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psychosozial Flüchten oder Standhalten Bearbeitet von Horst-Eberhard Richter 1. Auflage 2012. Taschenbuch. 315 S. Paperback ISBN 978 3 8379 2212 7 Format (B x L): 14,8 x 21 cm Gewicht: 467 g Weitere Fachgebiete > Psychologie > Psychotherapie / Klinische Psychologie schnell und portofrei erhältlich bei Die Online-Fachbuchhandlung beck-shop.de ist spezialisiert auf Fachbücher, insbesondere Recht, Steuern und Wirtschaft. Im Sortiment finden Sie alle Medien (Bücher, Zeitschriften, CDs, eBooks, etc.) aller Verlage. Ergänzt wird das Programm durch Services wie Neuerscheinungsdienst oder Zusammenstellungen von Büchern zu Sonderpreisen. Der Shop führt mehr als 8 Millionen Produkte.

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Page 1: Flüchten oder Standhalten - ReadingSample · psychosozial Flüchten oder Standhalten Bearbeitet von Horst-Eberhard Richter 1. Auflage 2012. Taschenbuch. 315 S. Paperback ISBN 978

psychosozial

Flüchten oder Standhalten

Bearbeitet vonHorst-Eberhard Richter

1. Auflage 2012. Taschenbuch. 315 S. PaperbackISBN 978 3 8379 2212 7

Format (B x L): 14,8 x 21 cmGewicht: 467 g

Weitere Fachgebiete > Psychologie > Psychotherapie / Klinische Psychologie

schnell und portofrei erhältlich bei

Die Online-Fachbuchhandlung beck-shop.de ist spezialisiert auf Fachbücher, insbesondere Recht, Steuern und Wirtschaft.Im Sortiment finden Sie alle Medien (Bücher, Zeitschriften, CDs, eBooks, etc.) aller Verlage. Ergänzt wird das Programmdurch Services wie Neuerscheinungsdienst oder Zusammenstellungen von Büchern zu Sonderpreisen. Der Shop führt mehr

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Horst-Eberhard RichterFlüchten oder Standhalten

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Psychosozial-Verlag

Horst-Eberhard Richter

Flüchten oder Standhalten

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Der Mensch kann in sich nurdie Ganzheit abbilden, die er

in äußeren Bezügen verwirklicht.

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten

sind im Internet über http://dnb.d-nb.de

abrufbar.

5. Auflage 2012© 1997 Psychosozial-Verlag

Originalausgabe 1976 (Rowohlt)Walltorstr. 10, D-35390 Gießen

0641-969978-18; Fax: 0641-969978-19E-Mail: [email protected]

www.psychosozial-verlag.deAlle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf

in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)

ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlagabbildung: Horst-Eberhard RichterUmschlaggestaltung: Hanspeter Ludwig, Wetzlar

www.imaginary-art.netDruck: CPI books, Leck

Printed in GermanyISBN 978-3-8379-2212-7

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Inhalt

1. Kapitel 7Wir sind in Gefahr, uns unbewußt in ein Spiegelbild der uns manipulierenden Umwelt zu verwandeln

2. Kapitel 34Wir sind verletzlicher durch Isolation, als wir glauben

3. Kapitel 49Trennungsdrohungen verschärfen Isolationsangst. Diese Angstwird in der Gesellschaft kreisförmig weitergegeben

4. Kapitel 78Unbewußte Hörigkeit ist kein Sonderfall, sondern ein Merkmal des durchschnittlichen Menschen

5. Kapitel 100Anonyme Mächte verleiten uns zur moralischen Selbst-Entmündigung. Wir müssen unsere Verführbarkeit und die verführenden Autoritäten zu kontrollieren lernen

6. Kapitel 117Aus eigener Isolationsangst verschulden wir unbewußt dieIsolationsschäden anderer.1. Beispiel: Menschen in der Internierung

7. Kapitel 1312. Beispiel: Menschen vor dem Sterben

8. Kapitel 140Wer eine soziale Tätigkeit wählt, sucht Kommunikation und eine Vervollständigung seiner selbst

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9. Kapitel 166Aber die Institution drängt die Betreuer, sich von den Betreuten und von sich selbst zu entfremden

10. Kapitel 189Die Karriere vollendet oft die psychische Selbstaufgabe in Raten

11. Kapitel 208Spontangruppen entwickeln Prinzipien für eine soziale Arbeit, die den Bedürfnissen der Menschen eher dienen kann

12. Kapitel 224Spontangruppen-Arbeit ist wichtig als Ergänzungs-programm, noch wichtiger als Muster für Veränderungen in den Institutionen

13. Kapitel 231Wir brauchen mehr gemeinschaftliche, ganzheitlichere und spontanere Arbeit. Initiativen von unten sind notwendig, unterstützende strukturelle Reformen unumgänglich

14. Kapitel 257Soziale Praxis an der Basis kann sich regional selbst organisieren. Im Bericht der Psychiatrie, Psychotherapie/Psychosomatik-Enquete wird ein Modell empfohlen

Anhang 269Die Geschichte der Frau M. als Resümee. So wird Isolation von oben nach unten weitergegeben. So wird der Betreute zum Opfer. So aber kann auch noch durchhalten, wen alle im Stich lassen.

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1. KapitelWir sind in Gefahr, uns unbewußt in ein Spiegelbild der uns manipulierenden Umwelt zu verwandeln

Wer sich aufmacht, seine inneren Konflikte näher anzuschauen undzu untersuchen, der wird sich bald von der Richtigkeit einer funda-mentalen Erkenntnis der Psychoanalyse überzeugen, daß er nämlichnoch in hohem Maße abhängig ist von mangelhaft bewältigten Pro-blemen seiner Kindheit. Fragt er einen Psychoanalytiker, so wirddieser ihm klarmachen, daß er viele seiner gegenwärtigen sozialenAufgaben deshalb nicht realitätsgerecht verstehen und lösen kann,weil er diese Aufgaben immer noch unbewußt mit jenen alten ver-mischt bzw. verwechselt, die er als Kind oder allenfalls als Jugendli-cher unvollkommen erledigt hat. Vielleicht läßt er sich darauf ein,sich an der Hand des analytischen Therapeuten in die eigene psychi-sche Vergangenheit zurückzubegeben und zu probieren, die wich-tigsten inneren Probleme neu zu betrachten, deren unaufgearbeiteteReste ihn immer noch beschweren und an der weiteren Entfaltunghindern.

Dieser Weg in die eigene innere Vergangenheit bedeutet natürlichzugleich eine zeitweilige Lockerung der Beziehung zur gegenwärti-gen sozialen Wirklichkeit. Lange Zeit wurde dieser Rückzug aus deräußeren Realität demjenigen sogar nahegelegt, der sich einer Psy-choanalyse unterziehen wollte. Der Psychoanalytiker bestärkte sei-nen Analysanden darin, sich während der Analyse möglichst wenigmit äußeren Problemen zu verwickeln, um die Arbeit an den inne-ren Konflikten nicht zu behindern. FREUD beschrieb die Haltungdes Therapeuten zu dieser Frage so: «Er richtet sich auf einenbeständigen Kampf mit dem Patienten ein, um alle Impulse auf psy-chischem Gebiet zurückzuhalten, welche dieser aufs Motorischelenken möchte, und feiert es als einen Triumph der Kur, wenn esgelingt, etwas durch Erinnerungsarbeit zu erledigen, was derPatient durch eine Aktion abführen möchte.»30

Die Erfahrung zeigt nun, daß die Versenkung in die inneren

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Konflikte um so mehr Energien zu binden pflegt, je weiter sie in dieTiefe führt. Die soziale Gegenwart – außer der Person des Analyti-kers – blaßt in ihrer Bedeutung ab. Die psychoanalytische Besin-nung führt denjenigen, der sich ihr unterzieht, zu dem Schluß, daßer bislang für soziale Wirklichkeit hielt, was eigentlich weitgehendeine Projektion seiner inneren Situation war. Ohne daß er es gemerkthatte, hatte er die Szenerie der jeweiligen Gegenwart automatischunter dem Einfluß seiner inneren Konflikte fehlgedeutet. Wie diemomentane Wirklichkeit eigentlich beschaffen ist, das kannanscheinend überhaupt nicht verläßlich erkennen, wer nicht einegründliche Aufräumungsarbeit an seinem tief in der kindlichen Vor-geschichte verankerten inneren Konfliktmaterial geleistet hat.

Tatsächlich verschwenden viele Menschen unnötige Energien ineinem Kampf mit äußeren Problemen, die in Wirklichkeit nur Ab-spiegelungen ihrer inneren Schwierigkeiten darstellen. Sie stellenunbewußt um sich herum immer wieder Umstände her, die ihnendazu dienen, ihre alten inneren Konfliktthemen mit den dazugehö-rigen Phantasien und Gefühlen wiederzubeleben. Das Verfahrender Psychoanalyse kann eine entscheidende Hilfe sein, diese psychi-schen Hindernisse allmählich abzubauen, die immer wieder eineVerwechslung der echten sozialen Realität mit projizierten Abbil-dungen der unbewußten kindlichen Vergangenheit bewirken.

Andererseits kann die psychoanalytische Innenschau manch einenso faszinieren, daß er den Blick von den Bildern seiner Innenweltgar nicht mehr abwenden möchte. Wer sich einem psychoana-lytischen Prozeß unterzieht, wird es nicht eben einfach finden, dievornehmlich introspektive Weise des Erlebens wieder einzuschränken.Eine Analyse verläuft nicht wie eine Reise durch einen Tunnel, derirgendwann ein natürliches Ende hat. Der Entschluß, sich einesTages wieder mit ganzer Kraft auf die soziale Wirklichkeit einzu-stellen, ist obendrein deshalb gar nicht einfach, weil der Kontakt zudieser dünner und unsicherer geworden ist – bis auf eine Ausnahme:Das ist die Beziehung zur Person des Therapeuten. Und hier liegtzugleich ein Schlüsselproblem, über dessen Bedeutung man sichleicht täuscht:

Die Versenkung in die innere Vergangenheit geschieht in einerengen Anlehnung an die Person des Analytikers, der um so mehrMacht über den Analysanden gewinnt, je weiter dieser sich in seineKindheit zurückversetzt und je mehr dieser seinen Kontakt zu derübrigen aktuellen Umwelt lockert. Der Analysand kann sich ja nur

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deshalb innerlich teilweise aus den Verstrickungen mit seinem mo-mentanen Milieu lösen, weil ihm der Therapeut diese geschwächtenoder aufgegebenen Bindungen ersetzt. Der Analytiker wird zureigentlichen wesentlichen Außenwelt des Analysanden. Allerdingstäuschen sich Analysanden – und bisweilen auch Analytiker – leichtüber die Tragweite ihrer Beziehung zueinander. Die Erkenntnisüber die außerordentlich weitreichenden Einflüsse der unbewäl-tigten inneren Vergangenheit kann vergessen lassen, wie abhängigder Analysand von demjenigen ist, mit dem er jetzt und hier diesealten Probleme anschaut. Auch diese Abhängigkeit hängt in ihrerIntensität und ihrer Qualität natürlich wiederum von kindlichenFrüherfahrungen ab. In welchem Maße ein Analysand empfindlichfür Isolation bzw. angewiesen auf schützendes Gehalten-Werdenist, das resultiert aus der Art und Weise, wie ihm in seiner Vorge-schichte Vertrauen, Selbstsicherheit bzw. Unsicherheit und Tren-nungsangst vermittelt worden sind. Dennoch bleibt der Therapeutneben seiner Rolle als Objekt kindlicher Übertragungsmuster einRepräsentant dieser augenblicklichen Wirklichkeit. Der Analysandkann sich so lange seinen inneren Phantasien, Träumen und Erinne-rungen hingeben, solange er sicher ist, daß der Analytiker wirklichda ist und ihn schützend festhält. Der Schock, den vielfach selbsteine nur kurze Trennung vom Analytiker durch eine Reise oder eineKrankheit auslöst, beweist die Intensität der Abhängigkeit.

Sehr häufig wird nun diese Abhängigkeit als ein Phänomenbagatellisiert, das nur ganz vorübergehend im Verlauf derrückschauenden (und regressiven) Arbeit der Psychoanalyseauftrete. Man ist zwar einig darüber, daß die Auflösung der Über-tragung vom Analysanden zum Analytiker schwierig und einesorgfältig zu erlernende Kunst sei. Aber nach der Schulmeinungreduziert sich die Schwierigkeit zu einem technischen Problem:Wenn der Analytiker seine Sache richtig mache, dann werde essein Analysand auch fertigbringen, von ihm wieder unabhängigzu werden. Und wenn die Analyse gut gelaufen sei, dann werdeder Analysand überhaupt ein Maß an Selbständigkeit gewonnenhaben, das ihn künftig davor bewahren werde, je wieder inkindlicher Weise von Personen und Umständen seiner Umgebunginnerlich bestimmt zu werden. Die quasi experimentelle innereAuslieferung an den Analytiker wäre somit die letzte von psy-chischen Zwängen bestimmte Anklammerung an einen Repräsen-tanten der sozialen Realität gewesen. Fortan sei zuerwarten – so

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lautet die Hypothese – daß das Individuum über eine gefestigte per-sönliche Identität verfüge, die ihm eine weitgehende Eigensteue-rung seines weiteren Lebens ermögliche.

Diese illusionäre Phantasie von einem souveränen Verhältnis des«reifen» Individuums zur sozialen Wirklichkeit wird u.a. auchdaran erkennbar, daß die psychoanalytische Theorie lange Zeitüberhaupt nur die Umweltkonstellationen des Kindes und des Ju-gendlichen als wirksame Konfliktfaktoren betrachtet hat. Dasmachte deutlich, daß man der Umwelt des Erwachsenen gar keineneuartigen und spezifischen Einflußmöglichkeiten auf das seelischeLeben zutraute. Vom Ende des Jugendalters an schien die Außen-welt keine originellen Problemstellungen für eine weitere Entwick-lung mehr zu bieten. Die äußere Szenerie des Lebens schien zudieser Zeit endgültig hergerichtet. Sofern man fortan noch von einerweiteren psychischen Entwicklung sprechen wollte, so konnte dieseanscheinend nur darin bestehen, daß der erwachsene Mensch seineVergangenheit integrieren und lernen würde, sich mit der Einmalig-keit und Endgültigkeit seines Lebens abzufinden. Im Grunde be-sagen die von ERIKSON26 beschriebenen «drei Stadien desErwachsenenlebens» auch nicht mehr als dies. Das letzte Stadiumder «Integration gegen Verzweiflung und Ekel» trägt deutlichheroisch resignative und geradezu defensive Züge. Seine Beschrei-bung erinnert an einen Appell. Der integrierte Mensch sei bereit, dieWürde seiner eigenen Lebensform gegen alle physischen und wirt-schaftlichen Bedrohungen zu verteidigen. Das Akzeptieren deseinen und einzigen Lebenszyklus schütze gegen eine Verzweiflung,die «sich oft hinter einer Kulisse von Ekel, Lebensüberdruß odereiner chronischen Verächtlichmachung bestimmter Institutionenoder bestimmter Leute» verstecke.26

Es läßt sich indessen nicht ernsthaft bestreiten, daß die sozialeUmwelt sich für das Individuum auch nach Eintritt ins Erwachse-nenalter laufend verändert und daß sie ihm – über die mit den biolo-gischen Vorgängen der Fortpflanzung, des Alterns und Sterbensunmittelbar verknüpften Konstellationen hinaus – viele originelleAufgaben präsentiert, die also keineswegs nur eine modifizierteWiederholung von Kindheitsproblemen darstellen. Es gibt dem-nach die eine Selbsttäuschung des naiven Individuums, das an Stelleder gegenwärtigen sozialen Realität immer wieder nur seine proji-zierten Kindheitsprobleme vor sich sieht. Und es gibt die andereSelbsttäuschung, u.a. mancher Analytiker, welche umgekehrt dar-

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an glauben, die soziale Welt des Erwachsenen wiederhole nur inzahlreichen Variationen die Konfliktkonstellationen der Kindheits-phase. Allenfalls lassen solche Analytiker noch die von TH. BENE-DEK9 beschriebene Elternphase als eine biologisch bedingte Situationmit neuen Entwicklungsaufgaben gelten.

Demgegenüber ist festzustellen, daß der Erwachsene mit einerFülle von neuartigen sozialen Bedingungen konfrontiert wird, dieer rein auf Grund seiner kindlichen Erfahrungsmuster weder vollverstehen noch praktisch bewältigen kann. Er muß neue Antwortenauf Fragestellungen finden, die z.B. seine privaten Partnerbeziehun-gen, seine Eingliederung in die Arbeitswelt und seine Teilnahme anpolitischen Vorgängen betreffen. Gelingen ihm solche neuen Ant-worten, wird er sich an diesen und durch diese im ganzen verän-dern. Und solche Veränderungen setzen den Entwicklungsprozeßder Kindheits- und Jugendphase fort.

Wenn es der großen Mehrzahl der Psychoanalytiker schwerfiel,die Aufgaben progressiver Wandlungen des Erwachsenen an dieTheorie der kindlichen Entwicklung anzuhängen, so liegt ein ent-scheidender Grund dafür natürlich in dem Biologismus der klassi-schen Theorie. «Man kann sagen», so heißt es noch bei ERIKSON,«daß die Persönlichkeit in Abschnitten wächst, die durch die Bereit-schaft des menschlichen Organismus vorherbestimmt sind, einensich ausweitenden sozialen Horizont bewußt wahrzunehmen undhandelnd zu erleben…»26 Nun kann man aber schwerlich behaupten,daß das Erlernen der Kindererziehung, der Orientierung in der Ar-beitswelt und der verantwortlichen Teilnahme an politischen Ent-scheidungen durch irgendwelche Reifungsschritte des Organismusvorherbestimmt sei. So ist es bezeichnend, daß z.B. die Arbeitsweltund die politische Wirklichkeit für den Hauptteil der psychoanaly-tischen Autoren Randthemen geblieben sind. Auf ein bezeichnendesBeispiel hat FÜRSTENAU36 hingewiesen: Mitten in der Zeit derKriegsvorbereitungen Hitlers und der Verfolgung der Psycho-analytiker in seinem Herrschaftsbereich behandelten die seinerzeitfür die Entwicklung der Ich-Psychologie maßgeblichen jüngerenAnalytiker um HEINZ HARTMANN und ANNA FREUD soziale undpolitische Probleme fast ausschließlich formal und abstrakt «ohnepsychoanalytische Verarbeitung der konkreten zeitgenössischenpolitischen und sozialen Situation in Mitteleuropa». Die auf langeZeit für die Theorie der Psychoanalyse wegweisende Arbeit H.HARTMANNS über «Ich-Psychologie und Anpassungsproblem», die

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1939 als Aufsatz erschien41, diskutierte Anpassung im Zusammen-hang mit einem völlig unkonkreten und unhistorischen Begriff vonRealität in einer kaum begreiflichen Distanz zu dem aktuellen Pro-blem des nationalsozialistischen Terrors.

Lange Zeit vertraten maßgebliche Kreise der Psychoanalyse dieHypothese, daß der Erwachsene grundsätzlich nicht mehr nennens-wert durch seine soziale Umwelt direkt beeinflußbar sei: Nur in derKindheits- und Jugendphase, solange die psychische Organisationund insbesondere die Ich-Struktur noch nicht ausdifferenziert undverfestigt seien, wirke sich der Austausch mit der äußeren Wirklich-keit mehr oder minder erheblich auf die Verfassung des Individuumsaus. In diesen Jahren verlagere sich die ursprüngliche äußereAbhängigkeit des Kindes von seiner Umwelt mehr und mehr undschließlich nahezu ausschließlich in eine innere Abhängigkeit vonden psychischen Niederschlägen der früheren Außenerfahrungen.Die Annahme von der weitgehenden seelischen Umwelt-Unabhän-gigkeit des durchschnittlichen Erwachsenen gehört zu den Leitsätzendes Großteils der älteren Analytiker. Nun aber zwingen die Erfah-rungen der modernen psychoanalytischen Sozialpsychologie, der psy-choanalytischen Familientherapie, der Gruppendynamik, der In-stitutionsberatung und der Supervision in verschiedenen sozialenBerufsbereichen, diesen klassischen Leitsatz zu revidieren. So unbestreitbar der eine Tatbestand ist, nämlich die strukturelle Ver-ankerung der sozialen Kindheitserfahrungen und die Verfestigungvieler Reaktionsmuster innerhalb der Kindheits- und Jugendphase,so eindeutig belegbar erscheint auf der anderen Seite das Faktum,daß wir bislang das Ausmaß der psychischen Selbstregulation desErwachsenen erheblich zu überschätzen bzw. das Maß der sozialenAbhängigkeit seines psychischen Lebens zu unterschätzen gewohntwaren.

Vielleicht hatten und haben es viele Psychoanalytiker deshalb soschwer, das volle Maß der sozialen Beeinflußbarkeit des Psychischenanzuerkennen, weil die Situation der klassischen analytischenBehandlung zu dem Eindruck verführen kann, die augenblicklichesoziale Wirklichkeit sei – neben der Person des Analytikers – ganzunwichtig. Wenn der Patient auf der Couch von seiner Arbeitsstelleoder von Problemen in seiner Familie redet, so wird er nicht seltendie Deutung zu hören bekommen: «Sie reden zwar jetzt von Proble-men draußen an Ihrer Arbeitsstelle und in Ihrer Familie, aber wirsollten uns anschauen, ob Sie nicht vielleicht im Moment auf solche

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Außenkonflikte ausweichen, weil Sie sich davor fürchten, überSchwierigkeiten zu sprechen, die Sie hier in dieser Arbeit mit mirhaben!» – Der Psychoanalytiker bemüht sich also, das von demAnalysanden angebotene Material nach Möglichkeit in die Behand-lungssituation selbst hineinzuziehen. Der Analysand lernt, einenerheblichen Teil seiner auf die Umwelt gerichteten emotionellenProbleme an der Person des Therapeuten abzuhandeln. Und diesesforcierte, sehr intensive emotionelle Verhältnis zum Analytikerwird dann ein Hauptgegenstand der analytischen Bearbeitung. Esliefert die Hinweise für die Auswirkung derjenigen kindlichen Fi-xierungen und Verdrängungen, die in der Therapie weiter geklärtwerden sollen. Die sich typischerweise entwickelnde enorme innereAbhängigkeit des Analysanden vom Analytiker bzw. dessen außer-gewöhnliche Macht über die Psyche des Patienten sind an sich eineindrucksvoller Beleg für den großen Einfluß sozialer Faktoren aufdie seelischen Prozesse. Indessen findet sich nun ein geläufigesArgument, das dieses Phänomen zu relativieren versucht. Man sagt,einen so tiefen Einfluß bis in das Unbewußte eines Menschen hineinkönne zwar der Psychoanalytiker mit seinen besonderen Deutungs-künsten ausüben. Dies sei aber keineswegs repräsentativ fürmenschliche Beziehungen überhaupt. Solche tiefen psychischen Be-rührungen zwischen Menschen seien also außerhalb der analyti-schen Situation kaum zu erwarten, von Zuständen wie Verliebtheit,Suggestion oder gewissen massenpsychologischen Regressionsphä-nomenen abgesehen. Die verdichtete emotionelle Zuwendung desAnalysanden zum Analytiker sei gebunden an das spezifische äuße-re Arrangement der Psychoanalyse und an die besondere Behand-lungstechnik, die eine gezielte Wiederbelebung kindlicher Erlebnis-einstellungen beim Analysanden bewirke. Noch anders, nämlich inder Fachsprache ausgedrückt, heißt das: Diese hochgradige psychi-sche Abhängigkeit des Patienten sei ausschließlich ein Phänomender «Übertragung». Und da dieser Begriff lediglich für die the-rapeutisch kontrollierte Beziehung zwischen Analysand und Ana-lytiker gilt, ist die Relativierung des Sachverhalts bereits durch dieDefinition vorweggenommen.

Aber so gewiß es ist, daß die emotionelle Bindung des Analysan-den an seinen Therapeuten eine besondere ist, die durch die äußerenUmstände der Situation und durch die Interventionstechniken desAnalytikers in spezifischer Weise gelenkt wird, so voreilig undfalsch ist die Hypothese, daß die Menschen im Alltagsleben einan-

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der nicht auch laufend bis ins Unbewußte hinein beeinflußten.Längst weiß man inzwischen, daß Eltern durch Erziehungstechni-ken beständig das Unbewußte ihrer Kinder manipulieren. Aberauch der Erwachsene erfährt durch die Konstellationen seinesFamilienlebens und durch die Strukturen und Prozesse in anderenGruppen laufend Einwirkungen, die sich über die Vermittlungseines Unbewußten in seinen Einstellungen und Reaktionsweisenniederschlagen. Jeder einzelne kann fortlaufend bei sich erfahren,daß sich seine emotionelle Verfassung und seine Verhaltensweisen –aus zunächst unbewußten Gründen – ganz erheblich wandeln,sofern er seine soziale Umwelt oder seine Rolle innerhalb dieserwesentlich verändert. Die Anwendung der Lehre vom Unbewußtenauf die Prozesse in Gruppen hat für die Psychoanalyse neue Feldererschlossen. Wir können jetzt besser sehen, daß Phänomene, dieursprünglich lediglich als «Übertragung» zwischen Analysand undAnalytiker beschrieben wurden, ständig und überall wirksam sind,wo Menschen in engen Partnerbeziehungen oder in intensiverenGruppenverbindungen leben. Weit über den Privatbereich vonPartnerschaft, Familie und Freundschaft hinaus, auf den die psychoanalytische Sozialpsychologie zunächst stieß, findet mandiese unbewußt vermittelten Einwirkungen auch weithin in derArbeitswelt.

Eine besondere Rolle spielt unsere seelische Abhängigkeit vonÜber-Ich-Surrogaten in der äußeren Welt. Wenn auch modifiziertdurch unsere inneren Dispositionen, manipulieren äußere Vor-schriften und Ideologien in mannigfacher Weise unser Befinden undVerhalten. Die Ideologie einer Gruppe, in der wir leben, die Tabusder Ethik eines Berufs, dem wir angehören, steuern uns über weit-hin undurchschaute Ängste in entsprechend konforme Ver-haltensmuster hinein. Nicht nur von anderen Menschen her wirdunsere psychische Verfassung unbewußt modifiziert. Auch reinmaterielle Bedingungen wie Geld, Wohnung usw. haben ihre psy-chologischen Rückwirkungen.

Mit anderen Worten: Der Psychoanalytiker erläge einem All-machtswahn, würde er der Illusion nachhängen, er allein verfügegewissermaßen über den Schlüssel, unmittelbar in das Unbewußteerwachsener Menschen hineinzuwirken. Wenn er den ganzen Tagnur hinter der Couch sitzt, findet er zwar eine Situation vor, welcheihn vorübergehend zum bedeutendsten Repräsentanten der sozialenWirklichkeit seiner Analysanden macht. Aber dieser Eindruck in

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einer solchen künstlichen Situation darf den Analytiker natürlichnicht dazu verführen, mit den vielen sonstigen wichtigen Faktorenin der Umwelt seines Patienten insgeheim zu rivalisieren und etwadie introspektive Arbeit an den Erinnerungen dazu zu mißbrau-chen, den Analysanden von seiner aktuellen sozialen Realität zuentfremden. Der Analytiker darf sich nicht zu der Phantasie hinrei-ßen lassen, daß ihm, auch nur während der Behandlung, die alleinigeMacht zur Beeinflussung des Unbewußten des Patienten zustehe.

Wenn man die kontinuierliche Verflochtenheit unseres unbewußtverankerten emotionellen Erlebens und Verhaltens mit der aktuellensozialen Wirklichkeit anerkennt, dann ergibt sich daraus für die Psy-choanalyse eine sehr wichtige Erweiterung ihres Gesichtsfeldes. Siekommt dann nicht mehr mit einem Selbstverständnis aus, wie esMITSCHERLICH kürzlich in folgende Definition gekleidet hat 59:«Wir verstehen unter Psychoanalyse1. eine systematische Methode der Introspektion, das heißt der

Wahrnehmung der inneren Realität;2. eine Methode der Herstellung einer besonderen Kommunika-

tionsform, nämlich der therapeutischen Situation zwischen Be-handler und Behandeltem; und schließlich

3. den Versuch, durch Rekonstruktion und mit Hilfe derÜbertragung kindlicher Ängste, Konflikte, Erwartungshaltun-gen, die anamnestischen Lücken – Lücken des Vergessens –auszufüllen, das heißt unzugänglich gewordene Erinnerungenan die eigene Lebensgeschichte wieder erfahrbar zu machen.»

Diese Definition ist so gehalten, daß sie die klassische Beschrän-kung des Feldes der Psychoanalyse auf die psychische Innenwelt desIndividuums bzw. auf die Vorgänge innerhalb der therapeutischenBeziehung zwischen Therapeut und Patient betont. Sie befriedigt,sofern man hinzusetzen würde, daß damit nur das Kernstück derArbeit innerhalb der klassischen Behandlungssituation beschriebenwerden solle. Die modernen theoretischen und praktischen Anwen-dungen der Psychoanalyse können indessen nur durch eine erwei-terte Definition gedeckt werden, die etwa so lauten könnte:

«Wir verstehen unter Psychoanalyse im weiteren Sinne eine Me-thode der Wahrnehmung der inneren Realität des einzelnen Men-schen, zugleich aber auch der Wahrnehmung der unbewußt vermit-telten Beziehungen zwischen verschiedenen Menschen wie zwischendem Individuum und seinen sozialen Bedingungen überhaupt. AlsWissenschaft vom Unbewußten beschäftigt sich die Psychoanalyse

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nicht nur mit den unbewußten Niederschlägen früherer Erfahrun-gen, sondern ebenso mit den unbewußten Auswirkungen der augen-blicklichen sozialen Realität. Die Psychoanalyse versucht, die unzu-gänglich gewordenen Erinnerungen an die eigene Lebensgeschichtewieder erfahrbar zu machen, sie versucht aber auch, alle sich imUnbewußten auswirkenden Einflüsse der momentanen realen Si-tuation bewußt zu machen.»

In dieser Perspektive ist Psychoanalyse nach wie vor und zueinem großen Teil Kampf des Menschen um seine Erinnerung, sieist aber zu einem anderen sehr entscheidenden Teil auch ein Kampfdes Menschen um die eigene Zukunft, eine Auseinandersetzung mitden psychisch entfremdenden Mächten der augenblicklichen sozialenWirklichkeit.

Die Psychoanalyse hat sich also gegen zwei Gefahren zugleich zuwenden. Einmal gegen die Gefahr, daß Menschen anstatt mit sozia-ler Wirklichkeit immer nur mit Abspiegelungen ihrer unbewältig-ten, aus der kindlichen Vergangenheit herrührenden innerenSchwierigkeiten umgehen. Im anderen Falle gegen die Gefahr, daßMenschen umgekehrt selbst unbewußt zu psychischen Spiegelbildernder sozialen Mächte werden, die von außen auf sie wirken.

Beide Perspektiven stehen nicht in einem Gegensatz, sondern ineinem wechselseitigen Ergänzungsverhältnis zueinander: Ich kann diesoziale Realität erst vollkommen erkennen, wenn ich in sie nicht mehrmeine unerledigte psychische Vergangenheit hineinprojizieren muß.Ich kann aber wiederum auch nur meine eigene Innenwelt voll erfas-sen, wenn ich auseinanderhalten kann, was zu mir selbst gehört undwas lediglich ein psychisches Resultat momentaner Außeneinflüsse ist.

Wenn man – in klassischer Weise – die erste Perspektive allein verfolgt, so bietet das den Vorteil, daß man sich die psy-chische Welt des erwachsenen Individuums als ein in sich ab-geschlossenes System vorstellen kann. Die sozialen Erfah-rungen aus der Kindheit sind in dieses System eingegangen und können innerhalb dessen therapeutisch bearbeitet werden.Der Analytiker – als Teil der sozialen Wirklichkeit – kann undmuß sich geradezu gefallen lassen, daß der Patient ihn wie einenwieder auferstandenen Partner seiner kindlichen Konfliktsitua-tionen behandelt. Das Durchschauen dieser «Verwechslung» soll, um mit MITSCHERLICH zu sprechen, «Lücken des Verges-sens» ausfüllen. Kommt indessen nun die andere Perspek-tive hinzu, erfährt das Beobachtungsfeld eine zunächst beäng-

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stigend erscheinende Erweiterung. Wenn hierbei nämlich unterstelltwird, daß die psychischen Prozesse bis ins Unbewußte hinein fort-laufend von der momentanen sozialen Wirklichkeit her mitgesteuertwerden, dann muß derjenige, der seiner selbst inne werden will,seine psychische Entfremdung nach zwei Seiten hin ursächlich ver-folgen. Er muß einmal in sich selbst rückschauend die «Erinnerungenan die eigene Lebensgeschichte» wieder erfahrbar machen, er mußaber auch und genauso sorgfältig die Spuren aufnehmen, die vonseiner inneren Verfassung auf aktuelle soziale Bedingungen zurück-verweisen. Damit kompliziert sich automatisch auch die Positiondes Analytikers. Unter dem Aspekt, daß die soziale Gegenwartfortlaufend tiefgreifende seelische Einflüsse ausübt, muß er sichfragen: Welche sozialen Umstände und Prozesse schlagen sich dennin mir selbst psychisch nieder? Welchen u.U. unbewußten Effekthaben sie auf mein Denken, auf mein therapeutisches Verhalten? Esgenügt nicht mehr, daß ich in einer oder sogar mehreren Eigenana-lysen meine Kindheitsprobleme aufarbeite, um meine Einstellungenund Handlungen weitgehend von irrationalen unbewußten Mo-menten freizuhalten. Ich muß vielmehr fortgesetzt selbstkritischüberprüfen, wie die sozialen Zusammenhänge, in denen ich lebe,mich unbewußt psychisch verändern – oder auch gerade von denVeränderungen abhalten, die zu vollziehen ich aus mir selbst herausfür notwendig halte.

Es handelt sich hierbei also nicht nur um eine beunruhigendeErweiterung des wissenschaftlichen Gesichtsfeldes, sondern zugleichum eine wesentliche Veränderung der Position und des Selbstver-ständnisses desjenigen, der Psychoanalyse in diesem umfassendenSinne zu verwirklichen versucht. Man kann sich noch relativ großfühlen, wenn man sich nur von der Last der unerledigten Vergangen-heit in seiner seelischen Freiheit und Autonomie eingeschränkt sieht.Man kann dann glauben, daß eine tapfere innere Auseinandersetzungmit den verdrängten Ängsten und Kränkungen aus der Vorgeschichteden Weg zu einer vollen Selbstverwirklichung endgültig freilegenkönnte. Nunmehr muß man sich eingestehen, daß man damit eigent-lich nur die eine Hälfte der psychischen Abhängigkeit bearbeitet hatund daß die andere Hälfte überhaupt nicht durch eine abschließendeUnternehmung erledigt werden kann,sondern eine konstante lebens-länglicheAnstrengung erfordert.

Offensichtlich neigen wir dazu, die kränkenden psychoanalyti-schen Beweise für unsere innere Abhängigkeit von unserer nur man-

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gelhaft bewältigten kindlichen Vergangenheit dadurch zu kompen-sieren, daß wir uns wenigstens gegenüber der Außenwelt freier ein-zuschätzen versuchen, als wir es tatsächlich sind. Wenn wir schonvon unserer Vorgeschichte her fortwährend unbewußt gesteuertwerden, dann würden wir uns gar zu gern wenigstens gegenüber deraktuellen Außenwirklichkeit weitgehend psychisch souverän fühlenkönnen.

Es ist offenbar schon schlimm genug, daß wir materiell von deräußeren Realität in unseren Lebensmöglichkeiten allenthalben ein-geengt werden. Deshalb ist es unser dringendes Bedürfnis, uns we-nigstens seelisch autonom und hinreichend widerstandsfähig gegenäußeren Druck zu wissen. Die Vorstellung, auch noch in unseremDenken, Fühlen und in unserem moralisch relevanten Verhaltenvon außen hochgradig unbewußt manipulierbar zu sein, mutet un-erträglich an. Hier wollen wir auf unsere persönliche Identität bauenkönnen. Unentbehrlich erscheint uns das von ERIKSON definierteGefühl des Vertrauens darauf, «daß der Einheitlichkeit und Konti-nuität, die man in den Augen anderer hat, eine Fähigkeit entspricht,eine innere Einheitlichkeit und Kontinuität aufrechtzuerhalten».26

Es scheint, daß dieser noch gar nicht lange eingeführte und zunächstin der Analyse umstrittene Begriff der Ich-Identität von ERIKSON

deshalb neuerdings in aller Munde ist, weil wir insgeheim geradedarum bangen, was mit diesem Begriff beschworen werden soll. Wirahnen, daß es mit dieser Ich-Identität nicht weit her ist bzw. daß siebeileibe nicht den weiten Bereich von Verhaltensmustern und Wert-bildern umfaßt, den wir gern in sie integriert sehen würden. DieErfahrungen der hochgradigen Wandelbarkeit von Reaktionswei-sen, emotionellen Einstellungen und Idealen unter dem Einflußsozialer Faktoren beweisen, daß wir – abgesehen von bestimmtenformalen Dispositionen – nur über einen sehr beschränkten Bestandvon psychischen Qualitäten verfügen, die wir unserer persönlichenIdentität zurechnen dürfen. Vieles, was wir in uns an psychischemBesitz für umweltstabil halten, wandelt sich, wenn sich unser öko-nomischer Status grundlegend ändert, wenn wir unsere Partner-beziehungen wechseln, eine neue Tätigkeit beginnen, einen höherenRang in einer Hierarchie beziehen, einer neuen Gruppen-Ideologieausgesetzt werden, aus einer Mehrheits- in eine Minderheits-position geraten oder umgekehrt. Man glaubt oft, bestimmteAnschauungen und Prinzipien endgültig assimiliert zu haben – undverkennt vielleicht, daß man ihrer nur so lange sicher sein

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kann, als man damit zugleich die Normen der augenblicklichenUmwelt trifft, auf deren schützende Anerkennung man angewiesenist. Wenn ERIKSON davon redet, daß nur manche Jugendliche nie-mals bereit seien, «sich bleibende Idole und Ideale als Hüter ihrerschließlichen Identität aufzurichten»26, so trifft diese Feststellungvielmehr für die große Mehrheit der Menschen zu. Denn geradedies wird im folgenden noch eingehend belegt und diskutiertwerden, daß das allgemeine Identitätsgefühl gerade im Bereich desmoralischen Verhaltens recht trügerisch zu sein pflegt.

Die Wunschphantasie, unsere Kontinuität, Einheitlichkeit undSicherheit mögen allenfalls von unserer unbewältigten psychischenVergangenheit, aber kaum von irgendwelchen neuartigen Gefahrender sozialen Realität bedroht sein, ist zweifellos die Folge einerangstbedingten Verleugnung. Je unsicherer sich der Mensch in einerWelt fühlt, in der er sich voller expansionistischen Größenideen zueinem Halbgott – mit Hilfe der Prothesen einer Super-Technik –aufgebläht hatte, um so mehr kann eine Theorie zu einer schützen-den Zuflucht werden, in der z.B. die modernen Sorgen vor weltwei-ten Katastrophen mit Massenarbeitslosigkeit und materiellem Elendlediglich als gigantische Projektionen unbewältigter Kindheitsäng-ste vor mütterlichen Versagungen bagatellisiert werden. Und diesich schleichend verstärkenden Todesbefürchtungen vieler erscheinenimmer noch halbwegs erträglich, wenn sie sich als bloße Ab-kömmlinge alter Kastrationsängste entlarven lassen. Die unheimlicheZukunft verliert alle Schrecken, sofern man sich sagen kann, daß eseigentlich keine echte Zukunft, vielmehr nur eine ewige kreisför-mige Wiederkehr der Kindheitsgeschichte gibt. Dann befände mansich in der Situation eines Menschen, der bei einer mehrfach wieder-holten Reise mit ein und derselben Geisterbahn auf dem Jahrmarktimmer wieder vor den gleichen Gespenstern erschrickt. Die letzt-lich nicht auszulöschende Ahnung, daß die Reise eben doch invöllig unvertrautes und real bedrohliches Gelände führt und nichtnur irgendwelchen illusionären Pseudo-Kastrationen, sondern demwirklichen Tod entgegengeht, vermittelt ein unerträgliches latentesGefühl von Einsamkeit, Hilflosigkeit und Vernichtungsangst. DieseAngst ist so ungeheuerlich, daß sie außer der Zuflucht zu rein retro-spektiven Umdeutungen der Aktualgefahren eine vielfältige An-klammerung an äußere Stabilisatoren bedingt.

Der einzelne kann seine Angst dadurch leidlich in Schach halten,daß er sich durch eine konformistische Anklammerung an schützen-

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de Partner, Gruppen, Institutionen, Ideologien einen Zustand vonunzerstörbarer Geborgenheit suggeriert. Unsere Neigung, die Be-deutung dieser Anklammerung für unsere Selbstsicherheit zu baga-tellisieren, erklärt sich sehr einfach aus dem Grund, daß wir dasAusmaß unserer realen Gefährdung nicht ertragen können. Abgese-hen von regelrechten «Angstneurotikern», die von ihrer Isolations-und Todesangst hilflos überflutet werden, halten sich die meistenMenschen leidlich in emotionellem Gleichgewicht, wobei sie sichähnlich verhalten wie die Träger eines Herzschrittmachers, die ihrevitale Abhängigkeit von dem Schrittmacher ebenfalls mit der Zeitverleugnen, um an ihre Stabilität glauben zu können. Wir wagennicht, uns einzugestehen, wie isoliert und gefährdet wir wirklichsind, weil wir uns den damit verbundenen Befürchtungen nicht ge-wachsen fühlen. Somit verteidigen wir die Illusion unserer relativenStärke und Selbständigkeit und erklären alle unsere Bemühungenum konformistische Anpassung, um Versöhnung gefährlicherAutoritäten usw. als souveräne, aus der eigenen Identität herausgetroffene Entscheidungen. Die Selbstentfremdung wird verleugnet,obwohl genau dies stattfindet, was HEIDEGGER42 meint, wenn ervon dem Ich-selbst spricht, das nichts weiter mehr sei als das Man-selbst, als das in das Man zerstreute Dasein.

Eben aber deshalb, weil Isolation so unerträglich geworden ist,daß zu ihrer Unsichtbarmachung gemeinhin permanent vielfältigeAnklammerungen und Anpassungen an äußere Stabilisatoren not-wendig sind, gibt es keine ähnlich verwundbare Stelle wie diese, diejederzeit für die Manipulation von Menschen durch Menschen undvon Menschen durch Institutionen ausgenützt werden kann. DieBedrohung mit Isolation – und damit mit vermeintlicher Vernich-tung – ist das wirksamste Instrument, jederzeit Gefügigkeit zu er-zwingen. Ein teuflischer Kreisprozeß bewirkt, daß die Trennungs-drohung als geläufiges Mittel der Kindererziehung in unseremKulturkreis jede neue Generation wiederum im Übermaß für dieseAngstform sensibilisiert und es ihr enorm erschwert, so viel Isolationzu erleiden und zu tragen, wie im Grunde für den Menschen not-wendig ist, um wirklich zu einer eigentlichen Identität zu gelangenund der Vielfalt der alltäglichen korrumpierenden Manipulationenleidlich standhalten zu können.

Dies ist jedenfalls eine wesentliche Ausgangshypothese, die dennachfolgenden Betrachtungen zugrunde liegt: Unsere durch Erzie-hung gemeinhin hochgradig verstärkte Selbstunsicherheit und Iso-

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lationsangst als Strukturmerkmal verleitet uns zu einer fortgesetztenund üblicherweise verleugneten übermäßigen Anlehnung an stabili-sierende Angebote unserer Umwelt. Gehen wir dieses Halts verlu-stig, reagieren wir infolge unserer Labilität ganz überwiegend miternsthaften Dekompensationserscheinungen. Viele im einzelnennäher zu charakterisierende Zwänge und Frustrationen in unseremsozialen Zusammenleben beruhen allein darauf, daß wir uns wech-selseitig unserer Isolationsängste als Mittel zur Eigenstabilisierungbedienen. Es wird näher auszuführen sein, daß unsere konventio-nellen sozialen Beziehungen im familiären Bereich wie in der Ar-beitswelt in einem erheblichen Maße durch das Prinzip gestört sind,daß jeweils die Stärkeren und Mächtigeren ihre eigene Isolations-angst durch Verschärfung der Abhängigkeit ihrer schwächerenPartner in Schach zu halten versuchen.

Eine unserer gefährlichsten Selbsttäuschungen besteht darin,daß wir uns als Erwachsene für gefeit gegen inhumane Handlungs-weisen halten, nur weil wir unter durchschnittlichen sozialenBedingungen z.B. zu keinen massiven destruktiven Aktivitätenverleitet werden. In sozialen Ausnahmezuständen und selbst inLaboratoriumsexperimenten erweist sich, daß eine Mehrzahl vonMenschen aller sozialen Schichten von der Befolgung wesentlichermoralischer Grundsätze abgelenkt werden kann, mit denen dieBetreffenden sich vorher identifiziert geglaubt hatten. DasAusmaß der Beeinflußbarkeit menschlichen Verhaltens im morali-schen Bereich ist so hochgradig, daß es offenbar mit unserem all-gemeinen Selbstwertgefühl nicht mehr vereinbar ist und deshalbgemeinhin glattweg verleugnet wird. Diese Manipulierbarkeitwiderspricht nicht, sondern bestätigt in gewisser Weise nur diegültigen Erkenntnisse über die mächtige Rolle der Über-Ich-Instanz innerhalb der Ich-Organisation. Gerade die Strenge derÜber-Ich-Dressate verführt im Bunde mit der mächtigen Isolati-onsangst leicht zu dem Versuch, die innere Gewissensabhängigkeitdurch eine äußere Abhängigkeit von Personen oder Institutionenzu ersetzen, deren Anweisungen man hörig befolgt. Es handeltsich dabei um den von FREUD in «Massenpsychologie und Ich-Analyse» beschriebenen Mechanismus, daß das Ich-Ideal(oder das Über-Ich) durch ein Objekt ersetzt wird. Offensichtlichspielt dieser Vorgang, den FREUD bei den Phänomenen der Hyp-nose und der Verliebtheit untersucht hat, eine weit unterschätztesoziale Rolle und ist noch viel zu wenig als psychologischer

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Hintergrund für das Massenverhalten etwa unter totalitärer Herr-schaft gewürdigt worden33.

Psychoanalytiker pflegen sich etwas darauf zugute zu halten, daßsie auf dem Weg eines schmerzlichen Abbaus liebgewordener Selbst-täuschungen voranzugehen versuchen. FREUD hat Wesentliches überseine Eigenanalyse notiert und publiziert. Andere wie neuerdingsMOSER62 sind ihm darin mutig gefolgt. Jeder junge Analytiker beginntseinen Ausbildungsweg mit einer Analyse seiner eigenen Probleme inder sogenannten Lehranalyse. Diese Eigenanalyse dient eigentlichdazu, dem Psychoanalytiker für sein ganzes ferneres Leben die Not-wendigkeit deutlich zu machen, sich und seine eigenen Schwierigkei-ten in der Arbeit mit anderen Menschen kritisch im Auge zu behalten.Dennoch zeigt sich gerade auch in dem Zögern der Analytiker, dasvolle Ausmaß der Abhängigkeit unseres Unbewußten von der sozialenRealität noch im Erwachsenenalter anzuerkennen, daß gewissebeschwichtigende Selbsttäuschungen nur unter größten Schwierigkei-ten abzubauen sind. Daß wir Psychoanalytiker jedoch genügendAnlaß haben, den aktuellen sozialen Einflüssen außer den verinner-lichten Spuren kindlicher Konflikte wesentlich intensiver als bishernachzugehen, dafür sprechen manche nicht eben besonders erbaulichePhänomene unseres Zusammenlebens in unseren eigenen Fachorgani-sationen und in unseren Instituten. Auch in unserem Kreis gibt esgenügend Beispiele für irrationalen Konformismus und Hörigkeitenaus Ängsten, sich voneinander zu isolieren oder sich schützendertraditionalistischer Leitbilder zu begeben. Manche Verhaltensweisenzwischen Fraktionen mit unterschiedlichen theoretischen Akzent-setzungen verraten ebenso wie bestimmte Schwächen im Ausbildungs-wesen, daß wir Psychoanalytiker eben sehr viel mehr Erfahrungen mitder Bearbeitung unbewußten Infantilkonflikte als im Umgang mit denunbewußten Auswirkungen aktueller sozialer Konfliktpotentialehaben. ANNA FREUD hat unlängst ihre Besorgnis darüber kundgetan,daß in der Psychoanalyse zur Zeit ein Auseinanderweichen von Mei-nungen und Techniken zu stärkerem Konservatismus und mehr Ri-gidität in den äußeren Reglementierungen führe29: «Je mehr sich diewissenschaftlichen Bindungen zwischen Mitgliedern und Ge-sellschaften dadurch lockern, daß gemeinsame Überzeugungen und wechselseitiges Verstehen schwinden, um so mehr strengt mansich lokal und international an, die Mitgliederschaft durch Vermeh-rung von Regelungen und Satzungsstatuten zusammenzuhalten. Dasist eine unglückliche Lage, die eine Atmosphäre schafft, welche dem

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Klima der ursprünglichen Psychoanalyse zuwiderläuft.» Man kannsagen, daß A. FREUD mit einer solchen selbstkritischen Deutungder defensiven Reaktionen der Analytiker auf ihre gestörte Grup-penverfassung bereits einen wesentlichen Schritt auf dem Wegevorangegangen ist, die Bedeutung der aktuellen sozialen Situationfür unbewußt vermittelte psychische Prozesse darzustellen.

Natürlich ist die Schwierigkeit deutlich, die darin liegt, daß dieRepräsentanten einer Wissenschaft genau von demjenigen Problembetroffen sind, das sie erforschen wollen. Es scheint ein Wider-spruch in sich zu sein, daß z.B. Psychoanalytiker, deren eigenesGruppenverhalten unbewußte Abwehrreaktionen auf angsterre-gende Veränderungen in der Struktur ihrer Organisationen verrät,eben dieses Problem der emotionellen Fernwirkung aktueller So-zialfaktoren zu fassen bekommen wollen. Andererseits ist unver-kennbar, daß viele wertvolle Entdeckungen gerade in der Analysedadurch zustande gekommen sind, daß die jeweiligen Forscher sichselbstkritisch mit ihren eigenen Problemen beschäftigt haben. Einigeder fundamentalen und für die gesamte weitere Entwicklung derPsychoanalyse wegweisenden Funde FREUDS ergaben sich aus bzw.in deutlichem Zusammenhang mit den Anstrengungen seinerEigenanalyse.

Wenn die Ausgangshypothese richtig ist, daß die aktuelleUmwelt auch noch den Erwachsenen – allein wie in der Gruppe –fortgesetzt tiefgreifend psychisch beeinflußt, dann ergibt sich fürdie Psychoanalyse allerdings die Aufgabe, künftig ihre Kooperationmit der Soziologie zu erweitern. Trotz zahlreicher entsprechenderForderungen gehen die beiden Disziplinen bislang nur sehr zögerndan die Aufgabe heran, praktisch klinische Probleme gemeinsam zustudieren. «Ihre wechselseitige Durchdringung», seit H. HART-MANN immer wieder gefordert, «hat bis heute nur wenige Fort-schritte gemacht!» – so hat kürzlich gerade wieder der AnalytikerM. FRIEND auf dem Internationalen Psychoanalytischen Kongreß1975 in London geklagt27. Der Kinderpsychoanalytiker J. BOWLBY

gab an gleicher Stelle dafür eine Begründung an: bislang habe mansich, wenn man sich als Psychoanalytiker außer um die inneren Pro-zesse auch um die Umwelt des Individuums intensiver gekümmerthabe, den Vorwurf gefallen lassen müssen, daß man damit aufhöre,ein guter Analytiker zu sein.

In der Tat kann man erkennen und auch für die Zukunft vorausse-hen, daß es sowohl den Psychoanalytikern wie auch den Soziologen

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Schwierigkeiten bereitet und weiter bereiten wird, den Schritt über dieeigenen Fachgrenzen hinaus zu engerer Kooperation mit der Nachbar-disziplin zu tun, obwohl die Einsicht zur Notwendigkeit dieser wech-selseitigen Annäherung immer weniger theoretisch bestritten wird.Auch hier sind wiederum offensichtlich manche irrationalen Ängsteim Spiel, die eine Berufsgruppe mehr oder minder unbewußt daranhindern können, eine an sich sachlich begründete Erweiterung ihresBlickfeldes vorzunehmen. Nach der Diagnose von A. FREUD befindetsich die Organisation der Psychoanalytiker ja gerade zur Zeit nicht ineinem Zustand, der einer unbefangenen Annäherung an die sozialwis-senschaftliche Nachbardisziplin besonders förderlich wäre. Auch hierzeigt sich wiederum die Bedeutung des Phänomens der Isolations-angst. In der Furcht, auseinanderzufallen, neigt man eher dazu, die-jenigen zu bedrohen, die zu sehr über die behüteten Grenzen des ei-genen Faches hinauszudenken versuchen. Jedoch belegt bereits diezitierte Deutung von A. FREUD, daß die Psychoanalyse durchausinnerhalb ihres eigenen Erfahrungsbereichs einen Zugang zu psychischvermittelten sozialen Phänomenen hat. In der Theorie vom «Intro-spektiven Konzept», erläutert in «Lernziel Solidarität», habe ich selbstdarzustellen versucht, wie sich mit den Mitteln der analytischenInterpretation emotionelle Phänomene bis ins Unbewußte hinein imZusammenhang mit sozialen Determinanten verstehen lassen. Die ver-schiedenen Varianten der psychoanalytischen Familientherapie, Grup-pentherapie und Sozialtherapie sind längst dabei, praktisch therapeu-tisch in ein Territorium vorzudringen, in welchem die psychische unddie soziale Dimension ständig in ihrer Verflechtung miteinanderberücksichtigt werden müssen.

Im Zentrum der Betrachtungen der folgenden Abschnitte wirdzunächst die psychologische Bedeutung der Isolation stehen. DerMensch sollte so viel an Isolation ertragen und erleiden können, daßer sich mit der Endlichkeit seiner Existenz auseinanderzusetzenvermag und daß er genügend innere Freiheit gewinnt, in seinensozialen Beziehungen mehr als eine bloße Zuflucht vor dem Allein-sein zu suchen. Eine Erziehung, die dem Kind und dem Jugendli-chen ein möglichst hohes Maß an Selbstvertrauen und Selbstsicher-heit zu vermitteln hätte, könnte dem Individuum helfen, seineVereinzelung auf sich zu nehmen und mit den daraus folgendenÄngsten umzugehen und darüber hinaus die Rolle dieser Ängste inunserem sozialen Zusammenleben zutreffend einzuschätzen.

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