene, Bonbon, Buttchen; Lexer s.v. liene; BMZ s.v. liene; DWb s.v. Lehne;

Campe III 69; Adelung 2, 1980; Weisthümer 1,386; 2,153; Wickram Bilger 18b; Sebiz

Feldbau 569; Meyer-Lübke REW 4973; Capitulare de villis 40; Ziegler in Vorber.; M

Braune/Eggers AhdGr 194; MhdGr 198, 204; FrnhdGr III 138ff.; WB FrnhdGr 126; L Sp

ThGr 122ff.; FrnhdGr 62, 69, 80f.; WG Adelung 2, 1980; Meyer-Lübke REW 4973;

Lexer, BMZ s.v. liene; Diez Wb romSpr 2,355; Egerm EWD s.v. Biene; EWDD s.v. Lum;

Kr/M III 98ff.; Eidg LIV² 414; Kr/M 70ff.; EWAia II 684f.; Lühr HS 104: 17317; Schrijver

LatLar 249; Walde/Hofmann LEW II 708; Meyer-Lübke REW 8933; EWA II 764f., LIV²

600; Schm BairWhb 2,199; Werder Ariost 14, 96; LIV² 656; McCone MSS 53: 99f.; Bock

LatVb s.v. polluere; LIV² 414 Anm.1; IEW 681.

Page 135: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Liere, Liese 1

Liere Sb f. „Furche, Graben, (Wasser)rinne“

Liese Sb f. „Spalt, Ritze, Furche“

Z: Thür. Liere f. „Furche, Graben, (Wasser)rinne“ geht zusammen mit Liese f. „enger, wasserführender

Graben“ und sächs. Liese f. „Spalt, Ritze im Fels“ auf einen uridg. proterokinetischen fem. i-Stamm

*h2léis-i-s, Gen. *h2lis-éi-s oder eher *h2lóis-i-s, Gen. *h2lis-éi-s zurück. Der Akzentwechsel zeigt sich –

wie bei vielen anderen german. Wörtern auch – im grammatischen Wechsel von Liere und Liese.

Weiteren Anschluss bieten lat. l

ra f. „(Acker-) Furche“, aksl. lýý

cha f. „Furche, Beet“ und das griech.

(kypr.) Part. Perf. Med.-P. ÑÑPP

-DNDNLUO@PDDNDNLUO@PD

„eingeritzt, eingraviert“ < urgriech. *(en-)al-�lis-meno- <

uridg. *h2le-h2lis- mit Perfektreduplikation und regelrechter Schwundstufe im Part. (ôô

Eidg

). Diese

Wörter weisen auf eine Wurzel *h2leis- mit der Grundbedeutung „einfurchen, einritzen“ bzw.

„Furche, Ritze, Rinne“ und werden von der uridg. Wurzel *leis- „lernen“ in got. lais „ich weiß“ usw.

getrennt.

B: In den thür. Mdaa. ist ein f. Substantiv Liere „Furche, (Wasser)rinne“ belegt: hack ma ne

Leern „hacken wir eine Wasserrinne“, mach emol mätn Beene änne Leere „mach einmal

mit dem Fuß eine Furche“. Das Wort bedeutet auch „schmaler Gang zwischen zwei

Häusern“ und „Fußspur“; „Vertiefung, in die beim Murmelspielen die Murmeln

geschossen werden“, selten „lange Heureihe“ und „Scheitel im Haar“. Ein Kompositum

Sottenliere „Jauchegrube, -rinne“ ist ebenfalls bezeugt. Ohne grammatischen Wechsel (ô

L²) gehört hierher Liese f. „Wasserrinne, enger wasserführender Graben“: Im Jahre 1633

wurde ein Kind in der Ließen getauft (ThWb s.v. Liese³), als sich einige Leute während

Plünderungen versteckt hielten.

In der sächs. Bergmannssprache ist Liese eine enge Kluft oder Spalte, in die sich kaum ein

Keil einsetzen lässt (Jacobsson techn. Wb. s.v. Liese).

M: Liere und Liese setzen fem. *i-Stämme fort (:�Egerm). Die Flexion der fem. i-Stämme ist

ab dem Mhd. in die Flexion der -À(n)-Stämme übergetreten (Gr des Frnhd III.1 75f): „Die

Gruppe der ehemaligen i-Stämme wird hinsichtlich der Pluralbildung aufgespalten. Alle

Lexeme, deren Stamm nicht umlautbar ist [...] wie Flut, -schaft, Furche, Stute [...] erhalten

-(e)n-Plural und fallen so mit den übrigen Feminina zusammen.“ Auch die i-Stämme

erhalten häufig ein sekundäres -e wie z.B. mhd. furch > nhd. Furche. Der n-Antritt bei den

schw. Fem., z.B. in w�s(�)n N.Sg.f. „Wiese“, ist im gesamten westthür. Gebiet anzutreffen

und scheint aus dem Würzburger Raum zu kommen (Sp ThGr 240).

WB: Sottenliere, Suttenliere „Jauchegrube, -rinne“ ist ein Determinativkompositum mit dem

Vorderglied Sotten-, Sutten- als Ableitungsbasis zu Sotte, Sutte „Jauche, Mist“, das nur in

Hessen, Thüringen und Teilen von Franken gebräuchlich ist (DWb s.v. Sotte, ThWb s.v.

Sutte, Suttenliere).

Page 136: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Liere, Liese 2

L1: Die lautlichen Vertretungen von Liere sind vielfältig: lyr# in Zentralthür., ly#n im

südwestl. Zentralthür., l�r# selten im Wthür., l�rn selten in W- und einmal belegt in Othür.,

l%r# Erfurt, im restlichen Zentral- und Sthür. le Ö�r#, le Ö�n. Diese Verteilung entspricht der

dialektalen Entwicklung von mhd. � mit sekundärer nhd. Vokaldehnung (Sp ThGr 79ff.). In

einigen thür. Mdaa. wird das r vokalisiert und ergibt mit dem vorhergehenden Vokal

„diphthongoide Gebilde“, unter anderem �Öa in l�Öan und �� in l��n (Sp ThGr 107). Liere

geht somit auf ein mhd. *l�r(e) zurück wie z.B. Spier(e) aus spmhd. spir (EWD s.v.

Spiere). Liese lässt sich aus mhd *l�s(e) erklären, vgl. z.B. ahd. wisa > mhd. wise > nhd.

Wiese f. (Braune/Eggers AhdGr 32) oder ahd. risi > mhd. rise > nhd. Riese m. (EWD s.v.

Wiese, Riese).

L²: Das Nebeneinander von Liere und Liese beruht auf grammatischem Wechsel, der durch

unterschiedliche Akzentuierung im Vorurgerm. bzw. im Uridg. hervorgerufen wurde

(Schaffner VG 370, 372; :�Egerm1 und Eidg). Ein ähnliches Nebeneinander findet man in

dt. Öhr und Öse oder ahd. elira- „Erle“ und spätahd. else- in elsenboum „Erle, Faulbaum“,

mndd. else „Erle“ (Schaffner VG 380ff.).

WG: Liese f. „enge Spalte oder Ritze, in die man den Keil nicht einsetzen kann“ ist ein Wort

aus der sächs. Bergmannsprache, die sehr altertümlich ist und selten Lehnwörter aufweist

(Schirmer Sonderspr 30). Die Bergmannsprache ist eine der ältesten bekannten

Fachsprachen in Deutschland; ihre Ursprünge liegen in den Bergbaugebieten des

Erzgebirges um Freiberg und Joachimsthal (s. dazu Kissenbeck, Fachsprache). Die meisten

dieser fachsprachlichen Wörter sind sächs., also md., Ursprungs, auch wenn einige nord-

und süddt. Wörter übernommen wurden (Mendel, Bergwerkspr 161-171).

Egerm1: In Liere f. „Furche, (Wasser)rinne“ und Liese f. „Ritze, Rinne“ aus mhd. *l�r(e) und

*l�s(e) muss ein i-Stamm german. *liz-i-, *lis-i- vorliegen, da ein german. f. -�(n)-Stamm

*lis-À�Q�- „Furche, Falte“ mit dem west- und nordgerman. a-Umlaut zu ahd. lesa, mnd.

lese sw. f. „Runzel, Falte“ geführt hat. Eine ablautende Form derselben Wurzel ist bezeugt

in nhd. Geleis(e) n., mhd. geleis f. „in den Boden eingedrückte (Wagen)spur“ als

Kollektivbildung zu mhd. leis(e) f., ahd. wagan-leisa f. „in den Boden eingedrückte

Wagenspur“ (EWD s.v. Geleise). Der grammatische Wechsel in Liere und Liese deutet auf

ein altes proterokinetisches Paradigma (:�Eidg) und ist bei i-St., vor allem aber bei alten

fem. ti-Abstrakta, häufig und hat zu zahlreichen Paradigmenspaltungen geführt (Schaffner

VG 446-487 m. weit. Lit.). Parallele Beispiele sind außerdem german. *asani- : *az(a)ni-

„Sommer, Erntezeit“ in got. asans f. i-St. „Sommer, Erntezeit“ : ahd. arn f. i-St. „Ernte“,

aran m. i-St. „Ernte“ u.a. (Schaffner VG 450ff.) und german. * r�$i- : * r�Ài- „Rüge,

Page 137: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Liere, Liese 3

Tadel, Anklage“ in got. wr.hs f. i-St. „Anklage” : mhd. rüege, mndd. wr.ge „Anklage,

Tadel, Rüge“ (Schaffner 485ff.).

Ferner gehören hierher got. laists, aisl. leistr, aengl. lãst, l¾st, ahd. leist m. „(Rad-, Fuß-)

Spur“ (< german. *lais-ta-/-ti-). Alle genannten german. Wörter führen zu einer

Grundbedeutung „Vertiefung, Furche, Ritze, Spur“ entweder im Boden, Fels oder Gesicht.

Egerm2: Weitere german. Wörter wie got. lists, aisl., aengl., as. ahd. list f. „List, Klugheit,

Scharfsinn“ (german. *lis-ti-), got. lais „ich weiß“, as. lõrian, ahd. lõren „lehren“ usw. (aus

einem Kaus. *lais-jan „jdn. etwas wissen lassen“) zeigen eine andere Bedeutung

„verstehen, wissen, klug sein“. Sie werden traditionell unter Einbeziehung der in Egerm1

genannten Wörter wie ahd. (wagan)-leisa „(Wagen-) Spur“ erklärt als „nachspüren“ >

„folgen“ > „verstehen“ > „wissen“. Neuerdings (z.B. LIV² 409 s.v. *le�s- „lernen“ m. weit.

Lit.) werden sie als Ableitungen einer eigenständigen Wurzel aufgefasst. Dies wird nun

gestützt durch griech. Belege, die für die in Liere usw. vorliegende Wurzel eine

Grundbedeutung „eingraben, furchen“ wahrscheinlich machen und auf eine andere uridg.

Lautform *h2le�s- mit anlautendem h2 deuten. Im German. sind durch den regelgerechten

Schwund des anlautenden Laryngals beide Wurzeln lautgleich geworden.

Eidg: Uridg. proterokinetische fem. i-Stämme zeichnen sich durch Akzentwechsel und Ablaut

aus. Die starken Kasus haben in der Wurzel eine akzentuierte e-Vollstufe, die schwachen

Kasus eine unakzentuierte Schwundstufe und betonen das Suffix, das in der e-Vollstufe

erscheint: Nom. *mén-ti-s, Gen. *mE-té�-s werden z.B. im German. zu *menái- : *menói- :

PXQÿL��(Schaffner VG 474ff.), wo auch der Ablaut noch in verschiedener Weise fortlebt.

Aber in den meisten Fällen haben die german. fem. i-Stämme nur den Akzentwechsel in

Form von grammatischem Wechsel bewahrt (Schaffner VG 446). Das Nebeneinander von

german. *liz-i- und *lis-i- weist so entweder auf einen uridg. proterokinetischen i-St.

*h2lé�s-i-s, *h2lis-é�-s „Bodenfurche, Graben, Rinne“mit e-Vollst. im Nom., vgl. *sléh1g/�-

i-s, Gen. *s�h1g/�-é�-s „Grenze“ in osk. slaagi- „Grenze“ (Joseph, Glotta 60: 112-115),

oder eher auf *h2ló�s-i-s, *h2lis-é�-s mit o-Vollstufe im Nom., vgl. *mór-i, Gen. mr-é�-s n.

„Meer“ (Klingenschmitt Toch 401; Widmer Korn d.w. Feldes 52). Ahd. lesa „Furche,

Runzel“ aus german. *lis-.(n)- setzt dagegen ein uridg. schwundstufiges Fem. *h2lís-ah2-

fort, das dem Typ gr. /��� „Weisung, Recht“ < uridg. *dí�-ah2- (zur Wurzel *de��-

„zeigen, weisen“, LIV² 108f., Risch, HomWb) genau entspricht, und ahd. -leisa f. „Spur,

Bodenfurche“ einen german. fem. --St. *lais-�(n)- aus uridg. *h2lóis-ah2-.

Page 138: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Liere, Liese 4

Aus anderen idg. Sprachen gehören hierzu: lat. l�ra „Ackerfurche, Furche“ (< *h2leis-ah2-),

aksl. O�FKD „Furche, Beet“ (< *h2lois-ah2-) = ahd. -leisa. Der anlautende Laryngal ergibt

sich aus dem kypr. Part. Perf. Med.-P. ÑP-DNDNLUO@PD „eingeritzt, eingraviert“ < vorgriech.

*(en-)al-�lis-meno- < uridg. *h2le-h2lis- mit Perfektreduplikation und regelmäßiger

Schwundstufe im Part. (wie ¾H�XWF�O@PRT von XH_F[). Die Wurzel muss daher als *h2leis-

„einfurchen, einritzen“ angesetzt werden. Ein Hesych-Beleg ¡NBPHLP � ¡NHBXHLP

„beschmieren“ (< *„mit Ritzungen verunstalten“) kann als /al�n-/ < *h2li-n-s- mit Schwund

des s nach n und Ersatzdehnung des vorhergehenden Vokals (außer im Äol.; Rix HistGr

78f.) und somit als n-infigierte Form gedeutet werden. LIV2 277 ordnet diesen Beleg mit

Herleitung aus *h2li-n-H- bei der Wurzel *h2leiH- „beschmieren“ ein und führt unter Anm.

3 das eben genannte kypr. Part. Perf. an. Doch ÑP-DNDNLUO@PD zeigt eindeutig das

wurzelschließende s, für das keine andere Erklärung möglich ist.

Die von LIV2 409 angeführte Wurzel *leis „lernen“ muss tatsächlich – wie dort vermutet –

von lat. l ra „Furche“, ahd. -leisa „Spur“ und aksl. lýcha „Furche, Beet“ getrennt werden.

Diese Wörter gehören zu der Wurzel *h2leis- „einfurchen, graben“ bzw. „Furche, Ritze,

Spur“, deren oben angeführte einzelsprachliche Fortsetzer die Bedeutung jeweils noch sehr

gut bewahrt haben.

Lit: B ThWb s.v. Liere und Liese; M Gr des Frnhd III.1 75f; WB DWb s.v. Sotte; ThWb s.v.

Sutte, Suttenliere; L1 Sp ThGr 79ff., 107; EWD s.vv. Riese, Spier(e), Wiese;

Braune/Eggers AhdGr 32; L² Schaffner VG 370, 372, 380ff.; WG Schirmer Sonderspr 30;

Kissenbeck Fachsprache; Mendel, Bergwerkspr 161-171; Egerm1 EWD s.v. Geleise;

Schaffner VG 446-487; Egerm2 LIV² 409; Eidg Schaffner VG 85, 446, 474ff.; Widmer Korn

d.w. Feldes 52; Joseph Glotta 60: 112-115; Klingenschmitt Toch 401; LIV² 108, 277, 409;

Risch HomWb; Rix HistGr 78f.

Page 139: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Lock 1

Lock Sb n. m. 1. „unbestimmte Menge“ (etwa ein Armvoll oder was man mit einer Heugabel

greifen kann); 2. (selten) „Haufen von zusammengerechtem Heu oder Gras“

Z: Das thür. Subst. Lock n. m. „unbestimmte Menge“, „Haufen von zusammengerechtem Heu oder Gras“

gehört samt rhein., schwäb., schweiz. Lock „Handvoll, Häufchen“, pfälz. Locken „Bündel, Last;

Heuhaufen; Armvoll Getreide“ und weiteren dialektalen Varianten zu einem mhd. st. Verb liuchen,

das in neuerer Zeit nur in obd. Dialekten als liechen erhalten ist und „abrupfen, ausreißen“ bedeutet.

Aufgrund semantischer Parallelen (:�:*��NDQQ�GLH�XUVSU�QJOLFKH�%HGHXWXQJ�YRQ�Lock als „Abrupf“

bestimmt werden. Diese und andere germanische und indogermanische Wörter weisen auf eine gut

bezeugte uridg. Wurzel *leug- „brechen, abreißen, lösen“.

B: In N-, W- und zentralthür. Mdaa. ist ein ntr. oder m. Subst. Lock als Bezeichnung für eine

unbestimmte Menge von Obst, Getreide oder auch von Menschen bezeugt, z.B. in gab „n

Kalbchen „n Leckchen Heu!; da wohnten immer ä Lock Studenten; ä ganz(es) Lock „nicht

eben geringe Menge“; mi haddn Uestern noch a Lock Äpfel „an Ostern hatten wir noch

einige Äpfel“. Üblicherweise wird eine Menge von etwa einem Armvoll gemähten

Getreides oder eine kleine Menge an Garn, Obst usw. mit Lock bezeichnet. Das

kurzhalmige Getreide (vor allem Hafer) wurde auf Schwad gemäht und dann auf Lock, also

etwa soviel, wie man mit einer Heugabel greifen und aufladen kann, zum Trocknen gelegt.

Zwei Lecke (Löcke) ergeben jeweils ein Bündel (ThWb s.v. Lock). Des weiteren ist ein

Deminutiv Löckchen n. „kleine Menge“ bezeugt und eine Kollektivbildung Gelöcke n.

„unbestimmte Menge“ in N- und Zentralthüringen, z.B. in der Redewendung en ganzes

Glick (ein ganzes Gelöcke) „ziemlich viel“ (ThWb s.v. Gelöcke).

Aus anderen deutschen Dialekten gehört hierher rhein. Lock m. „Handvoll, Häufchen

Hafer, Heu, Streu“ und „Stück Rasen“, das für den Dachfirst eines Strohdaches verwendet

wird, z.B. in ovven op de Fiürsch vam Strühdach wuürte Löck (odder Waseme) geleg, Lock

bezeichnet auch einen grasdurchwachsenen Erdklumpen (RheinWb s.v. Lock IV); pfälz.

Locken m. „Bündel, Traglast; Heuhaufen; Armvoll Getreide; unbestimmte größere

Menge“, z.B. in en Locken Gras oder Du hoscht im G’schäft e Locke Iwwerstunne gemacht

(PfälzWb s.v. Locken); schwäb. und schweiz. Lock m. „Büschel, etwa ein Handvoll oder

Armvoll“, z.B. in Mutter, gib em Kälble ’s Futter, gib ihm e Löckle, oder auch in dem

Ausdruck das Heu lockweise umwenden. Ein zerstückelter Eierkuchen wird im Schwäb.

Locken m. genannt (SchwäbWb IV 1270f.).

Das steir. Subst. Luch, Lucht m. „abgeriebene, abgezupfte Teilchen von Tuchstoffen“ und

„fein gezupfte Leinwand“ sowie das Adj. luchet, luchig „abgenützt, fadenscheinig“ können

ebenfalls hierher gestellt werden (:�Eidg; SteirWb s.v. Luch, luchet).

Page 140: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Lock 2

Das Mhd. bietet ein st. Verb liuchen, Part. II gelochen, das in neuerer Zeit nur in obd.

Dialekten als liechen „ausziehen, ab-, ausrupfen“ bezeugt ist (DWb s.v. liechen). Im

Schwäb., Bair. und Schweiz. sind davon zwei Nomina instrumenti Liechel m. „Hacke,

Heugabel“ und Liecher (meist Heulicher) „id.“ abgeleitet worden. Daneben steht lûchen,

Part. II gelochen, „pflücken, rupfen, herausziehen“ (BMZ s.v. liuchen (1023); Lexer s.v.

lûchen (1974f.)), das lautlich mit lûchen „schließen“ zusammengefallen ist (:�Egerm, Eidg)

und im Mndl. und Niedersächs. als l�ken „ausrupfen, herausziehen“ (z.B. Flachs ) belegt

ist (deVries NEW 415 s.v. luiken und 408 s.v. lok).

M: Da die anord. Entsprechung lok „(Un)kraut“ ein ntr. o-St. ist, dürfte das ntr. Genus des

thür. Wortes ursprünglich und der Pl. Löcker die ältere Form sein. Genuswechsel ist im

Thür. nicht selten (Sp ThGr. 238) und des öfteren durch Übernahme aus synonymen oder

reimenden Wörtern erklärbar, hier vielleicht durch das Synonym Armvoll m. oder das

Reimwort Bock. Dagegen hat die thür. Pl.-Form Löcke (vom Sg. Lock m.) nach zahlreichen

Vorbildern den Umlaut von den i-St. übernommen (MhdGr 190).

WB: Lock n. oder m. ist ein o-St. mit der ursprünglichen Bedeutung „Abrupf“ bzw. „das

Abgerupfte“ (vgl. Bruch „das Zerbrochene“, EWD s.v. Bruch) und gehört zu dem

niedersächs. Verb l�ken „rupfen, ausreißen“ sowie zu mhd. liuchen, lûchen „pflücken,

rupfen, herausziehen“, ahd. ar-liuhhan „abrupfen“, aengl. l�can „jäten“ (= „Pflanzen

herausziehen, ausreißen“, vgl. thür. ausrupfen „jäten“), mnd. l�ken „ziehen, zupfen“,

afries. l�ka „auszupfen, herausziehen“ und anord. lok n. „Unkraut“ (IEW 686; deVries

AEW 364). Diminutive auf -chen oder -lein sind Thür. Löckchen, Löckle und schweiz.

Löcklin. Im S-Thür. wird das Suffix -lein verwendet, das restliche thür. Sprachgebiet zeigt

-chen (Sp ThGr 242f.). und eine Kollektivbildung wie Gebirge ist präfigiertes Gelöcke

(Lühr Nhd 120). Mhd. liuhhen, lûhhen mit dem Part. II gelochen deuten auf ein st.V. der

II. Ablautreihe wie riechen, gerochen oder bieten, geboten (Kr/M I 74f., Seebold StV 337;

siehe auch Egerm).

Obd. Liechel m. „Hacke, Heugabel“ ist mit dem dt. Suffix -el zur Bildung von Nomina

instrumenti abgeleitet wie Hebel m. von heben (Fleischer/Barz 150f.) und Liecher samt

dem verdeutlichenden Determinativkompositum Heuliecher „id.“ mit dem teilweise

gleichbedeutenden dt. Suffix -er wie Regler von regeln (Fleischer/Barz 151ff.).

L: Die thür. Dialektformen mit -g [log], Pl. [lögQ(r)], [legQ(r)] entsprechen lautgesetzlich hdt.

-k oder -ck wie in Bock (ThWb s.v. Bock; Sp ThGr 184f.). Da die Belege von Lock aus dem

N-, W- und Zentralthür. stammen, ist hier keine Einsilblerdehnung wie in Bock

anzutreffen. Diese ist nur auf ein kleines südw. Gebiet beschränkt (Sp ThGr 41,45f.).

Page 141: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Lock 3

WG: Das Wort Lock entstammt der Bauernsprache und bezeichnet eine nicht genau messbare

Menge. Ähnliches findet man in thür. Arfel m. (selten auch f.n.) „Armvoll“, Ham(p)fel f.n.

„Handvoll“ oder Lupfe f.m. „eine Handvoll gebrechten Flachses; kleine Menge“ (zu lupfen

„hochheben“, was man mit einer Hand aufnehmen kann) (ThWb s.v. Armvoll, Handvoll,

Lupfe). Vgl. auch schweiz. es währt noch einen Rupf „eine kurze Zeit“ (Stalder 2,293).

Weitere semantische Parallelen sind etwa Bruch („Gebrochenes“, EWD s.v. Bruch), z.B.

pflegten Jäger das erlegte Wild mit grünen Brüchen, d.h. abgebrochenen Laubzweigen, zu

bedecken (DWb s.v. Bruch), oder aind. le �sa- m. „kleiner Teil, kleine Menge“ zum Verb

re �s- „abrupfen, abreißen“ (EWAia II 461f.). Dieses Beispiel zeigt die gleiche semantische

Entwicklung wie Lock „kleinere, unbestimmte Menge“ < * „Abgerupftes“ zum Verb mhd.

liuchen, lûchen „abreißen, abrupfen“.

Egerm

: Aengl. l�can „jäten“, tÀ-OÌFDQ „abbrechen, zerstören“, mnd. l�ken „ziehen, zupfen“,

afries. l�ka „auszupfen, herausziehen“, mhd. lûchen, niedersächs. OÌNHQ weichen von ahd.

ar-liuhhan, mhd. liuchen, obd. liechen im Wurzelvokalismus ab. Der Großteil der Belege

deutet auf einen Langvokal (german. *Ì), wohingegen die ahd., mhd. und heutigen obd.

Formen einen Diphthong -iu- (german. *eu) haben. Das gleiche Nebeneinander zeigen

auch andere Verben in den german. Sprachen, z.B. german. *sliuta-�VOÌWD- „schließen“,

*riuka-�UÌND- „rauchen“ (Vine 1985: 60-81 mit weiteren Beispielen und Literatur). Da

diese beiden Ablautstufen lautlich nicht genau vereinbar sind, hat man mehrere Annahmen

für ihre Erklärung gemacht:

Die meisten Forscher gehen von einer innergermanischen Analogie-Bildung nach der

ersten Klasse mit dem Vokalwechsel german. ¯-ai-i aus, d.h. der ursprüngliche Ablaut *eu-

au-u wurde in einigen Verben der Klasse II analogisch zu german. Ì-au-u umgestaltet (z.B.

LIV 415f. mit weit. Lit.).

Vine hingegen vermutet einen Laryngal, der die Vokaldehnung lautgesetzlich bewirkt hat,

so dass uridg. *luHg- zu german. *OÌN- und *leiHg- zu german. *leuk- wurden; jedoch

schließt Vine eine Analogiebildung der e-Vollstufe nach regulären Verben der Kl. II nicht

aus (Vine 77). Für die Lautfolge Halbvokal-Laryngal-Verschlußlaut im Silbenabglitt einer

uridg. Wurzel sind jedoch nur wenige unsichere Beispiele bezeugt (LIV s.v. bhreh'k-,

bhreiHg-, dhehHgi-, srehHg-). Der Auslaut -iHg kommt – außer in *leiHg- – noch in

*bhreiHg- „genießen, gebrauchen“ vor, dessen lat. und german. Fortsetzer stets

schwundstufige Formen und somit einen anderen Befund als german. *leik- zeigen (LIV²

96 Anm. 1). Außerdem geben die aind. und armen. Fortsetzer keinen Hinweis auf einen

Laryngal. Somit ist die Erklärung durch Analogiebildung wahrscheinlicher als Vine“s

Page 142: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Lock 4

Annahme einer laryngalhaltigen Wurzel. – Wie auch immer der gedehnte Vokal der

german. Verben zu erklären ist, bleibt doch festzuhalten, dass die Subst. Lock und anord.

lok sowie das Part. II gelochen auf jeden Fall einen Kurzvokal fortsetzen; dieser kann,

wenn man Vines Erklärung folgt, auch nur wieder durch Analogie erklärt werden. Das

german. Verb hatte also die Ablautvarianten *lÌN-/leuk- (im Präsensst.), *lauk- (im

Präteritumst.) und *luk- (im Part.II).

Hdt. und md. Lock (german. *lukka- „Abgerupftes, Abgebrochenes; Abrupf, Bruch“ <

uridg. *lug-nó-) zeigen eine auslautende Tenuis, die durch Gemination infolge einer alten

(betonten ?) -nó-Ableitung entstanden ist wie in Locke oder schlapp (vgl. Lühr Expres.

197f.; Kluge 1884). „Soll das Postulat einer lautgesetzlichen n-Gemination überzeugen, so

ist daher für Wörter mit Doppeltenues im Germanischen auf außergermanische

Entsprechungen, die mit n-Suffix gebildet sind, zu verweisen“ (Lühr Express. 197). Eine

solche Entsprechung ist aind. rug$á- „zerbrochen; Spalt, Bresche“ (:� Eidg). Aisl. lok

„Unkraut“ setzt hingegen eine german. Bildung *luk-a- (uridg. *lug-o-) fort, die zu air.

lug- im Komp. luigfér „bestimmte Art Gras“ (:�Eidg) stimmt.

Eidg

: Nach Ausweis der baltischen Formen lit. OiXåLX, OiXåWL „brechen“, lett. laûåX��ODûzt „id.“

setzt Lipp eine uridg. Wurzel *leu£- mit Palatal an und hält aind. ruj- „brechen, reißen“ mit

dem Part. rugõá-, das eindeutig velares -g- zeigt, für ein Beispiel von „unvollständiger

Satemisierung“ (Lipp 1994: 9-11, ihm folgt Neri u-St. 194 f. u. Anm. 580). LIV 416 nimmt

dagegen für die baltischen Formen sekundäre „palatalisierte Varianten“ an und hält den

Ansatz eines uridg. Velars für richtig. Dafür spricht eindeutig armen. lowcanem, Aor.

lowci „lösen“, denn armen. -c- kann nur idg. Velar oder Labiovelar fortsetzen

(Klingenschmitt AarmV 268). Die aind. und armen. Formen weisen somit

übereinstimmend auf eine uridg. Wurzel *leug- ohne Palatal und auch ohne Laryngal, da

dieser in schwundstufigen Formen den Vokal *-u- gelängt haben müsste.

Nominalbildungen zu der uridg. Wurzel *leug- „lösen, brechen“ sind auch aus anderen idg.

Sprachen bezeugt: Air. lucht (u,m.) „Ladung, Inhalt; Schar, Menge“, kymr. llwyth

„Ladung, Last; Schar“ (< vorkelt. *lug-tu- „abgelöster Teil, Abteilung“), air. lus (u,m.)

„Kraut, Pflanze“ (*lug-s-tu-), luigfér „bestimmte Art Gras“ (*lug-u/o-°), aind. logá- m.

„Erdkloß, Scholle, Stück Rasen“ (< *lougó-, vgl. semantisch genau entsprechendes rhein.

Lock „grasdurchwachsener Erdklumpen, Soden“, :� B), griech. ¡-�#�2 -��/.�� ÄXQ]HU-brechliche Fesseln“, und – mit abweichender Palatalisierung – lit. OiXåDV m. „Haufen

abgebrochener Zweige“; lett. laûå�L „gebrochene Bäume“ (LIV 415f.; EWAia II 465 s.v.

Page 143: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Lock 5

roj; EWAia II 481 s.v. logá-; Schrijver Reflexes 530; Klingenschmitt, aarmV 184; LitEW

s.v. OiXåWL; Chantraine dict. ét. II 632).

*U���0#�.�� "�ÄWUDXULJ��HOHQG³��� Ä�SK\VLVFK�XQG�SV\FKLVFK��]HUEURFKHQ³�XQG�ODW��OÌJ�UH

als Kausativ aus uridg. *loug-éie- „traurig sein“ < *„jdn. (physisch und psychisch)

zerbrechen lassen“ können mit uridg. *leug- „brechen, lösen“ semantisch vereinbart

werden (Chantraine dict. ét. II 632; WH Lat.et.Wb I 830f.). Die übertragene Verwendung

des gr. Adj. �0#�.�� "�ÄWUDXULJ��HOHQG³�EHL�.OHLGHUQ��]�%���0#�.�� "�$�2+��ÄDEJHVFKDEWes,

fadenscheiniges Gewand“, zeigt auch das steir. Adj. luchet, luchig „abgenützt,

fadenscheinig“.

Lit: B ThWb s.v. Lock, Gelöcke; RheinWb s.v. Lock IV; PfälzWb s.v. Locken; SchwäbWb IV

1270f.; SteirWb s.v. Luch, luchet; BMZ s.v. liuchen; Lexer s.v. lûchen; deVries NEW 415

s.v. luiken, 408 s.v. lok; M Sp ThGr 238; MhdGr 190; WB EWD s.v. Bruch; IEW 686;

deVries AEW 364; Sp ThGr 242f.; Lühr Nhd 120; Kr/M I 74f.; Seebold StV 337;

Fleischer/Barz 150ff.; L ThWb s.v. Bock; Sp ThGr 41, 45f., 184f.; WG ThWb s.v.

Armvoll, Handvoll, Lupfe; Stalder 2, 293; EWD s.v. Bruch; DWb s.v. Bruch; EWAia II

461f.; Egerm Vine 1985: 60-81; LIV² 415f.; Lühr Expr 197f.; Kluge 1884; Eidg Lipp 1994:

9-11; Neri u-St. 194f. u.Anm. 580; LIV² 415f; Klingenschmitt AarmV 286; EWAia II 481,

465; Schrijver Reflexes 530; Klingenschmitt AarmV 184; LitEW s.v. OiXåWL; Chantraine

dict. ét. II 632; WH Lat.et.Wb I 830f.

Page 144: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Lorch, Lorche, Lorchel 1

Lorch Sb m. n. „Kröte“; übertr. „kleines (unartiges) Kind; träger, langsamer Mensch“

Lorche Sb f. „Pilzart“; übertr. „Kothaufen“

Lorchel Sb f. „Pilzart; Ampfer“

Z: Thür. Lorch, nddt. Lork „Kröte“ < german. *lurka- m. und nhd. Lurch (:�/��KDEHQ�(QWVSUHFKungen

in den Verben engl. to lurk „langsam, schleppend gehen; herumtrödeln“ und nnorw. lurka „vorsichtig,

langsam gehen“, die von *lurka- mit dem denominalen Suffix *-ÀQ abgeleitet sind und eine semantische

Parallele in nddt., ndl. padden „langsam, vorsichtig gehen“ : Padde „Kröte“ finden. Aufgrund seiner

Lautstruktur, die ein nicht mögliches uridg. Transponat l;;

go-/l;;ÿÿ

o- erfordern würde, kann für german.

*lurka- keine uridg. Bildung nachgewiesen werden. Es wird daher als ursprünglich lautmalendes Wort

erklärt. Die von Pokorny vermutete Zusammenstellung mit armen. Adj. lerk „glatt“, lerkem „schälen“,

mir. lerg „Abhang“ muss aus semantischen und lautlichen Gründen aufgegeben werden (:�(germ).

B: In der Bedeutung „Kröte“ ist Lorch m. n. nur in einigen thür. Dialektgebieten anzutreffen.

Häufiger ist die übertragene Verwendung „kleines (auch unartiges) Kind“, z.B. in dar

Lorch hot widder wos ausgefresse „der kleine Bengel hat wieder etwas angestellt“. Auch

arbeitsunwillige, langsame Menschen werden als Lorch bezeichnet, z.B. in su ä Lork vun ä

Menschen (ThWb s.v. Lorch). Des weiteren sind die Komposita Lorchbengel, Lorchonkel

und Lügenlorch als Schimpfwörter belegt. Eine Ableitung ist Lorche(l) f. „Lorchel oder

Bischofsmütze“ (Pilzart) (:�WG), das auch übertr. als Bezeichnung für das Kothäufchen

von Kindern vorkommt, z.B. in där Jonge hat aber enne Lorche hängesetzt (ThWb s.v.

Lorche).

Im Hochdt. entspricht die Lautung Lurch (:� L, WG), z.B. in der wandernde bischof

Pirminius sprach einen schweren segen über das eiland, da zogen schlangen und würmer

in vollen heereshaufen aus, scorpione, lurche und was sonst kreucht und fleugt

(Vict.v.Scheffel, Ekkehard 60). Die nddt. Form Lork m. „Kröte“ wird wie im Thür. auch in

übertragener Bedeutung als Spottname für eine kleine unansehnliche Person verwendet

(Schütze Holst. Idiotikon 3, 50).

Dagegen ist Lorchel im Hdt. eine Bezeichnung für Pilze der Gattung Helvellaceae (Campe

Dt.Wb III 147; :�WB). Als Nebenform für Lärche tritt selten Lorche f. auf (DWb s.v.

Lärche; :�WG).

Lorch, Lurch sind erst ab dem Nhd. (19. Jhd.), Lork ab dem Nnddt. (18. Jhd.) und

Lorche(l) ab dem 18. Jhd. bezeugt.

M: Lorch ist ein maskuliner a-Stamm, der wie Tag flektiert. Das Neutrum bei der

übertragenen Bedeutung „kleines, unartiges Kind; träger, langsamer Mensch“ kommt

teilweise durch Übernahme vom Wort Kind zustande, teilweise aber auch durch

Page 145: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Lorch, Lorche, Lorchel 2

Verwendung für weibliche Personen, wo einige thür. Mdaa. das Neutrum bevorzugen wie

z.B. in mi� ûs d�s egãl, çb hç kûmãd odãr es „mir ist gleichgültig, ob er kommt oder sie“

oder un i,ã��GnV�ÀV�NQ�N�]¸ „und Inge, die aß keinen Käse“ (Sp ThGr 238). Lorche f. und

Lorchel f. sind schw. Fem.

WB: Lügenlorch, Lorchbengel und Lorchonkel sind spezifizierende Determinativkomposita

„ein Lorch, der lügt“ und „ein Bengel / Onkel (= abfälliges Wort für „Mann“, vgl. ThWb

s.v. Onkel), der sich wie ein Lorch benimmt“ (Lühr Nhd 153ff.). Lorche „Pilzart“ ist eine

Femininbildung mit dem Suffix -e , das eine *À�Q�- Bildung fortsetzt (Lühr Nhd 165ff.;

Braune/Eggers AhdGr 192ff.). Schon im Ahd. vermischten sich die starke À-Flexion und

die schwache n-Flexion (Braune/Eggers AhdGr 194; MhdGr 198; FrnhdGr III 138ff.).

Lorchel dürfte in Analogie zu Morchel (EWD s.v. Lorchel, Morchel) das fem. l-Suffix

übernommen haben, das häufig in Pflanzennamen auftritt (z.B. Mispel, Nessel, Mistel u.a.,

vgl. Balles HS 112: 137-142).

L: In thür. Mdaa. sind sowohl htd. Lorch mit [ch] vertreten als auch nddt. Lork mit [k]. Das

Nebeneinander solcher Formen ist gut bezeugt, z.B. in Stork neben Storch (Sp ThGr 216;

ThWb s.v. Storch). Die nicht lautgesetzliche hochdt. Form Lurch wird durch sekundäre

Hebung aus o erklärt (Braune/Eggers AhdGr 34).

WG: Lorch und Lork m. „Kröte“ sind ursprünglich nur im md. Sprachgebiet (Thüringen und

Sachsen) sowie im Nddt. bezeugt. Von da aus hat sich das Wort Lurch m. (:�L) durch

sekundäre Differenzierung in der Wissenschaftssprache durch L. Oken als

„halbamphibisches Kriechtier“ gegenüber Frosch und Kröte (EWD s.v. Lurch) auch im

Hochdt. ausgebreitet.

Lorche und Lorchel bezeichnen meist die Pilze der Gattung der Helvellaceae,

wahrscheinlich entweder die Giftlorchel (Gyromitra esculanta) oder die Bischofsmütze

(Gyromitra infula), selten auch Pflanzen wie Huflattich, Ampfer oder Pestwurz, vgl. die

Zusammensetzungen mit Kröte, Frosch und Unke für Huflattich (Tussilago farfara):

Froschkraut, Unkenkraut, Krötenblumen, Krötenbüschel, Hetschenblätter (Hetsche,

Hitsche „Kröte“) (Marzell 4,863; ThWb s.v. Lorche1, 2) oder den Pilz namens Paddenstuhl

(Padde „Kröte“), der auch Krötenschwamm heißt (englisch toadstool). Die Benennung

kommt aufgrund der äußeren Ähnlichkeit mit der warzigen, knotigen dunklen Haut der

Kröten zustande.

Die Verwendung von Lorche in der Bedeutung „Lärche“ findet sich im seltenen

Kompositum ndl. lorkeboom, hdt. Lorchbaum „Lärchenbaum“ wieder. Hier liegt entweder

eine volksetymologische Umgestaltung vor, die aufgrund der dunklen, gefurchten Zapfen

Page 146: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Lorch, Lorche, Lorchel 3

der Lärche, die wie kleine Lorche(l)-Pilze aussehen, zustande gekommen ist, oder – in

manchen Gegenden – eine Anlehnung an dial. Forche „Föhre“.

Die Bedeutungsübertragung von „Kröte“ zu „kleines (unartiges) Kind; lahmer Mensch“

gibt es ebenfalls bei Frosch und Kröte, die auch als Bezeichnungen für Kinder oder lahme,

ängstliche Menschen verwendet werden können (DWb s.v. Frosch, Kröte).

Egerm: Das lautgesetzliche Transponat von Lorch ist german. *lurka- m. „Kröte“, von Lorche

german. *lurkÀ�Q�- f. „krötenähnlicher Pilz; knollige, warzige Pflanze“. Das Subst. *lurka-

findet man neben den hdt. und ndt. Belegen in ndl. lork „Kröte“ und im ndl. Komp.

kellerlork „Kellerunke“. Ein engl. Hapax legomenon aus dem Jahre 1530 ist der

Glossenbeleg Palsgr. 241/2 lurke an herbe (OED s.v. lurk), der gut zur Bedeutung von

Lorche „Pilz“ oder „Huflattich, Ampfer“ passt und das Wort als zumindest wgerm.

Bildung erweist.

Nengl. to lurk swV „vorsichtig, langsam gehen; herumlungern, Zeit vertun“ ist ins Kymr.

als lwrcaf „langsam gehen; herumlungern, Zeit vertrödeln“ entlehnt (GPC II 2073). Von

diesem Verb ist ein kymr. Adj. lwrcaidd „lahm, langsam gehend, herumlungernd“ gebildet

worden, das seinerseits mit irischem Suffixersatz zur spätmir./neuir. lorc-ach/lurc-ach

geführt hat. Nengl. to lurk und nnorw. lurka swV „sich vorsichtig wegstehlen“ sind mit

dem Suffix *-ÀQ gebildete schwache Verben und setzen german. *lurk-ÀQ fort. Dieses

Suffix wird nicht nur als Ableitung von fem. À-St. verwendet, sondern durch falsche

Abtrennung auch von anderen Stämmen, vgl. z.B. nhd. fischen : Fisch oder got. þiudan-ÀQ

„herrschen“ : þiudans „Herrscher“. Diese Metanalyse ist auf jeden Fall schon im

Urgerman. und vielleicht schon im West-Idg. eingetreten (Kr/M III 239). Das Suffix *-ÀQ-

wird schließlich im Ahd. sehr produktiv und ersetzt auch die alten -jan-Bildungen (Kr/M

III 240). Eine semantische Parallele zum Nebeneinander der Bedeutungen „Kröte“ und

„mit kurzen Tritten, vorsichtig, langsam gehen“ ist nddt. Padde, ndl. pad „Kröte“ neben

nddt., ndl. padden „langsam, mit kurzen Tritten, vorsichtig gehen“ (DWb s.v. Padde,

padden; de Vries NEW 500f.). – Im Gegensatz zu Fröschen (Frosch < german. *fruska-

„Hüpfer“; EWD s.v. Frosch) hüpfen Kröten eher selten, sondern bewegen sich, auch bei

der Nahrungssuche, normalerweise langsam, unregelmäßig und schleppend.

Möglicherweise gehören zu diesen Verben dial. dt. Bildungen mit s-mobile (Beispiele mit

l-Anlaut neben dt. Anlaut schl- in Southern s-mobile 234-239) wie schwäb., bair., frk.

schlurchen, schlurken, schlorken „schleppend, langsam gehen“ (DWb s.v. schlurken), hess.

Schlurches, Schlorches „unbeholfener Mensch“ (mit Suffix -es wie Märes „sabbernder

Esser“ : mären „unordentlich essen“, :� EWDD s.v. Märe) oder bair., frk. Schlurker,

Page 147: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Lorch, Lorche, Lorchel 4

Schlurcher, Schlorcher „ausgetretene Schuhe; Pantoffeln“ (DWb s.v. Schlurker). Ein

vergleichbares Nebeneinander von Formen mit und ohne s-mobile ist z.B. in hdt.

schmelzen neben nengl. to melt bezeugt. Neben schlurchen, schlurken stehen weitere

lautmalende Bildungen wie schlurren oder schlurfen (EWD s.v. schlurren, schlürfen), vgl.

die Varianten schlickern, schliffern, schlipfen, schlindern zu schlittern oder glitschen,

glippen, glennern, glannern, glendern zu gleiten (DWb s.vv.).

German. lurka- m. „Kröte“ kann wegen der Unvereinbarkeit seines uridg. Transponats

*l�go- oder *l��o- mit den Regeln der idg. Wurzel- und Lautstruktur nicht auf eine uridg.

Bildung zurückgeführt werden (LIV² 5-7). Lorch, Lurch, Lork und seine Verwandten sind

vom armen. Adj. lerk „kahl“, Vb. lerkem „schälen“ und dem air. Subst. lerg �, f. „Abhang“

aufgrund semantischer Bedenken und der oben dargestellten lautlichen Unvereinbarkeit zu

trennen trotz Pokorny (IEW 679f.), der einen vagen Zusammenhang vermutet.

Somit bleiben als alternative Erklärungen nur die Annahme einer Analogie, eines

onomatopoetischen Wortes oder einer Entlehnung. Für Analogiebildung und Entlehnung

gibt es keine Hinweise. Daher kann nur eine lautmalender Ausdruck für „schleppende

Schritte“ wahrscheinlich gemacht werden, aus dem eine n.-/wgerman. Neowurzel *(s)lurk-

abstrahiert wurde.

Lit: B ThWb s.v. Lorch, Lorche; Victor v.Scheffel, Ekkehard 60; Schütze Holst. Idiotikon 3,

50; Campe DtWb III 147; DWb s.v. Lärche; M Sp ThGr 238; WB ThWb s.v. Onkel; Lühr

Nhd 153ff., 165ff.; Braune/Eggers AhdGr 192ff.; MhdGr 198; FrnhdGr III 138ff.; EWD

s.v. Lorchel, Morchel; Balles HS 112: 137-142; L Sp ThGr 216; ThWb s.v. Storch;

Braune/Eggers AhdGr 34; WG EWD s.v. Lurch; Marzell 4, 863; ThWb s.v. Lorche; DWb

s.v. Frosch, Kröte; Egerm OED s.v. lurk; GPC II 2073; Kr/M III 239; DWb s.v. Padde,

padden; de Vries NEW 500f.; EWD s.v. Frosch, Unke; Drinka s-mobile; DWb s.v.

schlurken, Schlurker; EWDD s.v. Märe; EWD s.v. schlurren, schlürfen; LIV² 5-7; IEW

679f.

Page 148: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Lorch, Lorche, Lorchel 5

Page 149: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Lühwasser, lühen 1

Lühwasser Sb n. „klares Spülwasser für die Wäsche zur Beseitigung von Seifenresten“

lühen swV „Wäsche mehrmals in klarem Wasser nachspülen, reinspülen, läutern“

Z: Die in obd. und md. Dialekten bezeugten Wörter Lühwasser „klares Spülwasser für die Wäsche“ und

lühen, lüchen „klarspülen, reinigen“ weisen auf ein german. denominales swV *leuh-jan „reinigen“.

Dieses Verb kann mit den Adj. *leuh-t-a-, *leuhsa- und *leuhsna- „hell, leuchtend“ sowie got. liuhaþ

„Licht“ zu einer gut bezeugten uridg. Wurzel leuk-„weiß sein, leuchten; hell werden“ gestellt werden;

für die Bedeutungsentwicklung gibt es semantische Parallelen.

B: In thür. Mdaa. sind das Kompositum Lühwasser n. „Spülwasser“ und das sw. Verb lühen

bezeugt: die Wäsch wird gelüht; s Garn wird im fließning Wasser geluht (→ WG). In

einem Kinderlied singen die waschenden Frauen wir lühen, wir lühen, wir lühen den

ganzen Tag. Des weiteren gibt es ein Präfixverb auslühen „in klarem Wasser ausspülen“.

Das Bair., Schwäb. und Fränk. bieten sowohl das Sb. Lühwasser als auch das Verb lühen,

lüchen (Schm BairWb 1,1467; SchwäbWb 4,1311), das Rhein. nur das Verb lüchen

(RheinWb 5,568).

M: Das Verb lühen hat ein Part. II gelüht und muss daher als schwaches Verb bestimmt

werden.

WB: Lühwasser ist ein Determinativkompositum mit einer genauen semantischen und

wortbildungsmäßigen Entsprechung in Spülwasser oder Waschwasser. Als Erstglied steht

ein gebundenes Morphem in Gestalt eines Verbalstammes: Lühwasser ist Wasser zum

Lühen wie Spülwasser Wasser zum Spülen (Lühr Nhd 154).

L: Die lautlichen Varianten lW(#)-, lB(#)-, lüi- und löü- entsprechen genau der dialekt-

geographischen Verteilung, wie sie für nhd. -�- durch reguläre Lautentwicklung aus mhd.

-üe- bezeugt ist. Gleichwohl handelt es sich wegen des ahd. Beleges liuhhit = lavatus um

Fälle mit sekundärer Rundung eines mhd. -ie- zu -�- statt zu regelgerechtem nhd. -¯-, wie

z.B. in lügen aus mhd. liegen bzw. liejen oder trügen aus mhd. triegen. Die Rundung tritt

meist in Umgebung eines Labials wie in Lühwasser auf, von dort könnte es auf das

Verbum übertragen worden sein. Doch kommt die Rundung auch in Wörtern ohne labiale

Umgebung vor, z.B. in trügen oder nhd. riechen : dial. rüchen vor. Sie ist hauptsächlich in

den Gebieten des Schwäb., Alemann., Ostfränk. und Henneberg./ Oberhess. sowie den

angrenzenden Gebieten bezeugt und stimmt mit den Belegen für Lühwasser, lühen überein

(→ B) (Frnhd Gr 75ff.).

Die in wenigen Gebieten SW-Thüringens belegten Varianten des Part. II geluht (Rhön,

Mellrichstadt, Schmalkalden) bzw. geloht (Schmalkalden) sind erst spät durch Rückumlaut

entstanden wie z.B. JHIÌUG, JHUÌUG aus geführt, gerührt (Sp ThGr 135f.). Sie haben in

Page 150: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Lühwasser, lühen 2

diesen Gebieten den Inf. lO# (z.B. in Meiningen) beeinflusst gegenüber normalen

Infinitivformen wie l�� und l�Z�. l�Z� zeigt einen Gleitlaut -w- in Hiatusstellung wie z.B.

sew� „säen“ (Sp ThGr 219f.).

Die im Bair., Schwäb. und Rhein. bezeugte Variante lüchen beruht auf der bis ins Frnhd.

reichenden Beibehaltung von -ch- gegenüber regelgerechtem Schwund in der Aussprache

unter bestimmten Bedingungen, z.B. vor Flexivum oder zwischen Vokalen (Mhd Gr 156;

Frnhd Gr 123f.). Diese Beibehaltung des -ch- kann man teilweise sogar heute noch vor

allem in obd. Dialekten finden, z.B. schwäb., bair. Viech „Vieh, Tier“, sie sachen „sie

sahen“ (Frnhd Gr 124ff.; Kranzmayer 1956: 90-92; Boesch 1946: 169), aber auch im Md.,

z.B. in unterfrk. Viech „Tier“, mir sachen „wir sehen“; mittelfrk. ON Forchheim, hess.

Schuch „Schuh“.

WG: Bei der Flachsverarbeitung bezeichnete lühen früher das Ausschwenken des fertigen

Garns im Wasser, um es von Aschenresten zu befreien, nachdem es 7 bis 8 Stunden in

einer Lauge von Buchenasche gekocht worden war: s Garn wird im fließning Wasser

geluht (Mellrichstadt). Dieses Laugen und Auswaschen ist der letzte Arbeitsgang bei der

Flachsbearbeitung, wodurch das restliche Pflanzenharz aus dem Garn gelöst wird.

Egerm

: Lühwasser und lühen „klarspülen, reinspülen“ gehen mit ahd. irliuh(h)en (jüngere

Form mit regulärer Entwicklung -luh(h)en (Ahd Gr 51f.)) auf einen vordt. denominalen

Verbalstamm *liuh-jan zurück. Nach einer langen Silbe ist die Konsonantenverdoppelung

(regulär nach Kurzvokal wie in lachen, ahd. hlahhan aus *hlah-jan) unterblieben oder

rückgängig gemacht worden (Kr/M I 105f.). Die seltene e-Stufe der jan-stämmigen

Ableitung *leuhja- (Kr/M III 247) könnte aus den Adjektiven *leuhta-, *leuhsa- und

*leuhsna- (s.u.) übernommen worden sein, dürfte aber eher schon auf hohes Alter weisen

(→ Eidg

).

In *leuh-jan liegt eine Wurzel *leuh- „leuchten, hell sein“ vor, die im german. Adj. leuh-t-

a- „hell“, dt. licht, engl. light „hell“ etc. (EWD s.v. licht, leuchten; Holthausen s.v.)

bezeugt ist. Dieses Adjektiv ist wegen seiner e-Ablautstufe möglicherweise als sekundäre

a-Ableitung eines uridg. d-Stammes wie got. liuhaþ „Licht“ < german. *OHXKDÿ- erklärbar

(Heidermanns PA 70, Schaffner VG 557), da uridg. Verbaladjektive üblicherweise die

Schwundstufe aufweisen wie z.B. *turhta- „deutlich sichtbar“, *wunda- „verwundet“

(Heidermanns PA 75). Daneben tritt die Wurzel *leuh- in einer um -s- erweiterten Form

*leuhs- auf, z.B. in den primären german. Adj. *leuhsa- „leuchtend“ und leuhsna-

„glänzend“ (Heidermanns 378). Eine o-Vollst. *lauh-a-�À- zeigen dt. Lohe f. und mhd. ahd.

louc, loug m. mit gramm. Wechsel (EWD s.v., Schaffner 556).

Page 151: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Lühwasser, lühen 3

Die ursprüngliche Bedeutung der nhd. Wörter Lüh- und lühen „(durch Spülen in klarem

Wasser) reinigen“ war also „hell machen, rein machen“ bzw. „mit Helligkeit, Reinheit

versehen“. Die Vorform *leuhja- ist dabei ein denominales Verb in faktitiver Bedeutung

von dem Adj. oder Subst. *léuh-a-/-À- „hell, rein, weiß; Helligkeit, Reinheit“, das nur in

anderen idg. Sprachen bezeugt ist (→ Eidg

). Für die Annahme eines Substantivs spricht der

Akzentsitz auf der ersten Silbe.

Die Ableitung von einem Adj. oder Subst. „hell, rein, weiß; Helligkeit, Reinheit“ und die

Bedeutungsentwicklung von „hell, rein, weiß machen“ bzw. „mit Helligkeit, Reinheit

versehen“ zu „reinigen“ und „klarspülen“ ist semantisch naheliegend und kann an

zahlreichen Beispielen nachgewiesen werden: dt. läutern „reinigen, säubern“ (auch

Wäsche: DWb s.v. läutern) ← lauter�ÄUHLQ��KHOO��VDXEHU³��JULHFK���0#�)&�ÄUHLQLJHQ��ZHLß

waschen“ ←��0#�)"�ÄZHLß, hell, leuchtend“ (L/S s.v. �0#�)&��Frisk s.v. �0#�)"; → Eidg

);

ähnlich verhält sich it. biancheria „gewaschene, saubere Wäsche“ ← bianco „weiß“. Dt.

lauter ist seinerseits eine Ableitung von einem Verb mit der Bedeutung „waschen,

reinigen“ und gehört zu lat. cluere�ÄZDVFKHQ³�XQG�JU����*�&�ÄZDVFKHQ��VSülen“ (EWD s.v.

lauter).

Eidg

: Die german. Wörter *leuh-jan, *leuh-t-a-, *leuhs-a- und *leuhs-na- gehören samt got.

liuhaþ n. „Licht“ zu einer uridg. Wurzel *leuk- „hell werden“ mit einem Präsens *leuk-e-

„leuchten“ (LIV 418f.). Von dieser Wurzel ist ein primäres uridg. Adj. oder Subst. *leuk-o-

/ah2- „hell, leuchtend, weiß; Helligkeit, Reinheit“ abgeleitet (gr. �0#�)"�ÄKHOO��ZHLß“, aind.

rocá- „leuchtend“, armen. loys „Licht“, gall. leuko- „weiß, hell“, mir. lúach „glänzend“),

das wahrscheinlich die Basis von german. *leuhja- ist. Eine schon in uridg. Zeit

zurückgehende Lexikalisierung ist *louk-ó- mit der Bedeutung „Lichtung, helle baumlose

Stelle im Wald“: aind. loká- m. „Lichtung, freier Raum“, lat. OÌFXV, alat. louco- m.

„Lichtung, Hain“, ahd. OÀK „Hain, nur mit Büschen bewachsene Stelle im Wald“, lit.

laÊNDV „Feld, Land“, lett. laÊNV „Feld, Lichtung“ (IEW 687 ff; EWAia s.v. loká-).

Lit: B ThWb s.vv. lühen, Lühwasser; Schm Bair. Wb 1, 1467; Schwäb WB 4, 1311;

RheinWb 5, 568; WB Lühr Nhd 154; L Frnhd Gr 75ff; Sp ThGr 135f; Sp ThGr 219f; Mhd

Gr 156; Frnhd Gr 123ff; Kranzmyer 1956, 90-92; Boesch 1946, 169; Egerm

Braune Ahd Gr

51f; Kr/M I 105 f; Kr/M III 247; EWD s.v. licht, leuchten, lauter; Heidermanns PA 70, 75,

3����6FKDIIQHU�9*����I��/�6�V�Y���0#�)&��Frisk s.v. �0#�)"; Eidg LIV 418f; EWAia s.v.

loká, IEW 687ff.

Page 152: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Lum, Lume, lumig, lumen 1

Lum Sb m. „feuchter Bodensatz, feuchter Schmutz, Matsch“

Lume Sb f. „feuchte Stelle auf dem Acker, Pfütze“

lumig Adj. „feucht, trübe, matschig“

lumen swV „feucht, nass sein“

Z Thür. Lum, Lom�>OÌ�ÀP@�P��ÄIHXFKWHU�%RGHQVDW]³�PLW�GHQ�$EOHLWXQJHQ�Lume�>OÌP��

] f. „feuchte Stelle auf

dem Acker, Pfütze“ sowie lom(e) >À@, lum(e), lumig� >Ì@�$GM�� ÄIHXFKW�� QDVV�� WU�EH³� XQG� lumen� >Ì@� VZ9�„feucht, nass sein“ weisen auf german. *l6ma-. Die seltene Variante laumig Adj „feucht; trübe“ gehört zu

mhd. loum und nhd. Laum m. „Wasserdampf, Dunst, Nebel“ (→→ L) aus german. *lauma-. Da diese

german. Rekonstrukte nicht vereinbar sind, müssen zwei uridg. Wurzeln *leh2- „nass sein, wässern;

Nässe“ und *leG(h3)-„mit Wasser begießen, waschen; besudeln“ vorliegen, die sich aufgrund semantischer

Ähnlichkeit im Thür. und anderen dt. Dialekten vermischt haben (→→ Egerm und Eidg). Der

Etymologisierungsversuch von Kluge / Seebold (Laum zu dt. Lohe „Flamme“) ist aus semantischen

Gründen aufzugeben.

B: In thür. Mundarten sind neben den Subst. Lum [l+m], Lom [l*m] m. „feuchter Bodensatz,

feuchter Schmutz“, Lume [l+mQ] f. „feuchte Stelle auf dem Acker, Pfütze“ auch die Adj.

lum(e), lom(e), lumig „feucht; trübe“ und das sw. Verb lumen „feucht sein“ bezeugt: dat

Water is lome „das Wasser ist trüb“, der Hawwer luhmt noch „der Hafer ist noch feucht“. Nd.

und md. Entsprechungen sind z.B. holst. lomig, lumig (SchlHoWb 3,505 und 525); altmärk.

lömern „trübe machen“ (Danneil 54); nordharz. l�mich „feucht“ (Damköhler 119); lum,

lümig, lomig „feucht“ (Rhein Wb 5,600). Das Obd. bietet nur alemann. luemen m. „kleiner

Teich, Lache, Tümpel, Pfütze“ (Schw Id 3,1271). Daneben stehen Bildungen mit g(e)- in thür.

glume Adj. „feucht; trübe“, z.B. in der Hawwer is noch glume, und glumig Adj. „feucht“

(meist von Heu, aber auch glumiches Brot „nicht durchgebackenes, innen noch feuchtes

Brot“), sowie das Verb glumen, glümen „trüben, verschmutzen“ in mancher will angesehen

sein, er hat kein wasser geglümet und ist doch wol mit dem gantzen hindern drin gesessen

(Petri d. Teutschen Weißheit (1604) Nn 6b). Zu Lume „Pfütze, feuchte Stelle“ gehört

vielleicht auch md. Luhme f. „Loch im Eis“ als „nasse, matschige Stelle im harten, gefrorenen

Eis“ (DWb s.v. Luhme).

Die meisten thür. Belege zeigen einen Langvokal [*] oder [+], außerdem gibt es ein paar

Streubelege mit [au] und [Ê�>�im Adj. laumig: laumii „trübe“ in Sömmerda, Nebra, Ilmenau

und lÊ�mid „trübe“ in Ilmenau (→ L). Nur zu diesem gehören mhd. loum m. und frnhd. laum

m. „Wasserdampf, Dunst, Nebel“, z.B. in unde der böse loum der betrubet die hirne (13. Jhd.,

Meinauer Naturlehre S.8) oder da war die luft etwas dunkel wie laum und rauch ob dem

wasser (alte newe zeitung von der welt lauff (1592) no. 39).

Page 153: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Lum, Lume, lumig, lumen 2

Vereinzelt ist eine kurzvokalige Variante lumm Adj. „feucht“ (von Heu, Klee oder Getreide)

belegt, z.B. in dr Klee äs nach sö lumm „der Klee ist noch so feucht“ (ThWb s.v. lumm1) (→

L).

M: Aus den spärlichen Belegen von Lum m. und Lume f. lassen sich keine morphologischen

Details erschließen. Das denominale schw. Verb glumen, glümen hat ein Part. II geglühmet

(→ B).

WB: lumen „feucht sein“ ist von dem Adj. lum(e) „feucht; trübe“ mittels des Suffixes -en in

beeigenschaftender Funktion gebildet wie z.B. nhd. leuchten „hell sein“ zum Adj. licht „hell“

oder ahd. wan�n „abnehmen“ zum Adj. wan „fehlend“ (Kr/M III 239f.; Gr Frnhd. 4, 507ff.).

Das von Lum m. „Bodensatz“ oder Lume f. „Pfütze“ abgeleitete Adj. lumig zeigt den häufigen

dt. Derivationstyp mit dem Suffix -ig, z.B. Sand → sandig (Lühr Nhd. 165, 169). Das Suffix

-ig bedeutet, dass etwas mit dem in der Basis Genannten versehen ist, also ergibt sich für

lumig „mit Pfützen, Matsch versehen“ → „feucht“ bzw. „trüb“. Das nur in thür. Mda.

bezeugte Adj. lume „feucht“ ist eine inverse Variante mit -e neben lum „feucht“ zu Formen

wie gerade neben gerad, böse neben bös (FrnhdGr 80f.). Ein Präfix g(e)- haben das Adj.

glumig und das Verb glumen.

L: Nthür. und NOthür. Lum, Lom, Lume, lome, lumig, lomig, lumen mit [*] bzw. [+] sind

lautgesetzlich aus älterem mhd. *luom- (< german. *l�m°) entwickelt und entsprechen der

dialektgeographischen Verteilung wie z.B. in Bruder (Sp ThGr 126ff). Die Streubelege von

laumig mit -�u- und -Ê�- (wie in thür. fr Ê� „Frau“) deuten auf eine andere Form mit u-

Diphthong, die in mhd. loum (< german. *lau-ma-) vorliegt (Sp ThGr 143ff). Die sehr seltene

kurzvokalige Variante lumm „feucht, matschig“ dürfte von lumm „schlaff, locker, weich“

beeinflusst worden sein (ThWb s.v. lumm1), da lautgesetzliche Kürzung von � außer vor stl.

Frikativen nicht möglich ist (Sp ThGr 130).

WG: Wie unter L dargestellt ist auf lautlicher Ebene zwischen Formen mit german. *� in thür.

Lum, Lume etc. und german. *au/*eu in mhd. loum „Wasserdampf, Dunst, Nebel“, thür.

laumig zu unterscheiden. Im Dt. hat eine Vermischung der Bedeutungen „nass, feucht“,

„matschig, schmutzig-feucht“ und „Wasserdampf, Nebel“ stattgefunden. Die den dt. Wörtern

zu Grunde liegenden Wurzeln sind teilweise auch in anderen idg. Sprachen lautlich und

semantisch zusammengefallen(→ Egerm und Eidg

).

Egerm: Zwei german. Wörter liegen in den dt. Wörtern Lum und Laum vor: German. *l�-ma-/�-

m./f. oder Adj. „feucht, matschig, schlammig; Pfütze, Morast“ gehört zu einer german.

Wurzel *l�- < uridg. *leh2- „nass sein, wässern; Nässe, nasse Stelle, Matsch“ und german.

Page 154: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Lum, Lume, lumig, lumen 3

*lau-ma- m. „Dampf, Nebel, Dunst; Matsch“ zu einer german. Wurzel *lau/leu-, in der sich

die uridg. Wurzeln *leu- „(mit schmutzigem Wasser) waschen; besudeln“ und *leuh3-

„waschen, wässern“ vereint haben. Dies ist auch in anderen idg. Sprachen geschehen (→

Eidg). *l�-ma-/�- und *lau-ma- zeigen die gleiche Wortbildung mit einem auch sonst (z.B. in

Raum) bezeugten *-m-Suffix. Neben *lau-ma- stehen noch die mit einem Guttural erweiterten

nominalen Formen ahd. louga, nhd. Lauge, aisl. laug „Bad“ samt den denominativen Verben

nhd. laugen und aisl. lauga „baden, waschen“ sowie eine alte instrumentative *tro-Bildung

aisl. lauðr n., aengl. O�Dðor n. „Seife“, eigtl. *„Waschmittel“ (EWD s.v. Lauge; de Vries s.vv.

laug, lauga; Holth s.v. O�Dðor). *l�-ma-/�- hat im German. kein Verbum neben sich, kann

aber direkt an Wörter in anderen idg. Sprachen angeschlossen werden (→ Eidg).

Eidg: Die beiden uridg. Wurzeln leu- „(mit schmutzigem Wasser) wässern; besudeln“ (LIV 414)

und leuh3- „waschen“ (LIV 418) lassen sich in den idg. Einzelsprachen nicht immer eindeutig

trennen und sind teilweise – wie im German. (→ Egerm) – lautlich und semantisch

zusammengefallen, z.B. in lat. luere, lavere „waschen“, abluere „abwaschen, -spülen“, aber

pol-luere „beschmutzen, besudeln“ < uridg. *leu- und *leuh3- (Bock LatVb)�RGHU�JU���#��.�Q��„Waschwasser, Schmutz“ < uridg. *luh3-m�- / *lu-sm�-. Die negative Bedeutungsnuance von

uridg. *leu- wird deutlich in lat. pol-luere, l�tum „die durch Regen feucht und weich

gewordene Erde; Matsch, Schmutz“, air. loth n. „Matsch, Sumpf“ XQG�LQ�JU���#��.�Q���+RP����„Waschwasser; abgewaschener Schmutz“, in dem uridg. *luh3-m�- „Waschwasser“ und *lu-

sm�- „Schmutzwasser“ (LIV 414) vermischt sind.

Die andere german. Form *l�ma-/�- kann als *-mo- oder *-m�-/*-meh2-Ableitung der uridg.

Wurzel leh2- „Wasser gießen, wässern“ (LIV 401) zugeordnet werden. Sie ist als Verb nur in

den anatol. Sprachen bezeugt: heth. lah „gieße!“, mit u-Erw. lahuanzi „sie gießen“ (Oett.Stb.

422ff.), luw. Intensivbildung lahuni-/launai- „waschen“ (Melchert KZ 101, 217f.). Eine

uridg. Derivation *léh2-meh2- (> späturidg. *lSm�-) „Nässe, trübes Wasser, Matsch“ mit

Substantivakzent ist fortgesetzt in lat. l�ma f. „Pfütze, Matsch, Morast“, gr. �����I��ÄWUübe

Flüssigkeit (in den Augen)“ (vgl. dt. Triefauge vom Verb triefen „nass sein, vor Nässe

WURSIHQ³���ZRYRQ�GDV�GHQRP��9HUE�����&�ÄWUübe, verdunkelte Augen haben; fast blind sein“

abgeleitet ist (Aristophanes +) und in nhd. dial. Lume, Luhme f. „Pfütze, Matsch; Loch im

Eis“ (→ B). Möglicherweise kann hier das aind. Adj. r�má- „dunkel, schwarz“ aus uridg.

*leh2-mó-/máh2- (§�WK�U. lum(e) „trübe, matschig, feucht“) mit Adjektivakzent angeschlossen

werden; Mayrhofer in EWAia bietet für aind. r�má- keine überzeugende Etymologie.

Page 155: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Lum, Lume, lumig, lumen 4

Da sich die thür. Wörter Lum, Lume und laumig sowohl lautlich als auch semantisch

befriedigend an gut bezeugte idg. Wörter anschließen lassen, muss die von Kluge / Seebold in

EWD s.v. Laum „Wasserdampf“ versuchte Verbindung mit Lohe „Flamme, Glut“ vor allem

aus semantischen Gründen aufgegeben werden.

Lit: B ThWb s.vv. Lum, Lume, lumen, lumig; SchlHo Wb 3, 505 und 525; Danneil 54;

Damköhler 119; Rhein Wb 5, 600; Schw Id 3, 1271; DWb s.vv. Luhme, Laum, lühen; WB

Kr/M III 239ff; Frndh Gr 4, 507ff; Lühr Nhd 165, 169; L Sp ThGr 126ff, 130, 143 ff; Egerm

EWD s.v. Lauge; de Vries s.vv. laug, lauga, lauðr; Holth. s.v. l�Dðor; Eidg LIV 401, 414, 418;

Bock LatVb s.vv. luere, lavare, polluere; W/H s.v. SROOXHUH��OXWXP��O�PD; Oett. Stb 422ff;

Melchert KZ 101; Mayrhofer EWAia s.v. U�Pá-, EWD s.v. Laum.

Page 156: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Maigosten 1

Maigosten Sb o. G., o. N. „Maikäfer“

Z: Das bisher unerklärte Sb. Maigosten ist ein Determinativkompositum „Mai-gast“ und entstammt der

Kindersprache. Semantische Parallelen sind z.B. Maikönig und Maikaiser, die den Käfer als den

auffälligsten Ankömmling des Monats Mai kennzeichnen. Lautliche Veränderungen wie die

verdumpfte Aussprache des -a- als -o- in -gosten lassen sich im thür. Dialekt auch sonst nachweisen.

Ob in -gosten eine Form mit Antritt von -en im Sg. (wie in den swF. häufig) oder eine

Deminutivbildung Gastchen mit Aussprache des -chen als [jen] vorliegt, kann wegen der schlechten

Beleglage nicht entschieden werden. Die in ThWb s.v. vermutete Zugehörigkeit zu güst „unfruchtbar“

ist dagegen semantisch nicht naheliegend

B: Das Wort Maigosten o.G. als eines der zahlreichen kindersprachlichen Wörter für den

Maikäfer ist im thür. Sprachgebiet einmal nur aus der Gegend um Gotha (Zentralthür.)

bezeugt.

M: Genus, Numerus und Kasus sind unklar. Andere kindersprachliche Bezeichnungen des

Maikäfers, z.B. Maikäcker, Maikobold, Schuster, Müller etc., sind entweder Mask. oder,

wenn Deminutivbildungen vorliegen wie in Maikälbchen oder Äuschen, Neutra (ThWb s.v.

Maikäfer). Vor allem im Zentralthür. breitet sich der n-Pl. zugunsten anderer, weniger

markierter PluUDOELOGXQJHQ�DXV��]�%�� LP�1��3O�� >Z¾Qn] die Wänden (statt die Wände) zu

Wand. Apokope, n-Abfall und n-Antritt haben in südwestl. und zentralthür. Gebieten die

Endungsverhältnisse stark umgestaltet. Häufig werden einige Pl.-Endungen wie -er oder

-en als deutliche Pluralmarkierungen auch an ursprünglich zu anderen Deklinationsklassen

gehörende Wörter angefügt (Sp ThGr 239f., 241), so dass Gosten ein falscher Plural zu

Gast sein könnte, dabei würde man – wie in Wänden – jedoch Umlaut erwarten (:�L). Die

Ausbreitung des n-Antritts auch im Sg. zuerst bei den schw. F. wie in die Wiesen (Sg. und

Pl.) trägt zu einer Nivellierung der Numerusdifferenz bei; Maigosten kann dann so auch als

Singular bestimmt werden, was aus lautlichen Gründen zu bevorzugen ist (:�L). Eine

dritte Möglichkeit ist die Interpretation von -gosten als Deminutiv „Gästchen“ (:�L).

WB: Maigosten ist ein Determinativkompositum mit den Bestandteilen Mai und Gast (:�M,

WG), das evtl. durch ein Deminutivsuffix -chen erweitert ist (:�L).

L: Die Verdumpfung des -a- zu -å- und -o- findet im größten Teil des thür. Sprachgebietes

statt, auch in der Gegend um Gotha, aus der unser Beleg stammt (Sp ThGr 12ff.). So kann

eine dial. Sg.-Form Gost(en) lautlich und morphologisch (:� M) problemlos aus Gast

erklärt werden, z.B. in dem weihnachtlichen Kinderreim Ruprich, Ruprich, unser Gost,

wänn de wos in Socke host... ; vgl. auch Rast und Mast in gut Futter un Rost gaben gute

Most „gutes Futter und Rast geben gute Mast“ (ThWb s.v. Rast). Eine Pl.-Form Gäste

Page 157: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Maigosten 2

weist dagegen auch im Thür. immer den Umlaut auf (Sp ThGr 26) und würde einen Pl.

*Gästen erwarten lassen (vgl. z.B. den erweiterten (Sp ThGr 241) D. Pl. in me muß sein

Gestna wos biet). Auch ein Deminutiv mit der lautlichen Vertretung von -chen als [j�n]

wie in Mädchen [maj�n], [mäj�n] ist möglich, denn der Beleg Maigosten stammt aus dem

Gebiet mit Deminutivsuffix -chen (ThWb 242f.). Die Wiedergabe als -gosten (statt

-gostjen) muss dann auf undeutlicher kindlicher Aussprache beruhen. Ähnliche Fälle

kindersprachlicher Varianten sind Maiauzcher, Maiatz neben Äuschen „Maikäfer“ oder

Maikäuer neben Maigeier (ThWb s.v. Maiauzcher, Maikäuer).

Die in ThWb vorgeschlagene etym. Verbindung zum Adj. güst(e) „unfruchtbar“ ist nicht

nur semantisch wenig wahrscheinlich (:�WG), sondern auch lautlich schwierig, da die

thür. Belege dieses Wortes immer die umgelautete Form zeigen (ThWb s.v. güst(e)), die

mit dem -o- von Maigosten nicht vereinbar sind. So müsste man dann annehmen, dass in

Maigosten die einzige nicht umgelautete Form des Adjektivs fortgesetzt ist.

WG: Das Benennungsmotiv für das Determinativkompositum Mai-Gast „Gast des Monats

Mai“ liegt in seinem regelmäßigen Erscheinen fast ausschließlich im Mai. Wie in fast allen

Bezeichnungen für den Maikäfer, die den Bestandteil Mai enthalten, z.B. Maikobold,

Maibrummer usw. (:� B), engl. may-bug, may-beetle, ital. maggiolino, ist eine

Lexikalisierung eingetreten (speziell zum Maikäfer: EWD, Einführung in die

Terminologie, 8.3). Im Rhein. bezeichnen unter anderem Maikönig und Maikaiser den

Maikäfer (RheinWB s.v. Maikäfer) und zeigen ein ähnliches semantisches Motiv „Herr des

Monats Mai“. Maikäfer mit speziellen Farbabweichungen sind Schuster (dunkle), Müller

(helle), Goldschmiede (gelbliche) und Rotschilde, Rotschnippen (rötliche). Weitere meist

kindersprachliche Ausdrücke sind Maikauz, Maibrummer, Maikäcker, Maikätscher,

Brummscheißer usw. (ThWb s.v. Maikäfer), die das Brummen der Maikäfers beim Flug in

den Vordergrund stellen. Doch gibt es keinen einzigen semantisch vergleichbaren Beleg

für die von ThWb vermutete Zusammenstellung mit dem Adj. güst(e) „unfruchtbar“ (:�L).

Egerm: Die Kompositionsbestandteile Mai und Gast kommen auch in anderen german.

Sprachen vor:

Mai, ahd. meio, ist wie nndl. mei, nengl. may, nschw. maj, nisl. maí ein Lehnwort aus lat.

(mensis) 0�LXV (EWD s.v. Mai; deVries NEW 435; Paul DWb 550; Pfeifer 825f.; WH

LatEtWb II 12f. s.v. Maia)

Nhd. Gast, mhd., ahd. gast gehen mit asächs. gast, got. gasts, anord. gestr, aengl. giest,

nengl. guest, afries. jest auf german. *Àasti- m. „Gast“ zurück (Casaretto NomWb 184f.

Page 158: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Maigosten 3

mit weiterer Literatur; EWA s.v. gast). Dieses Wort hat genaue Entsprechungen in anderen

idg. Sprachen (:�Eidg).

Eidg: German. *Àasti- m., lat. hostis m. und aksl. gost��weisen auf ein uridg. Subst. *ghosti- m.

„Fremder; Gast“, das auch in dem alten Kompositum lat. hospes „Gastgeber; Gast“, aksl.

gospodi „Gastherr“ verbaut ist und eine Teilentsprechung in aind. átithi-pati- „Gastgeber“

hat (Forssman 1998: 121ff.). Das uridg. Subst. *ghosti- wird von Heidermanns als

Kompositum *gho-sth2-i- „abseits stehend“ segmentiert, wobei eine Übersetzung

„dabei/hier stehend“ treffender wäre: *gho- „hier“ ist in dem lat. Pron. hoc „dieses (hier)“ <

*gho-ke enthalten. Eichner dagegen bestimmt *ghost-i- als i-Adj. zu einem t-stämmigen Sb.

*ghost- „Mahlzeit“ (Heidermanns 2002, 185-202; Heidermanns Sab Nom § 269; Eichner

2002: 155f.)

Lit: B ThWb s.v. Maigosten, Maikäfer; M Sp ThGr 239f., 241; L Sp ThWb 12ff., 26, 241,

242f.; ThWb s.v. güst(e), Maiauzcher, Maikäuer, Rast; WG EWD Terminologie 8.3.;

Rhein Wb; ThWb s.v. Maikäfer; Egerm EWD s.v. Mai; deVries NEW 435; Paul DWb 550;

Pfeifer 825f.; Casaretto NomWb 184f.; WH LatEtWb 12f s.v. Maia; EWA s.v. gast; Eidg

Forssman 1998: 121 ff.; Heidermanns 2002; Heidermanns Sab Nom § 269; Eichner 2002:

155f.

Page 159: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Maigosten 4

Page 160: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Mandel, mandeln

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Mandel Sb f. n. selten m. „eine Menge von 15 oder 16 Stück; aus 15 oder 16 Garben

bestehende Getreidehocke“

mandeln swV 1. „je 15 Getreidegarben zusammenlegen“ „15 oder 16 Kinder bekommen“

Z: Das Wort Mandel bezeichnet eine Anzahl von meist 15, selten 16 Garben, die zum Trocknen

aufeinandergelegt werden. Durch Verallgemeinerung wie bei dem Wort Schock ist Mandel zum

Zählmaß für eine Menge von 15 oder 16 Stück geworden (:��

WG). Mandel ist im Hd. und Nddt. ab

dem 13. Jhd. belegt und ein Lehnwort aus spätlat. mannella, mannello „Garbe, Getreide- oder

Flachsbündel“, das sich über die obdt. Dialekte nach Osten und Norden ausgebreitet hat. Die von

Seebold in EWD s.v. Mandel vorgeschlagene Herleitung aus einem nur durch korn. manal „Garbe“

und breton. malazn „id.“ rekonstruierten keltischen Wort *mana-tlo- muss aufgegeben werden, da die

beiden Wörter innerkeltisch keinen Anschluss und keine Etymologie haben. Sie können ebenfalls

besser als Lehnwort aus mannella, -o erklärt werden (:�(idg).

B: In thür. Mdaa. (außer in der Rhön und im Gebiet um Bad Salzungen) ist ein älteres, heute

kaum noch gebräuchliches Wort Mandel f. n. selten m. „15 oder 16 Stück; aus 15 oder 16

Garben bestehende Getreidehocke“ belegt.

1. In der Verwendung als Zählmaß ergeben vier Mandel ein Schock (:�WG). Vor allem

Eier wurden nach Mandel gezählt und gehandelt, aber auch Nüsse oder Obst, z.B. zwanzig

hüner, so er zu vorrichten, und von jeder drey mandel eyer (in einer Urkunde aus dem

Jahre 1613); brenk mich ämool ä Mandel Eier. Bei weniger wertvollen Dingen wie z.B.

Zwetschgen zählte man auf das Mandel 16 Stück: ä Mandel hat äächentlich fuffzen Steck,

awer sechzen sin gerachent worn; vier Mannel hon ä Quatschenschock (thür. für

Zwetschgenschock = „64 Stück“) gegahm. Auch das mellsch Mandel „mühlhäusische

Mandel“ hatte 16 Stück. Gelegentlich werden andere Dinge im Sinne einer allgemeinen

Schätzung nach Mandel angegeben: ich hotte amd e holb Mannel Schnapse jetrunken; dar

Krack („das schlechte Pferd“) äs dach schonn anne Mannel Johr aalt; sei Voter un seine

Motter hatten ooch schunne änne Mannel tausend Taler zesammengehongert; vgl. auch die

Redensart ha lätt driezahn gruade sie un verzahn en Mannel „er lässt dreizehn gerade sein

und vierzehn ein Mandel“, d.h. „er nimmt es nicht so genau“.

2. Mandel wird aber auch zur Zählung von Getreidegarben verwendet und bezeichnet die

aus 15, selten 16 Garben gebildete Getreidehocke: zu Arnstadt ist erwachsen…238 schock

2 mandell gersten. 139 schock 3 Mandell Rokken (in einer Urkunde aus dem Jahre 1583);

do stiehn nuch ocht Mannel Gerste; de Garschten wird in Manneln geleit „die Gerste wird

in Mandeln gelegt“ (ThWb s.v. Mandel).

In Komposita findet sich Mandel in Mandelhaufen m. „der aus 15 Garben gebildete

Getreidehaufen“, meist in der Form der Kreuzmandel (:� WG), und dem Adv.

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Mandel, mandeln

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mandelweise „zu je 15 Stück“, z.B. de Eier verkoof mer mandel- oder halbmandelweise;

die Frucht wurde mandelwiese uffjestellt. Das Adv. mandelweise bedeutet übertragen auch

„große Menge, viel“: in dar ehrn Schranke häng’n de Kleeder mandelweise; dar hat de

Dommheet maanelweis gefressen. Eine denominales sw. Verb ist mandeln in den zwei

Bedeutungen „je fünfzehn Getreidegarben zusammenlegen oder -stellen“, z.B. in mr wulln

de Gorm’n („Garben“) mannle, doß nich wedder noß ward, und „eine Anzahl von 15

erreichen“, scherzhaft in der Redensart hat’s gedutzend, kann’s auch mandeln „sind einmal

12 Kinder in der Familie, können es auch 15 werden“. Von diesem Verb ist Mandler m.

„Erntearbeiter, der die Garben zu Mandeln legt oder stellt“ abgeleitet: wenn de Gerschte

trocken war, wurde isammt („eingesammelt“) un gebungen; hingerdrein kam“n de

Mannler un stellten se in Kreiz- oder Bansenmanneln off (ThWb s.v. Mandelhaufen,

mandeln, mandel(s)weise, Mandler).

3. Mandel „Anzahl von 15 Garben“ und verschiedene Weiterbildungen sind vor allem im

Alpenraum und in einigen nddt. Gebieten erst ab mhd. oder frnhd. Zeit vertreten: bair.

Mannl, Mandl n. bezeichnet mehrere (10 bis 15) Getreidegarben, die auf dem Feld aufrecht

zusammengestellt und oben mit einer umgekehrten Garbe als Schutz bedeckt werden

(Schm BairWb 1, 1601). In Tirol besteht eine Getreidehocke aus zehn Garben, sechs

Hocken bilden einen Schober oder ein Mandl n., die oberste Garbe heißt Hut (Frommann

dt. Mundarten 6, 152). Aus älterer Zeit stammt noch: das getraide wird im felde zur

erndtezeit, wann es gesammlet und aufgebunden ist, in mandeln gesetzet, da denn das

ährenlesen hinter denen abgeführten mandeln nach, und nicht zwischen denen annoch

stehenden, denen armen leuten vergönnet wird (Öcon. Lex. 1500). Auch im nddt. Bereich

ist Mandel als Anzahl von 15 Garben bezeugt: Mandel strues frugum ex quindecim

mergitibus, quindena, funfzehn Garben (Frisch Teutsch-Lat 1, 638b); Mandel, eine Hocke

von funfzehn Garben (Voss de vitiis 2, 337). Von der Art, wie die einzelnen Garben zu

Mandeln zusammengebunden werden, hängt auch die Menge der Garben und somit die

hinter dem Begriff Mandel stehende Zahl ab (:�WG).

Mandel bezeichnet auch eine Anzahl von 15 Einheiten und reicht in dieser Verwendung

über den Alpenraum, Bayern und das östliche Mitteldeutschland auch nach

Norddeutschland: quindena ein mandel (Dieffenbach NovGloss 311b); von einer mandel

pfannkuchen solte mir wohl besser werden (Chr. Weise Comödien-Probe 315); daß

gemeldter herr nicht eine, sondern wohl ganze mandeln der artigsten dames zu seinen

guten freundinnen hätte (Chr. Weise Ehe eines Mannes 338).

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Mandel, mandeln

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In der latinisierten Form mandala steht der älteste Beleg in einer Urkunde aus dem Jahre

1242 des Chartulars der Abtei Mont S. Martin zu Cambray: viginti mandalas straminis ...

in illis octo modiis siliginis et avenae et viginti mandalis straminis (Du Cange 4, 220a).

M/WB: In der Bedeutung als Zählmaß überwiegt das Neutrum gegenüber dem Femininum,

das nur um Erfurt und um Weimar häufiger vorkommt, in der Bedeutung „Garbenhocke“

ist das Fem. neben dem Neutr. ungefähr gleich häufig. Das Mask. ist nur verstreut im

hennebergischen Sprachraum bezeugt (ThWb s.v. Mandel). Im Bairischen und

Tirolerischen ist das Wort Mandl als Mannl zum Deminutiv von Mann umgedeutet

worden, was den Gebrauch des neutralen Genus begünstigt hat. Das denominale Verb

mandeln ist von Mandel abgeleitet wie handeln von Handel (Fleischer/Barz 310).

L: Die mundartlichen Varianten [man(Q)l] und [mån(Q)l] zeigen die lautgesetzliche

Assimilation von inlautendem -nd- zu thür. -nn- wie z.B. in [hunQrd] „Hundert“ oder [šån]

Ä6FKDQGH³��6S�7K*U����II����GLH�9DULDQWHQ�>P�Q�Q)l], [mÂ�Q�Q)l], [mÊ�Q�Q)l] und [m*n(Q)l]

zusätzlich noch Vokaldehnung wie z.B. in [h Ê�PQ�U�@� Ä+DPPHU³�� >ã�QQ] „Schande“ (Sp

ThGr 18f.).

WG: Üblicherweise bezeichnet Mandel eine liegende Anordnung der Garben, wie sie vor

allem bei Feldfrüchten mit kurzen oder schlaffen Halmen (z.B. Gerste, Hafer oder Flachs)

zweckmäßig ist. Dabei werden drei Schichten von je vier oder vier Schichten von je drei

mit den Ähren nach innen liegenden Garben kreuzweise übereinander gelegt, drei weitere

Garben werden als Regenschutz („Hut“) darüber gebreitet. Diese Art der Schichtung heißt

Kreuzmandel und ergibt eine Menge von 15 Garben und somit die Größe des Zählmaßes,

wie es im Verbreitungsgebiet des Wortes Mandel üblich ist. Bei der Bansenmandel werden

die einzelnen Lagen der Garben in abnehmender Zahl nach oben aufeinandergeschichtet,

also erst 5 Garben, dann 4, 3, 2 und schließlich als „Hut“ eine Garbe, so dass sich auch hier

eine Anzahl von 15 Garben ergibt. Eine weitere Möglichkeit der Anordnung besteht darin,

an vier in der Mitte stehende Garben rundum weitere Garben anzulehnen:

Daraus ergibt sich die Zahl 16. Auch andere Arten der Anreihung mit meist 15 Garben

waren üblich (ThWb s.v. Landmandel, Kauzmandel, Spitzmandel). In manchen Gebieten

legte man die Garben auf eine Astgabel oder ein Holzgestell, damit die Ähren nicht die

Erde berührten und ein schnelles Verfaulen bei Nässe verhindert wurde.

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Mandel, mandeln

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Egerm: In EWD s.v. Mandel² „Menge von 15 oder 16 Stück“ vermutet Seebold Herkunft aus

einem keltischen Wort *manatlo-, das aus korn. manal „Garbe“ und mbreton. malazn,

nbreton. malan „id.“ rekonstruiert wird. Die spät bezeugten britannischen Wörter haben

jedoch weder einen innerkeltischen Anschluß noch eine innerkeltische Etymologie, was sie

der Entlehnung verdächtig macht (:�Eidg).

Für die dt. Wörter ist somit eher ebenfalls fremder Ursprung und zwar aus einem spätlat.

mannella f. oder mannellus m. „kleine Garbe, Bündel“ (< *„Handvoll“; Meyer-Lübke

REW 5329) wahrscheinlich. Der Akzent hat sich – wie bei lat. Lehnwörtern üblich – im

Dt. auf die erste Silbe zurückgezogen, die zweite Silbe wurde synkopiert und die Endung

reduziert: spätlat. mannélla, -us > *mánnella, -us > *mannlla, -u > mannl, mand(e)l. Ganz

parallel geht z.B. die Entwicklung von lat. genésta > nddt. ginst, geenst, nhd. Ginster (mit

t/der-Erweiterung in Analogie zu anderen Pflanzenbezeichnungen wie z.B. Holunder, ahd.

affaltar „Apfelbaum“; EWA s.v. genesta). Zwischen den aufgrund der Synkope in

Kontaktstellung geratenen n und l entstand ein Sprossdental wie in bair. Schweind(e)l

„Schweinchen“ (MhdGr 139) oder hd. eigentlich, öffentlich < eigen-lich, öffen-lich etc.

MhdGr 161). Dentale Sprosskonsonanten sind ab dem 13. Jhd. bezeugt; dies wird bestätigt

durch den aus dem 13. Jhd. stammenden latinisierten Beleg mandala (:�B).

Die Entlehnungsbasis ist auch im heutigen alpenländischen Italienischen noch als

mannella, mannello „Garbe, Getreide- oder Flachsbündel“ gebräuchlich. mannella und

mannello sind Deminutivableitungen eines schon im klass. Lat. bezeugten manua

„Handvoll; Getreidebündel“ (:�Eidg).

Eine semantische Parallele bietet das deutsche Subst. Handvoll mit den dial. Varianten

Hampfel, Hämpfel und dem schweiz. Demin. Hämpfeli. Sie bezeichnen die Menge, die

eine Hand fassen kann, vor allem bei der Getreideernte: die handvoll, was man in ein hand

fassen mag, manuale, manipulus (16. Jhd., alemann., Maaler teutsch Sprach 212a);

manipulus, ein hantfol, so vil ein kornschniter mit der hant begreift (16. Jhd., Nürnberg,

Serranus dict. o 1b). Auch Garbe ist von einem uridg. Verb abgeleitet, das „greifen“

bedeutet, auch wenn die genauen Ablautverhältnisse noch nicht geklärt sind (EWA s.v.

garba; EWD s.v. Garbe).

Der Bedeutungsübergang von „Haufen oder Bündel Getreidegarben“ zu einem Zählmaß ist

in Schock deutlich, das ursprünglich einen Haufen von Garben und später die Zahl 60

bezeichnet; dies ist in der heutigen dt. Schrift- und Umgangssprache zur ausschließlichen

Bedeutung geworden (EWD s.v. Schock1).

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Mandel, mandeln

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Eidg: Spätlat. mannella, -us ist ein Deminutiv von spätlat. manna „Garbe“ < klass. lat. manua

f. „Handvoll, Getreidebündel“ (Meyer-Lübke REW 5329). Das spätlat. -nn- stammt

lautgesetzlich aus der Verbindung -n - wie z.B. in it. gennaio „Januar“ < lat. L�QX�ULXV��einer Nebenform zu lat.�L�QX�ULXV�(Meiser Lat.LFL §61.2). Lat. manua ist wahrscheinlich

eine analogische Rückbildung aus PDQX�OLV (vielleicht nach dem Muster L�QXD : L�QX�OLV; Walde/Hofmann LEW II 34; Leumann/Hofmann/Szantyr 71*), das von manus, -ÌV� f.

„Hand“ mit dem Adjektivsuffix -�OLV abgeleitet ist. Allenfalls möglich wäre auch eine

Kollektivbildung, die man in das Uridg. als *mon -ah2- „die Menge, die man mit der Hand

greifen kann“ transponieren kann. Lat. manus geht auf einen urital. u-St. *monu- mit auch

sonst bezeugter Entrundung von o > a nach Labialen zurück (Schrijver PIE Lar. 465,

474f.). Neben lat. manus sind umbr. MANUVE „in manu“ (D./L.Sg. eines u-Stamms),

MANF (Ak.Pl. eines Konsonantenstamms) und osk. manim (Ak.Sg. eines i-Stamms)

bezeugt. Außeritalisch schließen sich an german. *PXQÿ�- f. „Hand; Schutz“ in anord.

mund f. „Hand“, aengl. mund f. „Hand; Schutz, Vormundschaft“, ahd. munt f. „Hand;

Schutz“ < uridg. *m�-táh2- und air. muin i,f. „Schutz“ < uridg. *mon-i-, falls das kelt. Wort

in air. muin „Hals, Nacken“ als Sonderbedeutung in den Phrasen de/do muin „im Nacken

von, hinter“ und „unter dem Schutz von“ und for muin „unter dem Schutz von“ verbaut ist

(DIL s.v. 1. muin „Hals“ c.; Schrijver PIE Lar. 458). Ein selbständiges air. Subst. muin

„Schutz“ gibt es trotz Schrijver (loc. cit.) nicht. Das Hethitische bietet ein Verb mani�ahh-

hhi „einhändigen, übergeben, beauftragen“, das nach Oettinger aus einem denominativen

*m�n-�e/o- mit innerheth. Mitteln weitergebildet ist (Oettinger HethSb 458). Unter

Einbeziehung von Schrijvers Herleitung des lat. Wortes manus aus uridg. *mon-u- ist für

heth. mani�ahh-hhi jedoch eine schwundstufige denominative Ableitung *m�-�e/o- mit

lautgesetzlichem Wandel von uridg. *� zu heth. an vorzuziehen, die dem in LIV² 19

dargestellten Ableitungsmuster mit schwundstufiger Wurzel und Suffix -�e/o- genau

entspricht.

Bei Pindar ist ein Hapax legomenon ��!�� Ä+DQG³� QHEHQ� HLQHU�+HV\FKJORVVH��.!��0�� Ü��.����0�� ÄHUJUHLIW³� EH]HXJW�� 'LHV� KDW� ]XU� $QQDKPH� HLQHV� XUVSUünglich heteroklitischen

uridg. Paradigmas N. *móh2-�, G. *méh2-�-s oder N. *h2em-ÀU, G. *h2m-n-és (zu einer

uridg. Wurzel *h2em- „nehmen“; Neri temi in -u 234f. u. Anm. 746) geführt. Für das Lat.

erfordern diese Ansätze eine Reihe von Sonderentwicklungen, so dass der lautgesetzlichen

Herleitung von manus < *monu- „Hand“ hier der Vorzug gegeben wird. Das Wort reiht

sich so in eine Gruppe von o-stufigen, u-stämmigen Wörtern ein, die meist Körperteile

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Mandel, mandeln

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bezeichnen: uridg. *ÿonu- „Knie“, *sonu- „Rücken“, *por�u- „Rippe“ (weitere Beispiele

bei Neri temi in -u 146 Anm. 422).

Möglicherweise ist das lat. Wort mannella, -us „Garbe“ auch als Lehnwort ins

Britannische eingedrungen und wurde zu einer Bildung mit dem Instrumental-Suffix *-tlo-

(ererbt z.B. kymr. haedd(e)l, mbreton. haezl „Pflugschar“; GPC s.v. haeddel)

uminterpretiert als *mannatlo-. Die Endsilbe ist reduziert worden, der Akzent wurde

infolge der britannischen Paenultima-Akzentuierung auf den Anfang des Wortes verlagert

und die zweite Silbe geschwächt: lat. mannélla, -us „Garbe, Getreidebündel“ > britann.

*mannátlo- > *mánnaϑl > korn. manal und breton. malazn „id.“. Mbreton. malazn zeigt

die gleiche Liquida-Metathese von *manazl > breton. malazn wie z.B. mbreton. alazn

„Atem“ < *anazl (kymr. anadl) oder mbreton. balazn „Ginster“ < *banazl (kymr. banadl;

Pedersen VGKS I 135), im Falle von malazn kann auch ein volksetymologischer

Anschluss an das breton. Verb malaff „mahlen“ (statt *melaff, vgl. air. melid, mit

Verallgemeinerung des schwachen Stamms; LIV² 432f.) eingetreten sein. Für diese

Herleitung aus dem Lat. spricht, dass das Britannische viele lat. Lehnwörter aus dem

Bereich der Agrikultur übernommen hat (Haarmann, lat LW).

Lit: B ThWb s.v. Mandel, Mandelhaufen, mandelweise, Mandler; Sch BairWb 1, 1601;

Frommann dt. Mundarten 6,152; Öcon.Lex. 1500; Frisch Teutsch-Lat 1,638b; Voss de

vitiis 2,337; Dieffenbach NovGloss 311b; Chr. Weise Comödienprobe 315; Chr. Weise

Ehe eines Mannes 338; Du Cange 4, 220a; M/WB ThWB s.v. Mandel; L Sp ThGr 18f,

193ff; WG ThWb s.v. Mandel, Kreuzmandel, Bansenmandel; Egerm Meyer-Lübke REW

5329; EWA s.v. garba, genesta; MhdGr 139, 161; Maaler teutsch Sprach 212a; Serranus

dict. O 1b; EWD s.v. Garbe, Schock1; E

idg REW 5329; Meiser Lat. LFL § 61.2;

Walde/Hofmann LEW II 34; Leumann/Hofmann/Szantyr 71*; Schrijver PIE Lar 458, 465,

474f.; DIL s.v. muin; Oettinger HethSb 458; GPC s.v. haeddel; Pedersen VGKS I 135;

LIV² 432f.; Haarmann lat. LW.

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Märe, Märerei, Märde, Märte, Märes, mären 1

Märe, Märerei Sb f. „Durcheinander, Kleckerei, Dreck“

Märde, Märte Sb f. „eingebrockte Speise“

Märes Sb m. „unsauberer Esser“

mären swV „mischen, herumwühlen, stochern“

Z: Die thür. Wörter Märe, Märerei f. „Durcheinander, Kleckerei, Dreck“; Märes m. „unsauberer

Mensch“ und das sw. Verb mären „herumwühlen, stochern“ sind Ableitungen einer german. Wurzel

*mer- „zerkleinern“, die auch im anord. Kausativ merja „zerkleinern, zerschlagen“ (< uridg. *morh2-

éie-, ôô

Eidg

) und weiteren Ableitungen in den german. Sprachen bezeugt ist. Die bisherige Herleitung

von dial. Mä(h)rte, Märde „in Wein, Bier oder Milch eingebrockte Speise“, ahd. merãã

te f., mer..

t m.

„ds.“ als Lehnwort aus kirchenlat. merenda „Vesperbrot“ muss aus lautlichen Gründen aufgegeben

werden (ôô

Egerm

). Märde, Mä(h)rte wird stattdessen als „zerkleinerte Speise“ mit den oben genannten

Wörtern etymologisch verknüpft; und Märes „unsauberer Esser“ hat ein aus dem Rotwelschen

stammendes Suffix -es erhalten (:�M/WB).

Erschwert wird die Zuordnung der dial. Wörter samt ihren Ableitungen durch die Vermischung mit

zwei anderen, im Nhd. und den Dialekten teilweise homophon gewordenen Wörtern mären „erzählen,

reden, schwätzen“ und mären „zögern, trödeln, langsam arbeiten“, die aber aufgrund ihrer mhd.

Lautgestalt m��

rn und merren dort noch unterschieden werden (ôô

WG, Egerm

). Für alle drei Wurzeln

lassen sich uridg. Anschlüsse finden (:�(idg).

B: In thür. Mdaa. sind folgende Substantive bezeugt: Märe f. „durch Unordnung entstandenes

Durcheinander, Verwirrung, Kleckerei“; Märde, Mährde, Märte f. „schmutziges

Durcheinander, Dreck; Monatsblutung der Frau“, z.B. in das es je enne hebsche Määrde

„das ist ja eine ziemliche Sauerei“ und Märerei f. „durch Verschütten einer Flüssigkeit

entstandene Unsauberkeit, Schmutz, Durcheinander“, z.B. in aale Planschsuse, su ene

Marerei, was du machst, oder mocht nich immer su ne Marerei mit eiern Kaiserhammel

(Kaiserhammel = Leckerbissen). Des weiteren ist für Märte f. auch eine Bedeutung

„eingebrocktes Gericht, Kaltschale mit eingeweichtem Backwerk“ bezeugt. (:� WG1).

Davon ist Märtentopf „Topf, in dem man sein Essen (Märte) zur Arbeit mitnahm“

abgeleitet. Märes m. „unsauberer Esser, Dreckspatz“ bezeichnet jemanden, der beim Essen

immer die Hälfte verkleckert oder beim Kauen teilweise wieder ausspuckt. Sehr häufig

kommt in ganz Thür. das schw. Verb mären, mähren „im Schmutz oder in trüben

Flüssigkeiten herumwühlen, herumrühren, stochern“ vor, z.B. in de Keeng maren in Drack

„die Kinder wühlen im Dreck“. Daneben sind auch Präfixverben belegt, z.B. anmären

„anfassen, berühren“, moßt de met dein Dreckpfutn olles oonmäre?, und „anmischen“, em

oachte han ech dn Kuechen oangemiert „um acht habe ich den Kuchenteig angerührt“,

herummären in mare nich in der Mallemen rim „stocher nicht im Straßenstaub herum“

oder hineinmären in mar nich olles onger enannr nei „rühr nicht alles untereinander

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Märe, Märerei, Märde, Märte, Märes, mären 2

hinein“. Weitere Verben werden mit den Präfixen ab-, be-, durch-, ein-, hinan-, ver-, zer-,

zusammen- gebildet (ThWb s.vv.). Vor allem beim Essen bedeutet mären „herumstochern“

und dann auch „wählerisch sein, sich die besten Stücke aussuchen“. Dazu gehört das Adj.

märig „wählerisch beim Essen“. Weitere Bedeutungsübertragungen sind – ausgehend von

„stochern“ – „unnütz betasten, anfassen, durch Anfassen ärgern“, z.B. in mär die Katz niet

suu „ärgere die Katze nicht“ und – aufgrund des Geräusches – „herumkramen,

herumrumoren“. Ähnliches lässt sich auch bei Subst. nachweisen, vergleiche z.B. Gemäre

„lärmendes Gedränge, Gewühl“ in wor in dare Eisenbah a Gemör!

Das Verb mären ist in dieser Bedeutung außer im Thür. nur noch in Sachsen, Franken und

im Schlesischen bezeugt (DWb s.v. mähren; Weinhold 60a).

Die frühesten Belege für das Verb sind mhd. mërn, mëren swV „einbrocken, eintunken (und

herumrühren)“, z.B. in da�ÍichÍsül guoter spîse leben, irn durft mir niht wan wa��er gebn und

brôtes, da� ich drîn gemer und mit wa��er er einen copf (= Becher) nam, darinne merte er sîn

brôt (Lexer, BMZ s.v.). Märte, Märde entspricht mhd. merate, merte, merde f. „Wein oder

Wasser mit eingebrocktem Brot“ (:�WG1, Egerm).

Daneben gibt es homophone Wörter mit einer Grundbedeutung „reden, sprechen, erzählen“:

Mär m., Märe f. „unnützes Gerede“, z.B. in der macht aa e grassen Mär „der redet auch viel

Unnützes daher“, Gemäre n. „weitschweifiges Geschwätz, Gerede“, Märde f. „unnützes,

langatmiges Gerede“, z. B. in der Schulz hät a groß Marden gemocht „der Bürgermeister hat

eine lange Rede gehalten“; mären „schwätzen, umständlich daherreden“, durchmären „genau

durchsprechen, sich über jdn. auslassen“. Mit Mär- sind viele Komposita bezeugt, die Leute

bezeichnen, die viel und unnütz reden; z.B. Märsack m. „Schwätzer“ in dos sinn richtche alle

Marsäcke, bei dann giehts vun Hunnertsen ins Tausende bein Schlobbern.

Das Verb mären bedeutet aber auch „herumtrödeln, langsam arbeiten“, dazu gehört das Adj.

märig „langsam, schwerfällig, schlaff“, z.B. in märige Transuse. Es wird üblicherweise als

Bedeutungsübertragung „viel reden und daher langsam bzw. nicht arbeiten“ angesehen (doch

siehe WG1, Egerm).

Die Bedeutungen haben sich vermischt und werden heute kaum noch als verschiedene

Wörter empfunden. Deswegen kommt es auch im lautlichen Bereich zu Überschneidungen

(:�L). Die Vermischung zeigt sich z.B. in Märarsch m. „einer, der langsam arbeitet, ißt

oder langweilig spricht“, z.B. mar ach nech su iäweg, du aler Marorsch „schwätz doch

nicht so ewig, du alter Märarsch“.

M/WB: Märe ist ein fem. -�(n)-Stamm. Die Flexion der fem. �- und n-Stämme ist schon im

Ahd. zusammengefallen (MhdGr 198, FrnhdGr III 138ff). Märde, Mährde, Märte eigtl.

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Märe, Märerei, Märde, Märte, Märes, mären 3

„Einbrockung“ ist dagegen eine fem. Abstraktbildung mit demselben Suffix wie in Hälfte

(aus Nddt., vgl. EWD s.v. Hälfte), Zierde oder Freude (:�Egerm1); während mären swV

und das Adj. märig von Märe deriviert sind wie Kunde : künden : kundig oder Sand :

sandig (Lühr Nhd 165). Märes m. zeigt eine Ableitung mit einem rotwelschen, ursprgl. aus

dem Hebräischen stammenden Suffix -es (z.B. in rotw. Meches m. „Zolleinnehmer“;

Balbes „Gastwirt“, Chattes „Lump“, Fladeres „Barbier“; Wolf Rotw s.vv.), das des öfteren

im Md. als Suffix zur Bildung von mask. Nomina agentis mit häufig abwertender

Bedeutung verwendet wird.

L: Thür. Märe, mären usw. setzen mindestens zwei Wörter aus dem Mhd. fort, die an ihrer

dialektalen Lautform unterschieden werden können:

1. mären „herumwühlen, umrühren“ hat die dialektalen Entsprechungen [mÂ�rQ(n)] und

[mÂ�rQ(n)], [m�rQ(n)], die auf einen mhd. Kurzvokal ë deuten, der im Nhd. regulär gedehnt

worden ist (Sp ThGr 72ff.).

2. mären „reden, schwätzen“ mit den dialektalen Varianten [m Â�rQ(n)], [m�QrQ(n)] weist auf

einen mhd. Langvokal � oder ¾ (Sp ThGr 103ff.).

In den Mdaa. haben sich die beiden Wörter nicht nur semantisch, sondern auch lautlich

vermischt, so dass [m�rQ] auch „reden, schwätzen“ bedeutet und [*anm�QrQ] „anrühren“.

Die Variante [m�rQ(n)] mit £ zeigt einen nur im Itzgrund anzutreffenden Lautwandel und

erklärt sich wie das ö in schwören < mhd. swern aus altem offenen û (Sp ThGr 92). Zu den

lautlichen und semantischen Überschneidungen vgl. auch HessWb 2, 252f. und Müll.-Fr.

2, 207.

In das Spektrum der Bedeutungen (:� B) ist noch ein drittes Verb, mären „trödeln,

bummeln, zögern“, eingedrungen, das in mhd. merren, ahd. marrjan trans. „aufhalten;

hindern“, intrans. „sich aufhalten, zögern“ bezeugt ist und dieselbe lautliche Entwicklung

eines Kurzvokals mit nhd. Vokaldehnung zeigt wie 1. mären „herumwühlen“ (:� WG,

Egerm).

WG1: Es gibt drei Bedeutungen bei den homophonen Verben mären:

1. „herumwühlen, stochern, mischen, einbrocken“ mit den Objekten „Teig“, „Essen“ oder

„Dreck“ (:� B). Dazu passt semantisch und lautlich das mhd. Verb mërn „einbrocken,

vermischen, rühren“ (:�L).

2. „schwätzen, weitschweifig reden“ gehört zu nhd. Mär f. und Märchen (EWD s.v.

Märchen), mhd. mæren, Prät. P�UWH, swV „erzählen“, ahd. P�U�U�HQ (:�Egerm).

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Märe, Märerei, Märde, Märte, Märes, mären 4

Üblicherweise wird die Bedeutung „trödeln, langsam arbeiten“ aus „schwätzen und daher

nicht arbeiten“ hergeleitet (ThWb s.v. mären1). Doch gibt es im Mhd. ein zugehöriges

Verb mit kurzem Vokal:

3. „trödeln, bummeln, zögern“ hat Entsprechungen in mhd. marren, merren swV

„aufhalten, hindern“, intrans. „zögern, langsam gehen, trödeln“, Prät. merrete, marte, ahd.

marrjan „aufhalten, behindern“, (Lexer, BMZ s.v. marre, merren; :�Egerm), z.B. swane

der esel geth so setzet er einen vu� balde nach deme anderen und enmarret niht. also

ensoltu ouch niht marren. Weiterhin gehören die Subst. mhd. merren n. „das Zögern,

Trödelei“, marrunge f. „Verzögerung, Trödelei“, z.B. da� tv al zuhant, wane marrunge

machet gro�en Schaden, und merresal f. „Verzögerung, Hindernis“ hierher.

WG²: Aus dem Rotwelschen stammen die Verben malochen, marachen, marakeln „sich

abarbeiten, plagen“ (WbUmg 1,35; Wolf Rotw. Nr. 18, ThWb s.v.). Sie haben sich

teilweise mit den in WG1 genannten Wörtern vermischt und so zu marakeln „beim Essen

Unordnung machen, kleckern“, z.B. dar marakelt aber bein Essen, und Marakel m. mit

den Bedeutungen „Sauerei, Schmutz“, z.B. su e Marakel, „Dreckspatz“ als Schimpfwort

für einen unsauberen Menschen, und „dummes Geschwätz“, z.B. du machst awwer enn

Marakel, geführt.

Egerm1: Die unter WG

1 1. aufgeführten Wörter Märte, Märde f. sind Ableitungen mit dem

ahd. Suff. -Vda, -Vtha < german. *-VþÀ- (van Dam 193, 373; Dittmer FS Kolb 53-69).

Diese Abstraktbildungen können teilweise eine konkretere Bedeutung annehmen als z. B.

Bildungen mit *-¯Q- (vgl. got. kaurei „Schwere“ mit got. kauriþa „Last“; Kr/M III 145f.).

Das Subst. Märte, Märde „eingebrocktes Gericht“ ist schon im Ahd. als mer(e)da, merata

f. und PHUÀW��PHUHW��PHUW m. bezeugt. Grimm und Lexer (DWB s.v. Mährte, Lexer s.v.

mërn) erklären es als kirchenlat. Lehnwort aus merenda (zum Verb merere „verdienen“)

als „das verdiente Essen = Vesper, Vesperbrot“. Grimm führt als Beweis merod m. „in

Wein oder Milch eingebrockte Speise“ in der Benediktinerregel an; doch dort übersetzt es

lat. mixtum „Gemischtes“ oder intritum „Eingebrocktes“. Auch zeigen die ahd. und mhd.

Belege keine Spur eines Nasals (Lexer, BMZ s.v.; AhdWb s.v.), sie sind anfangsbetont und

bedeuten „in Wein, Bier oder Milch eingebrockte Brotstücke“. Mit Nasal sind nur bair.,

tirol., kärnt. und schweiz. merénd, marénd (1x 15. Jhd., sonst erst nhd.) „Nachmittagsbrot“

belegt. Diese Wörter sind erst spät aus italienisch merénda oder rätorom. marénda

„Vesperbrot“ in die deutschen Dialekte des Alpenraumes entlehnt worden und haben

aufgrund dieser späten Entlehnung den Akzent auf der zweiten Silbe behalten (SchweizId

IV 354). Deswegen müssen sie von Märte und seinen Vorformen getrennt werden. Märte,

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Märe, Märerei, Märde, Märte, Märes, mären 5

Märde, ahd. merÀW, merate usw. sind daher dem Verb mären „einbrocken, mischen“ als

Dentalableitung zuzuordnen (:�M/WB). PHUÀW m. „(zerkleinerte und dann) eingebrockte

Speise“ ist dabei ein substantiviertes Verbaladjektiv mit dem Suffix *-þa/ða- (idg. *-to-,

Kr/M III 142f. und II 135) von einem -ÀQ-Verb *mer-ÀQ in intensiver oder iterativer

Bedeutung „immer wieder zerkleinern, abbrechen“, das eine genaue Bildungsparallele in

ahd. ]HLJÀQ „immer wieder deuten“ hat (Kr/M III 240). Dieses nicht bezeugte ahd. *PHUÀQ

kann die Vorform von mhd. mërn, mëren, Prät. merrete und marte, swV „einbrocken,

eintunken, vermischen“ und nhd. mären „herumwühlen, umrühren, vermischen“ sein. Da

die mhd. Belege auf einen Kurzvokal ë deuten und nicht auf ein durch i-Umlaut

entstandenes æ, entfällt die Möglichkeit, mhd. mër(e)n wie das anord. merja als Kausativ-

Iterativ german. *mar-jan < idg. *morh2-eie- „immer wieder zerkleinern“ zu erklären (:�E

idg). Ein scheinbar zugehöriges nengl. dial. Verb to murne „zerkrümeln, zerkleinern“ ist

dagegen aus anord. nisl. nnorw. dial. morna swV „verwelken, dahinschwinden;

zerkrümeln“ entlehnt (deVries Anord Et Wb 393).

Egerm2: Die unter WG

1 2. aufgeführten Wörter mären und Märchen gehören zu got. merjan,

anord. mæra „verkünden, erzählen“ und ferner zum german. Adj. *m¾rja- „berühmt,

bekannt“ (vgl. got. wailamereis „löblich“), anord. m�rr, ae. m¾re, as. ahd. mãri, mhd.

m�re (EWD s.v. Märchen; Heidermanns PA 408f.). Auch Märde f. „Geschwätz, Gerede“

setzt eine alte, und zwar schon im Got. belegte Bildung meriþa f. „Gerücht, Kunde“, ahd.

P�ULWKD, P�ULGD f. „Verkündigung“ fort (Lehmann GotWb s.v. meriáa).

mären, mhd. merren „verzögern, aufhalten, behindern“ und das Subst. merren n. „das

Zögern, der Aufenthalt“ stimmen zu got. marzjan „ärgern, stören“, ahd. marrjan, marran,

marren, ae. mierran, afries. P�ULD, as. merrian „aufhalten, behindern, stören“ (Lehmann

GotWb sv. marzjan).

Eidg: Das aus ahd. PHUÀW m. zu erschließende ahd. *-ÀQ-Verb *mer-ÀQ „(immer wieder)

zerkleinern“ und das Kausativ-Interativ anord. merja < german. *mar-jan „ds.“ Setzen die

uridg. Wurzel *merh2 in der Bedeutung „gewaltsam packen; zerdrücken“ (so LIV² 440)

oder „zerkleinern, zerstoßen“ fort (so Oettinger Stb. 279ff. und EWAia II s.v. MARI1).

Beide Verben zeigen auch aus anderen idg. Sprachen bekannte Ableitungstypen: Das

Kausativ-Iterativ german. *mar-jan- hat o-Stufe der Wurzel und das uridg. Kausativsuffix

-éie- (LIV² 22f.) und geht so auf ein uridg. *morh2-é�e- zurück; german. *mer-ÀQ ist nach

einem im German. verallgemeinerten und produktiven Bildungsmuster (Kr/M III 239) mit

dem Suffix *-�e/�o- von einem fem. �-St. (german. À-St) abgeleitet (Kr/M III 238-243;

LIV² 19) und führt zu einem uridg. Transponat *merh2-ah2-�e-. Hier ist entweder der erste

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Märe, Märerei, Märde, Märte, Märes, mären 6

Laryngal h2 dissimilatorisch geschwunden und daher die nach Lühr (Lühr 1976:73ff.) zu

erwartende Resonantengemination vor Laryngal nicht eingetreten, oder die fehlende

Gemination ist nach Formen erklärbar, in denen aus lautlichen Gründen der Laryngal der

Wurzel geschwunden ist wie z.B. in den -io-Adj. (siehe unten). Dies muss dann auf das

Kausativ analogisch übertragen worden sein; ähnliche Fälle mit nicht eingetretener

Resonantengemination vor H wurden auch von Lühr als analogische Umbildungen erklärt

(Lühr 1976:83f.).

Außergermanische Verwandte der uridg. Wurzel *merh2 sind das heth. them. Mediopassiv

3.Sg. (aheth.) marritta, (jheth.) marrattari „wird zerkleinert“ < uridg. *merh2-e/o-

(Oettinger Stb. 280; LIV² 440), die n-Infix-Verben aind. m�$ºti „er zermalmt, zerdrückt“

XQG�JULHFK����!�.�.��„ich kämpfe“ (< *„reibe auf“; mit griech. Akzentzurückziehung) aus

uridg. *m�-né-h2- (EWAia II s.v. MARI1; LIV² 440). In das aind. Verb m�$�ti ist zusätzlich

aufgrund des Zusammenfalls von *r und *l die Bedeutung des uridg. Verbs *melh2-

„zerreiben, mahlen“ (LIV² 432; EWAia II MARI1; Watkins GS Güntert 107 Anm.21)

aufgenommen worden. Nominale Ableitungen der uridg. Wurzel *merh2 sind weiterhin lat.

mort�rium „Mörser“, mor�tum „Mörsergericht“ (eine aus zerkleinerten Zutaten gemischte,

dem heutigen Pesto ähnliche Soße), und ein in mehreren Sprachen bezeugtes Adjektiv

*mer- o/ah2-, mor- o/ah2- oder *m�- o/ah2- „(zerrieben und daher) zerkrümelt, mürbe,

morsch“. Es ist z.T. mit Umbildungen bezeugt in schw. mör, dän. mør „weich“ ( < german.

*merwa-), ahd. maro, marawi, aengl. mearu, mnl. meru „mürb“ ( < german. *marwa-),

ahd. muruwi, ndl. murw „mürb“ ( < german. *murwija-), air. meirb „kraftlos“

(*„aufgerieben“), kymr. merw „schlaff, schwach, weich“ (< urkelt. *mer i-), serb. als

Subst. m�va „Brosamen, Krümel“ (IEW 735f.; deVries Anord Et Wb 385; Holth Aengl.

WB 217f.). Das Adj. *mer- o/ah2-, mor- o/ah2- oder *m�- o/ah2- wird von Neri (mündl.)

als Ableitung eines verschollenen u-stämmigen Abtraktums *mórh2-u-, *mérh2-i�, *m;h2-

éu- erklärt, wobei im German. der vorkonsonantische Laryngal nach Resonant

lautgesetzlich geschwunden ist (Neri, temi in -u: 265f. Anm. 870). Als Lehnwort auch in

den ostseefinnischen Sprachen, z.B. finn. murea „mürbe, locker“, < german. *murwija-

(LÄGLOS II 272f.)

Die anderen Wörter, die sich im Thür. damit vermischt haben, sind etymologisch bereits

zugeordnet und erklärt worden: mären „reden, erzählen“, Märchen zum german. Adj.

*m¾rja- „berühmt, bekannt“ (ô Egerm) als „bekannt machen; verkünden“ und weiter zu

kelt. *P�UR- „groß(artig)“ in gall. Maro- als Personennamen-Element (Schmidt KGP s.v.

maro-), air. már, mór (mit � > À in labialer Umgebung), kymr. mawr „groß, berühmt“

Page 172: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Märe, Märerei, Märde, Märte, Märes, mären 7

(EWD s.v. Märchen, Heidermanns PA 408f.). Demgegenüber wird mer(r)en „verzögern,

aufhalten, behindern“, intrans. „trödeln“ mit weiteren german. Kognaten (:� Egerm) als

Kausativ *mors-éie- zu der uridg. Wurzel *mers „vergessen“ (LIV² 440f) gestellt, das

Kaus. ist semantisch erklärbar als „jdn. vergessen machen“ :� ÄMGQ�� DEOHQNHQ��durcheinanderbringen, stören, aufhalten, behindern“. Dem german. Kausativum entspricht

genau das aind. Kaus. mar&ayanti „vergessen lassen“. Zu der uridg. Wurzel gehören ferner

aind. mar& „vergessen“ (z.B. m��&yate „er/sie vergißt“, Aor.-Inj.M. mº m�&'h�s „vergiß

nicht!“) sowie – als sekundäre se'-Wurzel – toch. B 3.Sg. Prät. marsa , A märs „er/sie

vergaß“ (EWAia II 332).

Lit: B ThWb s.v. Märe, mären, Märerei, Märes; DWb s.v. mähren; Weinhold 60a; Lexer s.v.

mërn; BMZ s.v. mërn; M/WB MhdGr 198; FrnhdGr III 138ff; EWD s.v. Hälfte; Lühr Nhd

165; Wolf Rotw 254, 850, 1438, 3494; L Sp ThGr 72ff, 92, 103ff; HessWb 2,252f.; Müll.-

Fr. 2,207; WG1 Lexer s.v. mërn, merren; BMZ s.v. merren; WG² WbUmg 1,35; Wolf

Rotw 18; ThWb s.v. marachen, marakeln; Egerm van Dam 193, 373; Dittmer FS Kolb 53-

69; Kr/M III 135, 142f., 145f., 240; de Vries Anord Et Wb 393; EWD s.v. Märchen;

Heidermanns PA 408f; Lehmann GotWb s.v. marzjan, meriþa; Lexer s.v. mer.t; BMZ s.v.

merãSD��DWb s.v. Mährte; AhdWb s.v. PHUÀW; SchweizId IV 354; Eidg LIV² 19, 22f., 432,

440; Oettinger Stb 279ff.; EWAia II s.v. MARI1; Kr/M III 238-243; Lühr 1976 73-92;

Watkins GS Güntert; IEW 735f; de Vries Anord Et Wb 385; Holth Aengl Wb 217f;

LÄGLOS II 272f.; Schmidt KGP s.v. maro-; EWAia II 332.

Page 173: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Mauke 1

Mauke Sb f. „Hufkrankheit bei Huftieren; Schnupfen bei Mensch und Tier“

Z: Thür. Mauke bezeichnet samt seinen mda. Varianten (:� /�� HLQH� ÄQlVVHQGH� +XINUDQNKHLW� YRQ�Huftieren“ und „Erkältung, Schnupfen“. Dazu gesellen sich Belege aus anderen Dialekten mit

denselben Bedeutungen und zusätzlich noch nhd. Mauke „Krankheit am Weinstock“ und selten

„Blattlausbefall“ (:� %�� :*��� 'LHVH� ODVVHQ� VLFK� XQWHU� GHQ� %HGHXWXQJHQ� Ä6FKOHLP�� 5RW]��Rotzkrankheit“ semantisch vereinen (:�:*���'DYRQ�PXVV�GDV�:RUWIHOG�XP�meucheln, ahd. PÌKKDQ

„verstecken; heimlich tun; aus dem Hinterhalt anfallen; hinterrücks ermorden“ getrennt werden (:�WG). Bisherige Erklärungs-versuche scheitern entweder an lautlichen Problemen (so Pokorny; :�WG, E

germ) oder an seman-tischen Schwierigkeiten (so Heidermanns und EWD; :�(germ

). Daher wird

hier eine Entlehnung aus lat. PÌFXV „Schleim, Rotz“ oder PÌFRU „Schleim, Rotz; Rotzkrankheit, vor

allem an Weinstöcken“ vorgeschlagen, da sie den lautlichen und semantischen Gegebenheiten

entspricht (:�:*��(germ). Lat. PÌFXV und PÌFRU sind mit weiteren Ableitungen zu einer idg. Wurzel

*meu

5 5

k (:�(idg) „abstreifen, losbinden“ zu stellen, die im Griech. und Lat. eine Bedeutungseinengung

zu „Rotz, Schleim abstreifen“ erfahren hat.

B: Das in thür. Mdaa. bezeugte Subst. Mauke, selten Mauche swf. (ThWb s.v. Mauke)

bezeichnet einerseits eine Hufkrankheit, die sich an einer Geschwulst einhergehend mit

Schrundenbildung und starkem Nässen sowie Schleim- oder Eiterausfluss im Fesselbereich

der Pferde oder zwischen den Paarhufen von Kühen, Ziegen oder Schafen zeigt (:�WG).

Diese Krankheit wird teilweise auch mit dem verdeutlichenden Kompositum Brandmauke

bezeichnet (:� WB). Andererseits bedeutet Mauke auch „leichte Erkältung, Schnupfen,

Rotzausfluss bei Menschen oder Tieren“.

Selten wird Mauke bei chronischen Leiden oder leichter Verrücktheit verwendet, z.B. in er

hat seine alte Mauke wieder „er spürt wieder sein altes Leiden“ oder der hat seine Mauke

„der ist verrückt“, außerdem auch in der Redensart keine Mauke haben „keine Lust haben“,

z.B. in heite poßt mersch nich, ich howe oo gar keene richtige Mauke drzu „heute passt es

mir nicht, ich habe auch gar keine richtige Lust dazu“. Diese Bedeutungen sind unter dem

Einfluss von Mucke „Laune, leichte Verrücktheit“ (ThWb s.v. Mucke) zustande

gekommen.

Aus anderen Dialekten gehören hierher: Bair. Mauche „Hufkrankheit der Pferde“ swf. (mit

hd. Lautverschiebung; :�L) und mnddt. PÌNH nndl. muik f. m. „id.“. Der früheste nhd.

Beleg stammt aus einem Heilbuch für Pferde: dise stat der mauchen soltu stetiglich

brennen mit einem heiszen eisen (Albrecht Rossarzn. 1542: 27). Ferner gibt es das bair.

Kompositum Mauchkraut n.: das immenkraut oder mauchkraut brauchen die hirten dem

vich, so sie die mauch haben, das ist ein krankait die bricht jn ob den klaen herauß (Schm

Page 174: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Mauke 2

BairWb 1, 1560). Im Mhd. ist mÌFKH swf. „eine den Fuß lähmende Krankheit der Pferde“

bezeugt (Lexer, BMZ s.v. PÌFKH).

Außerhalb des Thür. bedeutet Mauke bzw. Mauche neben „Hufkrankheit“ und

„Schnupfen“ selten „Befall durch grüne, schmierige Blattläuse“. In der Agrarsprache

bezeichnet Mauke auch heute noch eine ansteckende Krankheit des Weinstocks (DWb s.v.

Mauke, Mauche; Nemnich s.v. Mauke; :�WG).

Des weiteren gibt es ein homophones Mauke, Mauche swf. in einer völlig anderen

Bedeutung: „Heimlicher Winkel, Ort zum Verstecken“, auch „Versteck von Kindern für

Obst oder Süßigkeiten“, das von den hier besprochenen Wörtern getrennt werden muss (:�WG).

M/WB: Das swf. PÌFKH ist erst ab dem Mhd. mit dem Pl. PÌFKHQ bezeugt. Schon im Ahd.

haben sich die schwachen fem. n-Stämme mit den starken fem. À-St. vermischt (Mhd Gr

198). Im Determinativ-Kompositum Brandmauke „entzündete Hufkrankheit“ ist Mauke

„Hufkrankheit“ durch das Vorderglied Brand in der Bedeutung „Entzündung“ verdeutlicht

wie z.B. in Brandfieber (DWb s.v. Brand, Brandfieber) und bezeichnet eine besonders

schlimme Form der Mauke. Bair. Mauchkraut n. ist ebenfalls ein Determinativ-

Kompositum, dessen Vorderglied das dialektale Mauch- statt Mauchen- bildet. Der n-

Abfall dient als eines der wesentlichen Abgrenzungsmerkmale zwischen dem md.

Sprachgebiet und dem frk.-obd. Sprachgebiet (Sp ThGr 223ff., mit Verbreitungskarte für

das Thür.).

WG: Eine aus dem 19. Jhd. stammende Erklärung der Mauke ist: Die Mauch ist eine

nassende Feuchtigkeit in dem Fissel (= Fessel), welche allda Schrunden formiret, daraus

scharff Wasser fliesset und das Ross hincken machet (Pfeiffer, Ross im Adt. 13,19). Die

Mauke als Befall mit grünen, schmierigen Blattläusen beschreibt ein Beleg aus dem 17.

Jhd.: Ich habe bei feuchtem Wetter diese grüne Mauken, die sich gern an Rosenstauden,

Artischocki und andere Gewächse anlegen, mit einem scharfen Bürstlein gemach

abkratzen und also vertilgen lassen (Hohberg 1, 478b). Die durch das Agrobacterium vitis

hervorgerufene ansteckende Weinstockkrankheit Mauke zeigt sich in Tumorwachstum an

den Stämmen mit Schrundenbildung und Harzausfluss, der zur Austrocknung der Stämme

und ihrem Absterben führen kann (Bild bei Blaich/ Fornek unter www.uni.hohenheim. de/

lehre370/weinbau/weinbau/cra_indx.htm). Mauke bedeutet auch „Schnupfen, Rotzfluss“

(:�B).

Das gemeinsame semantische Merkmal bei diesen verschiedenen Bedeutungen ist weniger

die Geschwulstbildung – wie Pokorny in IEW 752 annimmt (:�Egerm) – sondern vor allem

Page 175: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Mauke 3

das Austreten von schleimigen, zähen Flüssigkeiten. Die Mauke heißt daher manchmal

auch Hautrotz (www. lexikon.freenet.de/ Pferdekrankheit).

In der Bedeutung abweichend ist folgende Gruppe von Wörtern: mhd. PÌFKH, nddt. PÌNH,

md. Mauke „Versteck, Obsthort der Kinder“ (Woeste KZ 2, 205); am Rhein und Taunus

Mauke, Maukel „Versteck von Obst oder Geld“ (Kehrein 275); schwäb. Mauke, Mauche,

Maukennest „Ort, in dem Kinder ihre Näschereien verstecken“ (Schmid 378); schles.

Mauke „Versteck von Obst oder Geld“ (Weinhold 60b). Ein mhd. Adj. miuchel „heimlich“

bildet die Basis für die Verben maucheln, meucheln „verstecken; heimlich und hinterlistig

handeln, betrügen“ sowie „hinterlistig ermorden“, aber auch „heimlich naschen“ (DWb,

Lexer, BMZ, EWD s.vv.). Im Ahd. ist das Verb PÌKKDQ��PÌKKÀQ „verstecken, verbergen;

aus dem Hinterhalt anfallen“ (ú EWA s.v.) bezeugt. Zu diesen hdt. Wörtern gehört noch

ndl. muik f. „heimlicher Aufbewahrungsplatz“. Sie sind aus semantischen Gründen von

unserem Lemma Mauke zu trennen.

L: Mauke ist die md. Form mit -k- neben hd. Mauche mit -ch-, beide mit Diphthongierung.

Das Nebeneinander von ch und k im Thür. beruht auf md. Einflüssen (Sp ThGr 203). Auch

die undiphthongierte Form ist in thür. Mdaa. bezeugt. Die mundartlichen Varianten

[maug�] und [maux�] sind im S- und O-7K�U��]X�ILQGHQ��GLH�9DULDQWHQ�>PÌJ�Q@�XQG�>PÌ[@�im N- und Zentral-Thür. Dies deckt sich mit der Verteilungskarte von Ì und au (Sp ThGr

163 ff.).

Egerm

: Hd. Mauche, md. Mauke und ndd. 0ÌNH�f. führen zu einer frühahd. Form *PÌNÀ�Q�- f., ndl. muik m. zu frühahd. *PÌND- m. „Schleim, Rotz (aus Geschwulsten oder der Nase)“

oder schon „Schleim-, Geschwulstkrankheit“ bei Mensch und Tier, aber auch bei

Weinstöcken. Pokorny nimmt einen etymologischen Zusammenhang zwischen Mauke,

0DXFKH��0ÌNH und Wörtern aus anderen german. Einzelsprachen an, die aber eher eine

Grundbedeutung „Haufen, Menge“ (aus Zählbarem wie Korn oder Menschen) erschließen

lassen: anord. PÌJL��PÌJU m. „Haufen, Menge“, aengl. PÌJD m. „Kornhaufen“, aschwed.

mogha „Gemeinde, Volk“, schwed. dial. moa „zusammenhäufen“ (IEW 752; Holth AeWb

226f; deVries AnWb 394). Dieser Anschluss wäre nur möglich, wenn man in den dt.

Wörtern mit einer -no-Ableitung *PÌJ-no- und einer frühen n-Assimilation von À/k-n > kk

und dann Verallgemeinerung von k rechnet (Lühr Expr. 191f.). Doch liegen eher zwei

verschiedene Wörter vor: Die nord. und aengl. Wörter weisen auf nord- und westgerman.

*PÌJD- m. < german. *PÌÀa- (< vorgerman. *m¾gho- oder, mit Verners Gesetz, <

vorgerman. *PÌNy-) im Gegensatz zum oben angeführten vordt. *PÌNÀ�Q�- < german.

*PÌNÀ- (< vorgerman. *PÌJ�-). Die nordgerman. und aengl. Belege können mit Wörtern

Page 176: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Mauke 4

aus anderen idg. Sprachen verglichen werden, die hd. und nd. Formen jedoch nicht (:�E

idg).

Heidermanns (PA 415) führt unter PÌND- „weich“ die Adj. nnl. muik, meuk „weich, reif“,

nd. PÌN „reif“ und schweiz. mauch „morsch, matt, weich“ an sowie got. PÌND- als

Vorderglied in got. PÌND-modei „Sanftmut“ (Lehmann GotWb s.v.). Als vielleicht hierher

gehörig nennt er die o.g. Namen für die Hufkrankheit. Doch ist diese Verbindung aus

semantischen Gründen unwahrscheinlich, denn die Geschwulste an den Fesseln sind eher

hart, heiß und nässend als weich.

Daher wird für 0DXNH��0DXFKH��0ÌNH f. und ndl. muik f.m. eine Entlehnung aus lat. PÌFXV „Rotz, Schleim“ vorgeschlagen. Dieses Wort hat samt einigen Ableitungen einen teilweise

gleichen Bedeutungsumfang wie Mauke, Mauche und 0ÌNH: PÌFXV m. „Nasenschleim,

Rotz“; PÌFLGXV „schleimig“ wird auch von einer Krankheit bei Weinstöcken gesagt: so

sind partes vineae „Teile der Weinstöcke“ PÌFLGDH „schleimig“ (Colum.); PÌFRU m.

bezeichnet ebenfalls eine Krankheit, bei der aus dem Weinstock eine Flüssigkeit rinnt

(Plin. 17,116). Von dieser Wortgruppe sind noch rumän. mucoare „Rotzkrankheit,

Schnupfen“ und wallon. PDþ�UQ\i „Schnupfen“ abgeleitet (Meyer-Lübke 469f.). Zu

PÌFXV gesellt sich weiterhin das Verb mungere mit der Präfixableitung �PXQJHUH

„schneuzen, sich die Nase putzen“.

Lat. PÌFXV� und� PÌFRU wurden in der Bedeutung „Rotz, Schleim“ und während der

Akkulturation des Weinbaus und der Weinbauterminologie auch als Bezeichnung für die

Krankheit des Weinstocks übernommen (neben einer Vielzahl anderer lateinischer Wörter;

Bertsch 1947: 122-148; Alanne MSN 18). Ausgehend von der Bedeutung „Rotz, Schleim“

wurde das Wort dann auch auf die Hufkrankheit nach den Symptomen übertragen, was

sich noch in der dt. Bezeichnung Hautrotz für Mauke niederschlägt.

mÌFXV und PÌFRU verbreiteten sich nur im Hd. und Ndd. wie z.B. auch ahd. genesta f., nhd.

Ginster m. < lat. genista f. neben mndd. ginst, geenst, nndl. genst m. „Ginster“ (ú EWA

s.v. genesta).

Genuswechsel bei der Eingliederung lateinischer Lehnwörter ins Deutsche ist häufig zu

beobachten, z.B. bei nnd. ginst, geenst m. < lat. genesta f., Wein m. < lat. Y¯QXP n.,

Pfropfen m. < SURS�JR f., Butter f. < lat. EÌW�yrum�Q����JULHFK��� *2 �#! �� E

idg: Lat. PÌFXV „Rotz, Nasenschleim“ (< uridg. *mo ko-) und das Verb mungere „sich

schneuzen, den Rotz abwischen“ (< uridg. n-Infix-Prs. *mu-né-k-/mú-n-k- entweder mit

nicht regelmäßigem g aus k, so Schrijver PIE Laryngeals 499f., aufgrund von

Neutralisation der Verschlußlaut-Opposition neben Nasal (Kortlandt Lachmann“s Law,

Page 177: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Mauke 5

1989), oder in Analogie nach anderen n-Infix-Prs. wie pingere, iungere etc.) gehören

neben griech. ¡� -�*11&���*11 �.���¡� -�*11 �.��ÄVLFK�VFKQHX]HQ³����XULGJ���e/�o-Prs.

*muk-�e/�o-����*� �.��¡� �#��.� Ä1DVHQVFKOHLP��5RW]³���#�2�!� Ä1DVH³� � Ä6FKOHLPHU³��XQG�„tintiger Auswurf des Tintenfisches“ zu einer uridg. Wurzel *me k- „losbinden,

abstreifen“ (LIV² 443f.), die im Lat. und Griech. die eingeengte Bedeutung „(Rotz,

Nasenschleim) abstreifen, sich schneuzen“ erhalten hat. Die anderen Sprachen zeigen eine

allgemeinere Bedeutung „abstreifen“, z.B. aind. muñcáti „befreien, lösen“, lit. munkù,

mùkti „sich losmachen, entwischen“, maÊNWL „abstreifen, abwischen“ (EWAia II 382f.;

Fraenkel 418a f.).

Lit: B ThWb s.v. Mauke, Mucke; Albrecht Rossarzn. 27; Schm BairWb 1, 1560; Lexer, BMZ

s.v. PÌFKH; DWb s.v. Mauke, Mauche; Nemnich s.v. Mauke; M/WB MhdGr 198; DWb

s.v. Brand, Brandfieber; Sp ThGr 223ff.; WG Pfeiffer Ross im Adt. 13, 19; Hohberg 1,

478b; Blaich/Fornek: www.uni.hohenheim.de/ lehre370/weinbau/weinbau/cra_indx.htm;

www.lexikon.freenet.de/Pferdekrankheit; Woeste KZ 2, 205; Kehrein 275; Schmid 378;

Weinhold 60b; DWb s.v. meucheln; Lexer, BMZ s.v. maucheln; EWD s.v. meucheln;

EWA s.v. PÌKKDQ��PÌKKÀQ; L Sp ThGr 163ff., 203; Egerm

IEW 752; Holth AEWb 226f.;

deVries AnWb s.v. PÌJL��PÌJU; Heidermanns PA 415; Lehmann GotWb s.v. PÌNDPRGHL; Colum; Plin 17,116; Meyer-Lübke 469f.; Bertsch 1947: 122-148; Alanne MSN 18; EWA

s.v. genesta; Eidg

Schrijver PIE Laryngeals 499f.; LIV² 443f., EWAia II 382f.; Fraenkel

418a f.

Page 178: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Meddel Sb. o.G. „Strohhalm(e); etwas Wertloses, Kleines“

Z: In Thür. Meddel sind zwei Wörter zusammengefallen: 1. Meddel, das in den nddt. Dialekten die

Grasarten „Ackerschmiele, Fuchsschwanz“ bezeichnet und 2. Mädel „kleine Made“ (zur Semantik vgl

B, WG). Meddel wurde aus slaw. metla „Reisig-, Strohbesen“ bzw. metlica „Ackerschmiele,

Strohhalm“ entlehnt(:� :%�� :*�� (idg2), Mädel ist eine Deminutivbildung zu Made und somit ein

Erbwort. Made kann auf ein uridg. Nomen agentis *móth2o- „Fresser“ mit substantivischer

Akzentverschiebung aus *moth2ó- „fressend“ zurückgeführt werden (Egerm

, Eidg1

).

B: Das selten bezeugte nordostthür. Sb. Meddel „zerstreute Strohhalme; etwas Wertloses,

Kleines“ (ThWb s.v. Meddel) hat Entsprechungen in den nddt. und ndl. Dialekten, in denen

Meddel f. und m. aber ausschließlich „Apera spicaventi; Ackerschmiele, Fuchsschwanz“

als hartes und lästiges Unkraut in den Getreidefeldern bezeichnet (Marzell 1, 353;

SchlHoWb 3, 605; MeckWb 4, 1120). Wegen seiner Härte wird es zum Besenbinden

verwendet und bildet im Nddt. die Komposita Marlbessen, Marlstriker „Besen aus

Ackerschmielenhalmen“ (MeckWb 1120, 1122; :� WG). Von nddt. Meddel existieren

mehrere dialektale Varianten: Met(t)el, Mattl, Mäddl, Merdel, Merl, Marl (:�L). Da die

Bedeutung „etwas Wertloses“ von den nddt. und ndl. Wörtern abweicht, dürften in thür.

Meddel zwei Wörter, nämlich Meddel „Strohhalm; Ackerschmiele, Fuchsschwanz“ und

Mädel „kleine Made, kleiner Wurm; Wertloses, Kleinigkeit“ zusammengefallen sein.

Dessen frühester Beleg taucht in einer mhd. Redensart niht ein medel „gar nichts“ auf, z.B.

in ich verswîg sîn niht ein medel „ich verschweige ihm nichts“. Mhd. medel n. bedeutet

hierbei „Kleinigkeit, Bisschen“, die konkrete Bedeutung ist in als ein kleine� medel lîse

gekrochen wære sichtbar (Lexer, BMZ s.v. medel). In obd. Dialekten gibt es die Variante

Mettel m., f. „Regenwurm, Made, Engerling“, z.B. in obd. (schweiz.) bald müessen go

n

Mettlen sueche

n „sterben“ (euphemistisch; DWb s.v.; SchweizId 4, 555f.).

Andere Ableitungen zu Made sind die nddt. Deminutive Metke, Metje und Mette „(kleine)

Made, Regenwurm“, womit auch das Kompositum Mettenfäden „im Spätsommer fliegende

Spinnwebfäden“ zusammengesetzt ist.

Von mhd. medel „(kleine) Made“ sind die Komposita mhd. medel-wurz, obd. Mädelwurz

„polygonum bistorta; Wiesenknöterich“ und mhd. medel-gêr, madel-gêr, schwäb.

Madelgeer „gentiana cruciata; Kreuzenzian“ gebildet worden (SchwäbWb 4, 1375; DWb

s.v.; Lexer 2004; :�WG).

M: Das Genus von thür. Meddel ist nicht bekannt. Das nddt. Meddel „Ackerschmiele,

Fuchsschwanz“ ist meist als Femininum und selten als Maskulinum, obd. Mettel meist als

Page 179: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Mask und selten als Femininum bezeugt. Mhd. medel „kleine Made; etwas Wertloses,

Kleines“ ist ein Neutrum wie Ferkel.

WB: Nddt. Meddel f. und m. „Ackerschmiele, Fuchsschwanz; Strohhalm“ ist eine Entlehnung

aus slaw. metla f. „Besen“ und dem zum Besenbinden verwendeten Material metlica f.

„Ackerschmiele; Strohhalm“. Nach der Entlehnung ist es an andere nhd. Pflanzennamen

mit dem Suffix -el wie Distel, Nessel, Mistel angeglichen worden.

In der Bedeutung „etwas Wertloses“ liegt dagegen ein ererbtes deutsches Wort mhd. medel

n. „kleine Made, kleiner Wurm“ (zum Lautlichen :� L) vor, das eine alte, nicht mehr

produktive Deminutivbildung mit einem l-Suffix zeigt wie z.B. auch Ferkel (:�Egerm).

Marlbessen, Marlstriker „Strohbesen“ und Mädelwurz „Wiesenknöterich“ sowie Madelger

„Kreuzenzian“ sind Determinativkomposita (Lühr Nhd. 153f.).

L: Der erwartete Fortsetzer des mhd. medel „kleine Made, kleiner Wurm; etwas Kleines“ ist

nhd. Mädel� >P�G¸l] mit Langvokal, das in den Komposita Madelger und Mädelwurz

bezeugt ist. In der redensartlichen Bedeutung „etwas Kleines, Wertloses“ ist es im

Nordthür. als Simplex erhalten und zeigt dann eine Vokalkürzung in offener Silbe vor den

Endungen -er, -el, -en, die z.B. auch in Schädel�>ã�G¸O@��>ãG¸l] oder Nebel [núb¸l], [núw¸l]�vorliegt (Sp ThGr 76f.). Diese Vokalkürzung ermöglicht den lautlichen und semantischen

Zusammenfall von thür. Meddel (aus nddt. Meddel) „Ackerschwiele, Fuchsschwanz;

Strohhalm“ und Mädel „kleine Made, etwas Wertloses“.

Die Varianten der nddt. Belege sind zahlreich: Maddl und Marl zeigen den häufigen

Vokalwechsel von e zu a wie z.B. auch marken aus merken, dwarch statt Zwerg (Lübben

Mnddt 21f). Einer hochdt. Tenuis entspricht oft nddt. Media wie z.B. in dridder „dritter“,

Moder „Mutter“ (Lübben Mnddt 42ff.) und genauso auch in Mäddl und Merdel. Diese

Media d bzw. dd geht in der heutigen Aussprache sogar in rd oder r über und führt zu den

Varianten Merdel, Merl und Marl, vergleichbares ist z.B. in Marlweg, Mardelweg <

Mittel-, Middelweg „Weg zwischen den Gleisen“ oder dem Prät. harde, harre < hadde

„hatte“ bezeugt (MeckWb 4, 1122; Lübben Mnddt 45).

Die obd. Formen mit -tt- (Mettel) können nicht als dialektale Variante eines hdt. -d-

angesehen werden. In ihnen liegt eine alte jo-Ableitung vor, die zur westgerman.

Konsonantenverdoppelung des inlautenden Dentals geführt hat (Kr/M I 104ff.)

WG: Meddel in der Bedeutung „Ackerschmiele; Fuchsschwanz; Strohhalm“ ist samt seinen

dialektalen Varianten ein Lehnwort aus dem Slaw. metla „Besen“, metlica

„Ackerschmiele“. Die Ackerschmiele ist eine sehr hartes, zähes Unkraut im Getreide, das

Page 180: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

sich wegen seiner Härte gut zum Besenbinden eignet. Den slaw. Wörtern liegt eine Wurzel

*met in slaw. mesti „binden“ zugrunde (:�Eidg1).

Mhd. medel „kleine Made, kleiner Wurm, etwas Kleines, Wertloses“ ist von Made

abgeleitet und vom häufigen nhd. Mädchen, Mädlein samt seinen dialektalen Varianten

Mädel, Mäderl, Mädle „junger weiblicher Mensch“ verdrängt worden. Deswegen ist das

Wort nur noch in den Komposita Mädelwurz „Wiesenknöterich“ und Madelger

„Kreuzenzian“ erhalten. Das neben Mädelwurz bezeugte Synonym Schlangenwurz bezieht

sich auf die Form der Wurzeln und zeigt so, dass in Mädelwurz tatsächlich das mhd. medel

„kleine Made, Wurm“ vorliegt. Etwas anders liegt der Fall bei Madelger, das Marzell als

„unaufgeklärte Bezeichnung“ beschreibt. Unwahrscheinlich ist die dort vorgeschlagene

Deutung als Übertragung aus einem sonst völlig unbekannten Männernamen mit der

Bedeutung „Madenspeer“. Da diese Pflanzen unter anderem als Heilmittel gegen Parasiten

verwendet wurden, scheint eine Interpretation als „Speer, Waffe gegen Maden, Würmer“

möglich, vgl. z.B. auch Fieberkraut „Kraut gegen Fieber“. In manchen alpinen Regionen

ist Kreuzenzian auch heute noch ein Heilmittel gegen Parasiten und andere Krankheiten

(Marzell 2, 619ff.).

Egerm: In thür. Meddel sind zwei ursprungsverschiedene Wörter zusammengefallen:

1. Mhd. medel n. „kleine Made“ < german. *maþila/�(n)- ist eine Ableitung mit einem l-

Suffix von einem urgerman. a-St. *maþa- < vorgerman. *móto- (:�Eidg1), der mit einem

n-Suffix erweitert in mhd. made m., ahd. mado, matho m., got. maþa m., aengl. maða m.,

maðu f. „Made; Wurm“ < *maþan-/ *maþÀQ- vorliegt (Casaretto 2004: 235). Da gerade

bei Tierbezeichnungen n-Stämme häufig vorkommen (z.B. in Ochse, Hase, Schlange; vgl.

denselben Befund auch im Kelt. bei de Bernardo Stempel Wortb. 118), ist ein analogischer

bzw. im german. sekundär gebildeter n-Stamm durchaus möglich (vgl. die verschiedenen

paradigmatischen und analogischen Ausgleichserscheinungen bei Lühr Expr 206ff.). In

*maþan-/ *maþÀQ könnte jedoch auch ein direkt von einem Verbum gebildetes Nomen

Agentis mit dem Suffix -an/ -ÀQ vorliegen. Eine Parallele dazu ist german. *KDQÀQ-

„Hahn“, eigtl. „Sänger“ (von uridg. *kan „singen“; LIV²342f.). l-Ableitungen können

deminutive Funktion haben und auch bei Tierbezeichnungen auftreten wie etwa in Ferkel

„kleines Schwein“ (< german. *IDUKLO¯�Q�- von einem vorgerman. *por�o- „Schwein“

abgeleitet), das innerhalb der german. Sprachen ebenfalls nur im Dt. fortlebt (:�(:''�s.v. Färe). Die l-Ableitungen sind darüber hinaus aber in allen german. Sprachen bezeugt,

vgl. z.B. got. magula m. „Knäblein“, got. PDZLOÀ, anord. meyla, aengl. P�RZOH f.

„Mädchen“ (Kr/M III 87f.). Erweiterungen des zugrundeliegenden german. Wortes *maþa-

Page 181: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

„Made, Wurm“ mit einem k-Suffix sind mndt. meddeke „Regenwurm“ < *maþika-

(MndtWb 221), mengl. maddock, anord. maðkr m., aschwed. maþker, matker m. „Wurm“

< *maþaka- (deVries AnEW 374). Gerade im nddt. und anglo-fries. Raum ist dieses k-

Suffix weit verbreitet und findet sich vor allem bei Tier- und Pflanzenbezeichnungen

(Kr/M III 211f.), vgl. z.B. aengl. bulluc „Bulle“ und nddt. (lüneburg.) bulk „id.“.

Eine andere Ableitung liegt vor in obd. Mettel, das Konsonantenverdopplung durch

ursprüngliches -j- zeigt: Mettel < vordt. *mättila-, das mit l-Suffix wie mhd. medel gebildet

ist; die Ableitungsbasis ist jedoch german. *maðja-. Das -ð- ist durch Verners Gesetz

entstanden (Kr/M I 85f.; :�Eidg1).

Die german. Wörter lassen sich am besten unter *maþa- vereinen. Ein k-Suffix zeigen

german. *maþaka- und *maþika-; ein l-Suffix liegt vor in mhd. medel < *maþila/¯�Q�- und

obd. Mettel < *maðjala(n)-. *maþan- ist entweder eine sekundäre analogische Ableitung

oder ein primäres Nomen agentis von einem im German. nicht mehr bezeugten Verb.

Das german. Wort ist auch als Lehnwort in ostseefinn. *mato eingedrungen und in

ingrelisch maDo „Wurm, Made; Muschel“, karelisch mato „Wurm, Made“; wepsisch mado

„Wurm, Raupe“ (LÄGLOS II 255) bezeugt; die Ableitung mit dem german. k-Suffix ist in

estn. matik(e) „Regenwurm“, matikas „Insekt“ wahrscheinlich direkt aus dem Nddt.

entlehnt worden (LÄGLOS II 254).

2. Das zweite Wort nddt. und ndl. Meddel m., f. „Ackerschmiele, Fuchsschwanz“ samt

seinen Varianten Mattl, Mäddel, Merdel, Marl, Merl (:� L) ist ein Lehnwort aus dem

Slaw. (:�Eidg2).

Eidg1

: German. *maþa- „Made“ ist durch substantivierende Akzentverschiebung (*móth2o-)

aus einem uridg. Adjektiv *moth2-ó- mit agentiver Bedeutung „fressend“ > „Fresser“

entstanden (vgl. dieselbe Erscheinung in EWDD Färe). Das zugrundeliegende Adjektiv

gehört zum Typus der endbetonten o-stufigen Adj. bzw. Nomina agentis, wie z.B. auch

uridg. *t or�-ó- „aufreißend, aufwühlend“ > „Aufreißer, Wühler; Schwein, Eber“ (air.

torc, kymr. twrch „Schwein, Eber“ und av. +ϑβar�sa- „id.“; McCone MSS 53: 99f.; LIV²

656). Als Ableitungsbasis dient die uridg. Wurzel *meth2 „wegreißen, rauben; kauen,

auffressen“ (LIV² 442f.). *moth2ó- beschreibt die Made also als „Wegfresser“ von

Vorräten und Lebensmitteln.

Die uridg. Wurzel *meth2- wird von LIV² 442 aufgrund seiner Bedeutung im Aind.

semantisch als „wegreißen“ bestimmt. Doch in lat. mandere�XQG�JULHFK���.1� �.��KDW�GLH�Wurzel die Bedeutung „kauen, beißen, fressen“. Da die aind. Wurzel math

i „wegreißen,

rauben“ mit der Wurzel math, manth „quirlen, drehen, schütteln“ lautlich und semantisch

Page 182: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

zusammengefallen ist (EWAia II 298, 311f.), kann hier die ursprüngliche Bedeutung

verändert worden sein. Die in den zwei Sprachen Lat. und Griech. vorliegende Bedeutung

„kauen, beißen, fressen“ wird von den german. Wörtern mit ihrer semantischen

Entwicklung *moth2-ó- „fressend“ > *móth2o- „Fresser“ > „Made“ als zumindest westidg.

Grundbedeutung gestützt. Doch auch lat. mandere und griech. �.1� �.�� VWLPPHQ� QLFKW�genau zu den german. Formen, die einen o-Ablaut zeigen. Auch hier könnten wie im Aind.

zwei uridg. Wurzeln *meth2- „kauen, beißen, fressen“ und menth2- „quirlen, umrühren“

zusammengefallen sein. Dazu passt auch die Hesych-*ORVVH� ���#.�� � ���� �� �� GLH� GLH�Schwundstufe *m�th2- einer vorurgriech. Wurzel *menth2-, aber mit der Bedeutung der n-

losen Wurzel meth2, zeigt.

Eine io-Erweiterung (Kr/M III 70) liegt in endbetontem *moth2-ió- vor, das durch das

Eintreten von Verners Gesetz zu german. *maðja- und, mit l-Erweiterung, zu obd. Mettel

geführt hat.

In anderen idg. Sprachen sind ebenfalls Nominalbildungen mit derselben Bedeutung

„schädliches Ungeziefer“ bezeugt: Armen. mat‘l, neuarmen. mat‘il „Laus“ deutet mit

seinem erhaltenen -t‘- auf ein Lehnwort aus dem iranischen Bereich, da im Armenischen

ein uridg. -t- zw. Vok. geschwunden (N.Sg. hayr „Vater“ < urarmen. *phat

hir) und vor

Kons. zu -w- geworden ist (G.Sg. hawr < urarmen. *phat

hros); nur nach epenthetischem - -

ist uridg. -t- als -t‘- erhalten (z.B. in diwt‘ „Zauberer“ < urarmen. *di thus < uridg.

*dheh1tu-; Klingenschm AarmV 179f.). Armenisch mat‘l kann aus einem nicht mehr

bezeugten iran. Wort *mathila- entlehnt sein; dazu passen einige andere Wörter aus dem

Indoiranischen: Aind. matka- „Wanze“ < *moth2-ko- (~ german. *maþa-ka-) zeigt

regelgerechten Schwund von h2 (ohne Behauchung) vor einem folgenden Konsonanten

(Mayrh Lautl 135). Nach Mayrhofer (EWAia II, 293) gilt der Anschluß von aind. ma�ac - „Heuschrecke“ mit unerklärtem, evtl. aus dem Dravid. stammenden ' als unsicher. Ein k-

Suffix weist ebenfalls osset. m�tyx „Heuschrecke“ (< uriir. *mathaka- = german.

*maþaka-, also der „Fresser“ schlechthin) auf. Unklar bleibt jav. PD/D[D- „id.“, dessen -/-

auf altes -d- deutet. Vielleicht liegt hier Kontamination eines zu erwartenden av. *maϑaxa-

mit einer ähnlichen Wurzel *med- „voll werden, satt werden“ vor, die in av. PD/DLWH „wird

trunken, berauscht, sättigt sich“ bezeugt ist. Die Wurzel *meth2 in aind. mathi ist dagegen

im Avest. nicht fortgesetzt.

Eidg2: Nddt. und ndl. Meddel „Ackerschmiele“ sind aus dem Niedersorbischen. íetla entlehnt,

das ebenfalls „Ackerschmiele“ bedeutet. Entsprechungen in den anderen slaw. Sprachen

sind gut bezeugt, wenn auch in anderer Bedeutung, vgl. tschech., russ., slov., bulg., serb.,

Page 183: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

kroat. metla, poln. PMRWáD „Besen“ (Eichler Etym.Wb. 84 s.v. Metla; Schuster-Šewc 928f.).

In der Wissenschaftssprache jedoch wird metla bzw. PMRWáD als Bezeichnung verschiedener

GrasarWHQ� YHUZHQGHW� �V�� 7UXEDþHY� (WLP6ORY� ���� ���II���� 'D� GLH� KDUWHQ� +DOPH� GHU�Ackerschmiele und ähnlicher harter Grasarten auch auf slaw. Gebiet zum Besenbinden

verwendet wurden, lässt sich aus sachgeschichtlichen Gründen eine Verbindung zwischen

den beiden Bedeutungen herstellen. Zugrunde liegt ein Substantiv metla (< urslaw. *met-

tla- < uridg. *met-o/u-lah2) in der Bedeutung „Besen“ zu dem Verbum mesti „kehren“

(aus *met-ti). Dieses Verbum ist auch schon im aksl. -metÆ, -mesti „kehren, fegen“ und in

lit. metù, mesti „werfen“ bezeugt und gehört zu einer uridg. Wurzel 2. *met- „werfen;

kehren“ (LIV² 442, dort unter dem trotz Fn 2 nicht nachvollziehbaren Bedeutungsansatz

„abmessen“). Die balto-slav. Verben deuten auf ein uridg. themat. Präsens *mét-e/o-.

Lit: B ThWb s.v. Meddel; Marzell 1, 353; SchlHoWb 3, 605; MeckWb 4, 1120, 1122; Lexer,

BMZ s.v. medel; DWb s.v. Mettel; SchweizId 4, 555f; SchwäbWb 4, 1375; WB Lühr Nhd.

153f; L Sp ThGr 76f; Lübben Mnndt. 42ff; MeckWb 4, 1122; WG Marzell 2, 619ff; Egerm

Casaretto 2004: 235; de Bernardo Wortb 118; Lühr Expr. 206ff; LIV² 342f.; Kr/M III 87f;

MndtWb 221; deVries AnEW 374; Kr/M III 211f.; Kr/M I 85f; LÄGLOS II 254f; Eidg1

McCone MSS 53: 99f; LIV² 656; LIV² 442; EWAia II 298, 311f; Kr/M III 70;

Klingenschmitt AarmV 179f.; Mayrh Lautl 135; EWAia II 293; Eidg2 Eichler EtymWb 84;

Schuster-Sewc 928f.; Trubacev EtimSlov 18: 123ff; LIV² 442.

Page 184: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

meidisch, meidischen 1

meidisch Adj. „rossig, brünstig (von der Stute)“

meidischen swV „rossig, brünstig sein“

Z: Das thür. Adj. meidisch „brünstig“ und das Verb meidischen „brünstig sein“ (von Stuten) sind

Ableitungen von einem ab dem Mhd. bezeugten Subst. meidem, meiden „Hengst; Wallach, sonstiges

kastriertes Lebewesen“ und gehören samt rhein. meideln „(mühsam) abschneiden; quälen“ zu einem

im Nordgerman. bezeugten schw. Verb aisl. meiða „verletzen, schaden“ aus german. *maiþÀQ

„verstümmeln“, der die t-Erweiterung eines uridg. Verbs *meiH- „mindern, beeinträchtigen,

schädigen“ zugrunde liegt. Von dieser westidg. Bildung sind auch lit. ma­W¡O\V und apreuß. no-maytis

„kastrierter Eber“ abgeleitet. Die t-Erweiterung basiert auf einem Subst. *móiH-to-

„Verstümmelung“; der Bildetyp hat Parallelen in anderen idg. Sprachen. Die in Lexer und BMZ

vermutete Zusammenstellung mit got. maiþms etc. „Gabe, Geschenk“ (: uridg. *meith2-) wird aufgrund

semantischer Gründe aufgegeben (:�:*�� B: Das Adj. meidisch�>P¯�ã@�XQG�>PLã@�ÄURVVLJ��EU�QVWLJ³�LVW�QXU�YHUVWUHXW�LQ�ZHVWWK�U��XQG�

henneberg. Gebieten bezeugt und wird vereinzelt auch auf mannstolle Frauen sowie auf

läufige Hündinnen übertragen. Von diesem Adj. ist ein Verb meidischen „rossig sein“, z.B.

in die Stute meidischt [maišd] (Kreis Eisenach), abgeleitet (ThWb s.v. meidisch,

meidischen).

Das Adj. ist sehr selten und außer im Thür. nur in hess. meisch (< meid(i)sch) „rossig,

brünstig“ (HessWb 2, 307) anzutreffen. Das thür. Verb meidischen hat keine Parallele. Das

zugrundeliegende Wort Meiden m. „Hengst; Wallach, sonstiges kastriertes männliches

Lebewesen“ ist heute fast ausgestorben und findet sich nur noch vereinzelt in schweiz. und

bair. Mdaa. (DWB s.v. Meiden). Im Mittelalter war das Wort meidem, meiden „männliches

Pferd“ verbreitet und wurde als Bezeichnung sowohl für Hengste als auch für Wallache

und für andere kastrierte Tiere, z.B. ain maiden oder ain coppaun, sowie Menschen, z.b. in

die mannen, die maiden sint und ir gezeug nit habent, verwendet (Lexer, BMZ s.v.

meidem, meiden). Davon ist das mhd. Verb meidenen „kastrieren“ abgeleitet (Lexer s.v.

meidenen). Ein Hapax legomenon ist snelmeiden m. „Kurierpferd“ (BMZ s.v.

snelmeidem). Das Rheinische hat ein Verb meideln „(an Brot) mühselig herumschneiden;

mit etw. grob umgehen, (Tiere) quälen“, z.B. in am Brut erimmeideln „am Brot

herumschneiden“ und de ganze Dag muss de Lausert die Katz meideln (RheinWb s.v.

meideln).

M/WB: Das Adj. meidisch weist eine Ableitung mit dem häufigen Suffix –isch auf, das der

desubstantivischen Adjektivbildung dient, vgl. z.B. tierisch, hündisch (Fleischer/Barz

258ff.). Bei Antritt des Suffixes wird der Basisauslaut -en getilgt wie in Storren : störrisch,

Tropen : tropisch (Fleischer/Barz 257, 259). Das schw. Verb meidischen „meidisch sein“

Page 185: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

meidisch, meidischen 2

ist eine deadjektivische Bildung ohne Affigierung (Fleischer/Barz 305f.) wie gleichen

„gleich (ähnlich) sein“. Das rhein. meideln dürfte eine Umgestaltung von mhd. meidenen

nach marteln (Nebenform zu martern) sein (RheinWb s.v. meideln).

L: Durch Synkope des unbetonten Vokals i (Sp ThGr 40) bei meidisch und meidischen ist die

entstehende Konsonantengruppe [dš] teilweise zu [š] vereinfacht worden wie z.B. in

läufisch zu läusch (ThWb s.v.; Sp ThGr 196). meiden mit -n zeigt die schon im Ahd.

eintretende Entwicklung aus auslautendem -m, wobei im Mhd. beide Formen häufig

nebeneinander bestehen und nur wenige mit auslautendem -m sich durchsetzen gegenüber

Formen mit auslautendem -n, z.B. mhd. bodem neben boden > nhd. Boden, mhd. buosem

neben buosen > nhd. Busen, aber mhd. âtem neben âten > nhd. Atem (MhdGr 146). Diese

Entwicklung von unflexivischem -m# zu -n# tritt hauptsächlich bei Wörtern ein, deren

auslautendes -m nicht durch Antritt von zusätzlichen Silben in Flexionsformen gestützt

wird (Braune/Eggers AhdGr 116). Dies ist bei mhd. meidem, meiden der Fall, dessen

Plural ebenfalls meidem bzw. meiden lautet. Mehrsilbige Wörter auf -el, -er, -em, -en

verlieren das -e der Pluralendung (MhdGr 192). Die in nhd. Dialekten aus mhd. meidem,

meiden fortgesetzte Form ist daher ganz regelgerecht Meiden.

WG: Die Belege für mhd., nhd. Meiden lassen sich in zwei semantische Bereiche einteilen:

Eine Gruppe bedeutet „Hengst, Zuchthengst“, vor allem bair., schweiz. Maiden und die

thür. Ableitungen meidisch „rossig, brünstig“, meidischen „brünstig sein“ (< „nach einem

Hengst verlangen“); die andere Gruppe weist auf „kastrierter Wallach, sonstiges kastriertes

männl. Lebewesen“ samt den Verben mhd. meidenen „kastrieren“ und rhein. meideln

„(mühsam) abschneiden, quälen“, die zusammen mit dem nordgerman. Verb aisl. meiða

„verletzen“ die ursprüngliche Bedeutung „Kastrat“ (:� Egerm

) zeigen. Da damals nur

männliche Lebewesen kastriert wurden, konnte das Wort dann auch allgemein auf

männliche Tiere und besonders Pferde angewendet werden. So werden im Thür. auch von

Ochse das Verb ochsenen „nach dem Bullen verlangen“ und die Adj. öchsisch, öchsig

„brünstig“ abgeleitet (ThWb s.v.).

Das in einigen dt. Dialekten bezeugte Subst. P�GHP�H� m. „eine auf Grundstücken

haftende Abgabe“ dürfte wegen des � anstelle eines echt-hdt. ei ein Lehnwort aus dem

altsächs. P�ÿRP m. sein, das zu got. maiþm, aengl. P�ÿXP m. „Gabe, Geschenk“, aisl.

meiðmar f. Pl. „Kostbarkeiten“ gehört. P�GHP�H� bezeichnet jedoch ausschließlich die

steuerpflichtige Abgabe von Feldfrüchten (meist Getreide; DWB s.v. Medem) und ist eine

fachsprachliche Lexikalisierung von „Gabe“. Diese Wörter gehören aber zu einer uridg.

Wurzel *meith2- „tauschen, wechseln“ und sind von der in meidem zugrunde liegenden

Page 186: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

meidisch, meidischen 3

Wurzel zu trennen (LIV² 430). Die bei Lexer und BMZ geäußerte Annahme, dass meidem

„Hengst, Wallach“ eigentlich „Geschenk“ bedeutete und die hdt. Entsprechung dieser

Wörter sei, ist aufgrund der oben angeführten Bedeutungsbreite von Meiden und fehlender

semantischer Parallelen wenig wahrscheinlich.

Egerm

: Mhd. meidem stm. < wgerman. *máiþma- m. mit Sprossvokal zwischen K und m

(Bremer PBB 11: 279) steht in einer Reihe mit mask. Bildungen auf *-þma- wie Atem, ahd.

�WXP, Brodem, ahd. EU�GDP, Boden, ahd. bodam, Busen, ahd. buosum. Ausgangspunkt der

german. Bildungen mit *-þma- ist die vorgerman. Suffixkombination *-t-mo-, eine *-mo-

Ableitung von t-erweiterten Wurzeln, die in den meisten Fällen auf ursprünglichen *-to-

Bildungen oder *-ti- und *-tu-Abstrakta basieren (Kr/M III 125f.). Die unterschiedliche

Ableitungsgrundlage hat auch zu den verschiedenen Ablautstufen in den germanischen

Bildungen geführt. Das german. Verb *máiþ-ÀQ- ist in aisl., nisl. meiða, norw. meida swV

„verletzen, schaden“ bezeugt und beruht auf einer to-Ableitung von der uridg. Wurzel

meiH- (:� Eidg

), die in got. gamaiþs*, gamaid- „verstümmelt“, aengl. ¥HP�G, asächs.

JHP�G, ahd. gimeit „verrückt, töricht“ (< *„geistig verstümmelt“ ?) bezeugt ist (GotWb s.v.

gamaiþs; Holth AeWB 209 f., EWA s.v. gimeit). German. *máiþ-ÀQ- „verstümmeln“ als

Ableitung von *máiþa- „Verstümmelung“ bedeutete somit ursprünglich „mit

Verstümmelung versehen“ und ist gebildet wie ahd. DKWÀQ „beachten“ : ahta „Beachtung“,

also „mit Beachtung versehen“ (Kr/M III 239f.). -ma-Ableitungen bilden Adjektiva mit

medio-passiver oder Zustandsbedeutung, z.B. german. warma- „warm“ („warm geworden“

zur uridg. Wurzel *gwh

er- „warm werden“, LIV² 219f.; Kr/M III 123 f.). Ein Adj. *máiþ-

ma- „verstümmelt, verschnitten“ ist dann substantiviert und auf kastrierte männliche

Lebewesen, meist Pferde, angewendet worden.

Eine Parallele für ein t-erweitertes Verb neben einer *-þma-Ableitung ist z.B. mhd.

EU�dem, ahd. EU�GDP, mndl. bradem „Brodem, Dampf, Dunst“ neben ahd. EU�WDQ, aengl.

br¾dan „braten, kochen“ (EWA II 278 f.; weitere Beispiele bei Kr/M III 125f.).

Eidg

: Schon im Uridg. haben *-mo-Bildungen medio-passive oder Zustandsbedeutung (z.B.

uridg. *gwh

er-mo-/*gwh

or-mo- „warm geworden“ zur uridg. Wurzel *gwh

er- „warm

werden“; LIV² 219f.) und führen so zur Verwendung als Partizipien im Slaw. und Heth.

(Kr/M III 123 f.; Meier-Brügger/Fritz 2005: 186f.).

Die der sekundären german. Verbwurzel *maiþ- „verstümmeln, verletzen“ < vorgerman.

*moit- zugrunde liegende t-Bildung ist eine o-stufige to-Ableitung *móiH-to- (LIV² 427

Anm.1) zu der Wurzel meiH- „mindern“, die in aind. minºti „mindern, schädigen,

beeinträchtigen, verletzen“ (EWAia II 316) und den sekundären -nu-Verben griech.

Page 187: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

meidisch, meidischen 4

���*ϑ&� �]XVätzlich mit terminativem *dhe- erweitert; LIV² 427 Anm.3), lat. minuere

„vermindern“ bezeugt ist. Der Laryngal schwindet lautgesetzlich im Kontext der o-Stufe

(Idg. Lautlehre 141-145). Eine vergleichbare o-stufige to-Bildung liegt z.B. vor in griech.

�)12 "�P�� Ä�JOückliche) Heimkehr“ zum Verbum �� �.�� ÄKHLPNRPPHQ³�� móiH-to- ist

somit als Subst. „Verstümmelung“ zu bestimmen.

Von einer jedoch laryngallosen Variante *móito- können noch lit. me­W¡OLV��PD­W¡OLV und

apreuß. no-maytis „kastrierter Eber“ samt den Verben alit. ap-maitinti „verwunden“, lett.

màitât „verderben“ abgeleitet sein (IEW 697). Doch werden die baltischen Wörter in

LitEW (428, 459f.) zu einer lit. Wurzel mìsti „sich ernähren“, me­VWL „ernähren, füttern,

mästen“ gestellt, was sachlich ebenfalls naheliegend und lautlich vorzuziehen ist.

Kastrierte männliche Tiere wurden besonders gemästet und dann geschlachtet; nur wenige

männliche Tiere durften sich eines längeren Lebens zum Zwecke der Zucht erfreuen.

Somit können die in IEW 697 zitierten balt. laryngallosen Wörter von der uridg. Wurzel

*meiH- „mindern“ getrennt werden.

Semantische Parallelen sind zahlreich, vgl. z.B. griech. 1��/&��Ä.DVWUDW��(XQXFK³�]X�JU��1��&� ÄDEWUHQQHQ�� DEVFKQHLGHQ�� HLQ� 6FKZHUW� ]LHKHQ³� RGHU� GDV� GW�� /HKQZRUW� Schöps

„Hammel, kastrierter Schafbock“ < tschech. skopec „dss.“ : skopiti „ab-, verschneiden“

oder asorb. *skop“c „dss.“ (Pfeifer II 1237; EWD s.v. Schöps).

Lit: B ThWb s.v. meidisch, meidischen; HessWb 2, 307; DWB s.v. Meiden; Lexer s.v.

meidem, meidenen; BMZ s.v. meidem, snelmeiden; RheinWB s.v. meideln; M/WB

Fleischer/Barz 257ff., 305f.; RheinWb s.v. meideln; L Sp ThGr 40, 196; MhdGr 146, 192;

Braune/Eggers AhdGr 116; WG DWB s.v. Medem; LIV² 430; Egerm

Bremer PBB 11: 279;

Kr/M III 123f., 125f., 239f; GotWb s.v. gamaiþs; Holth AeWb 209f.; EWA s.v. gimeit;

LIV² 219f.; EWA II 278f.; Eidg

LIV² 219f., 427; Kr/M 123f., Meier-Brügger/Fritz 2005:

186f.; EWAia II 316; Idg. Lautlehre 141-145; IEW 697; LitEW 428, 459f.; Pfeifer II 1237;

EWD s.v. Schöps.

Page 188: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Meke, meken 1

Meke Sb f. „dickflüssige, schmierige Masse“

meken swV „herumwühlen; langsam arbeiten“

Z: Das aus einem nddt. Dialekt stammende nordthür. Subst. Meke und das davon abgeleitete Verb meken

sind Fortsetzer einer german. Wurzel *mak-, die auch in den Verben hdt. machen, engl. to make usw.

und in verschiedenen Nominalbildungen bezeugt ist (:�(germ). Diese Wurzel bedeutete im Urgerman.

sowohl „kneten, mischen, rühren“ als auch „machen, tun“, wobei sich letzteres in der Regel

durchsetzte. Weitere Bedeutungsnuancen können durch Beeinflussung anderer ähnlich lautender

Wörter erklärt werden (:�:*). Die urgerman. Wurzel *mak- geht auf eine uridg. Wurzel *ma£-

„schmieren, streichen“ zurück, die im Griech., Armen., Balto-Slav. und Kelt. bezeugt ist (:�(idg).

B: Aus nordthür. Gebieten stammt ein Subst. Meke f. „dickflüssige Masse, Schmiere,

Schlamm“ und ein davon abgeleitetes schw. Verb meken „(im Schlamm) herumwühlen“,

auch „langsam arbeiten“, „drücken, würgen“ und übertragen „nieseln“, z.B. in das war

dich enne Meeke in dn Stroßen „das war ein Matsch auf den Straßen“ (mit Akk. dich statt

grammatikalisch richtigem Dat. dir), es meegt an ener Dür „es nieselt in einer Tour“. Ein

Präfixverb ist anmeken „anfassen“, z.B. in meeke nich immer alles aan, ferner ist eine

Kollektivbildung Gemeke n. „Gedränge, Gewühl“, „schlechte Arbeit“ und „Nachreche“

bezeugt, z.B. in uf dn Tanzboden äs a grußes Jemeeke. Auch ein Kompositum von Mek(e)

ist belegt in Mekwerk n. „die nach dem Abernten zusammengerechten Getreidereste,

Nachreche“ (ThWb s.v. Meke, meken, anmeken, Gemeke, Mekwerk).

Diese nddt. Formen mit lautgesetzlichem Umlaut (:�Egerm) haben nhd. Entsprechungen in

dem seltenen nthür. Subst. Mache f. „Fett, Schmer als Zutat zu Speisen“, z.B. in s Essen

schmeckt jut, ich hawe n bißchen Mache dran, in Gemachtes n. „Schmälze, Einbrenne“

(SOThür.), Gemächte n. „angemachte Speise; zusammengemischtes Viehfutter“ und

Gemächtse n. „Schmer, Darmfett“ (Altb) (ThWb s.v. Gemache, Gemächte, Gemächtse).

Dazu passt das hdt. anmachen „(einen Teig, Flüssigkeiten) zusammenmischen“ (Paul

DtWb 39).

Eine etwas andere Bedeutung zeigen thür. Mek(e)s- in Meksbalg, Mekstoffel „langsamer,

umständlicher Mensch“, rhein. Mekes m. „Knirps; kleine ängstliche Person“ und pfälz.

Mekes, Meckes m. „Knirps, dürre Person; ängstliche, willige Person“, z.B. in das isch e

derrer Mekes, der kann e Gäiß zwische d“ Herner kisse, oder der ääfellich Kerl muß alle

Leit de Mekes mache „der einfältige Kerl muss für alle Leute den Dummen machen“. Dazu

stimmt die Bedeutung „langsam arbeiten“, die für thür. meken bezeugt ist (:�WG). Pfälz.

Mekes bezeichnet aber auch den „Angeber, Prahler, Macker“ z.B. in er will de Mekes

mache „er gibt an, will Chef sein“ (ThWb s.v. Meksbalg, Mekstoffel; RheinWb, PfälzWb

s.v. Mekes).

Page 189: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Meke, meken 2

Hdt. Parallelen liegen in den thür. und hdt. Nomina Gemache n. „umständliches Gebaren,

Getue“, z.B. dös is ümmer a Gemach, und thür., pfälz. Gemächte, Gemächtse n.

„mißlungene Arbeit“ vor (ThWb s.v. Gemache, Gemächte, Gemächtse; PfälzWb s.v.

Gemächt(s)).

M/WB: Meke f. ist ein fem. -jÀ�Q�-St. Schon im Ahd. ist die Flexion der fem. �- und n-

Stämme zusammengefallen (MhdGr 198, FrnhdGr III 138ff). Von Meke ist das swV meken

samt der Präfixbildung anmeken deriviert wie künden von Kunde. In Gemeke liegt eine

Kollektivbildung vor wie in Gebirge oder Gelände (Lühr Nhd 172f.), eine Ableitung mit

einem rotwelschen, ursprgl. aus dem Hebräischen stammenden Suffix -es z.B. in rotw.

Meches m. „Zolleinnehmer“; Balbes „Gastwirt“, Chattes „Lump“, Fladeres „Barbier“

(Wolf Rotw 254; 850; 1438; 3494), wobei das Suffix des öfteren im Md. zur Bildung von

mask. Nomina agentis mit häufig abwertender Bedeutung verwendet wird (s.a. EWDD s.v.

mären), zeigt Mekes m.

Die Determinativkomposita Meksbalg und Mekstoffel sind Zusammensetzungen von

Mek(e)s mit Balg bzw. Stoffel (einer Verbalhornung von Christoph (EWD s.v. Stoffel));

Mekwerk „Nachreche“ (zur Bedeutungsentwicklung :� WG) gehört in eine Reihe mit

nomina acti wie Bauwerk oder Machwerk (Fleischer/Barz 177f.).

L: Da alle thür. Belege aus dem Norden stammen, ist die Übernahme eines nddt. Wortes

Meke anstelle von hdt. *Meche oder Mache „Fett, Schmer (als Zutat zu Speisen)“

wahrscheinlich. Dazu kommt die nord- und wthür. Vokaldehnung in offener Silbe auch vor

Geminaten wie in Egge oder Blätter (Sp ThGr 26). Gerade bei der Wortfamilie von

machen kommen hdt. und nddt. Formen häufig nebeneinander vor: Macher neben Macker,

Maker; machen neben macken und Gemache neben Gemacke. Formen ohne zu

erwartenden Umlaut sind durch Paradigmenzwang nach dem Verb machen rückgebildet.

WG: Die ursprüngliche Bedeutung der Wortfamilie von machen ist „kneten, schmieren,

manschen, mischen; Schmiere, Lehm; Fett“ (EWD s.v. machen, Pfeifer 821, Paul DtWb

547; LIV² 421), die neben Meke noch isl. maka „kneten, schmieren, salben“ und aengl.

P¡ü¥an „mischen, kneten“ (:� Egerm) zeigen. Teilweise durch ähnlich klingende andere

Wörter verstärkt worden sind die semantischen Veränderungen zu einerseits „gut, fleißig

arbeiten; Macher“ und dann zu „angeben, prahlen; Angeber, Macker“ (verstärkt durch jidd.

makir „bekannt; Partner, Meister“ (Wolf Rotw 3351)) und andererseits zu „langsam, träge

vor sich hin arbeiten; Transuse“ (EWD s.v. Macker, machen; Pfeifer 821), wobei auch das

Nebeneinander hdt. und nddt. Formen zur weiteren Differenzierung beigetragen hat.

Ausschließlich die nddt. Form zeigt Makler < mnddt. m�NHOHU, mit Umlaut P�NHOHU (Pfeifer

Page 190: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Meke, meken 3

827f.). Vielleicht unter dem Einfluss von meckern entwickelte sich nddt. makelen, mekelen

ursprgl. „Handel treiben“ zu nhd. mäkeln „herumnörgeln“. Möglicherweise hat das zig.

Wort mak „Fett, Speck“ die Beibehaltung der ursprgl. Bedeutung „Schmiere, Matsch,

Schlamm“ in Meke unterstützt. Die Annahme einer direkten Entlehnung aus zig. mak, wie

sie im ThWb vorgeschlagen wird (ThWb s.v. Meke), ist nicht nötig, da andere german.

Sprachen auch die alte Bedeutung zeigen.

Eine semantische Parallele für die Entwicklung von Mekwerk zu „Nachreche“ liegt in thür.

Gemansche n. vor, das „fortwährendes Hantieren mit Matsch, Planschen im Wasser,

Schlamm“ und „Nachreche“ bedeutet (ThWb s.v. Gemansche).

Egerm

: Das thür. Subst. Meke geht lautgesetzlich (:�L) auf eine Vorform *mekke und – mit

ebenfalls lautgesetzlichem i-Umlaut und Konsonantengemination (Kr/M I 59f.; 104f.) –

auf wgerman. *PDNNMÀ�Q�- f. „Schmiere, Fett, Matsch“ < german. *mak-MÀ- f. (< uridg.

*ma£-hah2- ~ gr. ���., :�Eidg) zurück. Die ursprüngliche Bedeutung wird zwar von den

wichtigen etym. Wb. des Dt. (EWD; Paul DtWb; Pfeifer) aufgrund der idg.

Entsprechungen (:� Eidg) als „kneten, mischen, schmieren“ angegeben, doch der

Bedeutungswandel zu „fertigen, machen, tun“ schon dem Urgerman. zugeschrieben.

Dagegen zeigen isl. maka „schmieren, einseifen; machen“, engl. P¡üJ �DQ „mischen,

kneten“ (s. unten) und Meke, meken, Mache „Fett, Schmiere“, anmachen etc. (:�B), dass

im Urgerman. beide Bedeutungen noch nebeneinander bestanden haben. Die meisten

Ableitungen der german. Wurzel *mak- haben jedoch die verallgemeinerte Bedeutung

„tun, machen, anfertigen“ angenommen: Ahd. PDKKÀQ, asächs. makon, mndt. P�NHQ,

afries. makia und aengl. macian (aus erweitertem *mak-ÀMDQ- (Lehnert 67)) setzen eine nur

im Wgerman. bezeugte Verbalbildung *mak-ÀQ- fort (EWD s.v. machen; Holth AeEW

209; LIV² 421).

Aengl. P¡üJ �DQ�ELHWHW�HLQ�ODXWOLFKHV�3UREOHP��GD�GLH�*UDSKLH��üJ �!�I�U�HLQH�VWK��*HPLQLHUWH�Affrikate steht, die aus der Palatalisierung und Konsonantengemination eines wgerman. *g

hervorgegangen sein muss und somit nicht eine auch in afries. mekkia „machen“

vorliegende wgerman. Verbalbildung *mak-jan- mit *k fortsetzen kann. Möglicherweise

ist hier eine lautliche Kontamination mit dem aengl. Verbum P¡QJ �an „mischen,

vermengen“ (german. Wurzel *meng- (Holth AeEW 219) < uridg. Wurzel *menk- (LIV²

438)) eingetreten und eine zu erwartende Form *P¡üüDQ zu P¡üJ �an umgebildet worden.

Auch im Griech. haben sich die beiden Verben in ähnlicher Weise vermischt (:�Eidg).

Eidg

: Die german. Verbalwurzel *mak- „kneten, schmieren, mischen; machen, tun“ geht auf

eine uridg. Wurzel *maÿ- „streichen, schmieren“ (LIV² 421f.) mit wurzelhaftem *a

Page 191: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Meke, meken 4

(Klingenschmitt AarmVb 219 Anm. 75) zurück, die in anderen idg. Sprachen gut bezeugt

ist. Der Palatal ist wegen der armen. und b.-sl. Belege anzusetzen.

'DV� JULHFK�� 9HUE� ��11&� ÄNQHWHQ�� GUücken“ (< *mEk-he/o- (LIV² 438)) hat den Aorist

µ�.�.�� GHQ�3DVV�-Aor. ±����� ��� e-ma£-eh1-� �/,9ð��������GDV�3DUW�3HUI�0HG���0�.������„geknetet“ und zeigt deutlich die Vermischung der beiden unter E

germ genannten idg.

Verben. Von derselben Wurzel *ma£-�VLQG����.�Ä0DVVH��.OXPSHQ��7HLJ³���� ma£-hh2 ~

Meke < *ma£-hah2-, lat. massa „Klumpen, Teig“ und – über das Lat. – dt. Masse sind

Lehnwörter aus dem Griech.),� �.��"�� -�/ "� I�� Ä7HLJ�� .XFKHQ³�� ����.� Q�� ÄGLFNH� 6DOEH��6FKPLHUH³�� ���2�"� Ä.QHWHU�� 6FKPLHUHU³� XQG� �.�2)"� ÄJHPDFKW�� JHNQHWHW³� � � ge-macht)

abgeleitet.

Das armenische Medium tantum macanim „kleben, anhaften“ ist eine Neubildung zum

Aor. macaw (< uridg. Wurzelaorist ma£- (LIV² 421 u. Anm. 2)) und lässt über *„sich

beschmieren, klebrig machen“ ein zugrundeliegendes Akt. *„beschmieren“ erschließen

(Klingenschmitt AarmVb 219 Anm.75).

Slawische Bildungen sind aksl. PD]DWL��PDåÆ „kneten, schmieren, matschen“ aus einer b.-

sl. Wurzel *P�]- (mit sek. Dehnstufe (Klingenschmitt AarmVb 219 Anm. 75)), sorb. maz

„Schmiere“, russ. PD]v� f. „id.“, skr., tschech. maz m. „Schmiere, Fett; Kleister“ die auf

ursl. *mazv sowohl f. i-St. �a�JU���.��"��DOV�DXFK�P��ho-St. (= kymr. maidd) deuten.

Kymr. maeddu „schlagen, kneten“ und breton. meza „kneten“ < urkelt. *mage-de/o- <

uridg. *ma£L-dheh1- „Teig machen“ zeigen ein nominales Vorderglied *ma£L-, das auch in

ursl. *PD]v� XQG� JU�� �.��"� YRUOLHJW�� .\PU�� maidd „Molke, Buttermilch“ und der dazu

gehörende Pl. meiddion „Molke und Quark“ weisen auf eine *ho-Abl. *ma£-iho-. Air.

PDLVWULG� ¯-Verb „buttern“ ist schon in den Gesetzen bezeugt und somit alt, kann aber

aufgrund seiner Lautstruktur nur ein entlehntes denominales Verb aus einem (nicht

überlieferten) britann. Wort *magi-str- sein, da im Air. ein *g�]ZLVFKHQ�9RNDOHQ�DOV�>�@��geschrieben <g>, erhalten sein müsste (LEIA-M 11f.).

L: B ThWb s.v. Meke, meken, anmeken, gemeke, Mekwerk, Meksbalg, Mekstoffel,

Gemache, Gemächte, Gemächtse; Paul DtWb 39; RheinWb, PfälzWb s.v. Mekes,

Gemächt(s); M/WB MhdGr 198; FrnhdGr III 138ff.; Lühr Nhd 172f.; Wolf Rotw s.v.

Meches, Balbes, Chattes, Fladeres; EWDD s.v. mären; EWD s.v. Stoffel; Fleischer/Barz

177f.; L Sp ThGr 26; WG EWD s.v. machen; Pfeifer 821, Paul DtWb 547; LIV² 421f.;

Wolf Rotw 3351; EWD s.v. Macker, Pfeifer 821; 827f; ThWb s.v. Meke, Gemansche;

Egerm Kr/M I 59f.; 104f.; EWD s.v. machen; Paul DtWb 547; Pfeifer 821; Lehnert 67;

Page 192: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Meke, meken 5

Holth AeEW 209; 219; LIV² 438; Eidg LIV² 421f.; 438; Klingenschmitt AarmVb 219

Anm. 75; LEIA-M 11f.

Page 193: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Molch 1

Molch Sb m. „Wassermolch; Feuersalamander; Eidechse; Kaulquappe“

Z: Molch als Bezeichnung für halbamphibische Schwanzlurche ist ursprünglich eine auf den thür.-sächs.

Raum beschränkte Guttural-Erweiterung von älterem mol, molm, die durch Luther in die hochdt.

Sprache eingedrungen ist (:�:*���6LH�JHK|UHQ�]X�HLQHU�:XU]HO� mel- „gefleckt, gesprenkelt; befleckt,

schmutzig sein“, die auch in dt. Mal „Fleck“ bezeugt ist. Neben diesen Wörtern gibt es in anderen idg.

Sprachen eine Reihe von Ableitungen derselben Wurzel *mel-, die ebenfalls zu Tierbezeichnungen

geworden sind (:�(idg). Das uridg. Transponat von dt. Molch (< german. *mulka-) ist *m

33

go-, das eine

genaue lautliche Entsprechung in aind. m;;

gá- „Gazelle, Hirsch; Vogel“, jav. m��QQ���D- „Vogel, Huhn“

hat; doch liegt wohl in beiden Sprachzweigen eine unabhängige Neuerung vor (:� (idg). Die alte

Zusammenstellung mit der Wurzel von dt. mahlen ist nach Lühr aus semantischen Gründen

aufzugeben (:�(germ).

B: In den thür. Mdaa. sind belegt: Molch m. als Bezeichnung für verschiedene Lurche und

Kriechtiere, vor allem den Wassermolch, seltener für den Feuersalamander, die Eidechse

oder Kaulquappen. In übertragener Bedeutung wird Molch verwendet für wohlgenährte,

mollige und faule Kinder oder Erwachsene, z.B. in das is a richtger Mulch; wenn ääs nich

gespriechlich is, der tät käne Fresse uff (ThWb s.v. Molch). Neben Molch sind auch die

Formen Molm, Molmer, Molcher(t), Momme bezeugt (:� L, M/WB). Wassermolch und

Feuersalamander werden häufig nicht unterschieden. In der Bedeutung Feuersalamander

wird jedoch des öfteren ein präzisierendes Adjektiv wie gefleckt, gelb oder golden

beigefügt oder ein Determinativkomp., z.B. Feuer-, Gold-, Buntmolch, gebildet.

Gelegentlich gelten Molch, Eidechse und deren Synonyme als Sammelbezeichnung für

„langgestreckte Lurche oder Kriechtiere“. Die nur im Gebiet Altenburg verwendete

Ableitung Molmerich m. bezeichnet dagegen den Maulwurf (ThWb s.v. Molmerich), so

auch in den Komposita Molmerichsgang und Molmerichshaufen.

Molch ist vor allem im Thür. und Sächs. ab dem 15. Jhd. bekannt und breitet sich in der

Folgezeit aus, weil Luther ausschließlich die Form Molch verwendet, z.B. in der igel, der

molch, die aidex, der blindschleich, und der maulworf (3 Mos 11, 30). Das Mhd. und Ahd.

sowie moderne dt. Dialekte weisen die Formen Mol(le) und Molm auf, z.B. mit dieser

arzenei hab ich von einem manne ein mollen oder salamander getrieben

(Tabernaemontanus Kräuterbuch 234)und salamandra ist ein art der molen (Calepinus

Dict. 7 linguarum (1570) 1361). Neben hd. Molch existiert eine nddt. Entsprechung Molk,

das Rheinische bietet ein Deminutivum Mölkchen in der Bedeutung „Hausgrille“ (DWb

s.v. Molch; RheinWb s.v. Mölkchen).

M/WB: Molch und Molm mit den Pluralen Molche und Molme sind mask. a-St. wie Tag

(Frnhd Gr 168ff.).

Page 194: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Molch 2

Molch ist eine Erweiterung des in ahd., mhd. mol (bestimmte Art von) „Kriechtier“

zugrundeliegenden Stammes *mul(-a)- mit -ch < german. *-k- (: Egerm) und zeigt somit

den gleichen Wortausgang wie die nhd. Tierbezeichnungen Lorch, Lurch „Kriechtier“,

Bilch „Haselmaus“, Elch oder Storch. Möglicherweise ist das Suffix in Analogie zu den

genannten Tierbezeichnungen angetreten (Pfeifer II 884). Molm „eidechsenähnlicher

Lurch“ mit m-Erweiterung < german. *mul-ma- (:�Egerm) ist ab dem 9. Jhd. bezeugt und

steht neben Olm „dss.“ (ab 11. Jhd.; Pfeifer II 949). Weitere Ableitungen in thür. Mdaa.

sind Molcher(t) m.und Molmer m., die mit dem auch in Marder neben Mard auftretenden

Suffix -er erweitert sind (Fleischer/Barz 151 ff.). Das aus lat. *-arius entlehnte Suffix -er

findet sich bei Tierbezeichnungen häufig in der ursprünglichen Funktion als Nomen

Agentis (z.B. in den Vogelbezeichnungen Laubsänger, Würger) und kann von da aus auch

auf andere Tiere übertragen werden. Ähnliches ist auch bei Pflanzennamen eingetreten,

vgl. ahd. genesta > nhd. Ginster (EWA s.v. genesta). Molmerich m. „Maulwurf“ dürfte

eine scherzhafte Nachahmung der Bildung von Enterich oder Gänserich sein und gehört zu

Molm „Staub, Erde“ (EWA s.v. molm).

L: Hd. Molch steht neben nddt. Molk wie Storch neben Stork und deutet auf eine german.

Vorform *mulka-. Ausschließlich im Kreis Schmalkalden ist Momme m. und f.

„Feuersalamander“ < Molme bezeugt, in dem das l geschwunden ist wie in manchen thür.

Westgebieten üblich, z.B. in šumaisd�r „Schulmeister“ (Sp ThGr 229 ff.). Zusätzlich ist in

Momme ein Genuswechsel mit Antritt eines -e eingetreten wie in Binse < mhd. bin(e)z

(Frnhd Gr 175f.). Molchert neben Molcher hat ein unetymologisches -t wie Habicht <

mhd. habech (MhdGr 161; Sp ThGr 183).

WG: Die erst ab dem 15. Jhd. bezeugte, mit dem Guttural erweiterte Form Molch ist durch

Luther in die dt. Hochsprache eingedrungen (EWD, DWb s.v. Molch). Älteres

unerweitertes mol steht schon im Ahd. neben der m-Ableitung molm. Das Nebeneinander

von ahd. olm und molm, die beide eidechsenähnliche Lurche bezeichnen, ist

wahrscheinlich wie Otter neben Natter als falsche Abtrennung zu erklären (EWD s.v. Olm,

Pfeifer II 949). Olm wird im 19. Jhd. in der Wissenschaftssprache erstmals bei Lorenz

Oken (Lehrbuch der Naturgeschichte, 1813-1826) für einen neu entdeckten, im Wasser

lebenden Schwanzlurch mit verkümmerten Gliedmaßen, den Grottenolm, verwendet und

von da aus in die Hochsprache übernommen (Pfeifer II 949).

Nddt. Molk bezeichnet auch einen Schmetterling und ist vielleicht beeinflusst durch das

Kompositum Molkendieb „Schmetterling“ mit demselben Benennungsmotiv wie engl.

Page 195: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Molch 3

butterfly, ndl. botervlieg, nhd. (dial.) Butterfliege. Man glaubte, dass Hexen und Zauberer

in Gestalt von Schmetterlingen Milch und Butter stehlen würden (DWb s.v. Butterfliege).

Im thür. Volksglauben gibt es schönes Wetter, wenn der Kamm des Molches aufrecht

steht.

Egerm: Hd. Molch und nddt. molk weisen auf german. *mul-ka- m., das genauso wie *sturka-

> Storch (EWD s.v. Storch), *lurka- > Lorch (ú EWDD s.v. Lorch) gebildet ist. Daneben

stehen weitere Ableitungen: Ahd. mhd. asächs. mol < german. *mul-a- m., ahd., mhd.

molm < german. *mul-ma- m. und mhd. molle, ahd. mollo sowie evtl. der aengl. PN Moll

(Holth AeWb 225) < *mul-na- m. (mit dem schon german. Wandel von -ln- > -ll-; Kr/M I

113), die auf eine german. Basis *mel-, Schwundstufe *mul- deuten. Die alte

Zusammenstellung mit dem Verb „mahlen“ (vgl. IEW 717) und die Interpretation als

Nomen Agentis „Mahler“ ist nach Lühr „als Bezeichnung für ein Tier wie einen „Molch“

oder einen „Maulwurf“ von der Bedeutung her nicht sehr überzeugend. Wahrscheinlicher

ist der Anschluß an arm. moá�] „Eidechse“, das man zu der Sippe von ai. maliná-

„schmutzig, unrein“ stellt. Trifft diese Verbindung zu, so könnte von einem *mula-

„dunkelfarbig“ eine Bildung mit dem individualisierenden n-Suffix *mula-n- „der

Dunkelfarbige“ abgeleitet und wegen der häufig bezeugten Bedeutungsgleichheit von n-

Stamm und a-Stamm dann auch der a-Stamm substantivisch verwendet worden sein“

(Lühr Expr. und Lautges. 201). Die Verbindung von *mul-a- mit armen. PRá�] geht in die

richtige Richtung und wird in Eidg semantisch genauer dargestellt und begründet.

Eidg: Die idg. Wurzel mel- „gefleckt, gesprenkelt; befleckt, schmutzig sein“ (IEW 720f. unter

6. mel-, mel�-; nicht in LIV) ist eine Ani;-Wurzel (Peters, Lar 162 f.). Die in IEW

angeführten Belege für den Ansatz eines Laryngals sind das aind. Adj. maliná-, das jedoch

eine Weiterbildung von einem -in-Adj. malin- ist (Sommer, Nom 25; EWAia II 332f.); das

Part. ml�na- „welk, verwittert; dunkel, schmutzig“ gehört zu einer aind. Wurzel ml�-

(*mleH-) „welken“ (EWAia II 332f.; 388f.).

Fortsetzer der Wurzel *mel- sind aind. mála- n. „Schmutzfleck, Dreck, Unrat“ (die

Bedeutung „Schmutzfleck“ wird deutlich in malodv�sás- f. (= mala-ud-v�sas; SB +) „die

�GXUFK� 0HQVWUXDWLRQVEOXW�� IOHFNLJHQ� .OHLGHU� DEJHOHJW� KDEHQG³��� JULHFK�� ���."� ÄGXQkel,

VFKZDU]³�����.1�.�ÄVFKZDU]HU�RGHU�JUDXHU�)OHFN³���)�#1�.�Ä)OHFN³��OLW��mKlas „blau“; dt.

Mal < german. *P�1la- n. (die Bedeutung „Fleck“ in Muttermal) (EWD s.v. Mal²; IEW

720 f.; Pfeifer II 829).

Von dieser Wurzel mel- sind in idg. Sprachen ferner einige Tierbezeichnungen abgeleitet,

die eine ursprüngliche Bedeutung „sprenkeliges, geflecktes (Tier)“ aufweisen: lit. meletà

Page 196: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Molch 4

„Hasel-�� :DOGKXKQ³�� JULHFK�� �0� #!�"�� � � #!�"� Ä*DUQHOH�� /RNXVWH³�� DLU�� mulba

„Seehund“ (*mol �o-); armen. PRá�], PRáH]L „Eidechse“ < uridg. *mole�hi-, das ein

Kompositum aus *molo- „gefleckt“ und *h1e�hi- „Schlange“ (= griech. µ$�"�Ä9LSHU��2WWHU³��

dagegen griech. å3�"� XQG� DLQG�� áhi- < uridg. *Hogwh

i-, armen. Lå „Schlange“ < uridg.

*+�Jwhi-; EWAia I 156) sein könnte. Mit Schwundstufe der Wurzel gehören hierher aind.

m;gá- m. „Wildtier; Gazelle; Hirsch; Vogel“, m�g¼- f. „Hirschkuh“; jav. mãrãða- „Vogel“,

npers. murð „Vogel, Huhn“ (EWAia II 370f: „Der Ursprung von iir. *m;gá- ist unklar“).

Diese Wörter bezeichnen verschiedene Tiere, die sich durch eine fleckige Färbung

auszeichen.

Aufgrund der späten Belege wird Molch im allgemeinen als sekundäre Bildung in

Anlehnung an Lurch, Storch usw. (:� M/WB) angesehen. Das uridg. Transponat von

german. *mulka- wäre uridg. *m�go- „geflecktes (Tier)“, das eine genaue Entsprechung

von aind. m�gá-, jav. m�r��D- darstellen könnte. Doch ist uridg. *-go- ein seltenes Formans

und meist mit anderen Suffixen verbaut (Brugmann Grdr II, 1 506ff.), so dass in beiden

Sprachen eine unabhängige Neuerung vorliegen dürfte.

Eine semantische Parallele für die Entwicklung von „geflecktes Tier“ zur Bezeichnung

ganz verschiedenartiger Tiere bietet air. erc < idg. *per�o- „sprenkelig“, das synchron

„Forelle, Lachs“, „Kuh“ und „Eidechse“ bedeuten kann (DIL s.v. erc). Aus anderen idg.

Sprachen gehören hieUKHU�JU����!� "� Ä$GOHU³����!��� ÄHLQ�)OXVVILVFK³��PLW�HLQHU�DQGHUHQ�Ablautstufe (uridg. *pór�o- „gesprenkelt“) lat. porcus, air. orc, lit. paÕšas „Schwein“ (ú

EWDD s.v. Färe).

Da die in Mitteleuropa beheimateten Molcharten (außer dem nur in den Alpen

vorkommenden Alpenmolch, der ganz schwarz ist) Teichmolch, Salamander und

Kammmolch mehr oder weniger auffällig gefleckt sind, ist eine ursprüngliche

Bedeutungseinengung von german. *mul-a-, *mul-ma- und *mul-ka- als „geflecktes Tier“

:� Ä(LGHFKVH��0ROFK³� QDKHOLegend, die auch in armen. PRá�] „Eidechse“ bei derselben

Wurzel eingetreten ist und bei der gleichbedeutenden Wurzel *per�- in air. erc „Eidechse“.

Lit: B ThWb s.v. Molch, Molchert, Molm, Molmerich, Momme; Tabernaemontanus

Kräuterbuch 234; Calepinus Dict. 7 linguarum 1361; DWb s.v. Molch; RheinWb s.v.

Mölkchen; M/WB Frnhd Gr 168ff.; Pfeifer II 884, 949; Fleischer/Barz 151 ff.; EWA s.v.

molm; L Sp ThGr 183, 229ff.; Frnhd Gr 175f.; MhdGr 161; WG EWD s.v. Molch, Olm;

DWb s.v. Butterfliege, Molch; Pfeifer II 949; Oken Lehrbuch Naturgesch.; Egerm EWD s.v.

Storch; Kr/M I 113; IEW 717; Lühr 1988: 201; Holth AeWb 225; Eidg IEW 720f.; Peters

Page 197: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Molch 5

Lar 162f.; Sommer Nom 25; EWAia II 332f., 370f., 388f.; EWD s.v. Mal², Pfeifer II 829;

EWDD s.v. Färe.

Page 198: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Muhol 1

Muhol Sb m. „Libelle“

Z: Das bisher völlig unklare nthür. Subst. Muhol m. „Libelle“ (zum Genus :�0�:%��VWDPPW�DXV�GHP�kindersprachlichen Wortschatz wie auch zahlreiche weitere Bezeichnungen für harmlose Insekten,

etwa Muhkäuzchen, Muhkälbchen „Marienkäfer, Glühwürmchen“ (:�:*��� (V� LVW� HLQ�.RPSRVLWXP�aus Muh-, einem Kosenamen für Kühe, der häufig in kindersprachlichen Hypokoristika für Insekten

verwendet wird, und -ol „Eule“ aus nddt. ÌO mit nthür. Vokalkürzung und Vokalsenkung (:� /���Semantische Parallelen für die Bezeichnung von Insekten mit den Wörtern Eule, Käuzchen oder Vogel

stützen diese Deutung (:�:*���Eule hat Verwandte in anderen german. Sprachen (:� (germ). Die

Kompositionsbestandteile muh- und -ol sind onomatopoetisch und finden typologischen Anschluss an

andere idg. Sprachen (:�(idg).

B: Das sicher bezeugte Wort Muhol (ThWb s.v. Muhol) kommt nur in der nordthür. Mda. in

und um Sondershausen vor. Es bezeichnet die Libelle in allen vorkommenden Arten der

Insektenordnung Odonata neben mundartlichem Wasserjungfer und einer großen Zahl von

Synonymen, die auf kleine Gebiete oder einzelne Orte beschränkt sind und häufig dem

kindlichen Wortschatz entstammen (:�WG).

M/WB: Aufgrund semantischer Parallelen (:� WG) wird Muh-ol als Kompositum „Muh-

Eule“ mit dem Genus Maskulinum bestimmt. Das Mask. gibt es z.B. in nndl. uil�>ÌO@�P��„Eule“ und im Sprichwort was dem einen sin Uhl, ist dem anderen sin Nachtigall (Röhrich

III 1655; im Nddt. ist auch Nachtigall mask.), in dem das Pronomen sin (und nicht sine f.)

auf ein Mask. hinweist. Auch das NO- und SO-Thür. kennt Eul in hdt. und ËO in nddt.

Lautform als Mask. (ThWb s.v. Eul). Schon im Ahd. gab es endungslose fem. Formen wie

ÌZHO��ÌO��DXO��HXO (= mhd. iuwel f.) mit regelrechtem Endungsschwund im Nom. der fem. À-

St. Dieser Endungsschwund konnte manchmal zum Übertritt eines fem. Wortes in das

Mask. führen (Braune/Eggers AhdGr 192), was auch in (XO��ËO m. geschehen ist. Das

Nebeneinander von verschiedenen Genera ist unter anderem bei l-Suffixen nicht

ungewöhnlich (Kr/M III 87f.) und kann den Genuswechsel zusätzlich gefördert haben (:�E

germ).

L: Das Fehlen des Umlauts im Kompositionshinterglied -ol (vgl. dagegen nhd. Eule < mhd.

iuwel, iule) beruht auf der Übernahme der nddt. Form ÌO m. (z.B. in Danneil Altmärk 230a;

Damköhler Nordharz 197b), die aus ÌZLOD synkopiert ist (PBB 5: 70 und Braune/Eggers

AhdGr 68). Nddt. Formen und Wörter sind häufig im N-Thür. vertreten, vgl. z.B. Lum,

Lume „Matsch, Pfütze, feuchte Stelle auf dem Acker“ (ú�EWDD s.v. Lum). Ein -Ì- ist im

Norden und nördl. W- und O-Thür. teilweise gekürzt und zu -o- gesenkt worden wie z.B.

auch in Zog < Zug (Sp ThGr 93).

Page 199: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Muhol 2

WG: Die Bezeichnungen für die Libelle sind vielfältig: Abergläubische Anspielungen wie

Butterhexe, Drachen, Gespenst oder Teufelsnadel sind ebenso vertreten wie die falsche

Vorstellung, dass die Libellen mit ihren Flügeln schneiden könnten, was zu Bezeichnungen

wie Schneider, Schnitter, Bach-, Bauch-, Binsen-, Daumen-, Zwirnschneider,

Haar(ab)schneider, Schneidehornisse usw. geführt hat. Die schlanke, gerade Körperform

ist Anlaß zu den Bezeichnungen Flinte, Heubaum, Säbel usw. Mehr auf das Fluggeräusch

beziehen sich Brummer, Grille, Flieger, Propeller usw. (ThWb s.v. Libelle). Die

kindlichen Bezeichnungen für harmlose, nicht stechende Insekten verschiedener Arten sind

äußerst häufig Komposita, in deren Vorder- oder Hinterglied Wörter für „Kuh“ oder

„Schaf“ zu finden sind: Muhkuh, Muhkälbchen n. „Marienkäfer; Glühwürmchen“ ist

verstreut belegt in Nordthür. neben Muhkühchen „id.“, Muhkäuzchen „Marienkäfer“ und

Muhpetzchen „Marienkäfer, Glühwürmchen“ (-petzchen zu Petze „junges Schaf, Lamm“;

ú EWDD s.v.). Muh ist eine kindliche Koseform für Kühe (ThWb s.v. Muh). Als

Hinterglied in Komposita für die Bezeichnung der Libelle sind des öfteren auch

Vogelnamen zu finden, z.B. Kieshühnchen oder Wettervogel (ThWb s.v. Libelle). Für die

hier vorgeschlagene Deutung von Muhol spricht ferner Uhlwurm, Ulwurm „Engerling,

Schmetterlings-, Käfermade“ („Eulenwurm“) (ThWb s.v. Ulwurm].

Neben den o.g. kindlichen Wörtern gibt es im Hdt. die Bezeichnung Eule für eine

bestimmte Sorte von Motten (Psychodidae) oder Nachtfaltern (Noctuidae). Grimm (DWb

s.v.) bietet den Begriff Eulenmücke für Tipula Phalaenoides Linnaeus, eine Mottenart

(www. hbs.bishopmuseum.org/aocat/psychod.html). Die nddt. Form ËO mit den Deminuti-

ven ËOFKHQ, ËONHQ und ËOHNH kann einen Nachtfalter bzw. eine Motte bezeichnen, z.B. in

(der Mandelwurm) kreichet herfür auß seinem seidenen Lager und ist nun kein Wurm oder

Raupe mehr, sondern ein weißes Ulchen mit Flügeln, langen Füßen, Hörnern fürm Kopf

(Laurenberg acerra phil. 1643: 487; DWb s.v. Eule, Ule); nach der Beschreibung dürfte

hier wahrscheinlich die Variante Acronicta leporina gemeint sein (Bild unter www.

golddistel.de/nachtfalter/noctuidae/index.htm).

Muh-ol „Muh-eule“ stammt aus dem Bereich der Kindersprache und ist aus dem ebenfalls

kindersprachlichen Wort Muh „Kuh“ und dem Hinterglied -ol als dialektaler Variante von

nhd. Eule zusammengesetzt (:�L). Muh-käuzchen als Bezeichnung für Marienkäfer oder

Glühwürmchen sowie die Verwendung des Wortes Eule, Ule für eine bestimmte Art von

fliegenden Insekten bieten für diese Interpretation semantische Parallelen.

Egerm: Das Vorderglied Muh- gehört zum sw. Verb muhen als Nachahmung von Kuhgebrüll,

die auch in anderen Sprachen als Lautmalerei bezeugt ist (ô Eidg). Das nddt. Subst. ÌO m.

Page 200: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Muhol 3

„Eule“ ist auch in nndl. uil m. „Eule“ bezeugt und steht neben der seltenen hdt. Form Eul

m. (ThWb s.v. Eul). Häufig bezeugt ist das fem. Eule, nddt. ÌOH (DWb s.v. Eule, Ule,

Uhle). Diese Formen gehen auf mhd. iuwel, iule swf. und weiterhin auf ahd. ÌZLOD��ÌOD�und

ÌO��DXO��HXO f. (mit Endungsschwund im Nom.; :�M/WB) < german. *XZZLOÀ�Q�- f. „Eule“

zurück. Aus anderen german. Sprachen gehören hierher aengl. ÌOH f. und anord. ugla f.

„Eule“ (Holth AeWb s.v. ÌOH; deVries AnordWb s.v. ugla), die wegen des fehlenden

Umlauts german. *XZZDOÀ�Q�- f. fortsetzen. Anord. ugla sowie schwed. uggla, dän. ugle

zeigen die lautgesetzliche Verschärfung von *ww zu *ggw im Nord- und Ostgerman.

(Kr/M I 97). *XZZLOÀ�Q�- und *XZZDOÀ�Q�- sind Ableitungen von *uwwa(n)- m. „Uhu“ (:�E

idg) mit dem german. Suffix *-la-/-OÀ- bzw. seinen bindevokalischen Varianten *-ila-,

-ala- (H. Beck in RGA 8 (1994): 17f.; Kr/M III 84ff.). Das Suffix kann unter anderem auch

deminutive Bedeutung haben, vgl. z.B. nhd. Ferkel n. < mhd. verhel n. < german. *farh-

ila- zu german. *farha- m.n. (mhd. varch m.n., aengl. fearh m. „Schwein“; EWD s.v.

Ferkel; Kr/M III 87). „Alle Benennungen der kleineren Eulenarten sind deminutive

Ableitungen von lautmalenden Namen des großen Uhus“ (H. Beck in RGA 8: 17). Somit

sind (XO��ÌO und (XOH��ÌOH eigentlich „kleiner Uhu“. Häufig behält ein solches Deminutiv

das Genus seiner Ableitungsbasis bei wie z.B. got. magula m. „Knäblein“ von magu- m.

„Knabe“ oder PDZLOÀ f. „Mädchen“ von mawi f. Magd (Kr/M III 87, Lehmann GotWb

s.vv.). Aber Bändel m. (DWb s.v. Bendel) neben Band n. und Stengel m. (neue

Rechtschreibung: Stängel) neben Stange f. (EWD s.v. Stengel) zeigen auch die

Möglichkeiten eines Genuswechsels (Streitberg UrgGr 194). Zum Übergang von fem.

Eul(e), Ul(e) zu mask. Eul, Ul s. auch unter M/WB.

Eidg: Das lautmalerische Verb muhen kommt als typologische Parallele in anderen Sprachen

vor, z.B. in lat. mÌJ¯UH�� JULHFK�� �#�� �.�� �(:'� V�Y�� muhen; IEW 751f.). German.

uwwa(n)- m. „Uhu“ ist eine onomatopoetische Bezeichnung, „die möglicherweise der

größten Eulenart, dem Uhu, zukam“ (H. Beck in RGA 8: 17). Ähnliche lautmalende

Wörter aus anderen Sprachen sind lat. ulula f., ulucus m. „Kauz“, lett. ÊSLV „Uhu“, ÌEXôt

„gurren“ (von Tauben), aind. uhúvas (RV) etwa „schnatternd“ als Beiwort von Gänsen,

úlÌND- „Eule, Käuzchen“ (~ lat. ulucus) (EWAia s.v. ululí, úlÌND��XKúvas; WH s.v. ulucus,

ulula; IEW 1103; Suolahti Vogelnamen s.v. Eule, Uhu).

Lit: B ThWb s.v. Muhol; M/WB Röhrich III 1655; ThWb s.v. Eul; Braune/Eggers AhdGr

192; Kr/M III 87f.; L Danneil Altmärk 230a; Damköhler Nordharz 197b; PBB 5: 70;

Braune/Eggers AhdGr 68; EWDD s.v. Lum; Sp ThGr 93; WG ThWB s.v. Libelle; EWDD

s.v. Petze; ThWb s.v. Muh; DWB s.v. Eule, Eulenmücke, Uhle; www. hbs.bishopmuseum.

Page 201: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Muhol 4

org/aocat/psychod.htm; Laurenberg acerra phil. 1643: 487; www. golddistel.de/nachtfalter

/noctuidae/index.htm; Egerm Braune/Eggers AhdGr 192; Holth AeWb s.v. ÌOH; deVries

AnordWb s.v. ugla; Kr/M I 97; H. Beck in RGA 8, 1994, 17f; Kr/M III 84ff.; Lehmann

GotWb s.v. magila, mawi; EWD s.v. Ferkel, Stengel; DWb s.v. Bendel; Streitberg UrgGr

194; Eidg EWD s.v. muhen; IEW 751f, 1103; EWAia s.v. ululí, úlÌND��XKúvas; WH s.v.

ulucus, ulula; Suolahti Vogelnamen s.v. Eule, Uhu.

Page 202: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Nuffen, nuffen 1

Nuffen Sb m. f. n. „das linke Gespannpferd, -tier“

nuffen Adj. „links“

Z: Das nur in Thüringen bezeugte Wort Nuffen „linkes Gespannpferd, -tier“ geht in seiner Bezeugung

und Verwendung ganz parallel mit Neben „rechtes Gespannpferd, -tier“: Bei beiden Wörtern sind die

gleichen Komposita gebildet worden und bei beiden gibt es eine gleichartige Adjektivbildung (:�M/WB; WG). Die in ThWb vorgeschlagene Verbindung mit einem mndt. Verb nopen „stoßen,

antreiben“, das in hd. Lautung nuffen nur selten bezeugt ist, scheitert an der Wortbildung, da sich

keinerlei deutsche Derivationsmuster geltend machen lassen. Parallel zur unumstrittenen Herleitung

von Neben „rechtes Gespannpferd, -tier“ wird für Nuffen eine Herkunft aus dem thür. Adv. nuff,

nuffn „hinauf; oben“ erwogen, die eine stimmige Wortbildung ergibt und durch die Darstellung der

Sachbezüge und dem Benennungsmotiv zusätzlich an Wahrscheinlichkeit gewinnt (:�:*��� ,Q�(germ

und Eidg

werden die germanischen und indogermanischen Bezüge angeführt.

B: Ausschließlich in Thüringen ist das Subst. Nuffen m. f. n. als Bezeichnung für ein im

Gespann links gehendes Tier bezeugt. Das Genus richtet sich dabei in der Regel nach dem

zu ergänzenden Grundwort, z.B. der Nuffen = der Nuffengaul, die Nuffen = die Nuffenkuh,

das Nuffen = das Nuffenpferd. Außerdem werden häufig die Komposita Nuffengaul,

Nuffenkuh, Nuffenochse, Nuffenpferd oder Nuffentier gebildet. Die Nuffenseite ist die linke

Seite im Gespann. Ferner gehört hierher das Adj. nuffen „(im Gespann) links (gehend)“,

z.B. in der Gul geht nuffen „der Gaul geht links“ und der nuppne Chul „der linke Gaul“

(ThWb s.v. Nuffen, nuffen), genauso e gieht nabt „er geht rechts“ und der nawete Ochs

„der rechte Ochse“ von neben (:� WG). Als Synonyme für Nuffengaul, Nuffenkuh und

Nuffenochse werden Sattelpferd, Sattelkuh und Sattelochse verwendet, die in anderen

Dialekten ebenfalls als Bezeichnungen für das linke Gespanntier verwendet werden (DWb

s.v. Sattelpferd, -gaul, -kuh, -tier).

Belege für Nuffen aus anderen dt. Dialekten sind nicht vorhanden.

M/WB: Das Adj. nuffen „links (gehend)“ ist wie neben „rechts (gehend)“ semantisch aus der

Aufteilung eines Gespannes in Nebenpferd und Nuffenpferd, gleichsam „rechtes“ und

„linkes“ Pferd, entstanden (:� WG). Die Adverbien nuff(n) „hinauf“ und neben sind zu

flektierenden Adjektiven nuffener und nebener (:� B) uminterpretiert worden, vgl. z.B.

umgangssprachl. das zune Fenster aus das Fenster ist zu in Analogie zu das offene Fenster

(wo die Verwendung als Adj. alt ist) und das Fenster ist offen. Nuffen und Neben sind aus

den Adjektiven nuffen und neben substantiviert.

L: Ein fakultativer n-Antritt im Auslaut von Ortsadverbien ist im Thür. anzutreffen z.B. in

drufn „darauf“ und ufn „auf“, in Analogie zu den häufigen Bildungen wie draußen, außen,

hinten etc. (Sp ThGr 256), ebenso in nufn „hinauf“ (ThWb s.v. auf, drauf, hinauf). Der

Page 203: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Nuffen, nuffen 2

Kurzvokal in nuff neben nauf beruht auf einer verbreiteten Kürzung, die auch in ruff neben

rauf, druff neben drauf usw. auftritt (Sp ThWb 172). Daneben gibt es auch die md. Form

nub mit unverschobenem -p, das in den meisten thür. Dialekten lenisiert wird wie in drub

(Kreis Worbis) neben druff, drauf (Sp ThGr 180; ThWb s.v. drauf, hinauf). Die Varianten

nuff und nub sind auch bei Nuffen zu finden: nufn und nub#n (ThWb s.v Nuffen).

WG: Als Bezeichnung für das rechts im Gespann gehende Tier wird Neben m. f. n.

verwendet, auch in den gleichen Komposita wie Nuffen (:�B): Nebengaul, -kuh, -ochse,

-pferd, -tier, Nebenseite „rechte Seite des Gespanns“ sowie im Adj. neben(d) „im Gespann

rechts (gehend)“ (manchmal mit einem Sprossdental -d/-t wie in ebend „eben“, nacherd

„nachher“; Sp ThWb 183), z.B. in e gieht nabt (ThWb s.v. Neben, neben) parallel zu

nuffen „im Gespann links (gehend)“.

Die alten Nutzfahrzeuge wurden von Pferden, Ochsen oder Kühen, aber nicht von Stieren

(aufgrund ihrer Aggressivität) gezogen. Die Wagen hatten keine Sitzböcke, so dass man

zum Lenken und Antreiben des Gespanns auf einem der Zugtiere reiten musste.

Üblicherweise auf das linke Pferd als Sattelpferd steigt man hinauf, das Nebenpferd läuft

im Gespann rechts daneben und zeigt dasselbe Benennungsmotiv wie z.B. Beipferd oder

gall.-lat. para-ver�GXV „Beipferd“. Das linke Pferd wird angetrieben und gezügelt, das

rechte läuft nur in der Anschirrung mit. Aus diesem Grund wurden auch junge,

unerfahrene Tiere an die rechte, weniger „verantwortungsvolle“ Position gesetzt, z.B. in di

jonge Kuh spann on di Naabmsitten „spann die junge Kuh an die Nebenseite (= rechte

Seite)“ (ThWb s.v. Nebenseite).

Egerm: Die in ThWb s.v. Nuffen angegebene Gleichsetzung mit einem Verb nopen, nuffen

„stoßen, antreiben“ ist zwar aus semantischen Gründen möglich, vgl. aind. háya- „Pferd“,

das durch Substantivierung mit Akzentverschiebung aus einem patientiven oder

resultativen Adjektiv *hayá- „das angetriebene (Tier)“, einer Ableitung der aind. Wurzel

hay- „antreiben“, entstanden ist (EWAia II 802f.). Dieselbe Entwicklung mit

Akzentverschiebung ist auch in thür. Färe bezeugt und in EWDD s.v. Färe genauer

dargestellt.

Eine Ableitung mit einem Suffix -en von einem Verbalstamm nuff-, nup- „schlagen,

antreiben“ oder eine Substantivierung des Infinitivs in patientiver Bedeutung „Tier, das

gestoßen/angetrieben wird“, wie sie für Nuff-en anzunehmen sein müsste, ist im Deutschen

jedoch nicht bezeugt. Das völlig parallele Verhalten von Nuffen und Neben deutet vielmehr

auf gleiche Wortbildung, Ableitung und Semantik, wie oben in M/WB dargestellt.

Page 204: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Nuffen, nuffen 3

Der dialektalen Form Nuffen liegt das Adv. hinauf zugrunde, das aus dem Adv. hin, mhd.

hin(e), ahd. hin(n)a, mndl. hene, aengl. als Vorderglied hin-, und der Präp./ dem Adv. auf,

mhd. ahd. ÌI, anord. upp, aengl., as. afr. up, zusammengesetzt ist wie z.B. hinan aus hin-

an, ahd. hin-an(a), aengl. hion-an(e) (EWD s.v. auf, hin; Van Dam II 306f.; Holth. AEW

160).

Eidg: Das aus ahd. hin(n)a „hin“ zu erschließende german. Adv. *hi-na < uridg. Richtungs-

Akkusativ *�i-no-m „in diese Richtung, hin“ ist von einem auch in anderen Adverbien

(z.B. heu-te „an diesem Tag“, heu-er „in diesem Jahr“; EWD s.v. heute und heuer) und

Pronomina bezeugten Pronominalstamm german. *hi- „dies-“ (Lühr, Hildebrandslied) mit

dem Suffix german. *-na- abgeleitet (Kr/M II 69, Kr/M III 104ff.). Dieses *hi- geht auf ein

uridg. *�i- zurück, das z.B. auch in lat. ci-tra „diesseits, innerhalb“, cis „diesseits“ (W/H I

222), umbr. çive „hier, diesseits“, apreuß. schis „dieser“, lit. šìs „dieser“ gut bezeugt ist

(IEW 609f.).

Bei auf ergibt sich aus den unter Egerm angeführten Belegen ein german. Adv. *upa „(von

unten) nach oben“. Der Konsonantismus weicht von den anderen idg. Sprachen ab. Eine

Gemination kann durch den Antritt eines no-Suffixes entstanden sein (Lühr Expr 311): dt.

auf also aus vorgerman. *up-nó- „hinauf“ > german. *uppa-, mit sekundärer Dehnung >

*ÌSSD. (Neri aisl. uppi (in Vorbereitung)). Allein got. uf aus uridg. *úpo- stimmt lautlich

zu den anderen idg. Sprachen (Lehmann GotWb s.v.). Das ahd. Wort zeigt ungeklärte

Vokaldehnung, das Anord. eine Geminate (deVries AEW 635). Die Belege anderer idg.

Sprachen wie z.B. aind. úpa, gall., kib. uo- deuten auf uridg. *(h1)úpo, „(von unten) heran,

hinauf“, wobei der Ansatz eines Laryngals nicht sicher ist (Peters Lar 70f.), lat. sub

dagegen auf uridg. *supo „unten“ mit etwas anderer Bedeutung; griech. ö� �� ò�)� Oässt

beide Herleitungen *(h1)upo und *supo zu.

Adverbiale Ableitungen und Zusammensetzungen sind auch in anderen Sprachen häufig,

VLHKH�GLH�REHQ�JHQDQQWHQ�%HLVSLHOH�XQG�YJO��QRFK�JU����2.�2.�ÄJHUDGH�DEZärts“, ¡�3���.��„einander, gegenseitig“ oder��020�0�2.�ÄGDQDFK³��6FKZ\]HU�,����I���

Lit: B ThWb s.v. Nuffen, nuffen; L Sp ThGr 172, 180, 256; ThWb s.v. auf, drauf, hinauf; WG

Sp ThGr 183; ThWb s.v. Neben, neben, Nebenseite; Egerm EWAia II 802ff.; EWDD s.v.

Färe; EWD s.v. auf, hin; VanDam II 306f.; Holth AEW 160; Eidg EWD s.v. heuer, heute;

Kr/M II 69; Kr/M III 104ff.; W/H I 222; IEW 609f.; Lehmann GotWB s.v. uf; deVries

AEW 635; Peters Lar 70f.; Schwyzer I 632f.

Page 205: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Nuss, nussen, nuschen 1

Nuss Sb f. / m. „Schlag, Stoß“

nussen swV „schlagen, stoßen“

nuschen swV „schlagen, stoßen“, in der Tierzucht „entwöhnte Jungtiere mit der Schnauze (in

Milch oder Wasser) stoßen, damit sie zu trinken anfangen“

Z: Die in obdt. und mdt. Dialekten bezeugten Verben nussen, nusseln, nussern, nuschen, nüscheln, das Sb.

Nuss, Pl. Nüsse m./f. und verschiedene Ableitungen gehen auf eine german. Wurzel *nut- „schlagen,

stoßen; Schlag, Stoß“ zurück. Die german. Form *nut- ist Schwundstufe zu der uridg. Wurzel *neud-

„stoßen“ und mit dem aind. Vb. nudáte „schlagen, stoßen“ zu vergleichen. Damit entfallem die

Deutungen von Kluge/Seebold s.v. Nuß2 als Übertragung von Nuß

1 oder Verbindung mit unsicherem

aengl. hn�otan „schlagen“ (Egerm und Eidg).

B: In thür. und osächs. Mundarten sind die Verben nussen und nuschen „schlagen, stoßen“

bezeugt: abgesetzte Ferkel und andere Jungtiere werden mit der Schnauze in die Milch

neingenuscht („hineingestoßen“), um sie an das Saufen zu gewöhnen. Weitere Varianten

dieser Verben sind thür. nusseln, nussern, nüscheln „schlagen, stoßen, prügeln“; im Fränk.

und obdt. Dialekten gibt es nussen „schlagen“. Auch für Menschen werden diese Verben

verwendet, z.B. ich will im den Kopf weidlich nussen (17.Jhd., M. Neander; DWB s.v.

nussen); är nahm n an Uhrn un nuschelten richtch (ThWb s.v. nüscheln, -u-) „er packte ihn

an den Ohren und prügelte ihn richtig“; ich hoo mich on Schadel genoßt (ThWb s.v.

nussen) „ich habe mich am Kopf angestoßen“. Die Präfixverben ab-, durch-, vernuscheln,

-nüscheln , z.B. ha hat“n abgenuschelt, durchgenuschelt „er hat ihn durchgeprügelt“, und

auf-, aus-, hin-, ver-, zernussen sind nach den üblichen Ableitungsmustern der dt. Sprache

gebildet. Des weiteren ist in thür. Mda. sowie in fränk. und obdt. Dialekten ein Sb. Nuss

(Pl. Nöss < Nüsse) m./f. „Stoß, Schlag (an den Kopf)“ bezeugt: dar hot Nöss gekricht

(ThWb s.v. Nuß²); ein G. Sg. in Schlag zu, schlag zu, gib ir der Nüsz! (16.Jhd., H. Sachs; s.

M). Das Schweizerische bietet ein Deminutiv Nüssi n. „Nasenstüber“. Weitere

Ableitungen sind Nusser m. und Nusserer m. „Schlag (auf den Kopf)“: ar kriecht an

Nusser. Das Determinativkompositum Kopfnuss „Schlag auf den Kopf“ zeigt die gleiche

Semantik wie Kopfstoß und Kopfschlag (DWb s.vv.), s. WG.

M: Neben dem mask. Nuss mit dem (dial.) Pl. Nüss, Nöss ist ein fem. Nuss mit G.Sg. oder Pl.

Nüss(e) und Pl. Nüsse bezeugt, die auf einen alten fem. i-St. oder ein Wurzelnomen deuten.

WB: Von dem denominalen sw. Vb. nussen (von Nuss, kein Prät. bezeugt, Part. II genusst) ist

nusseln, von nüschen und nuschen sind nüscheln und nuscheln mit dem Iterativ-Suff. -el-

abgeleitet. Das sw.Vb. nussern ist entweder eine Weiterbildung des Sb.s Nusser (wie

Knauser : knausern) oder des Vb.s nussen mit dem Iterativ-Suff. -er- (wie blinken :

Page 206: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Nuss, nussen, nuschen 2

blinkern; zu -el- und -er- s. Lühr Nhd.170f). Die thür. Formen nüschen und nuschen mit

-sch- sind alte Intensivbildungen wie waschen oder forschen (s. Egerm und Eidg

). In Nusser

m. und Nusserer m. hat das Suffix -er die Bedeutung eines Nomen actionis wie z.B. in

Seufzer oder Hopser anstelle der üblichen Bedeutung als Nomen agentis (Fleischer/Barz

151ff.).

L: Die Variante nüschen kommt durch die Palatalisierung des [u] vor [D] und anderen Lauten

zu [ü] in manchen Gebieten des thür. Dial. zustande (Sp ThGr 53f), das -sch- hingegen ist

keine dialektale Variante eines -s- (Sp ThGr 210f), sondern der lautlich regelmäßige

Fortsetzer von ahd. [sk] wie in waschen < ahd. wascan.

WG: In der Tierwirtschaft (vgl. das oben angeführte „entwöhnte Jungtiere mit der Schnauze

in Milch oder Wasser hineinnuschen“) wird hineinnuschen/-nussen gleichbedeutend mit

hdt. hineinstoßen verwendet. Nuss und nussen mit weiteren Ableitungen (s. B und WB)

sind nur in einigen obdt. und mdt. Dialekten verbreitet und heute noch gebräuchlich. Die

Belege zeigen eine ursprüngliche Bedeutung „stoßen, schlagen“, vor allem im Bereich des

Kopfes. So erklärt sich Kopfnuß (ab 16. Jhd.) als verdeutlichendes Determinativ-

kompositum wie Kopfstoß oder Kopfschlag (s. Egerm). Auch die zahlreichen Präfixverben

(s. B) weisen auf eine Grundbedeutung „schlagen, stoßen“.

Egerm: Das denominale sw. Vb. nussen „schlagen, stoßen“ < *nut-.n ist mit dem Suff. -.n

(Kr/M III 240ff) von einer Basis *nut- oder *nuta-�À- abgeleitet. Neben nussen steht

nuschen aus german. *nu(t)-sk-an < vorurgerman. *nud-s�e/o- mit regulärer Schwundstufe

und wird im Dt. als sw. Vb. wie heischen, rauschen, kreischen (Kr/M III 256f) flektiert.

Die lautliche Entwicklung von *-dsk- > -sk- hat Parallelen in ahd. wascan st. Vb. (an.

vaska sw. Vb. „waschen“), das aus german. *wa(t)-sk-an < vorurgerman. * od-s�e/o- (zu

got. ZDWÀ „Wasser“, uridg. * od°) stammt.

Nuss m./f., G. Sg. f. der Nüsz bei H. Sachs (s. B), Pl. Nüsse m./f. setzen eine german.

Bildung *nut(-i/-u)- m./f. „Schlag, Stoß“ voraus. Ob es sich um ein Wurzelnomen, einen i-

oder u-Stamm handelt, kann aus den jungen Belegen nicht mehr ermittelt werden, da diese

Flexionsklassen schon im Ahd. vermischt worden sind (Mittelhd Gr 197). Die

ursprüngliche Bedeutung „Schlag“ liegt auch in Kopfnuss vor.

Kretschmer (Wortgeogr), Paul (Dt Wb) und Kluge/Seebold (EWD) erklären diese

Komposita als bedeutungsähnliche Nachbildung von Ohrfeige, weil Feige wegen der Form

der Frucht als Synonym für Beule verwendet worden und eine Bedeutungsverschiebung

„feigen-/nussähnliche Beule auf dem Kopf“ zu „Schlag auf den Kopf“ (der diese Beule

hervorgerufen hat) eingetreten sei. Spätmhd. ôrfeige, mnd. ôrvyge bedeuten jedoch wörtl.

Page 207: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Nuss, nussen, nuschen 3

„Ohrstreich, -schlag“ und ersetzen erst allmählich mhd. ôrslac, nd. ôrslach „Ohrschlag“

(EWD und DWb s.v. Ohrfeige, Ohrschlag). In Hamburg bezeichnet Ohrfyge einen

„Aufschlag am Hut“ (neben/über den Ohren) (Richey 1755). Auch zeigen die Verben mhd.

veigen, frnhd. feigen „schlagen, stoßen“ (DWb s.v.), dass Ohr-feige noch als „Ohr-schlag“

verstanden wurde und die Umdeutung erst im Nhd. erfolgte, als das Verb feigen obsolet

geworden war. Auch Kopfstoß (: stoßen) Kopfschlag (: schlagen), Kopfhieb (: hauen),

Ohrdachtel (: dachteln „schlagen“ (EWD s.v.)), Ohrschlag (: schlagen) „Schlag auf den

Kopf/ das Ohr“ stützen die Bestimmung von Kopfnuss als „Schlag auf den Kopf“.

In einer anderen Erklärung wird eine Ableitung von einem „nicht genau faßbaren“ (EWD

s.v. Nuß2) Verb für „schlagen“ versucht: Anknüpfungspunkt ist ein ganz unsicheres aengl.

Hapax legomenon hn�otan (Holth s.v. hn�tan) neben üblichem aengl. hn�tan „stoßen,

zusammenstoßen“. Aengl. hn�tan, anord. hníta „stoßen“ (< uridg. *knéid-e/o-) werden

dabie mit gr. MP�I[� „ritzen, kratzen, reißen“ (< uridg. *knid-ie/o-) verglichen (LIV² s.v.

*kneid- „kratzen, stoßen“); diese Verben können aber wegen des verschiedenen

Wurzelvokals nicht zu nussen, nuschen gestellt werden. Dagegen stimmt das aengl. Hapax

hn�otan im Wurzelvokalismus (*eu als Vollst. neben schwundstfigem *u in nussen,

nuschen) zu den dt. Verben und könnte ein analogisches h- nach dem häufigeren

bedeutungsgleichen hn�tan erhalten haben.

Eidg: Die german. Verben *nu(t)-sk-an < uridg. *nud-s�e/o-, denominales *nut-ÀQ und das

german. Sb. *nut(-i/-u)- m./f. (s. Egerm) sind schwundstufige Ableitungen einer uridg.

Wurzel *neud „stoßen“ (LIV² 456). Weitere Fortsetzer dieser Wurzel sind aind. (RV+)

nudáti, nudáte „er/sie stößt“, Part. Prs. Akt. nudánt- „stoßend“, Perf. nunudé „hat

gestoßen“ und das Wurzelnomen (vi-/par�-)núd- f. „Stoß“. Dies kann eine genaue

Gleichung zu german. *nud- f. sein, falls Nuss f. „Schlag, Stoß“ auf ein altes Wurzelnomen

zurückgeht (s. Egerm). Auch die Konstruktionsmuster und der semantische Bereich des

aind. Verbs erlauben den Vergleich mit dem German.: Subjekte sind immer

Bezeichnungen für Menschen oder Gottheiten, Objekte sind – mit einer Ausnahme, s.u. –

Bezeichnungen für Lebewesen, z.B. in �cº kapóta# nudata (10,165,5) „mit einem ÖÖRc-Vers

stoßt die Taube weg“; nudásva yº� parisp��dha� (9,53,1) „stoße die Nebenbuhler weg“;

áp�nudo jánam amitrayántam (10,180,3) „du hast das feindselige Volk weggestoßen“.

Metonymischer Gebrauch begegnet in der einzigen Ausnahme ágne manyúm pratinudán

páre&�m ... p�hi nas (10,128,6) „Agni, den (bösen) Sinn der Gegner umstoßend, schütze uns“.

Das bisher isolierte aind. Verb findet damit einen Anschluß an eine andere idg. Sprache.

Page 208: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Nuss, nussen, nuschen 4

Lit: B ThWb s.vv. Nuß², nussen; DWb s.vv. Nuß, nussen, Kopfnuss, Ohrfeige; Schw Id s.v.

Nüssi; WB Kr/M III 240ff; 256f; Sp ThGr 240; Fleischer/Barz 151ff.; Lühr Nhd. 170f; L Sp

ThGr 53f, 210f.; E EWD 658; Paul 624f; LIV² 456; IEW 768; Holth 166; EWAia s.v. NOD;

Mittelhd Gr 197; Kretschmer Wortgeogr s.v. Kopfnuss; Paul Dt Wb s.vv. Kopfnuss, Ohrfeige;

EWD s.vv. Nuß2, Ohrfeige.

Page 209: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Orbe 1

Orbe Sb f. „negatives Wort für Frau“

Z: Das nur einmal bezeugte thür. Wort Orbe als abfällige Bezeichnung für eine Frau ist eine

wahrscheinlich aus der Studentensprache stammende scherzhafte Übertragung aus dem lat. orbus, -a,

-um „verwaist, Waise“. Solche spontanen Übertragungen sind auch sonst im Thür. bezeugt (:�:*���Daneben sind Ableitungen von der dem lat. Wort zugrundeliegenden Wurzel auch als Erbwörter in

den german. Einzelsprachen belegt (:�(germ) und können zusammen mit Fortsetzern in anderen idg.

Einzelsprachen auf eine gemeinsame Grundform *h2/3orbho- „beraubt, verwaist“ zurückgeführt

werden (:� (idg). Die im ThWb vorgeschlagene Gleichsetzung mit dem (im Thür. nicht bezeugten)

Fischnamen Orf m., Orfe f. „Art Karpfen“ muss aus lautlichen und semantischen Gründen abgelehnt

werden.

B: Ein thür. Subst. Orbe f. ist nur einmal in der abfälligen Redewendung du kriest mol anne

vergassne Orben zun Wiebe „du bekommst einmal eine vergessene Orbe zur Frau“ in

Sondershausen (Nordthür.) bezeugt. Weitere Belege, auch aus anderen Dialekten, sind

nicht vorhanden.

M/WB: In Orbe liegt ein nhd. schw. fem. Stamm mit Suffix -e wie z.B. in Tanne oder Ecke

vor (Fleischer/Barz 147f.), der in diesen Fällen nicht von einer verbalen, substantivischen

oder adjektivischen Basis abgeleitet ist. Die fem. Subst. auf -e setzen german. À-Stämme

fort, die sich schon im Ahd. mit den schw. n-Stämmen vermischt haben (MhdGr 198).

Orben zeigt wie z.B. w�s(�)n N.Ak.Sg.f. „Wiese“ (ThWb s.v.) den n-Antritt bei den schw.

Fem., der sich im Westthür. und Nordthür. ausbreitet und aus dem Würzburger Raum

kommt (Sp ThGr 239f.).

L: Nordthür. Orbe kann nicht auf eine mhd. Form orve, orfe m., f. „best. Meerfisch; best. Art

Karpfen“ (:�WG) zurückgehen, da ein -f- im Nordthür. entweder erhalten bleibt, wie z.B.

nach -r- in Dorf, Dat.Sg. Dorfe (ThDA 1, Kt. Dorfe; vgl. auch die Belege unter Schorf),

oder zwischen Sonorlauten zu -w- wird, wie in Ofen [-w¸n] und – aufgrund der

Morphemgrenze – in der Zusammensetzung barfuß [bårw¸T> (Sp ThGr 208ff.; Sp ThGr Kt.

33 S. 209].

WG: Orbe ist eine abfällig gemeinte Anwendung des lateinischen Wortes orbus „verwaist“

bzw. des entsprechenden fem. orba „Waise; Witwe“, worauf auch das kongruierende Adj.

vergessen hinweist. Ähnliche gelehrte, meist herabsetzende Verwendungen fremder

Wörter sind vor allem in Dialekten anzutreffen und stammen häufig aus der

Studentensprache. So wird z.B. der Vorgang des Betens bei den Juden im Jenaer Thür.

abschätzig als oren < lat. orare bezeichnet (ThWb s.v. oren). Ein frz. Wort flatteuse

„schmeichlerisch“ führt zur thür. Flattuse „flatterhafte, liederliche Frau“, z.B. in s es anne

olle Fletusen „die ist eine alte Schlampe“ (ThWb s.v. Flattuse). Schließlich werden auch

Page 210: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Orbe 2

Wörter und Namen aller Provenienzen umgestaltet zu meist abfälligen Wörtern für Frauen,

z.B. Fruse „unordentliche Frau“, das wahrscheinlich aus dem veralteten Namen

Euphrosine��JULHFK��Äü#3! 1*����YHUNürzt worden ist (ThWb s.v. Fruse).

Auch aus semantischen Gründen weniger wahrscheinlich ist die in ThWb s.v. Orbe

geäußerte Annahme, dass hier ein Fischname Cyprinus orfus (ein Meerfisch,

wahrscheinlich „Dorade“), dt. Orf m., Orfe f. „ein karpfenähnlicher Fisch“, ahd. orvo m.,

mhd. orve, orfe m. (Entlehnung aus lat.-gr. orfus, orphus; Lexer s.v. orve), zugrunde liegt.

Zwar werden einige Tiernamen (z.B. Gans, Biene, Chaisengaul) als Bezeichnungen für

Frauen verwendet, darunter ist aber nie ein Fischname zu finden, vgl. die zahlreichen

Einträge in ThWb s.v. Frau. Der Fischname scheint auf den mittelfränkischen und

bairischen Raum beschränkt zu sein (Schmeller 1, 141) und wird von L. Oken in seiner

Naturgeschichte als Fachausdruck verwendet (DWb s.v. Orf).

Egerm: Das thür. Wort Orbe ist eine Entlehnung aus dem lat. Wort orbus, -a, -um „verwaist;

Waise“. Dessen ererbte Fortsetzer sind german. *ar^ijan- m. „Erbberechtigter, Erbe“ in

got. arbja m., runennorw. arbija- m., afries. erva m., aengl. i(e)rfa m., ahd. erbo m. und

german. *arba- in anord. arfr „Hinterlassener; Waise“. Ein german. ntr. *ar^ija- „Erbgut,

Erbe“ ist in fast allen german. Einzelsprachen bezeugt: Got. arbi n., asächs. er^i, ervi n.,

mnddt. erve, arve n., afries. erve n., aengl. ierfe, irfe n. und ahd. erbi n. Das formal

entsprechende anord. ntr. erfi hat nur die Bedeutung „Leichenfeier, Begräbnismahl“, doch

zeigen Zusammensetzungen wie erfi-vÆrðr „Erbe“ (wörtl. „Erb-Wart“) die alte Bedeutung

(EWD s.v. Erbe1; Erbe²; EWA II 1115ff. mit weiterer Lit.; Lehmann GotWb A-193).

Eidg: Die ererbten german. Wörter und das entlehnte Orbe < lat. orbus, -a, -um haben

Entsprechungen in anderen idg. Sprachen. Der german. Bildung *ar^ija- n. entspricht

genau air. orbe, orbae n. „Erbe, Erbgut“ < uridg. *h2/3orbhiho-, dem anord. arfr < german.

*ar^a- entspricht air. orb m. „das, der Erbe“, lat. orbus, -a, -um „verwaist“, aksl. UDEt

„Knecht, Diener, Sklave“ mit Liquidametathese (von diesem Wort stammen dann die

Wörter für „Arbeit, arbeiten“: russ. robot“), armen. orb „Waise“ und aind. árbha- „klein,

schwach“ < uridg. *h2/3órbho- (IEW 781f., EWAia I 119f.; EWA II 1116f.; Vasmer II

525). Das griech. Adj. á!3.�)"��-���-)��Ä:DLVH��YHUZDLVW��YHUQDFKOässigt“ zeigt eine griech.

Adj.-Erweiterung mit dem Suffix -.� - (Frisk GEW II 431). Bei Hesych sind Komposita

mit á!3 -, z.B. á!3 � 2�.�„Versorgung, Erziehung von Waisen“, und ein Aor. �!3&10��für �!3���10�� YRQ� HLQHP� VRQVW� QLFKW� EH]HXJWHQ� GHYHUEDOHQ� 9HUE� á!3)&� ÄYHUZDLVHQ��berauben“ belegt, die auf eine urgriech. Nominalform *orp

ho- „Waise, verwaist“ deuten.�

Das finn. Wort orpo „Waise, verwaist“ ist gegen EWD s.v. Erbe² nicht aus dem German.,

Page 211: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Orbe 3

sondern schon früh aus dem Uridg. entlehnt worden, worauf der Vokalismus und die

Bedeutung hinweisen (Joki Uralier 297f.). Möglicherweise gehört das heth. Verb Ùarp-

„(sich) absondern“ dazu (Oettinger Stb. 524; Tischler etym.Gl. 65f., 179f.). Die

ursprüngliche Bedeutung der nominalen Form *h2/3orbho- war dann „abgetrennt,

hinterlassen“ und als Subst. „Hinterlassenschaft“. Die Bedeutung „Erbe“ hat sich nur in

den kelt. und german. Sprachen entwickelt (Grønvik 1982).

Lit: B ThWb Orbe; M/WB Fleischer/Barz 147f.; MhdGr 198; Sp ThGr 239f.; L ThDA 1, Kt.

Dorfe; Sp ThGr 208ff.; Sp ThGr Kt. 33 S. 209; WG ThWb s.vv. oren; Flattuse; Fruse;

Lexer s.v. orve; Schmeller 1, 141; DWb s.v. Orf; Egerm EWD s.v. Erbe1; Erbe²; EWA II

1115ff., Lehmann GotWB A-193; Eidg IEW 781f.; EWAia I 119f.; EWA II 1116f.; Frisk

GEW II 431; Joki Uralier 297f.; Oettinger Stb. 524; Tischler etym.Gl. 65f.; 179f; Vasmer

II 525; Grønvik 1982.

Page 212: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Planter, Plänter, Plad(d)er, pladdern, plattern 1

Planter, Plänter Sb m. „Kuhfladen“

Plad(d)er Sb m. „zähflüssige Masse, Rotz, Scheiße“

pladdern, plattern swV „dünnflüssig scheißen, heftig regnen; (eine Flüssigkeit) verschütten,

verspritzen“

Z: Das westthür. Subst. Planter, Plänter m. „Kuhfladen“ ist eine nasalierte Variante des im thür. und

anderen Dialekten gut bezeugten Subst. nddt. Pladder, hdt. Pflatter „zähflüssige Masse, Rotz, Scheiße“.

Davon ist das Verb pladdern, plattern „dünnflüssig scheißen; heftig regnen; verschütten“ abgeleitet.

Unter Annahme eines s-mobile kann engl. splatter „Platsch; Klumpen einer zähen Flüssigkeit“ und das

Verb to splatter „plan(t)schen; ausgießen, verschütten“ dazu gestellt werden. Die Wörter sind

lautmalerischen Ursprungs; aus lautlichen Gründen ist keine idg. Herleitung möglich.

B: Im westthür. Gebiet um Eisenach und Mühlhausen ist mehrfach auch in älteren Texten das

Subst. Planter, Plänter „Kuhfladen“ und ein Kompositum Kuhplanter „id.“ bezeugt

(ThWb s.vv.). Daneben stehen überall im thür. Raum nasallose Formen wie Plader,

Blader, Pladder „zähflüssige Masse; Kuhfladen; Nasenrotz“, Kuhpladder, Scheißpladder

„Kuhfladen“; Rotzpladder „Rotzfladen (vor allem bei kleinen Kindern)“ und ein Verb

pladdern, plattern „dünnflüssig scheißen; heftig regnen; verschütten“.

Ebenfalls einen Nasal zeigt schweiz. Pflanziger „besonders weicher, matschiger Schnee“

(Campe Dt. Wb III 630).

Die nasallosen Formen sind in vielen dt. Dialekten verbreitet: Das Alemann. bietet ein

Subst. Pflader, Pflatter, Pflätter „zähflüssige Masse; Kuhfladen; Kot“ und ein Adj.

pflätterig „weich, fladenartig“ neben den Komp. Pfladerwinter „kotiger Winter“, d.h. ein

Winter, in dem die Straßen matschig und „beschissen“ sind, Pfladerlache (SchwäbWb I

1053f; 1059f.) und schweiz. Chueblätterli Pl. „Kuhfladen“ (Tobler Appenzell. 124b). Im

Nddt. gibt es ein Verb pladdern, pleddern „Wasser aufwühlen und schmutzig machen;

plantschen“ (BremWb III, 324; DWb s.v pladdern), das einem obd. pflattern, pflättern,

pfläddern „Kuhfladen fallen lassen, dünnflüssig scheißen“ entspricht.

M/WB: Planter, Pladder, Plädder, Pflader ist ein zur Sachbezeichnung gewordenes Nomen

acti wie z.B. Behälter, Träger oder Hefter (Fleischer/Barz 153) mit dem Suffix -er, das

ursprgl. Nomina agentis gebildet hat (Balles e.a. Nomina agentis 34-37). Davon abgeleitet

sind die schw. Verben pladdern, pläddern (mit Umlaut), pflattern, pfladdern und pflättern

(mit obd. Lautform). Pfladerwinter, Pfladerlache, Kuhplanter, -pladder und Chueblätterli

sind Determinativkomposita (Lühr Nhd 153ff.).

L: Fast überall im thür. Dialektgebiet tritt die Lenierung von anlautendem p- zu b- ein, wobei

dem Wort die nddt. Lautform ohne hdt. Lautverschiebung zugrunde liegt. Die hdt.

Page 213: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Planter, Plänter, Plad(d)er, pladdern, plattern 2

Lautverschiebung eignet sich gerade bei der Betrachtung des Anlauts nicht zur Festlegung

einer starren Grenze zwischen hdt. und nddt. Sprachraum, wie auch in der thür. Grammatik

ausdrücklich vermerkt (Sp ThGr 203f.). Die Formen mit Nasal erklären sich entweder als

onomatopoetische Varianten mit expressiver Nasalierung wie plantschen neben platschen,

mantschen neben matschen (Lühr Expr 92ff.) oder sind durch den Einfluß von plantieren,

pflanzen (:� WG) zustande gekommen. Der dialektale Unterschied im inlautenden

geminierten Kons. nddt. -dd- gegenüber hdt. -tt- ist lautgesetzlich und liegt z.B. auch in

fladdern neben flattern vor (EWD s.v. flattern); die Formen pladdern, Pladder können

aber auch auf der thür. Aussprache von hdt. -t(t)- als -d(d)- beruhen (Sp ThGr 181).

WG: Die nasallosen Formen Pladder, Platter, Plädder, Pfläder samt den Verben pladern,

plattern, pflattern sind lautmalerisch und zeigen daher auch Unsicherheiten in der

Bezeugung des Umlauts und der hdt. Lautverschiebung. Daneben stehen weitere Varianten

wie thür. pfläckern „geräuschvoll den Darm entleeren, scheißen“ (von Mensch und Tier),

pläuschen „heftig regnen“ oder das Subst. Plaster „Kothaufen“. Neben der Möglichkeit

einer lautlich bedingten nasalhaltigen Variante (:� L) scheint eine andere Annahme

erwägenswert: Auch im thür. Dialekt ist wie in anderen dt. Dialekten das Verb pflanzen in

einigen Präfixkomposita bezeugt, die ein „heftiges, nachdrückliches Hinstellen, -legen“

bezeichnen: (sich) aufpflanzen „sich unübersehbar vor jmd. (etw.) aufstellen“,

draufpflanzen „schwungvoll eine Masse auftragen“, z.B. in se schnäden von ährn Brute a

zinftjen Boff ab on pflanzten a rechtjen Boff Botter odder Fett druff. Diese semantischen

Varianten sind vielleicht direkt vom frz. Verb planter beeinflusst, das neben „pflanzen“

auch „sich hinstellen; hinlegen“ und „hinfallen“ bedeutet (vgl. das aus dem frz. entlehnte

engl. to plant „pflanzen; sich fest hinstellen“). In einem mit dem frz. Lehnsuffix -ieren

gebildeten dt. Verb plantieren ist diese Bedeutung vorherrschend geworden, z.B. in ... hat

der Feind angefangen, seine Lanzen zu plantiren „fest hinzustellen“ (DWb s.v. plantieren).

Vielleicht hat diese Verwendung dazu geführt, dass ein ursprgl. Platter als Planter „das

Fallengelassene, Hingesetzte“ verstanden wurde, vgl. z.B. die Verwendung von hinsetzen

in där Jonge hat aber enne Lorche hängesetzt „der Junge hat aber einen Kothaufen

hingemacht“ (:� (:''� Lorch). Des weiteren könnte auch die Vorstellung der

Verwendung von Kuhmist als Düngemittel für Pflanzen Einfluss genommen haben, vgl.

die scherzhafte Bezeichnung Eicheckernpflanzer „Eichelhäher“, da dieser durch seinen Kot

die Eichelsamen verbreitet. Nicht zuletzt bezeichnet in manchen dt. Dialekten das Wort

Pflanze auch etwas Flaches, Rundliches, z.B. in bair./fränk. Fleischpflanzerl,

Fleischpflänzle „Frikadelle“ (flachgeklopftes, gebratenes Hackfleischküchlein).

Page 214: EWDD - Etymologisches Wörterbuch der deutschen Dialekte

Planter, Plänter, Plad(d)er, pladdern, plattern 3

Egerm

: Thür. Planter ist eine entweder durch expressive Nasalierung (ô L) oder durch

Einfluss von frz. planter (ô WG) entstandene Variante von hdt. Pflatter, nddt. Pladder

„zähflüssige Masse; Kuhfladen, Rotz“. Diese Formen deuten zusammen mit der verbalen

Ableitung pladdern, pläddern und plattern, pflattern „dünnflüssig scheißen; heftig regnen;

verschütten“ auf eine wgerman. lautnachahmende Wurzel *plad(d)- „dss.“, die Grundlage

für die -er-Ableitung Pflatter, Pladder ist (ô M/WB). Mit einem s-mobile kann dazu engl.

dial. to splatter „pla(n)tschen; ausgießen, verschütten; sich ergießen“ gehören, vgl. z.B.

His deep brown feces splatter over Queen Anne“s lace „seine tiefbraunen Fäkalien

ergießen sich über Queen Annes Spitze“ (Amer. Poetry Rev. July/Aug. 1978). Wie dt.

pladdern von Pladder ist engl. to splatter von dem Subst. splatter „Platsch; Fleck,

Klumpen von einer schmierigen nassen Substanz (Blut, Fäkalien, Hirn u.ä.)“ abgeleitet

(OED s.v. splatter). In neuester Zeit ist splatter zum Fachausdruck für inhaltlich

anspruchslose Filme mit bluttriefenden Gewaltszenen geworden; in ähnlicher Weise wird

z.B. der Ausdruck trash (eigtl. „Abfall“) für drittklassige Filme und Reportagen

verwendet. Die Wurzel *plad- ist nur wgerman., da Entsprechungen aus anderen german.

Sprachen nicht vorhanden sind.

Eidg

: Das anlautende german. *p- muss auf uridg. *b- zurückgehen, das ein äußerst seltener

Laut im uridg. Phonemsystem war. Die german. Wurzel *plaÿ- kann nur auf uridg.

*bladh-, *blod

h- bzw. *bl×hxd

h- oder (mit Verners Gesetz) auf uridg. *blat-, *blot- oder

*bl×hxt- zurückgeführt werden. Diese uridg. Rekonstrukte *blat/dh-, *blot/d

h- oder *bl×hxt/d

h-

verstoßen aber gegen uridg. Wurzelstrukturen (LIV² 5-7). Somit ist keine idg. Herkunft

möglich, die Wurzel *plad- dürfte daher erst durch Lexikalisierung eines

onomatopoetischen Ausdrucks in westgerman. Zeit entstanden sein. Eine parallele

Entstehung zeigen griech. ¾N�GJ � �RT� „Matsch“, ¾NDGDS�T�„matschig, klumpig, feucht“,

¾NDG�[�„matschig, klumpig sein“, denen eine urgriech. lautmalerische Neo-Wurzel *plad-

zugrunde liegt (Chantraine dict. ét. II 909). Vgl. auch das nicht-lautgesetzliche

Nebeneinander von griech. MNDFF� �MNDFF�I[�„Klang, klingen“�und dt. Klang, klingen.

Lit: B ThWb s.v. Planter, Plänter, pladdern, plattern; Campe Dt.Wb III 630; Schwäb Wb I

1053f.; 1059; Tobler Appenzell. 124b; BremWb III, 324; DWb s.v. pladdern; M/WB

Fleischer/Barz 153; Balles Nomina agentis 34-37; Lühr Nhd 153ff.; L Sp ThGr 181, 203f.;

Lühr Expr 92ff.; EWD s.v. flattern; WG DWb s.v. plantieren; Egerm

OED s.v. splatter; Eidg

LIV² 5-7; Chantraine dict ét. II 909.