florea ioncioaia das bild europa

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Das Bild Europas in der Gesellschaft der Rumänischen Fürstentümer (1800-1830) Florea Ioncioaia Die Vorstellung von Europa ist nicht einfach ein Bild des einen vom anderen. Europa ist nicht ein fixer Bezugspunkt, definierbar durch seine einfache Erwähnung oder die Assozierung mit einigen positiven oder negativen Eigenschaften, einigen Physiognomien. Es ist fast ein Gemeinplatz, daß kein objektives Bild existiert: Die Bilder sind subjektive, oftmals konjunkturbedingte Vorstellungen. Die imagologische Aussage erscheint als das Resultat einer kognitiven Bemühung und drückt mitunter das Informations- und Rationalisierungsniveau einer gegebenen Realität aus, ein anderes Mal aber erscheint uns dieses Niveau als Erzeugnis der Einbildung. Daher rührt - in jedem imagologischen Komplex - die Existenz mehrerer Verstehens- und Vorstellungsebenen. 1 In den meisten Fällen ist die einfache, spiegelmäßige Wiedergabe einer Realität praktisch unmöglich, sowohl weil die betreffenden Bewohner (die Autoren der imagologischen Aussage) nicht vollen Zugang zur gegebenen Wirklichkeit haben, als auch dank der Tatsache, daß einem solchen Bild oft die remanente, par exellence deformierende Erinnerung zugrunde liegt, ganz zu schweigen davon, daß wir manchmal vor einem rein imaginären, der ideologischen Konversion unterzogenen Bild stehen. 1 Einige Daten zur Imagologie und Methodologie der Untersuchung kollektiver Vorstellungen siehe bei Klaus Heitmann: Das Rumänienbild im deutschen Sprachraum. 1775-1918. Köln Wien 1985 Kapitel I (rum.: Imaginea românilor în spa]iul lingvistic german. Bucure[ti 1995 S.16ff.).

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Imaginea Europei in Principatele Unite din perspectiva istorica

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Page 1: Florea Ioncioaia Das Bild Europa

Das Bild Europas in der Gesellschaft der Rumänischen

Fürstentümer

(1800-1830)

Florea Ioncioaia

Die Vorstellung von Europa ist nicht einfach ein Bild des einen vom

anderen. Europa ist nicht ein fixer Bezugspunkt, definierbar durch seine

einfache Erwähnung oder die Assozierung mit einigen positiven oder

negativen Eigenschaften, einigen Physiognomien. Es ist fast ein

Gemeinplatz, daß kein objektives Bild existiert: Die Bilder sind subjektive,

oftmals konjunkturbedingte Vorstellungen. Die imagologische Aussage

erscheint als das Resultat einer kognitiven Bemühung und drückt

mitunter das Informations- und Rationalisierungsniveau einer gegebenen

Realität aus, ein anderes Mal aber erscheint uns dieses Niveau als

Erzeugnis der Einbildung. Daher rührt - in jedem imagologischen Komplex

- die Existenz mehrerer Verstehens- und Vorstellungsebenen.1 In den

meisten Fällen ist die einfache, spiegelmäßige Wiedergabe einer Realität

praktisch unmöglich, sowohl weil die betreffenden Bewohner (die Autoren

der imagologischen Aussage) nicht vollen Zugang zur gegebenen

Wirklichkeit haben, als auch dank der Tatsache, daß einem solchen Bild

oft die remanente, par exellence deformierende Erinnerung zugrunde

liegt, ganz zu schweigen davon, daß wir manchmal vor einem rein

imaginären, der ideologischen Konversion unterzogenen Bild stehen.

Das Bild, das wir versuchen aufzuzeigen in der vorliegenden Arbeit,

erscheint als ein Komplex von sowohl expliziten, als auch - vor allem -

impliziten Vorstellungen, präsent sowohl als Spiegelreflexionen einer

gegebenen Realität, als auch als Anschauungen (Ideen, Projekte,

Träume), die inzidentell oder symbolisch auf das figurierte Objekt

verweisen. Es geht zum einen um eine aktive Vorstellung, als Resultat

eines eigenen Vorstellungsakts, zum anderen um eine passive, der quasi-

1 Einige Daten zur Imagologie und Methodologie der Untersuchung kollektiver Vorstellungen siehe bei Klaus Heitmann: Das Rumänienbild im deutschen Sprachraum. 1775-1918. Köln Wien 1985 Kapitel I (rum.: Imaginea românilor în spa]iul lingvistic german. Bucure[ti 1995 S.16ff.).

Page 2: Florea Ioncioaia Das Bild Europa

mimetischen Reproduzierung einer Realität, so wie sie dem gemeinen

Blick erscheint.

Als historiographische Beschäftigung wird der imagologische Versuch mit

einigen spezifischen Problemen konfrontiert. Zuerst zur Geschichtlichkeit

der imagologischen Aussage: Haben die Bilder wirklich eine Biographie?

Kann man einen bestimmten Ursprung, eine bestimmte Entwicklung

feststellen, ganz zu schweigen von der gesellschaftlichen Bedeutung?

Dann, im Zusammenhang mit dem Inhalt und seinen Erscheinungsformen:

Kann man von einem Bild sprechen als von einer artikulierten, relativ

einheitlichen Aussage, oder nur von disparaten Vorstellungen? Ist es ein

sich selbst reproduzierender Diskurs, dem eine innere Dynamik eigen ist,

in dem Sinne, daß es eine kausale Beziehung zwischen seinen diversen

Erscheinungsformen gibt, oder ist es ein rein reaktiver, konjunktureller

Diskurs?

Unser Unterfangen hat sich selbstverständlich nicht zum Ziel gesetzt, auf

all diese Fragen zu antworten. Es hat desgleichen auch keinen

systematischen Charakter: Wir nehmen uns nicht der Gesamtheit der

möglichen Texte und Aussagen an. In der imagologischen Forschung ist es

schwer zu sagen, welches der Ursache und welches die Wirkung ist, wo

der Anfang und wo das Ende eines Bildes oder eines

Vorstellungszyklusses ist. Deswegen sind wir zur Klassifizierung derselben

oft gezwungen, externe Bezugspunkte heranzuziehen (meist politische

Ereignisse). Der Zeitausschnitt, den wir hier vorschlagen, das Ende des

18. bis zur Mitte des vierten Jahrzehnts des 19. Jahrhunderts, stellte

trotzdem ein gut individualisiertes Intervall dar in der Kulturgeschichte

der Fürstentümer, als Übergangszeit von der postmittelalterlichen Kultur

zur „liberalen“ Romantik der Achtundvierziger. Diese Grenzen

überschreiten wir allerdings, wenn es die Wirklichkeit fordert, denn oft

vermischen sich die Tendenzen unentwirrbar. Wir haben im Grunde

genommen in diesem Sinne mehrere Diskurse und Zeitebenen, die

koexistieren und manchmal einander entgegentreten.

Was die Quellen betrifft, muß gesagt werden, daß Europa in dieser Zeit

nicht im Mittelpunkt einer eigentlichen öffentlichen Auseinandersetzung

stand. Deswegen ist es unmöglich, einen homogenen Korpus von Texten,

2

Page 3: Florea Ioncioaia Das Bild Europa

die explizit Europa als Projektion der kollektiven Vorstellung in den

Fürstentümern zum Thema haben, zu konstituieren. Es fehlen desgleichen

die Wörterbücher, die Lehrbücher, Bücher der wissenschaftlichen

Popularisierung, die Reisebeschreibungen, die einen wahrhaftig kohärente

Perspektive zugelassen hätten auf die kognitive, elementare Dimension

jedwelcher imagologischen Aussage. Wir benutzten deswegen in der

vorliegenden Untersuchung vor allem eine Literatur zweiten Grades,

gebildet aus diversen politischen und literarischen Texten, aus Briefen

und ideologischen Manifesten, Aufzeichnungen und Chroniken, Texte, die

sich manchmal auf Europa beziehen, die bestimmte Vorstellungskanons

Europa gegenüber instituieren, aber nicht speziell die Frage Europas

behandeln.

Wir beschränkten uns auf die geschriebenen Texte und ignorierten eine

gewisse mündliche Tradition. Es ist daher klar, daß diese Texte die

Anschauungen einer dominanten sozialen Gruppe ausdrücken: jene der

schreibenden Gesellschaft. Das resultierte Bild kann nicht verallgemeinert

werden für die gesamte Gesellschaft der Fürstentümer. Trotzdem definiert

es die intellektuelle Richtung der Gesellschaft, und auch wenn es nicht

übereinstimmt mit einer kollektiven Anschauung, ist es dasjenige,

welches das Ereignis hervorruft und welches eine tiefere Grammatik der

gesellschaftlichen Vorstellung strukturiert.2

Was nämlich begünstigt oder, im Gegenteil, hindert das Zustandekommen

dieses Bildes? Die Konstituierung einer kollektiven Vorstellung betreffend

einen bestimmten kulturellen Referenten setzt scheinbar zuerst das -

unmittelbare oder vermittelte - Kennenlernen desselben voraus. Oft aber

ist dieses mehr eine Wunsch, wenn es nicht gar als die Projektion einer

Ablehnung, als eine Unmöglichkeit des Kennenlernens oder ein Versagen

desselben erscheint. Selten aber bestimmt die wahre Kenntnis die

kollektive Vorstellung.

Es ist völlig unwahrscheinlich, heute zu wissen, welches Anfang des 19.

Jahrhunderts das Niveau der Informationen zum europäischen Raum in

den Fürstentümern war. Im allgemeinen weiß man, daß in den gebildeten

2 Siehe auch die Bemerkungen zu diesem Thema von Alexandru Du]u: Modele [i imagini în iluminismul sud-est european. In: Cultura român\ în civiliza]ia european\ modern\. Bucure[ti 1978 S.100.

3

Page 4: Florea Ioncioaia Das Bild Europa

Kreisen, die ja ziemlich beschränkt waren, Popularisierungsschriften im

Umlauf waren, die zum aufklärerischen Referenten gehörten. In

Abwesenheit aber eines regelmäßigen Unterrichts und eines

intellektuellen Marktes überschritt der Informationsverkehr mit Sicherheit

nicht ein elementares Niveau.3

Man weiß weiterhin, daß den Mitgliedern der politischen Schicht der

osmanischen Welt die Reisen ins Ausland verboten waren; es war dies ein

verbot, daß in bestimmten, stark gemilderten Formen auch nach 1821

bestehen sollte, als das Phanariotenregime verschwand.4 Es gibt

desgleichen eine Reihe von kulturell-religiösen Barrieren, vor allem

seitens der konstantinopolitanischen Patriarchie, die eine Gegnerin des

voltaireschen „Kosmopolitismus“ und der Ideen der Französischen

Revolution war.5

Trotz dieser Restriktionen beginnen die Bojaren aus den Fürstentümern

bereits vor Auflösung des phanariotischen Regimes, nachher dann massiv

„Europa“ unvermittelt zu entdecken: als politische Flüchtlinge, als

Studierende oder als Touristen. Das Beispiel Dinicu Golescus ist das

3 Siehe, für eine bibliographische Perspektive, {tefan Lemny: Românii în secolul XVIII. O bibliografie. I. Ia[i 1988 passim; was das kulturelle Ambiente betrifft, möchten wir außer den hier zitierten Arbeiten Alexandru Du]us noch verweisen auf Mircea Anghelescu: Preromantismul românesc (pîn\ la 1840). Bucure[ti 1971 S.31-39, und Paul Cornea: Originile romantismului românesc. Spiritul public, mi[carea ideilor [i literatura între 1780 [i 1840. Bucure[ti 1972 S.35-65 und passim.; sehr nützlich ist auch das Buch Pompiliu Eliade: Influen]a francez\ asupra spiritului public din România. Originile. (Paris 1898 für die Originalausgabe) Bucure[ti 1982 (die rumänische Ausgabe, die von uns zitiert wird) S.262f.4 Es ist kein Zufall, daß sehr häufig in den Reformprojekten dieser Zeit die - manchmal eindringliche - Forderung auftaucht, den freien Personenverkehr, vor allem jenen der politischen Klasse, zu erlauben, so wie wir es auch in einem moldauischen Projekt aus dem Jahre 1818 finden: „Tout Moldave pourra séjourner ŕ l’ętranger(...), sans que nous aucun rapport on puisse porter atteinte ŕ ses droits et ŕ ceux de sa famille en Moldavie“, in Vlad Georgescu: Mémoires et projets de réforme das les Principautes Roumaines. 1769-1830. Bucarest 1970 S.71; dieselbe Fragestellung erscheint oft auch in der Korrespondenz Grigore Ghicas, dem ersten bodenständigen Fürsten nach 1821, wie dies aus einem Brief (1826) desselben an Gentz hervorgeht: „la Porte regarde comme un crime, les relations des princes avec les étrangers...“, in Vlad Georgescu: Din coresponden]a diplomatic\ a }\rii Române[ti. 1823-1828. Bucure[ti o.J. S.XIII, 115, 155 und 203; die Gefahr konnte aber auch von Rußland, der Schutz- und oftmals Besatzungsmacht der Fürstentümer, kommen, so wie dies eine Aufzeichnung im April 1828 zeigt, die den Einmarsch der Russen in die Moldau festhält und die Verhaftung eines Bojaren erwähnt, da ihn die Russen im Verdacht haben, „Geheimsekretär des Fürsten in französischer Sprache in seiner Korrespondenz mit Europa, daß er also etwaige Antworten bei sich trage oder Briefe gegen Rußland“, in Ilie Corfus: Însemn\ri de demult. Ia[i 1975 S.93.5 Pompiliu Eliade: Influen]a francez\... S.141 u. passim; A. Du]u: Modele [i imagini... S.100.

4

Page 5: Florea Ioncioaia Das Bild Europa

bekannteste, aber er stellt eine Tendenz dar, die schnell eine profunde

kulturelle Mode werden sollte, ein formatives, quasi-obligatorisches Ritual

für die Elite der Fürstentümer.6

Neben dem direkten Kontakt , durch Reisen, befanden sich die

Kolportageliteratur und auch die Presse in steigendem Umlauf in diesen

Jahren.7 Es ist wahr, die Qualität letzterer (oftmals bestehend aus

vulgarisierenden Almanachen) als auch ihre politische Orientierung

(dominant konservativ) scheinen nicht allzu viele Gründe herzugeben, um

sie als Quellen einzustufen, die die Artikulierung einer veritablen

Vorstellung von Europa in den Fürstentümern stimulieren.8 In der Regel

zirkulierten die Informationen - für das gewöhnliche „Publikum“ - als

Gerüchte, durch die militärischen Staffetten, durch die fürstlichen oder

kirchlichen Beschlüsse.9 Die Verbreitung geschah also entweder durch

Manuskripte, oder dann durch die haute voix, seltener durch

Drucksachen, was dazu führte, daß sie heute kaum zu rekonstruieren

sind. Es muß betont werden, daß Europa die einzig wahre

Informationsquelle war, die einzige Welt, die ein Bild von sich selber in

Umlauf brachte, also als ein aktiver Raum auftrat.

Man kann hier hinzufügen die Handelsbeziehungen, die ein tatsächliches

Kennenlernen Europas ermöglichten und den Wunsch weckten, seine

Lebensweise und sein Erfolgsrezept nachzuahmen, sowie auch, manchmal

in großem Maße, denjenigen der Integrierung in das westliche

Modesystem und seinen Warenmarkt. Wir wissen ja, daß Europa bereits

seit den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts ein begehrter Markt für

die Bojaren aus den Fürstentümern war, wie das ersichtlich ist aus den

Bittschriften und politischen Projekten, in denen man die Liberalisierung

des Handels mit Europa forderte.10

6 Siehe zur Reiseliteratur den rezenten Beitrag von Florin Faifer: Semnele lui Hermes. Memorialistica de c\l\torie pîn\ la 1900 între real [i imaginar. Bucure[ti 1993. 7 Vergl. Fußn.3.8 Grigore Ghica schrieb dem russischen Botschafter in Konstantinopel, Ribeaupierre, im Februar 1827: „Les journaux que je reois sont Le Constitutionell et l’Etoile, en franais, l’Observateur Autrichien et La Gazette Universelle, en allemand“, in Vlad Georgescu: Din coresponden]a... S.233.9 Ilie Corfus: Introducere. Zu: Cronica me[te[ugarului Ioan Dobrescu. 1802-1830. Bucure[ti 1966 S.314.10 Vergl. Vlad Georgescu: Mémoires et projets... passim.

5

Page 6: Florea Ioncioaia Das Bild Europa

Neben all diesem sind die Siebenbürger und die Griechen die wichtigsten

Agenten, die die Herausbildung in den Fürstentümern eines aktiven

Erwartungshorizonts, was Europa betrifft, beeinflußten. Die

transilvanischen Intellektuellen aus den Fürstentümern studierten im

Abendland und benützen die Entdeckung der Latinität, um für die

Rumänen, denen ein historischer Adel - anerkannt in einem Europa des

historischen Rechts - fehlte, eine ehrenhafte Identität zu behaupten.

Europa stellte in ihrer Sicht ein Modell der nationalen Emanzipation durch

Aufklärung dar, aber vor allem eine natürliche historische Gemeinschaft

für die Rumänen, ein politisches Gegengewicht zur fremden Herrschaft. Es

sicherte ein neues identitäres Prinzip: die Romanität, also die

Abstammung aus einer großen europäischen Zivilisation. Dieses Prinzip

sollte das Fundament eines messianischen Bewußtseins werden, was die

Rolle und die Berufung der Rumänen in der modernen Zivilisation betrifft.

Durch ihre illustre Herkunft und durch ihre Zahl konnten die Rumänen

Anspruch auf ein Statut der Egalität mit den anderen Völkern Europas

erheben.11

Gleichzeitig war Europa, für die Vertreter der neo-hellenistischen Kultur,

die in den Fürstentümern lebten, ein Raum der Freiheit, der Kultur und

der Diaspora und nicht zuletzt auch eine Stütze für die Befreiung von der

osmanischen Herrschaft. Nicht zufällig begann Europa sich für die

Rumänen zu interessieren vor allem zur Zeit Napoleon.12

Es ist aber gewiß so, daß das Europabild, das sich in den Fürstentümern

konstituierte, vom Europabild, das generell in den gebildeten Kreisen

Europas (aber nicht nur da) existierte, nicht getrennt werden kann. Ende

des 18. Jahrhunderts befinden wir uns in vollem Europazentrismus auf

dem ganzen Kontinent, was sich dadurch äußert, daß Europa seine

Überlegenheit den anderen Kontinenten gegenüber behauptete, aber

auch durch die Beschränkung des Europabildes auf den westlichen Teil

des Kontinents. Der Europazentrismus behauptete sich als ein neuer

11 Vergl. Teodor Racoce: În[tiin]are (1817). In I. Lupa[: Contribu]iuni la istoria ziaristicei ardelene. Sibiu 1926 S.23; für die messianischen Andeutungen der Siebenbürger siehe auch Adrian Marino: Pentru Europa. Integrarea României. Aspecte ideologice [i culturale. Ia[i 1995 S.168f., sowie auch P. Eliade: Influen]a francez\... S.227, und für die Haltung Napoleon und der Franz. Rev. gegenüber S.191ff.12 P. Cornea: Originile romantismului... S.48f.; Adrian Marino: Pentru Europa... S.173f.

6

Page 7: Florea Ioncioaia Das Bild Europa

Universalismus. Die europäische Zivilisation und die weiße Rasse

verkörperten das höchste Humanitätsideal. Wie Denis de Rougement

bemerkte, setzte die Aufklärung die Vorstellung von der absoluten

Überlegenheit durch, „de la réligion européenne, de la race blonde et de

la langue franaise“.13 Hinzu kam der Impakt der Französischen

Revolution, allerdings ein zweischneidiges Schwert, führte diese doch

gleichermaßen zu negativen Reaktionen und, wie bereits gesehen, zum

Mythos Napoleons, als Figurentyp, der ein pan-europäisches Ideal

repräsentierte.

Die Wahrnehmung Europas muß also im Zusammenhang mit der

Identitätskrise gesehen werden, die es in den Fürstentümern in den

ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts gab, sowie auch mit dem Ideal

der Aufklärung als Instrument des Zugangs zu Zivilisation und

Fortschritt.14 Die Apperzeption der Notwendigkeit einer Reformierung der

Gesellschaft wurde assoziert mit dem Auftreten einer Sensibilität des

Neuen: das Gefühl, daß das 19. Jahrhundert, dann die bodenständigen

Herrscher eine neue Zeit einleiteten. „Seine Hoheit ermutigt euch, würdig

zu werden für eine neue Epoche“, verlangte Petrache Poenaru den

Schülern des Kollegiums Sf. Sava aus Bukarest, „indem ihr euch bemüht,

den Geist dieser Zeit aufzunehmen, welches ist der Geist der

Wissenschaft, der Ruhe, der Menschenliebe, der Unterordnung gegenüber

dem Gesetz und den Herrschenden“.15 Die Emanzipierung, die

Modernisierung wurden instinktiv vorläufig in Zusammenhang mit dem

Verlassen des griechisch-osmanischen kulturellen Kontexts gesehen.

Es kann desgleichen nicht die Notwendigkeit eines Modells, eines

Bezugspunkts, wie sie sich zu jener Zeit bemerkbar machte, negiert

werden. Um sich und vor allem nach Europa zu sehen schien eine

Bedingung des Fortschritts. „Ich alleine, ich weiß nicht warum, sowie ich

erwachte, hatte als süßeste Beschäftigung das Lesen der

Geschichtsbücher, das Lesen der Verfassungen und Gesetze anderer

13 D. de Rougement: Vingt-huit sičcle d’Europe. La conscience européenne ŕ travers des textes, depuis Hesiod ŕ nos jours. Paris 1961 S.143f.14 Zur Wichtigkeit dieser Vorstellung in jener Zeit vergl. Al. Du]u: Modele [i imagini... S.97f.; A. Marino: Pentru Europa... S.168f. u. passim.15 Es geht um eine Rede, gehalten 1836, zur Eröffnung des Schuljahres, vergl. V. A. Urechia: Istoria [coalelor de la 1800-1864. Bucure[ti 1892 S.317.

7

Page 8: Florea Ioncioaia Das Bild Europa

Völker, um zu finden die Ursachen der Übel, unter denen wir uns beugen,

und um zu erfahren ihre Heilung“, schrieb im August 1829 in einem Brief

Ionic\ T\utul, einer der bedeutendsten Ideologen jener Zeit.16 Andererseits

finden wir in dieser Zeit ein Vertrauen nicht nur in die Modelle, sondern

auch in die Kraft des Bildes als pädagogische Quelle, eine Idee, die der

aufklärerischen Überzeugung von der Möglichkeit der unendlichen

Modellierung der menschlichen Natur durch Erziehung und Vorbild

entsprang.17

Es liegt außerhalb der Absicht dieser Untersuchung, hier alle

Bedeutungskomponenten des Begriffs „Europa“ sowie seiner Wortfamilie

zu diskutieren. Der Kontext ist hier wichtiger als die lexikalische Vielfalt.

Trotzdem sind die semantischen Mutationen ein ausgezeichnetes Indiz der

Art und Weise, wie ein Vorstellungssystem funktioniert. Deshalb auch ist

es für einen Versuch wie den unseren unerläßlich, festzustellen, wann ein

Begriff als solcher auftaucht, in was für einem Kontext und mit welchem

Wert, mit welchem Sinn und welchen kulturellen Bedeutungen er

verwendet wird.

In seinem gewöhnlichen, weit verbreiteten Sinn erschien Europa als ein

Begriff mit ungenauer Semantik, der zuerst mimetisch aus dem

allgemeinen Sprachgebrauch der Zeit übernommen wurde, so wie sich

dies in den Fürstentümern widerspiegelte; ein mechanisch reproduzierter

Ausdruck, dessen Erwähnung nicht eindeutig auf einen präzisen

Referenten verwies. Es ist deshalb notwendig, mindestens

methodologisch, die begriffliche, rein semantische Ebene einer

Vorstellung zu trennen von ihrer imagologischen Expression: ein Bild

entwickelt sich nicht selten unabhängig von seiner denominativen

16 Ionic\ T\utu: Scrieri social-politice. Cuvînt înainte, studiu introductiv, note de Emil Vîrtosu. Bucure[ti 1974 S.261; die gleiche Ansicht finden wir auch bei seinem muntenischen Pendant, Dinicu Golescu: „Und dann werden wir, jeder von uns, die wahre Ehre und Beglückung gewinnen, und das Volk wird in wenigen Jahren zweifellos auf jenen Stand gelangen, auf dem sich die anderen Völker Europas befinden, sowie auch zu jener angemessenen Aufklärung wird es gelangen, wenn wir uns ein Beispiel nehmen an anderen Völkern...“, Dinicu Golescu: Însemnare a c\l\toriei mele. In: Scrieri. Bucure[ti 1990 S.52.17 „Ach, könnte ich dir doch beschreiben die Ikone dieser unbescholtenen Schweiz,“ schreibt der junge Br\iloiu seinem Vater, ein hervorragender muntenischer Bojare, im Mai 1828, „Du würdest fühlen, wie in Dir mit größerer Kraft jenes patriotische Gefühl erwacht, von dem ich weiß, daß es Dir angeboren ist, und das mich beseelt“, P. Eliade: Histoire de l’esprit public en Roumanie. Tome I (1821-1828). Paris 1905 S.268.

8

Page 9: Florea Ioncioaia Das Bild Europa

Referenz, wie es auch Situationen gibt, wenn diese nicht klar auf ein

artikuliertes Bild verweist.

Es ist schwer zu sagen, wann genau der Begriff Europa begann, in

tatsächlich bedeutsamer Weise im öffentlichen Diskurs der Fürstentümer

verwendet zu werden. In der post-mittelalterlichen Tradition des 18.

Jahrhunderts wurde Europa noch mit der „christlichen Welt“ assoziert,

bzw. entweder mit dem sich der islamischen Welt widersetzenden Block,

oder dann, in pejorativem Sinne, mit der katholisch-protestantischen,

gegnerischen Welt. Die These von der paneuropäischen christlichen

Solidarität blieb bestehen im Kern der verschiedenen ideologischen

Aussagen18, sie verlor aber nach und nach an Intensität und Bedeutung in

dem Maße, als das Osmanische Reich nicht mehr eine solche Gefahr

darstellte, als ehedem. Die Berufung auf diese These blieb irgendwie

spezifisch für eine verspätete mittelalterliche Tradition. Der Begriff

begann relativ häufig verwendet zu werden in den außenpolitischen

Kommentaren der Chronisten oder in diversen Aussagen ohne einen

bestimmten Wert Ende des 18. Jahrhunderts, als ein Klischee-Ausdruck

(Europa toat\ /ganz .../, întreaga Europ\ /das gesamte.../), der ein gewisses

geopolitisches Areal festlegte und weniger einen kulturellen Raum. Dem

fügte sich beginnend mit dem dritten Jahrzehnt der Ausdruck „Europa

luminat\“(„das aufgeklärte...“) hinzu, welcher nicht mehr bloß auf einen

geographischen oder politischen Raum verwies, sondern auch den

symbolischen Sinn eines kulturellen Modells hatte.19

Es ist offensichtlich, daß - zum Unterschied von den anderen Kontinenten

und ganz gleich, auf welchen Aussagetypus wir uns beziehen - das

Interesse für Europa in diesen Jahrzehnten unendlich größer war. Asien

erschien bloß selten und dann meist in negativem Sinne, und Amerika

wurde, hin und wieder, erst nach 1821 in bestimmten Texten, aber

desgleichen in Zusammenhang mit Europa, erwähnt. Im allgemeinen

zeigte die stetig wachsende Benutzung der Vokabel, so wie wir es in den

ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts feststellen können, ein

bestehendes Interesse an, unabhängig von Benutzer oder Kontext;

18 Es geht um Antim Ivireanul, ein hoher orthodoxer Prälat aus Muntenien, mit seinen Sfaturi cre[tine-politice. Vergl. Al. Du]u: Modele [i imagini... S.157.19 Adrian Marino: Ilumini[tii români [i „afacerile Europei“. In: Lumea Nr.39 1965 S.25.

9

Page 10: Florea Ioncioaia Das Bild Europa

paradox aber ist, daß dies gleichzeitig auch einen Zustand der

Unvertrautheit anzeigte, zurückzuführen sowohl auf die sehr

oberflächliche Kenntnis der europäischen Welt, als auch auf ein Gefühl der

Adversität oder wenigstens der Differenz. Trotzdem wurden dem Begriff

an und für sich am häufigsten positive Bedeutungen zugemessen.

Andererseits aber schien die Vorstellung von Europa in den

Fürstentümern an einer theoretischen und kulturellen Impräzision zu

leiden. Was jedoch war Europa? Welches war sein Bereich? Wo befanden

sich, in Bezug darauf, die Fürstentümer?

Es gibt in der Art, Europa darzustellen, mehrere intellektuelle und zeitliche

Ebenen. Die Bedeutungen unterschieden sich sowohl chronologisch, als

auch von einer typologischen Textkategorie zur anderen. Aus

geographischer Sicht erschien Europa gewöhnlich als ein vager Raum,

fast nie mit klar umrissenen Grenzen; gewöhnlich war es die nicht-

osmanische Welt, die jenseits der Karpaten, also mit Siebenbürgen,

begann20, die aber manchmal sowohl die Türkei als auch Rußland

umfaßte. In diesem Zusammenhang und was die Zugehörigkeit zur

europäischen Welt betrifft, während der gesamten hier zur Diskussion

stehenden Zeitspanne, blieb ein ernshaftes Dilemma bestehen, das im

Grunde genommen die Redner definierte. Der geopolitische Aspekt

verwebte sich mit den kulturellen Kriterien, während eine

„wissenschaftliche“ Sicht gänzlich fehlte.

Die ersten Versuche, die Grenzen Europas zu ziehen, kennen wir bereits

seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, vorerst, was den Osten betrifft: „Und

dieses Wasser, das Don heißt, teilt Asien von Europa, so wie bei

Konstantinopel der Bosporus: diesseits Konstantinopel mit Galatha in

Europa, jenseits Skutari in Asien“, wie es in einer Aufzeichnung des

moldauischen Hofmarschalls Toader Jora um das Jahr 1786 hieß.21

Um das Jahr 1800 war Naum Râmniceanu wohl einer der ersten, der

Europa territorialisierte, es aus geographischer Sicht definierte und seine

20 Siehe hierzu die Briefe einiger muntenischer Bojaren aus den ersten Jahrzehnten des Jahrhunderts, in denen die Schulen aus Hermannstadt, oftmals bloße private Pensionate, als europäische Schulen bezeichnet wurden. N. Iorga: Contribu]ii la istoria înv\]\mîntului în ]ar\ [i str\in\tate. 1780-1830. In: AARMSlit t.XXIX 1906 S.45 u. passim.21 Ilie Corfus: Însemn\ri de demult... S.17.

10

Page 11: Florea Ioncioaia Das Bild Europa

Grenzen und seine politisch-staatliche Zusammensetzung beschrieb.22

Seine Geste, die gewissermaßen einzigartig blieb, vermag anzudeuten,

daß die Präzision fehlte, die mentale Festlegung einer bis dahin quasi-

fiktiven Vorstellung.

Obwohl in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts noch die

Vorstellung von Europa als Block-Bild vorherrschte, fand nach und nach

eine Kolonisierung dieser nominellen Vorstellung mit „lebendigen“

imagistischen Bezugspunkten statt, durch das tiefere Kennenlernen des

Kontinents, sowie auch unter dem Einfluß kultureller und politischer

Konjunkturen. Dies beweist eine Entwicklung des Bildes an und für sich.

So gab es Regionen und Städte, die Europa besser definierten als andere.

Wien, aber vor allem Paris, „Europas Vaterland“, wie es bei Dionisie dem

Ekklesiarchen hieß, gehörten voll und ganz, sowohl kulturell, als auch

geographisch oder politisch zur europäischen Welt23; es gab desgleichen

Länder oder Völker, die Europa an und für sich bedeuteten, während

anderen selbst das Statut eines europäischen Landes oder Volkes

verwehrt wurde. Die Kriterien waren konjunkturell, es dominierte aber

eine Vision von Europa, das grosso modo mit der Zivilisation identifiziert

wurde.

Europa aber bedeutete nicht nur Geographie oder Zivilisation, sondern

auch Politik. Es gab ein Europa, das weder das große geographische

Europa war, noch das Europa der Zivilisation, beschränkt, wie wir sehen

werden, auf das Abendland. Im großen und ganzen erschien das politische

Europa als eine Bühne, auf der einander die bedeutendsten Mächte der

Welt entgegentraten; eine Bühne, auf der oft äußere Kräfte mitwirkten,

die dann darin endeten, daß sie in den Vordergrund der Aufmerksamkeit

des Kontinents gelangten. Es war ein Machtraum, in welchem, um

repräsentiert zu sein, das Maß der Teilnahme an den politisch-

diplomatischen Geschäften Europas zählte. So erklärt es sich, daß

22 Diesem niederen Kleriker verdanken wir in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts die vollständigste Vision von Europa. Vergl. Cronica inedit\ a protosinghelului Naum Râmniceanu. Partea I-a. Text înso]it de un studiu introductiv de {tefan Bezdechi. Cluj-Sibiu 1944, vor allem die Kapitel 5-10.23 Dionisie Eclesiarhul: Hronograf. 1764-1815. Ed. de Dumitru B\la[a [i Nicolae Stoicescu. Bucure[ti 1981 S.116.

11

Page 12: Florea Ioncioaia Das Bild Europa

gewöhnlich Rußland und die Türkei einbezogen wurden ins europäische

Konzert.24

Meist erschien das politische Europa als eine Gemeinschaft der

Souveräne: der Kaiser, der Könige und, eventuell, der Fürsten. Die

napoleonischen Kriege wurden als Konflikte zwischen den europäischen

Führern des Augenblicks gesehen, fast so, als wären es zivile Konflikte.

Dionisie Eclesiarhul übernahm aus einer Bekanntmachung Alexanders II.

die Idee, daß Napoleon „Aufruhr in ganz Europa macht“, indem er sich

außerhalb der gängigen Kanons („ohne das Wissen der Kaiser Europas“)

zum Kaiser proklamierte.25 Es muß dabei bemerkt werden, daß „Europa“

immer dann invoziert wurde, wenn eine allgemeine Gefahr auftauchte,

seien es die Türken, sei es Napoleon, oder dann die Griechen mit ihren

revolutionären Versuchen.26

In dieser Welt der Mächtigen, war z.B. Griechenland Teil „eines zu

geringen Teilchens Europas“ und konnte sich in diesem Sinne nicht einmal

mit den Fürstentümern vergleichen, wie es in einem Pamphlet Anfang der

20er Jahre hieß. Dies, weil es seine Staatlichkeit verloren hatte, seinen

Namen, seine politischen Rechte.27 Aber häufig blieb die Ambiguität

bestehen, was die geographische oder politische Sicht betraf:

Griechenland oder Italien wurden weiterhin erwähnt, obwohl sie nicht

mehr existierten als Staaten. Wenn es keine „Nationen“ gab, im

modernen Sinne des Begriffs, machte sich im Europa der Souveräne eine

neue Macht bemerkbar, die es singularisierte: die öffentliche Meinung.

Europa war ein Raum, in dem die Ereignisse ein Echo hatten; es gab ein

moralisches Bewußtsein, eine öffentliches Gewissen. Diese Bühne der

Welt reagierte auf jedes auf ihr oder außerhalb ihrer stattfindende

Ereignis. Neu ist, daß die Vernunft und die Ideen oder moralischen Werte

politische Gesten begründen konnten. Deswegen schien es, diese Welt 24 Wie dies in einer anonymen muntenischen Bittschrift (etwa. 1820) heißt. Vlad Georgescu: Mémoires et projets...S.100f., 108 u. passim; vergl. auch Ders.: Din coresponden]a... S.165, 198 u. passim.25 Dionisie Eclesiarhul: Hronograf... S.89, 95f.26 Sich an Alexander I. von Rußland wendend, nannten die nach Kronstadt (Bra[ov) emigrierten muntenischen Bojaren diesen 1821 „der Souverän, den das anerkennungsvolle Europa als seinen Befreier ausgerufen hat“, Vlad Georgescu: Mémoires et projets... S106; „unserem barmherzigen Beschützer, der in seinen Händen die Waage der Gerechtigkeit ganz Europas hält“, Emil Vîrtosu: 1821. Date [i fapte noi. Bucure[ti 1932 S.140.27 E. Vîrotsu: 1821... S.189.

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Page 13: Florea Ioncioaia Das Bild Europa

könne verstanden werden, und ihre Taten seien vorhersehbar.28 Wie

Naum Râmniceanu zeigte, waren, anders als die Griechen, „die Mächte

Europas gänzlich gegen den apostatischen Geist/der Revolution, der

Unordnung/, die dieses Jahrhundert gebar“, da „die aufgeklärten Völker

sich bemühen, ihr Glück durch Wohlstand zu begründen“.29

Trotzdem schloß diese konventionelle, homogenisierende Perspektive das

Thema der Differenz nicht aus, die sich vor allem in den Jahren nach der

Revolution Tudor Vladimirescus bemerkbar machte. Es gab in Europa

nicht nur zwei von Religionen und gegensätzlichen kulturellen Paradigmen

getrennte Welten, sondern auch zwei politische Modelle, die einander

widerstritten: das Modell des orientalischen Despotismus, repräsentiert

von der Türkei, die bloß darauf bedacht war, ihre politische Herrschaft

über etliche christliche Völker zu wahren, und das Modell des rationalen

Staates, auf das Glück seiner „Untertanen“ bedacht, auf die Moral und die

Werte der Zivilisation. Zu diesem Europa, aus welchem die Türkei

ausgeschlossen war, gehörten auch Österreich und die wichtigsten

westlichen Mächte. In einem anti-griechischen Pamphlet wohl aus dem

Jahre 1822, stellte Naum Râmniceanu fest, daß das von Griechen

bewohnte Rumelien zum türkischen Europa („Europa Turchiia“) gehörte,

also nicht zum wahren Europa.30 Ionic\ T\utul sah die Moldau als „dem

osmanischen Reiche untertan und umgeben von Provinzen zweier

verschiedener europäischer Reiche...“.31 Dinicu Golescu sprach seinerseits

auch von den Christen, „die unglücklicherweise im türkischen Europa

wohnen“, und von der glücklichen Lage, „in der sich die Völker des

anderen Europas befinden“.32 Was die europäischen Modellstaaten betraf,

so dominierten anfangs die Bezugnahmen auf Italien oder Österreich, die

entweder auf die gemeinsame antike lateinische Kultur verwiesen, oder

dann auf das Vorbild eines rationalen Staates und der Zivilisation; im

dritten Jahrzehnt folgten die Schweiz, Bayern, aber ganz besonders,

28 Vergl. die häufigen diesbezüglichen Ausführungen der im dritten Jahrzehnt nach Kronstadt emigrierten Bojaren. Ebd. S.123 u. passim.29 Naum Râmniceanu: Coresponden]a Moldoveanului cu Munteanul. Izbucnirea [i urm\rile zaverei din Valahia. In G.D Iscru (Hrsg.) et alii: Izvoare narative privind revolu]ia din 1821 condus\ de Tudor Vladimirescu. Craiova 1987 S.67 infra.30 Ebd. S.55.31 V. Georgescu: Mémoires et projets... S.108.32 Dinicu Golescu: Însemnare a c\l\toriei mele... S.61.

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Page 14: Florea Ioncioaia Das Bild Europa

beginnend mit den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts, Frankreich, welches

in den Augen der Gesellschaft der beiden Fürstentümer zum Symbol

Europas wurde. Eine neutrale, zweideutige Stelle wurde vorläufig Rußland

eingeräumt. Teilweise gebunden an diese Wahrnehmung war auch das

Bild Europas als ein Ort des Asyls, als Schutzraum, wohin die Mitglieder

der politischen Klasse flüchten konnten, wie es vor allem während der

militärischen Invasionen oder den ziemlich häufigen internen Unruhen in

den Fürstentümern dieser Zeitspanne erschien.33

Bedeutsam ist hier die Karriere des Begriffs Abendland (rum. Apus) bzw.

Okzident, wenn auch noch nicht die Dimensionen der nächsten Jahrzehnte

erreicht wurden, als das Abendland/der Okzident zum absoluten Synonym

Europas wurde. Das Abendland bedeutete in dieser Zeit sowohl das

katholische Europa, als auch, vor allem, das außerhalb der osmanischen

Welt befindliche Territorium, eine Welt der Politik, die Bühne der

Konfrontation zwischen den Großmächten. Die Geographie war nicht von

Anfang an das Grundkriterium. Rußland wurde akzeptiert dank seines

Einflusses. „Viele nutzbringende Einrichtungen schuf Kaiser Alexander

unter den Königen und Kaisern des Abendlandes, und alle haben seine

Hoheit als den größeren unter sich und sind sich einig, das Reich Rußlands

als das größere zu bezeichnen“, schrieb um das Jahr 1815 Dionisie

Eclesiarhul, nach der Besiegung Napoleons. Derselbe erinnerte daran,

daß, „da die Franzosen besiegt und nun Frieden unter den Kaisern des

Abendlandes war, alswie gezeigt, Kaiser Alexander Serbien nicht den

Türken zur Beherrschung / überließ/, ist es doch ein Land mit Christen...“. 34 Das Abendland war also in dieser Auffassung aus dem zweiten Jahrzehnt

des 19. Jahrhunderts das politische Europa; es schloß die Türken aus,

genauso wie auch die kleinen Völker und Staaten, die nicht teilnahmen

am europäischen diplomatischen Spiel.

Die Verwendung des Begriffs Abendland belegte sowohl ein Bewußtsein

der Zugehörigkeit zum geographischen Europa, als auch der

Unterscheidung vom profunden Europa. Der Begriff schloß die Türken

33 Das Thema taucht in einer Bittschrift der muntenischen Bojaren, gerichtet an den Wiener Hof, auf, ist aber vor allem nach 1821 häufig präsent, obwohl der Bezug auf Europa bloß ein impliziter ist, V. Georgescu: Mémoires et projets... S.45; vergl auch Ders.: Din coresponden]a... passim.34 Dionisie Eclesiarhul: Hronograf... S.114f, 121.

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Page 15: Florea Ioncioaia Das Bild Europa

oder die Griechen aus, aber auch die Bewohner der Rumänischen

Fürstentümer, wenn auch in kleinerem Maße. Dabei gilt ja auch, daß sein

Bild nicht gänzlich positiv war. Das Abendland war ein geographischer wie

auch ein kultureller Topos, der sich vom türkisch-orthodoxen Orient

(oftmals der Ort aller „Häresien“ und geistigen Verirrungen) unterschied

oder diesem gar entgegengesetzt war. Man sprach vom Abendland vor

allem, wenn es darum ging, die Legitimität der rechtgläubigen Religion zu

zeigen sowie die katholische oder protestantische Abweichung. Bei Naum

Râmniceanu war das Abendland ein Raum, wo jede Häresie möglich war,

eigentlich war es genau der Raum der Häresie, der Idolatrie und der

Atheismen, denn, sagte er, da wo Weisheit ist, ist auch entsprechend

Irrsinn. Interessant ist dabei, daß Naum Râmniceanu, sooft er die

geistigen Tendenzen des Westens kritisierte, den Begriff Abendland

benützte und weniger Europa.35 Der Begriff hatte den Vorteil, Rußland,

das als Protektorin der Orthodoxie galt, nicht einzuschließen.

Wir haben im Grunde genommen aus geo-kultureller Sicht zwei Europas

und zwei Bilder: ein Europa in weitem Sinne, vom Bosporus bis nach

Gibraltar und vom Don bis zum Atlantik, sowie ein auf den nicht-

osmanischen oder gar katholischen, westlichen Raum sich

beschränkendes Europa; was die Vorstellung von Europa betrifft, gab es

ein Bild, daß Europa als physischen, als eminent geographischen oder

politischen Raum betrachtete, sowie ein anderes, das diesen Raum

einschränkte gemäß einer, vorläufig schüchtern auftretenden,

ideologischen Norm.

Diesem Europa mit variabler Geometrie gehörte im dritten Jahrzehnt das

Bild vom aufgeklärten Europa, dessen Grenzen noch eingeschränkter

waren als der Inhalt des Begriffs Abendland. Diese Vorstellung ist äußerst

bedeutsam, denn sie suggeriert die klare Präsenz eines axiologischen

Urteils. Das kulturelle Kriterium ist hier souverän. Europa war der Raum,

woher die Aufklärung (im Sinne eines modernen savoir-faire), die

Wissenschaft (also die Informationen, das Wissen, der Zugang zur

Vernunft), die Zivilisation (ein savoir-vivre, die Gesellschaft der Vernunft),

35 Cronica protosinghelului Naum Râmniceanu... S.66f.

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Page 16: Florea Ioncioaia Das Bild Europa

der Fortschritt (der Sinn/die Finalität/Zielgerichtetheit der Geschichte, das

Instrument der Vernunft) kamen.

Den Ursprung dieser Vorstellung müssen wir in der Figur des zivilisierten

Europas, dem Produkt des 18. Jahrhunderts, suchen. In den

Fürstentümern existierten sie bereits Anfang des 19. Jahrhunderts, so wie

wir dies feststellen in einer Antwort des muntenischen Fürsten Constantin

Ipsilanti: „Sie werden zufriedener sein in Jassy, wo Sie alles an das

zivilisierte Europa erinnern wird“, sagte dieser um das Jahr 1806 der

Begleiterin Reinhardts, des französischen Konsuls in den Fürstentümern.36

Diese Vorstellung setzte eine neue Art Humanität voraus, denn: „Die

Lehrer Europas sind strebsame und lobwürdige Menschen“, schrieb Ien\

chi]\ V\c\rescu 1794, in seiner Geschichte der allmächtigen osmanischen

Kaiser („Istorie a preaputernicilor împ\ra]i otomani“). Oder, wie Grigore

Arhimandritul begeistert notierte in seinem etwa 1798 erschienen Triodul,

daß „die Menschen Europas scharfen Verstand haben, unzögerlich und

tapfer sind; und wie daselbst so viele Weise geboren wurden, so viele

Gesetzesgeber, Doktoren, auserwählte Redner und Fürsten, die alle

anderen Völker der Welt mit der Kraft ihres Verstandes, ihrer Sprache und

ihrer Hände gebändigt, gelehrt und bezwungen haben; wie daselbst sich

die beiden berühmten Reiche der Griechen und der Römer befunden;

daselbst die Wissenschaften, die Handwerke, die guten Sitten und die

gute Unsterblichkeit erblühten und erblühen; wie also es sich gehört,

dieses Europa die Zierde der Welt zu nennen“.37

Erst mit Naum Râmniceanu fand aber eine richtige Mythologisierung

Europas statt, daß in seiner doppelten Natur (geographisch und kulturell)

verstanden wurde und das unwiderlegbare Zentrum der Welt war. In

seiner Vorstellung fusionierten die antike heidnische griechisch-römische

Vergangenheit, die mittelalterliche christliche Epopöe und die Zivilisation

der modernen Epoche. Es ist wahr, er assozierte vorläufig noch nicht klar

das Abendland oder einen bestimmten Teil Europas mit der Zivilisation

und dem historischen Sinn. Es war eher eine eurozentrische, denn eine

westeuropazentrierte Perspektive. Naum Râmniceanu lobte das „Europa

36 Vergl. Christian Reinhardt: O pagin\ din via]a româneasc\ sub Moruzi [i Ipsilanti. Scrisori. Trad. de D. Sturdza. Bucure[ti o.J. S.18.37 Vergl. Ion Bianu, Nerva Hodo[: Bibliografie româneasc\ veche. Bucure[ti II 1910 S.406.

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Page 17: Florea Ioncioaia Das Bild Europa

der Zivilisation“, aber er vollzog keine kulturelle und geographische

Diskriminierung. Wie auch einer seiner Vorgänger, der moldauische

Kleriker aus dem 18. Jahrhundert, Amfilohie Hotiniul, war er ein diskreter

Philo-Abendländer, der dem Orient bloß durch seinen orthodoxen Glauben

verbunden blieb..

Ein Vorwort zum Bild des aufgeklärten Europas ist die Vorstellung von

Europa als ein Raum der Lehre, wohin die großen Bojaren der

Fürstentümer ihre Kinder zum Studium schickten, „um die Säfte der

Philosophie zu trinken“, der Weisheit und des Wissens.38 „Obwohl wir die

meisten von uns ohne Mittel und arm sind, lassen wir alles, auch das

Vaterland, auch die Blutsverwandten und alles Häusliche, mißachten

jedwelches Unglück und Leid und gehen an die Universitäten Europas, um

uns aufzuklären“, gestand Anfang des 19. Jahrhunderts der große

Hofmarschall Alexandru Mavrocordat.39 Über die phanariotischen Griechen

hieß es in einer muntenischen Bittschrift aus der gleichen Zeit, daß sie „in

Laufe einiger Jahrhunderte, indem sie aus Europa Gelehrtheit bezogen“,

ihre natürlichen diabolischen Neigungen verbergen konnten.40

Was den Griechen für ihre hinterlistigen Ziele nützlich war, war

verpflichtend für die Bewohner der Fürstentümer. Europa war die geistige

Metropole der Welt. Denn „alle Völker Europas sind glänzend in den

Lehren“, und der Zugang zur Zivilisation wurde vom Besitz dieser

„Lehren“ bestimmt, da „wir sehen mittels des Lichts der Wissenschaften,

das wir bei ihnen erzielen“ /Unt.F.I./, wie der Dichter Barbu Paris

Mumuleanu bemerkte.41 Und derselbe schrieb 1825, in seinen Caracteruri:

„Wenn wir alle Völker Europas betrachten, sehen wir, daß durch das Licht

der Lehre sie das Fahren auf dem Meer wie auf dem Festland gefunden,

sie haben die Höhe und die Größe der Sonne gemessen, haben

Wissenschaften noch und noch vollendet und Mengen von nützlichen

Handwerken erfunden in der Gesellschaft, worüber unser Verstand nur

erschrecken kann“. Diese Zeitspanne gab treu diese Vorstellung wieder

38 Vergl. die Rede Grigore Brâncoveanus zur Eröffnung der Kurse an Gheorghe Laz\rs Schule im Jahre 1818. In N. Iorga: Etudes roumaines. Paris 1924 II S.61.39 Ders.: Am\nunte din istoria înv\]\mîntului în ]ar\ [i str\in\tate. 1780-1830. In: ARMSlit t.XXXVII 1916 S.381f.40 Vîrtosu: 1821... S.119.41 Marino: Pentru Europa... S.174.

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Page 18: Florea Ioncioaia Das Bild Europa

bis hin, sie in eine Mode zu verwandeln. Deswegen begann ein einfacher

formativer Aufenthalt in Europa (sei es auch nur in Hermannstadt, umso

mehr aber in Paris oder Wien) eine entscheidende Bedeutung zu haben

für die adligen Familien zur Erwerbung eines veritablen sozialen Prestiges.

Ein Scheitern war deswegen entsprechend schmerzlich. Aus Craiova

schrieb Nicolae Br\iloiu etwa 1823, unzufrieden mit den schulischen

Leistungen seines Sohnes: „ich schäme mich zu sagen, daß ich Kinder in

der Schule hatte, in Europa /Unt.F.I./, schade um die Ausgaben, die wir

machen!“42

Der Übergang von Europa als Ausdruck einer höheren Zivilisation zu

Europa als Figur, als Bezugspunkt eines ideologischen Projekts war

spezifisch für das Jahrzehnt nach 1821. Diese Zeit kennzeichnete sich

durch ein akutes normatives Bestreben, und die Identifizierung des

Modells ließ keinen Platz für Zweifel. Europa war der wahre Ort, an dem

„die aufgeklärten Völker sich bemühen, ihr Glück durch Wohlstand zu

begründen“, wie Naum Râmniceanu sagte, während Constantin Moroiu

glaubte, daß „die Liebe für die Menschheit, Grundlage der sozialen

Tugenden, die jetzt in fast ganz Europa bei allerlei Personen anzutreffen

ist“ das charakteristische Phänomen der Zeit sei.43

Dinicu Golescu war der erste, der Europa in zwei antithetische Welten

teilte und die Position der Fürstentümer diesen gegenüber festlegte. Er

sprach von der tragischen Lage, in der sich die Christen des „türkischen

Europas“ befanden und von der glücklichen Lage „des anderen Europas“,

des wahren, des aufgeklärten Europas, welches in seinen Augen jenseits

der Karpaten begann, in tieferem Sinne aber mit Wien, ohne eine präzise

geographische Dimension an und für sich zu haben.44 Es war ein

symbolischer Raum, der sich in großen Zügen mit der westlichen Welt

deckte.

Wenn man die beiden Welten trennt, wie Dinicu Golescu dies tat, muß

man sich fragen: welches war die Position der Fürstentümer, gehörten sie

zu Europa oder nicht? Die Antwort unterscheidet sich je nach dem

intellektuellen und politischen Projekt, dessen Befürworter die Sprecher

42 N. Iorga: Contribu]ii la istoria înv\]\mîntului...S.45.43 Paul Cornea: Originile romantismului românesc...S.240.44 Dinicu Golescu: Însemnare a c\l\toriei mele... S.3f., 61 u. passim.

18

Page 19: Florea Ioncioaia Das Bild Europa

waren, was zu mehreren Arten der Reaktion führte, mit natürlichen

intermediären Unterscheidungen, drückte doch jede Art gleichzeitig eine

bestimmte Haltung den anscheinend von Europa verkörperten Werten

gegenüber aus. Im Grunde genommen aber gab es, wie auch bei Dinicu

Golescu, mehrere gleichzeitige Möglichkeiten zu antworten.

Offensichtlich war die Haltung Europa gegenüber verbunden mit dem Bild

desselben. Das Bewußtsein der europäischen Gemeinschaft war

wahrscheinlich diffus stets präsent in den Reihen der Elite des 18.

Jahrhunderts, aber Europa wurde nicht als ein Schlüsselelement, imstande

entscheidend die Lage der Fürstentümer zu beeinflussen, und auch nicht

als vorbildhafte Nachbarschaft gesehen. Ende des 18. Jahrhunderts

dominierte noch eine regionaliserende und politische Vision. Europa

existierte fast nicht in der kollektiven Vorstellung. In einem fürstlichen

Beschluß aus dem Jahre 1797 zur Verfassung einer Geschichte und einer

Geographie der Walachei wurde verlangt, „die Geographie des Landes“

zusammenzustellen, „wie es sich fügt mit denen außerhalb seiner, also:

mit dem Allmächtigen Reich und mit dem fremden Boden, sowie die

Grenzen des Landes zum Banat und zu Transilvanien...“. Die europäische

Welt befand sich außerhalb des Horizontes.45

In den ersten Dezennien des 19. Jahrhunderts wurde die Ordnung der

Dinge weiterhin vom Orient diktiert. Es gab zwei Zeitmaße: die türkische

Zeit (die auch gewöhnlich im Gebrauch war) und die europäische Zeit,

sowie auch zwei Arten von Kleidung, wobei die Kleider europäischer Art

mit Fremdsein assoziert wurden; ganz zu schweigen von den

Konfessionen, politischen Praktiken und kulturellen Mentalitäten, die in

irreduktiblen Beziehungen zueinander standen.46 Sogar die Schrift

(Kyrillisch) oder das Notensystem waren verschieden von den

„europäischen“.47

45 V. A. Urechia: Istoria Românilor VII Bucure[ti 1894 S.55 infra.46 Vergl. Vlad Georgescu: Din coresponden]a... S.77 u. passim; zur Wahrnehmung der Kleidung vergl. aus der reichhaltigen Literatur Stela M\rie[: Importan]a catagrafiei din anii 1824-1825 pentru problema sudi]ilor evrei din Moldova. In: Silviu Sanie, Dumitru Vitcu (Hrsg.): Studia et acta Historiae Judaerom Romaniae. o.E.ort./Bucure[ti?/ 1996 S.51-135.47 Erst 1829 wird ein Lehrbuch veröffentlicht mit dem Titel „Gramatic\ româneasc\ de note pentru fundamentul chitarei, compus\ dup\ cea europeneasc\, de Teodor Burada, sluger, anul 1829“. Die Schrift aber bleibt slawonisch bis in die 6oer Jahre des vorigen Jahrhunderts.

19

Page 20: Florea Ioncioaia Das Bild Europa

Paradox aber ist, daß die Idee von einer tiefen kulturellen Differenz

zwischen den Fürstentümern und der europäischen Welt kaum präsent

war im Diskurs dieser Zeit. Dies, zum einen, weil Europa eindeutig als ein

vielfältiger Raum wahrgenommen wurde, als eine kulturelle Dualität, zum

anderen, weil das reformerische Pflichtgebot, also die Notwendigkeit eines

Modells und einer referentiellen Gemeinschaft, quasi inexistent war. Die

Adoptionen, wie im Falle des Zivilgesetzbuchs der Moldau, das nach

österreichischem Modell geschaffen wurde, wurden als natürliche Gesten

gewertet, sie verlangten kein Erklärungsmuster. Man ahmte nicht ein

Gesellschaftsmodell an und für sich nach.

Es ist deshalb schwer zu sagen, wann genau Europa begann, als ein

Vergleichsmoment für die Gesellschaft der Fürstentümer gesehen zu

werden. Am wahrscheinlichsten ist, daß die Anfänge wohl mit der

Französischen Revolution und den napoleonischen Kriegen

zusammenfallen, wenngleich Anfang des 19. Jahrhunderts Europa in den

Fürstentümern als Unruhequelle erschien (die Revolution, die

napoleonische Expansion), als Ausdruck einer religiösen (des

Katholizismus) und politischen Alterität.48 Durch die Figur Napoleons aber

wurde die europäische Welt (im Sinne des Abendlandes) das Objekt einer

unerwarteten Aufmerksamkeit seitens einiger muntenischer und

moldauischer Bojaren. Es war eine erste Vorstellung von Europa als einem

möglichen politischen Gegengewicht zu den regionalen Mächten, die

einander ihren Einfluß in den Fürstentümern streitig machten.49

Es ging aber nicht um ein Gefühl der Gemeinschaft, Ausdruck

wahrhaftiger Wertschätzung. Trotzdem kann man feststellen, daß die

Sympathie für die europäische Welt zurückreichte bis zum Ende des 18.

Jahrhunderts, auch wenn sie vorläufig nur durch vage und wenig

verbreitete Erwähnungen ihren Ausdruck fand. Wenn wir akzeptieren, daß

der einfache Bezug implizite auch ein Zeichen der Zuwendung und

Sympathie ist, können wir auf eine Reihe von Bojaren und Intellektuellen

wie Ien\chi]\ V\c\rescu, Amfilohie Hotiniul, Alexandru Mavrocordat, Dionisie

Eclesiarhul etc. verweisen, die Interesse zeigten für die europäische Welt. 48 Vergl. auch Radu Rosetti: Arhiva senatorilor din Chi[in\u [i ocupa]ia ruseasc\ dela 1806-1812. I. Bucre[ti 1909 S.36, 71ff., 79.49 Zum allgemeinen Kontext vergl. Pompiliu Eliade: Influen]a francez\ ...Kap.III, Teil III; vergl. auch Vlad Georgescus Einführung zu: Mémoires et projets... S.VI.

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Page 21: Florea Ioncioaia Das Bild Europa

Es ging aber um ein Europa der Ideen und der Gelehrten, höchstens noch

um ein politisches Europa, keineswegs aber um einen Modell-Raum.

Europa erschien zweideutig bei ihnen, denn wir wissen nicht, ob es sich

um Europa im allgemeinen handelte oder um das abendländische.

Die erste tiefe Bresche im postmittelalterlichen Vorstellungssystem

verdanken wir Naum Râmniceanu und vor allem dem Jahr 1821, als in

einem Augenblick fehlenden Schutzes das Bewußtsein der Zugehörigkeit

zu Europa oft als eine wünschenswerte Wirklichkeit erscheint. Es

herrschen allerdings auch jetzt die politischen Referenzen vor

(Hilfeforderugen, der Vergleich mit den politischen Praktiken Europas, Ort

der Zuflucht, etc.).50 Die Idee der europäischen Gemeinschaft, wie sie

zuvor Naum Râmniceanu formuliert hatte, wenngleich sie auch in einer

fabelhaften Aura auftrat, wurde als ein Zeichen des Prestiges, der

ethnischen Vornehmheit gewertet. Rumäne zu sein begann damit

verbunden zu werden, europäisch zu sein, was einen Bruch mit der

griechisch-osmanischen Welt bedeutete.

Anfang des 19. Jahrhunderts war die Voraussetzung, von der Naum

Râmniceanu ausging, diejenige, daß die Rumänen zu Europa gehörten

geradewegs durch ihre biblische Abstammung („aus dem Geschlechte

Jafets“), neben den „anderen Sprachen Europas, außer den Türken, den

Juden, den Griechen...“. Die europäische Zugehörigkeit der Rumänen kam

also von ihrer Latinität und der italischen Herkunft der Begründer.

Geographisch dann und politisch „zählen besonders zu den

Fürstentümern Europas auch die Herrschaft der Moldau und die

Herrschaft der Walachei“, da sie einer europäischen Ordnung

angehörten.51 Im Geiste seiner Allegorie zeigte Naum Râmniceanu, daß

„unser Geschlecht der Römer, aus den Armen Europas hervorgegangen,

sich auf die Verkleidung ihrer Kleider festsetzte, wo es sich im Schatten

des Göttlichen befindet, aber auch sich unverletzt bewahrt vor den

reißenden Wölfen vieler Art Häresien und Feindlichkeiten, die ihm seine

Ruhe mißgönnen, ewig siegreich es zeigend gegen diese“.

Jedoch Europa gegenüber? Die Identität mit Europa zielte nicht auf ein

politisches Projekt hin, sondern auf eine symbolische, rein konventionelle

50 Vergl. Vîrtosu: 1821... S.189, passim.51 Cronica protosinghelului Naum Râmniceanu... S.63, 65, 68.

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Page 22: Florea Ioncioaia Das Bild Europa

Gemeinschaft. Naum Râmniceanu hatte, wie auch die anderen, nicht das

Bewußtsein eines radikalen Bruchs mit der europäischen Welt und folglich

imaginierte er kein Integrationsprojekt. Keiner kannte Europa direkt. Ihre

Anschauungen drücken ein undeutliches Europa aus, das einschloß, aber

nicht trennte, wenigstens nicht in einer offensichtlichen Weise.

Der Bezug auf ein Modell „richtiger Aufklärung“ implizierte nicht auch

einen entschiedenen, freiwilligen Bruch mit dem „türkischen Europa“. Was

man von Europa erwartete sagt uns wieder B. P. Mumuleanu in seinem

Gedichtband aus dem Jahre 1822:

„Tineri, b\trîni îndemnînd

Patria s-o folosim

La izvor nou alergînd

{tiin]e s\ dobîndim.

Pild-avem pe evropei

Ast\zi s-au descoperit

Un izvor prea minunat.“

„Die Jungen die Alten ermunternd

Dem Vaterland zu dienen

Zu neuer Quelle hin zu eilen

Wissen zu erzielen.

Beispiel sind die Europäer,

Denn man fand ja nun

Eine Quelle gar so schön.“

Die Nachahmung bedeutet Achtung, aber ein Bezug dieser Art ist oftmals

eine mechanische Geste und keineswegs Ausdruck einer wahren Kenntnis

des „Modells“ sowie einer profunden Option. Welcher Welt gehörten die

Fürstentümer also an? Die Antwort erscheint gut umrissen Ende des

dritten Jahrzehnts.

Zuerst bei Dinicu Golescu, der diese Beziehung auf zwei Ebenen sah:

einerseits teilte er Europa in zwei, wobei seine Aufmerksamkeit nur dem

„aufgeklärten Europa“ gehörte; andererseits zeigte er ein akutes Gefühl

der Differenz zu diesem Europa, mit dem er sich im Idealen identifizierte

und das er nachahmen wollte, von dem er aber wußte, daß er ihm nicht

angehören konnte dank seiner fatalen kulturellen Genealogie. Er schien

fast in der Schwebe zwischen diesen irreduktiblen Bestimmungen. Als er

nach Leybach und Lublijana kam, bemerkte er: „Diesen Stadtnamen

werden weder wir, die Enkel, noch die Kinder und alle Urenkel vergessen,

denn hier entschied sich das tyrannische Joch der Christen, die zu ihrem

Unglücke im türkischen Europa wohnen.“ Er nahm als erster in den

Fürstentümern das schmerzliche Handikap der Trennung vom

„aufgeklärten Europa“ wahr, dank seiner erzwungenen Zugehörigkeit zum

22

Page 23: Florea Ioncioaia Das Bild Europa

„türkischen Europa“. Diese Wahrnehmung deutete hin auf die

Entwicklung des Europabildes von der einfachen geographischen

Perspektive zur Vorstellung eines magischen, ausschließenden

Territoriums: „das aufgeklärte Europa“ , „das andere Europa“. Von da

kamen auch „wahre Ehre und Glück“, das „sich ziemende Licht“, der

Rhythmus der Geschichte.52 Dieses Bild hatte eine tiefe politische

Bedeutung, trotz seiner kulturellen Aura, in der es auftrat.

Kaum erst wahrgenommen, wurde das Gefühl des Ausgeschlossenseins

aus dieser Welt zum Drama. „Müssen nun wir Rumänen“, fragte sich ein

naher Bekannter Dinicu Golescus, „ewig getrennt bleiben von den

aufgeklärten Völkern, getrennt von unseren europäischen Brüdern?“53

Dies war keine naive Feststellung. Die Differenz wurde vor allem als eine

Warnung und als ein Programm verkündigt. Was interessierte, war die

Zugehörigkeit zu dieser Welt. Sie drückte im Grunde genommen ein

akutes Bewußtsein von Europa aus, dabei wurde aber ein Unterschied

gemacht zwischen physischer (geographischer) Zugehörigkeit und

wirklicher, durch die Werte, die eine Gesellschaft annimmt. Dies wurde bis

spät als ein Zustand der Reifung betrachtet, der Überwindung von

Anachronismus und Juvenilismus. „Aus der Dummheit, aus der Kindheit

werden wir uns rausziehn und (...) werden vollendete und weise Männer

sein, und in einer Reihe mit den weisen, aufgeklärten und großen Völkern

Europas werden wir sein“, schrieb der Fabeldichter Dimitrie }ichindeal.54

Mit Dinicu Golescu und den Aufklärern Ende des dritten Jahrzehnts wurde

diese Art Haltung in eine Leitidee umgewandelt. Sehr klar drückte dieses

der Muntenier Grigore Ple[oianu aus in seinem Vorwort zu einer

Übersetzung aus Marmontel (1829): „Gebe Gott von nun an, daß wir die

Europäer näher befolgen, auf daß wir auch Europäer genannt werden

können auch in den Taten, nicht nur dem Namen nach“.55 Europa wurde

52 Wir beziehen uns vor allem auf die erste Bedeutung von den drei dem kulturellen Modell zugeordneten Vorstellungen, bzw. jene einer Leitidee und eines normativen Ideals, die Beispiele suggeriert, zu befolgende Wege; eines ideologischen Systems, das einheitlich, gemäß einer Grundstruktur, alle Daten seines Aktionsbereichs organisiert; eines theoretischen Schemas schließlich, das, autonom und abstrakt, gemäß seiner internen „Logik“ funktioniert. Vergl. Al. Du]u: Modele [i imagini... S.186.53 Vergl. G. Dem. Teodorescu: Viea]a [i operile lui Eufrosin Poteca. Bucure[ti 1889 S.576.54 D. }ichindeal: Filosofice[ti [i politice[ti prin moralnice înv\]\turi. Bucure[ti 1838 S.271 (Fabel 120: Înv\]\tura)55 A. Marino: Pentru Europa... S.183.

23

Page 24: Florea Ioncioaia Das Bild Europa

zum Bezugspunkt jedwelchen reformerischen Versuchs. Ausdrücke wie:

„wie es auch bei den anderen Völkern Europas befolgt wird“, „von denen,

die auch in Europa befolgt werden“ tauchten häufig auf in den Texten, die

eine Veränderung der Zustände in den Fürstentümern verlangten oder die

eine oder die andere Erfindung zu erklären versuchten.56 Denn, fragte sich

Gheorghe Asachi in der ersten Ausgabe (Juni 1829) der Albina

Româneasc\: „Wer fühlt nicht in unserem Lande das Fehlen der

Einrichtungen, durch deren Arbeit wir, so wie wir es politisch sind, auch

moralisch nützliche Mitglieder werden der europäischen Familie, deren

Strahlen der Lehre seit soviel Jahrhunderten auf unseren Horizont

scheint?“

In diesem fieberhaften und zugleich hoffnungslosen Zustand erschien die

Nachahmung wie ein messianisches Projekt, ein Pflichtgebot, eine

zivilisatorische Tat. Aus London schrieb Petrache Poenaru (wohl 1831), es

erwarte ihn nach seiner Rückkehr „eine der härtesten Arbeiten, muß ich

mich doch bemühen meinem Vaterland Dankbarkeit zu erweisen für seine

Hilfe, indem ich ihm irgendwie weitergebe von dem Lichte der zivilisierten

Nationen.“57 C. {u]u, Mitgleid der Ephorie der Schulen, verlangte 1832,

daß man sich schnellstens anschließe „diesem starken und aufgeklärten

Europa, zu dem wir geographisch gehören und das wir nachzuahmen

wünschen in den Institutionen, dem Glück, in den Wissenschaften...“.58

„Können denn wir, neben dem, was wir wissen, nicht noch einiges von

ihnen /den Europäern, Anm.F.I./ entlehnen?“, fragte sich auch Eufrosin

Poteca.59

Die Nachahmung war, bewußt oder nicht, ein Akt der Sympathie, der

Identifizierung mit dem Modell; sie war also Ausdruck eines Wunsches

nach Gleichheit, nach Anerkennung. Durch den Anschluß an Europa

erstrebten die Rumänen eine universelle Bestätigung, ein Bild zu haben

im Weltbewußtsein, akzeptiert zu werden als Subjekt der Geschichte.

Verwandt mit der Figur des Modell-Europas ist das Thema Europa als

Spiegel und höchster Richter der kollektiven Verhaltensweisen. Um das

56 E. Vîrtosu: 1821... S.164, 200, 204, 209 u. passim.57 N. Iorga: Contribu]ii la istoria literaturii române în veacul al XVIII-lea [i al XIX-lea. II. Scriitori mireni. In: AARMSLit seria a II-a t.XXVII Bucure[ti 1906 S.18f.58 V. A. Urechia: Istoria [coalelor IV S.260, apud Adrian Marino: Despre Europa... S.182.59 Vergl. Ebd. Anm. 53.

24

Page 25: Florea Ioncioaia Das Bild Europa

Jahr 1815, als er Bezug nahm auf das Verhalten eines muntensichen

Bojaren in Wien, wies Tudor Vladimirescu, der spätere Anführer der

Revolte von 1821, darauf hin, daß all „den großen Ruhm, den die

Rumänen in Europa haben, er völlig zerstört hat“.60

Das Europa, daß uns betrachtet und beurteilt erschien 1821 und in den

darauffolgenden Jahrzehnten als ein Leitmotiv. Seine Wiederbelebung

muß im Einfluß der griechischen politischen Manifeste dieser Zeit gesucht

werden, in denen Europa oft als Hauptstütze gegen die Türken erschien.61

Von der negativen Glorie der griechischen Teilnehmer an der

Hetäristenbewegung in den Fürstentümern berichteten die gleichen

Bojaren: ihre Taten seien so gravierend gewesen, daß „sie in ganz Europa

erfahren wurden“.62 Auch Naum Râmniceanu glaubte, daß letztlich die

hetäristische Aktion in den Fürstentümern Europa das wahre Gesicht der

Griechen gezeigt habe63, während Zilot Românul /der Rumäne/ C. Hangerli

beschuldigt, die Walachei in den Augen Europas kompromittiert zu haben:

„Stricase acea m\rire ce are acest

Principat

Care la toat\ Evropa e vestit [i l\

udat.“64

„Er zerstörte jenen großen Ruhm

Den Europa zumaß unsrem

Fürstentum.“

Trotzdem war Europa einziger Zeuge der rumänischen Identität:

„Rumänen sind wir, Brüder, zweifelsohne und mit gutem Beweis, die

Geschichtsbücher bestätigen uns und alle Völker Europas kennen uns!“.

Um aber integriert zu werden in seine Familie, verlangte Europa den

Rumänen jedoch ein bestimmtes Verhalten: Sein Bild suggerierte zugleich

einen Verhaltenskodex. In seinem Vorwort zu einem Buch aus dem Jahre

1822, über den Patriotismus, wandte man sich an die Patrioten der

Fürstentümer: „So wir alle einen Wunsch haben und einig sind im

Vermehren alles Guten für die ganze Gemeinschaft, sollen wir

gewünschtes Glück erreichen mit der Erhöhung des rumänischen Volkes,

auf daß es gelobt werde in ganz Europa, da wundert soviel Unsorgsamkeit

60 Tudor Vladimirescu: Scrieri. Ed. de Tudor Nedelcea. Craiova 1993 S.34.61 Vergl. Emil Vîrtosu: 1821... S.144.62 Ebd. S.123.63 Naum Râmniceanu: Scrisoarea de r\spuns a munteanului... 1987 S.29.64 B.-P. Ha[deu: Ultima cronic\ român\ din epoca fanario]ilor. Bucure[ti 1989 S.5, apud Marino: Despre Europa... S.184.

25

Page 26: Florea Ioncioaia Das Bild Europa

unsererseits!“.65 In einem ähnlichen Geiste war auch der „Aufruf zur

Vereinigung“ verfaßt, ein anonymer muntenischer Text aus dem Jahre

1822. Er drückte die Überzeugung einer Epoche aus: „Die Griechen haben

auf jede erdenkliche Weise sich stets bemüht, der Welt zu beweisen, daß

sie ein großes glanzvolles Volk sind in Europa, herstammend von den

alten Hellenen, auf daß sie hierdurch wohl auch erringen könnten die

Rechte, die andere Völker haben. Doch mußten sie lernen, daß ihr

Bemühen vergebens, und sie verstanden, daß Europa anders urteilt über

sie, die zwar ehemals ein Volk gewesen, aber in Sklaverei fallend unter

den siegreichen Waffen des Osmanischen Reiches, was sie seit fast vier

Jahrhunderten sind, hörten sie seither auf zu sein und ein Volk zu heißen,

und an ihrer Stelle kennt man die Türken in Europa als glanzvolles Volk,

so daß in allen Geographien Europas die Türkei und nicht Griechenland

gezeigt wird. Anders das Volk der Rumänen und der Moldauer, das, auch

wenn es sich unter der Herrschaft der osmanischen Pforte weiß, diese

Herrschaft selbst gefordert und akzeptiert hat, bloß zum Schutze,

gehandelt und festgesetzt in Verträgen, deshalb haben sie ihre Regierung

in eigenen Häuptern, mit bodenständigen Gesetzen und Bräuchen...(...)

Dieses gerechte Urteil Europas hat umso mehr den Groll der Griechen

gegen diese Länder der Moldau und der Walachei angefacht (...). Es ist

überflüssig uns weiter auszustrecken mit unserer Geschichte, denn was

immer wir auch sagen werden, wir sagen es für die Ohren derer, die dies

alles wissen, vielleicht gar besser als wir, und haben es heute vor ihren

Augen! Auch noch ganz Europa wird über das, was es sieht, in Staunen

versetzt!“66 Mit den folgenden Jahrzehnten wurde die Vorstellung von

Europa als unfehlbarer Zensor zum Gemeinplatz im öffentlichen

nationalen Diskurs.67

65 Naum Râmniceanu (mutmaßlich): Predoslovie la o carte despre patriotism. In Vîrtosu: 1821... S.222; einen identischen Aufruf finden wir im gleichen Jahr auch in einem anderen Vorwort (von C. Herescu) zu einer Übersetzung aus dem Griechischen eines anderen Buches über Patriotismus, danach „unser Vaterland, das ganze rumänische Volk und gesamt Europa setzen gute Zuversicht in die Person“ eines jeden Rumänen und Patrioten, vergl. Ebd. S.143ff.66 Ebd. S.192f.67 Iancu, einer der Dichter aus der Familie V\c\rescu, schrieb Ende des dritten Jahrzehnts: „Cîte curînd v\ în\l]a]i/Europa v\ prive[te“ („Wieviel bald ihr euch erhebt/Europa euch betrachtet“. Iancu V\c\rescu: Mar[ul românesc. In Poe]ii V\c\re[ti: Scrieri alese. Ed. Elena Piru. Bucure[ti 1961 S.110.

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Page 27: Florea Ioncioaia Das Bild Europa

Wie Adrian Marino feststellte, erwartete man in den Fürstentümern drei

Dinge von Europa: die Rehabilitierung nach den Jahren der Vergessenheit

während des phanariotischen Systems, Ansporn und Nachahmung seines

Modells. Andererseits aber konnten, neben diesem Stil allgemeiner

Verführung, der Gemeinschaft und des grenzenlosen Vertrauens, die

Arme und Kleider Europas, in die Naum Râmniceanu die Fürstentümer

verkörpert hatte, das Gefühl eines obskuren, geschichtsüberlasteten

Landes, in dem jeglicher Ehrgeiz ausgeschlossen ist, nicht verdrängen:

“wir, ein kleiner Staat Europas, und wie unser Land denn auch paßt neben

die Königs- und Kaiserreiche Europas!“. 68 Die „Aufholjagd“, auf die sich

die Fürstentümer begaben nach der Aufzeigung des Handikaps, das sie

Europa gegenüber hatten, zeitigte nichtsdestoweniger auch perverse

Auswirkungen. Darunter befand sich auch die Herausbildung eines

ernsthaften Komplexes der kulturellen Inferiorität und des unschuldigen

Opfers. Seine Effekte waren manchmal dramatisch, bis hin zur eigenen

Ablehnung. Dinicu Golescu erzählte begeistert (wenn auch eher, um zu

provozieren) vom Entschluß eines muntenischen Bojaren, nicht mehr

zurückzukehren in sein Geburtsland, da er es vorzog Gärtner in Wien zu

sein als Ban in der Walachei.

Parallel dazu trat das Gefühl der Ungerechtigkeit auf, mit welcher Europa

die Welt der Fürstentümer behandelte: eben der Komplex des

untadelhaften Opfers. In einem anonymen muntenischen Text aus dem

Jahre 1822 wurde die fehlende Selbstachtung der Rumänen beklagt:

„Sollte es stimmen, daß die Rumänen weniger ehrwürdig sind, als

Menschen, wie die Menschen der anderen Völker?“ Die Antwort war

natürlich eine negative. Denn, „urteilend ohne Parteinahme, welchen

Rumänen seines Standes und Rangs man auch nehme, und sei er auch

ungebildet, er ist gleich einem Europäer zu beurteilen, ja mitunter viel

besser als jeder aus Europa in der Reinheit seines Herzens, welches der

teuerste Schatz ist, der dem Menschen geschenkt worden“.69 Mit der Zeit

verwandelte sich, unter dem Einfluß eines bestimmten Rousseauismus,

sogar das Handikap des Rückstands in ein Verdienst.

68 Cronica protosinghelului Naum Râmnceanu... S.99.69 Vîrtosu: 1821... S.200.

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Page 28: Florea Ioncioaia Das Bild Europa

Das Gefühl des betrogenen Opfers ging zusammen mit dem der

Undankbarkeit. In der Korrespondenz zwischen Girgore Ghica, dem

Fürsten der Walachei nach 1821, und Ritter von Gentz, zeigte sich der

rumänische Herrscher unzufrieden mit dem Verhalten des englischen

Außenministers, Lord Strangford, etwas Unverständliches bei einem

höheren Geiste: „Je n’aurrais jamais cru que l’amour propre pourrait

encore aveugler un européen, un anglais...“.70

Den Europäern wurde dann vorgeworfen, daß sie die spezifischen

Realitäten in den Fürstentümern nicht gut genug kannten, weswegen ihre

Entscheidungen manchmal unglücklich waren. Wo er sich auf die

Verfügungen des Abkommens von Akerman (1827) zur Wahl des

Herrschers in den Fürstentümern bezog, zweifelte Ionic\ T\utul an deren

Wirksamkeit und stellte fest: „Die Europäer wissen nicht, daß unser Diwan

nichts anderes mehr als ein Gericht ist und keineswegs Leib der Nation,

wie sie es glauben“.71 Es fehlten vorläufig die späteren richtig harten

Vorwürfe, was die gleichgültige Haltung Europas den Fürstentümern

gegenüber betraf.

Europa war, voller Versprechungen, der Garten der Köstlichkeiten wie

auch der unermeßlichen Freiheit. „Erhielten sie irgendeines der guten

Geschenke Europas?“, fragte der oltenische Bojare N. Glogoveanu einen

Hermannstädter Lehrer (wohl 1827), „denn Europa wahrhaftig hat viel

Gutes, das leicht zu lernen ist, aber für die tüchtig und strebsam sind;

aber das gleiche hat auch viele, ungezählte Mängel, für die faul sind und

hingezogen zur Ausschweifung“.72

Ebenfalls eine Gefahr stellt natürlich auch die rein mechanische

Nachahmung dar. Die Warnung davor finden wir ziemlich früh schon in

den verschiedenen moralisierenden Aussagen aus den kirchlichen oder

intellektuellen Kreisen.73 Für die hier abgesteckte Zeitspanne haben wir

auf jeden Fall keinen artikulierten Diskurs der Ablehnung Europas in

70 Vlad Georgescu: Din coresponden]a... S.110.71 Ionic\ T\utu: Scrieri social-politice... S.267.72 N. Iorga: Contribu]ii... S.47.73 Dinicu Golescu, der einen „Schrei“ der Entrüstung Eufrosin Potecas wiedergibt hinsichtlich der Weise der rumänischen Elite sich zu kleiden, verweist darauf, „daß Tuch in ganz Europa die Komödianten tragen“, keineswegs die hohen Persönlichkeiten. Dinicu Golescu: Însemnare a c\l\toriei mele...S.36. Einige Reaktionen siehe auch bei Pompiliu Eliade: Histoire de l’esprit public... S.51 u. passim.

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Page 29: Florea Ioncioaia Das Bild Europa

seiner vorherrschenden Bedeutung als Modell, als Bezugs-Welt. Es gab

kein satanisches Europa. Sicher, die Begeisterung und die Zustimmung

für die Europa-Mythologie waren keineswegs allgemein. Trotzdem

schafften die negativen Reaktionen kein Gegen-Bild oder höchstens erst

in den Jahrzehnten vier und fünf. Vorläufig trat die Negation bloß klein

auf, indem Europa als ein Ort der Moden (des Ephemeren), der

Unordnung oder der Revolution dargestellt wurde. Naum Râmniceanu

warf Europa die häretische Versuchung oder gar die atheistische vor und

sprach vom „Abgrund der Häresien des Abendlandes“, als Folge des

Einflusses „Satans und der Entfremdung der Häretiker vom Wege der

Wahrheit“, bzw. die katholische Dissidenz, die protestantischen Wellen

und vor allem der Atheismus, ein neues Phänomen, daß er in Frankreich

identifizierte.74 Dabei ging es aber nicht um einen Versuch der

Kulpabilisierung.

Ein natürliches Gefühl der Vorsicht war auch hier präsent, vor allem was

die Annahme von politischen Institutionen betraf. Die vergleichende

Lektüre der geopolitischen Realität veranlaßte T\utul dazu, festzustellen,

daß eine Übernahme tale quale der europäischen Institutionen in den

Fürstentümern nicht möglich sei. „Die Nachbarschaft Rußlands,

Österreichs, der Türkei kann nicht die gleichen Dinge annehmen, die in

Amerika, in England, in Frankreich eingerichtet werden können.“75

Obwohl es nicht zu einer umfassenden Auseinandersetzung zu diesem

Thema kam, kann man feststellen, daß das Bild Europas zu einer

Spannung in den Kollektivvorstellungen führte, daß es ideologische Klüfte

und unterschiedliche kulturelle Etagen aufzeigte oder schaffte. Das

Interesse für die europäische Welt, die existierende intellektuelle Öffnung

und die Vorstellungskraft lassen auf drei Vorstellungsklassen schließen:

eine der spontan-traditionalistischen Wahrnehmung und Vorstellung; eine

pragmatischere, ausgearbeitete, die wir in den Kreisen der

Führungsklasse antreffen; und eine dritte, die wir „liberal-europäisierend“

heißen könnten und die wir bei einer heterogenen, zahlenmäßig relativ

kleinen, aber intellektuell dominanten sozialen Kategorie finden,

bestehend aus den Vertretern einer späten Aufklärung, die offen und

74 Cronica protosinghelului Naum Râmniceanu... S.66-77, 100 u. 101.75 Vergl. den Brief an Ilie Ilschi (August 1829), in I. T\utu: Scrieri... S.262.

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Page 30: Florea Ioncioaia Das Bild Europa

relativ bewußt einen militanten Europäismus praktizierten. Diese

Taxonomie hatte keine festen Grenzen und drückte nicht immer

verschiedene politische Anschauungen aus, wenngleich sie auch mitunter

entgegengesetzte Projekte generierte.

Die erste Klasse kennzeichnete ein konservativer Ton, geprägt von

ewigen Überzeugungen. Vertreten ward sie von einer verspäteten

Chronistik und kam aus den Kreisen des niederen Klerus, der Kleinbojaren

aus der Provinz oder aus der obskuren Schicht der Städter (Kaufleute,

Beamte, etc.). Das Interesse an Europa war konjunkturell. Der Horizont

dieser Anschauung war konzentrisch, selten freiwillig ausgerichtet, und

die Wahrnehumng intuitiv, epidermal, so daß Europa in den meisten

Fällen als ein zufälliger und ungenauer Bezugspunkt erschien: ein

nebulöser Hintergrund, der die Fürstentümer sowohl ein- als auch

ausschloß. Dieser Wahrnehmung entsprach im allgemeinen eine anti-

katholische, pro-russische und pan-orthodoxe Haltung.76

Innerhalb dieser Klasse wurde Europa gewöhnlich mit der nicht-

osmanischen Welt identifiziert. Dabei war die dominante Eigenschaft die,

eine Art Substitut der Idee von Welt schlechthin zu sein. Selten

repräsentierte Europa einen wahren axiologischen Bezugspunkt. Zu den

herausragendsten Vertretern dieser Anschauung gehörte Dionisie

Eclesiarhul, der seine Chronik Mitte des 18. Jahrhunderts begann und

1815 abschloß. Sein Europa war eines der Kaiser und Könige, die

Schlüssel-Personen seiner geopolitischen Vision. Das Interesse an den

internationalen Beziehungen bestand vor allem wegen der Französischen

Revolution und der Verwicklung Rußlands in den dadurch entstandenen

europäischen Konflikt. Gleich der Geschichte im allgemeinen erschienen

die napoleonischen Kriege als Konflikte zwischen Kaisern, zwischen den

Exzessen des menschlichen Stolzes und dem strengen göttlichen Urteil.

Über Napoleons Kampagne in Rußland und die Gründe der Niederlage

schrieb Dionisie Eclesiarhul: „denn zu hoch hinaus haben sie sich in ihrem

Stolz gehoben, da sie dachten, ganz Europa zu unterwerfen. Und Gott, der

die Mächtigen von ihren Thronen holt, wird auch ihn herunterholen, um 76 Wir beziehen uns hier auf eine relativ homogene Kategorie von Texten, zusammengesetzt aus den von Ilie Corfus edierten Chroniken, aus Dionisie Eclesiarhuls Chronik, den Chroniken und Pamphleten Naum Râmniceanus, den Briefen Tudor Vladimirescus.

30

Page 31: Florea Ioncioaia Das Bild Europa

seinen Stolz zu brechen“.77 Er war der letzte aus seiner Zeit, der den

Begriff Abendland noch in seiner traditionellen Bedeutung verwendete, für

die nicht-osmanische, aber auch nicht-orthodoxe Welt, obwohl manchmal,

wohl aus einem Fehler heraus, Rußland auch zum Abendland gerechnet

wurde. Er rezipierte Europa passiv und unmittelbar, ohne zu versuchen,

es sich vorzustellen oder zu erklären.

Tudor Vladimirescu, der zukünftige Protagonist der Ereignisse des Jahres

1821 in den Fürstentümern, hatte als einer der ersten eine Anschauung,

die in direkter Verbindung zur europäischen Welt stand, wenn auch

ebenfalls in postmittelalterlicher Manier. Er hatte die Gelegenheit,

mehrere Monate in Wien zu weilen, verstand aber, stets auf dem Rückzug,

diese ihm allzu wenig vertraute Welt nicht, obwohl er manchmal deren

Verdienste anzuerkennen schien. Erbittert über den österreichischen

Justizvollzug, der ihn in Wien zurückhielt, beklagte er in einem Brief (Juni

1814) „die Gerichtsverhandlungen der Europäer, die sich Jahre

hinausziehn“ und hoffte so bald wie möglich diesem „teuflischen

Verfahren“ zu entkommen. Für ihn war Europa ein Raum der Frivolität, wo

die Kleidung „sich jeden Tag ändert“, der Bürokratie und der

Formalitäten.78 Gleich vielen seiner Zeitgenossen, suchte auch Tudor

Vladimirescu die Ähnlichkeit und selten die Differenz: Die Alterität hatte

keine didaktische Funktion, sondern eher eine opressive. Was ihn von

dieser Welt trennte, schien ihm nicht immer wert, in seinem Land

wiedergegeben zu werden.

Eine betont autochthon ausgerichtete Anschauung finden wir in der

Cronica Androne[tilor: Es ist dies eine Folge von fast täglichen

Aufzeichnungen einer Familie muntenischer Kleinbojaren, die Ende des

18. Jahrhunderts und in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts

gemacht wurden.79 In diesen Aufzeichnungen, darunter einige besonders

ewigkeitslastig sind, erschien Europa diffus, als Echo einer exotischen

Welt. Als es um die Bestrafung einer Frau ging, die ihren Mann

umgebracht hatte, beschrieb Grigore Andronescu die unerhörte und

77 Dionisie Ecclesiarhul: Hronograf... S.111.78 Tudor Vladimirescu: Scrieri... S.24, 26 für den Brief vom Juli 1814, passim für den Rest der Korrespondenz der Jahre 1814-1815.79 Es geht um {erban Andronescu und seinen Sohn Grigore: Însemn\rile Androne[tilor. Hrsg. u. eingel. von Ilie Corfus. Bucure[ti 1947.

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Page 32: Florea Ioncioaia Das Bild Europa

grauenhafte Weise, in der dies geschah, „so, wie man es hier noch nie

gesehen, eine europäische Sache“ (die Aufzeichnung ist aus dem Jahre

1832); er erwähnte die Änderung der Uniform der walachischen

Miliz/Armee in den 30er Jahren, die „europäisch“ wurde, und übernahm

die Meinung eines türkischen Würdenträgers, der 1834 in Bukarest weilte,

derzufolge „es sich nun gehöre, daß von nun an die asiatischen

Zeremonien ausbleiben“ aus dem öffentlichen Leben der Fürstentümer.

Die Informationen Grigore Andronescus zu Europa nahmen zu im vierten

und fünften Jahrzehnt, vor allem auf frankophoner Linie (Frankreich

verkörperte nun das Bild Europas), aber seine Sicht erschien eher

abweisend: „Heute, am 20. April 1838, als ich die rumänische Zeitung

las“, notierte er ironisch, „sah ich diese Statistik für Frankreich, zur

Erinnerung daran, was für tüchtige Menschen sie sind, von denen man

sagt, sie seien ein aufgeklärtes Volk...“. In der vom Autor

wiedergegebenen Statistik ging es um die ehelichen Beziehungen in der

französischen Gesellschaft: Das Fazit war kein günstiges. Sein

moralisierend europakritischer Kommentar: „Was sollen denn wir sagen,

die Unwissenden, wie uns die Europäer heißen, wenn bis heute doch sich

noch hält zwischen uns diese Ruhe?!“

Europa blieb für Grigore Andronescu der gleiche Raum außerhalb der

osmanischen Welt, wohin Fürst Milos von Serbien „aus Angst flüchtet“, da

ihn die Türken der Revolte verdächtigten (Aufzeichnung a. d. J. 1841). Es

war die Vorstellung eines mehr intuierten denn gekannten Territoriums.

Etwa 1842 sprach Grigore Andronescu von Europa als von irgendeinem

geographischen Ort (er erwähnte gewisse Flugblätter gegen den

damaligen muntenischen Fürsten Gheorghe Bibescu, in denen es hieß,

dieser habe seine Gattin „in Europa, im Irrenpensionat“ gelassen), der,

wenn auch relativ vertraut, doch eine fremde Welt blieb.

Noch radikaler war die Vorstellung des Handwerkers Ioan Dobrescu, Autor

einer Chronik aus dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts. Er warf den

Ideen und Vorbildern, die von überallher kamen, einschließlich aus dem

westlichen Europa, vor, Gottes Zorn und des Landes Katastrophe

herbeigerufen zu haben.80 Ioan Dobrescu war ein Gegner der

80 Vergl. Ilie Corfus: Cronica me[te[ugarului Ioan Dobrescu (1802-1830). Bucure[ti 1966 S.33f., 67 u. passim.

32

Page 33: Florea Ioncioaia Das Bild Europa

Erneuerungen, seien es moralische, seien es auch „technologische“. Er

sah in ihnen die Zeichen Satans: „Erst waren die Häuser in Holz gekleidet,

dann haben wir sie in Eisen gekleidet... Dann kam die grausame

Hungersnot. Und wir gaben uns immer noch nicht Rechenschaft. Ewig die

Angst in der Brust, hat nicht viel gefehlt, daß uns die Heiden unterwerfen.

Ja, und dann? Die Weiber mit entblößten Häuptern* /*die verheirateten

Frauen durften laut Brauch nicht mit entblößtem Kopf gesehen werden!/

und mit geschnittenen Haaren, frei bis zu den Hüften. Die Leute gaben

ihre Tracht auf und nahmen eine fremde an, wie die Heiden, einige die

französische, andere sonstwas, mit geschnittenem Haar, mit Locken wie

die Weiber. Dann vermengten wir uns mit ihnen, und die beschlagensten

lernten ihre Bücher, einige französisch, andere deutsch, andere

italienisch. Und es drang ein die Lehre Voltärs, der von Gott gehaßte, den

sie, die Heiden, wie einen Gott hielten. Und die heiligen Fasten achteten

sie nicht mehr. Immer Fleisch bei Tisch. In die Kirche gingen wir alswie zu

einer Schau, ein jeder mit seinen besten Kleidern, die Weiber mit vielerart

teuflischem Schmucke, und nicht traten wir ein in die Kirche mit

Gottesfurcht, um für unsere Sünden zu beten. Kurz gesagt, der Stolz hatte

seinen Thron nach Bukarest gestellt. Wir glaubten nicht an Gott, nur an

Mauern, Kleider, an Betrügereien, an gutes Essen, an Trinkgelage und

insbesondere an die Heuchelei. Dies hatten wir allgemein zur Gewohnheit

gemacht. Und unsere Größten mit den Intrigen, daß es nicht mehr

auszuhalten war, und nicht nur der weltliche Teil, sondern auch der

geistliche. Dabei sind all diese nur der Heiden, denn sie sind ohne

Hoffnung, und nicht aber unser, der Christen. Wir müssen demütig sein,

denn für die Demut kommen uns solche Nöte.“

Die Katastrophen (Kriege, Erdbeben, Feuersbrünste, etc.) waren in dieser

Vorstellung nichts als Zeichen der göttlichen Erbitterung, infolge der

Nachahmung einer fremden Zivilisation. Trotzdem war Dobrescu ein

treuer Spiegel für die Zwangslagen, in denen sich seine Welt befand. Die

„europäischen“ Erneuerungen wurden akzeptiert, wenn sie die Erlaubnis

der Autoritäten hatten, sei es die Patriarchie in Konstantinopel, sei es die

Pforte. Sie begannen aber mit dem Ende des dritten Jahrzehnts zu fast

normalen Gesten zu werden. „Und sie machten (...) also ein reguläres

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Page 34: Florea Ioncioaia Das Bild Europa

Heer mit Musterung, wie die Europäer“, schrieb er 1826 über die

Janitscharenreform in der osmanischen Armee. Dies zeigt, wie sehr sich

der westliche Bezug durchgesetzt hatte in der gemeinsamen Kultur der

Fürstentümer.

Einen Diskurs der Übergangszeit von der postmittelalterlichen Perspektive

zu einer europäischen Vision finden wir bei Naum Râmniceanu. Diesem

niederen Kleriker, mit einer eher konservativen Einstellung, verdanken wir

für den Anfang des 19. Jahrhunderts die vollständigste Vorstellung von

Europa. Es ist eine märchenhafte Wahrnehmung, aber voller

Ausdruckskraft und Sympathie.81

Für Naum Râmniceanu hatte Europa eine originäre Einheit, denn fast alle

seine Völker stammen aus „dem Geschlechte Jafets“, dem biblischen

Ahnherrn, ausgenommen - und dies war bezeichnend für sein allgemeines

Denken - die Türken, die Juden und die Griechen. Gott-Vater selbst habe

seine Zustimmung für die Bevölkerung des Kontinents durch dieses

Geschlecht gegeben. Ein Kontinent, der nicht zufällig ganz christlich war -

mit den erwähnten Ausnahmen.

In Kapitel 9 seiner Cronica bemerkte er, daß „die Herzen, welche Europa

zu kennen wünschen, auch seine Grenzen zu wissen haben“. Diese waren:

im Osten die Ägäis, der Bosforus, das Schwarze Meer, die Donmündung

(„welche Asien von Europa trennt durch das Russenland“) und das Weiße

Meer, „wodurch Asien von Europa getrennt wird“; im Süden, „das innere

Meer“, also das Mittelmeer, Gibraltar und der „atlantische Ozean“, der

sich auch gen Westen erstreckt; im Norden, begrenzt Europa „das

gefrorene Meer“. Interessant war seine Vorstellung, was „die Länder, die

jeweils am Rande Europas liegen“, betrifft, bzw. „im Westen Spanien, im

Norden Frankreich, Deutschland und Sarmatien; im Süden Hellas (...),

Italien, die Lombardei; im Osten Konstantinopel mit seinen Provinzen, und

in der Mitte Illyrien, Dakien, Pannonien.“

Nach der Festlegung der Grenzen, gab er das allegorische Bild Europas

wieder, angeregt von den „neuesten Geographien“: „sehr schön,

vorzustellen als eine Frau, die auf einem Stuhl sitzt, deren Kopf Spanien 81 Naum Râmniceanu werden mehrere, zu verschiedenen Zeitpunkten geschriebene Texte zugesprochen; unser Interesse gilt seiner Chronik vom Anfang des Jahrhunderts, sowie den militanten Texten vom Anfang der 20er Jahre. Vergl. Cronica inedit\ ...S.67f., 85, passim; Coresponden]a Moldoveanului cu... S.21-128.

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Page 35: Florea Ioncioaia Das Bild Europa

ist, Hals das äußere Frankreich, als ein Teil der sich unter den Pyrenäen

erstreckt, Brust - Frankreich selbst, Arme - Italien und die Bretagne, Bauch

- Deutschland, Nabel - Böhmen, und der restliche Körper, der sich mit

langen Kleidern bedeckt rund um den Stuhl, ist Norwegen, Dänemark,

Schweden, Finnland, Livland, Litauen, Preußen, Polen, Ungarn und

Slawonien, Kroatien, Dalmatien, Rumelien, Serbien, Bulgarien,

Siebenbürgen, die Walachei, die Moldau, usw..“

Was die politische Organisierung Europas betrifft, zeigte Naum

Râmniceanu die gleiche vorwiegend mittelalterliche Auffassung: „Europa

teilt sich nicht nur in Arten von Provinzen und Länder auf, sondern auch in

Arten von Kaiserreichen, Königreichen und Herzogtümern. Also zählen die

Geographen in Europa drei Kaiserreiche, zehn Königreiche und 11

Herzogtümer.“ Seine Vorstellung war manchmal nebulös, drückte aber

das geopolitische Bewußtsein seiner Zeit relativ genau aus: „Im Osten

befindet sich Konstantinopel; im Westen, der Cäsar Roms, der jetzt der

deutsche Kaiser ist, und woher der Nordost weht, das Russenreich“. In

dieser seiner Hierarchie folgten dann die Königreiche („Portugals,

Spaniens, der Franzosen, der Engländer, der Polen, Brandenburg,

Dänemarks, Schwedens, Pommerns und der Ungarn“), die italienischen

und deutschen Herzogtümer, sowie auch die „anderen kleinen

Herzogtümer und Fürstentümer“, die er nicht mehr erwähnte, da sie

„Sache der Geographen“. Vier große linguistische Familien (hellenische,

lateinische, germanische und slawische) bevölkerten diesen Kontinent,

sowie auch drei „Gesetze“ (Religionen), resp. jene „der Christen, der

Juden und der Türken“, wobei er hinzufügte die häretischen Tendenzen

(die Arianer, die Katholiken, die Calvinisten, die Lutheraner und die

Unierten), „die Götzendiener, und schließlich die völlig gottlosen (die

Atheisten), an deren Spitze sich unlängst die Freimaurer gesetzt haben

und ihre Lehrer, die Franzosen...“. Diesen gegenüber war Naum

Râmniceanu sehr streng, „denn alleine werden sie nie aus der Grube

steigen können, in die sie gefallen sind, wofür zu schreiben ein ganzes

Leben nicht reicht, reich, wie das Wort ist“.

Die Beschreibung „der Geschenke der Erde Europas“ bot ihm Gelegenheit

zu einer wahren Lobrede: „Europa unterscheidet sich den Geographen

35

Page 36: Florea Ioncioaia Das Bild Europa

zufolge viel von anderen Teilen der Welt, sowohl durch die Schönheit der

Landschaften, als auch durch die gut passende Luft und durch die große

Angemessenheit der Bauten. Desgleichen überwältigt auch seine

unzählige Menge von Menschen, bei denen stets die natürlichen Gaben

geglänzt haben, in den guten Sitten, in der Kenntnis der Lehren, in der

Geschicklichkeit der Waffen, und in allen nützlichen Dingen im Leben der

Menschen. Man hat in Europa fast alle Handwerke erfunden, und mehr

noch verdienen großes Lob - die Schiffsflotten und der Kompaß, der mit

seinem Finger die Geistesschärfe der Europäer anzeigt; den Druck erfand

man 1440 nach Christus, das Schießpulver von einem gewissen Berthold

im Jahre 1390, wie auch jene Werkzeuge für den Krieg“. Livresk und

positiv, scheint sein Bild von Europa inkompatibel mit seiner Vorstellung

aus den 20er Jahren.

Ohne verschieden zu sein, war das Bild Europas, so wie es in den Texten

der politischen Klasse der Fürstentümer erschien, weitaus weniger

plastisch; oft zweideutig, aber aktiver. Wir wurden auf zwei Arten von

politischen Texten aufmerksam. Eine Kategorie drückt eine direkte

reformerische Haltung aus (Projekte, Denkschriften, etc., also Texte, die

vor allem an die Großmächte gerichtet waren - an Rußland, Österreich,

die Türkei, oder an europäische Mächte - vor allem das napoleonische

Frankreich); eine andere Kategorie stellen die narrativen Texte dar,

geschrieben von jenen, die die politische Entscheidung hatten in den

Fürstentümern (Pamphlete, Briefe, etc.).

Desgleichen haben wir dieser Wahrnehmung entsprechend zwei

imagologische Ebenen: zuerst die Vorstellung einer fremden und

exotischen Welt, ohne eine klare Physiognomie, oder höchstens als ein

einfacher Bezugsraum, dem ein besonderer ideologischer Wert fehlte;

dann jene, auf der Europa als eine Bühne der Politik gesehen wurde, als

der Ort, woher die politischen Einflüsse, die Ideen und manchmal, vage,

Zeichen der Solidarität kamen. In beiden Fällen ging es nicht um

ausgefeilte Anschauungen. Man kann trotzdem eine Entwicklung

feststellen von den Texten, die zwischen 1802 und 1807 an Napoleon

gerichtet wurden, in denen Frankreich als eine Gegenmacht zu jener der

Türkei und Rußlands - die beiden obsessiven Bezugspunkte der

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politischen Vorstellungen der Rumänen zu jener Zeit - gesehen wurde,

also streng als Machtzentrum, zu der Vorstellung von Europa als Raum

einer politischen Norm, der Vernunft, der Ideen und der öffentlichen

Meinung, Eigenschaften, die diese Welt stark unterschieden vom

osmanischen, russischen oder auch österreichischen Raum. Neben diesen

Vorstellungen erschien - in einer sehr instabilen Welt - oftmals das Bild

Europas als Asyl für die oft bedrohte politische Klasse der Fürstentümer.

Wenn wir uns bloß auf die politischen Texte der ersten beiden

bodenständigen Herrscher beziehen - Ioni]\ Sandu Sturdza und Grigore

Ghica -, die in der Moldau und in der Walachei zwischen 1822 und 1828

herrschten, bezeugen ihre Korrespondenz und ihre wichtigsten

Handlungen ein wachsendes Interesse am europäischen Kontinent und an

der abendländischen Welt, ohne sich aber als Versuch einer Annäherung

oder allzu herausfordernder Sympathie zu kristallisieren, vor allem, da

auch der politische Rahmen, in dem sie agierten, dies nicht erlaubte.82

Wie auch sein Vorgänger, der phanariotische Fürst Gheorghe Caragea

(1812-1818), hatte vor allem Grigore Ghica einen privaten

Korrespondenten in Wien - den berühmten Ritter von Gentz, der ihn

informierte (wenn auch auf Geheiß der Pforte) über die diplomatische

Aktualität in Europa.83

Das Europa Grigore Ghicas erschien als ein ambivalentes Territorium:

einerseits als ein Machtzentrum, von dem man immer mehr

Unterstützung erhoffte, als ein ideologischer Leitfaden, andererseits als

eine Welt, die verschieden war von jener, zu der die Fürstentümer

gehörten, die also bestimmte Handlungen inspirieren konnte, aber zu

verschieden war, um nachgeahmt zu werden. Im allgemeinen bestand für

Grigore Ghica Europa aus den Großmächten, vor allem Westeuropa und

insbesondere die Heilige Allianz, zu der England natürlich hinzukam. Er

suchte ein konservatives Europa der Ordnung, in das er fast unbewußt

auch Rußland einfügte, aber auch ein Europa der Zeitungen und der

öffentlichen Meinung, verstanden in seiner Art, vor allem aber ein Europa

der Harmonie und der Vernunftpolitik, ein natürliches Echo eines tiefen

82 Vergl. I. C. Filitti: Coresponden]a domnilor ][i boierilor români cu Metternich [i cu Gentz între anii 1812-1828. In: AARMSLit T.XXXVI Bucure[ti 1914.83 Vergl. Vlad Georgescu: Din coresponden]a... passim.

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Verlangens nach Sicherheit. Als Wiege der Zivilisation warf er dem

politischen Europa oft die fehlende Handlungseinheit vor, Rußland oder

der Türkei gegenüber, wie auch seine Verletzbarkeit infolge der Naivität

der europäischen Politiker. Trotzdem war Europa für ihn eine reale Welt.

Er war auf dem laufenden mit der gesamten europäischen Problematik,

da er die wichtigsten Gazetten der Zeit abonniert hatte. Es war

offensichtlich, daß Ghica, trotz seiner gespaltenen Vorstellungen, nicht

mehr das tiefe Bewußtsein der Zugehörigkeit zur osmanischen Welt hatte,

wie das bei Ioan Caragea noch zu spüren war.84 Im Gegenteil, er zeigte oft

ein klares Bewußtsein seiner Gemeinschaft mit der „untrennbaren

Familie“ der europäischen Völker. Als er sich im März 1827 auf die

griechische Revolte bezog, warnte der walachische Fürst: „Le feu brűle

pas en Amerique, il est en Europe et la situation physique des pays agités

est telle, que tôt ou tard elle peut sans qu’on s’en aperçoive amener des

complications.“85

Grigore Ghicas Vorstellung von Europa war also eine ausschließlich

politisch geprägte. Er zeigte Interesse für jedes europäische Problem, das

Auswirkungen auf sein Land haben könnte: der griechische Aufstand, die

spanische Krise, die potugiesische Frage, die russisch-ösetrreichischen

Beziehungen, etc., aber auch für banale Ereignisse wie die

Überschwemmungen in Frankreich oder Deutschland. Denn, wie er in

einem Brief vom März 1824 bemerkte, „aucune affaire ne peut ętre

discutée en Europe sans attirer plus ou moins l’attention générale...“.

Vorläufig war er daran interessiert, auf dem laufenden zu sein mit der

diplomatischen Aktualität Europas, und weniger daran, ein explizites

europäisches Engagement zu definieren.

Spektakulärer und deswegen auch täuschender, da er oft als dominante

Tendenz gewertet wurde, erschien der europäische Diskurs.

Charakteristisch für diese Aussagen war der gemeinsame Wunsch, die

europäische Welt zu kennen und zu beschreiben, vor allem aber, die

Fürstentümer innerhalb eines gemeinsamen Projekts vorzustellen.

Vertreten wurde die Anschauung, daß ein Modernisierugsprojekt als

84 Siehe die Korrespondenz Carageas ,aus dem Jahre 1814, mit Metternich in I. C. Filitti: Coresponden]a domnilor... S.941, 984f.85 Vlad Georgescu: Din coresponden]a S.163.

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Grundlage eine Nachahmung der „Leistungsmodelle“, die sich im Westen

bereits behauptet hatten, haben mußte, bzw. das aufgeklärte Europa.

Exklusiv von der abendländischen Kultur vertreten, begann dieses Europa

der Aufklärung mit Kronstadt (Bra[ov) und schloß Rußland, Polen, den

Norden und den extremen Süden (Spanien oder Sizilien, etc.) aus.

Zeugnisse der Sympathie und der Annäherung an die europäische Welt

finden wir in leicht obskurer Form bei verschiedenen Autoren, bereits zu

Beginn der abgesteckten Zeitspanne, aber nur sporadisch und ohne eine

artikulierte Aussage zu bilden. Naum Râmniceanu war der früheste

Ausdruck dieser Anschauung, gefolgt von der intellektuellen „Generation“

des Augenblicks 1821. Der exemplarische Fall für die gesamte

rumänische Kultur des 19. Jahrhunderts blieb Dinicu Golescu. Seine

berühmte Însemnare a c\l\toriei mele... /Aufzeichnung meiner Reise.../,

erschienen 1826, die in staunendem und ekstatischem Ton die

„Expedition“ eines gebildeten Bojaren aus den Fürstentümern ins

westliche Europa und den Kontakt mit dieser Welt beschreibt, nimmt in

der rumänischen Kultur den Stellenwert eines grundlagenstiftenden

Werks ein.

Mit Dinicu Golescu fand eine wahre Translation von Europa als Welt, als

überlegene Zivilisation, zu Europa als Semnifikant eines ideologischen

Projekts statt. Selbst die Idee seiner märchenhaften Reise verdanken wir

dem Beispiel der unzähligen „umfassenden Reisebücher der Europäer“,

davon „Europa voll ist, wie auch von anderem“.

In seinem Text kreierte Golescu das Bild eines absoluten Europas, als

Modell administrativer, politischer und technologischer Effizienz, aber

auch als Modell gesellschaftlicher Beziehungen, der Förderung der

kollektiven Identität sowie seiner Werte etc. Er beschrieb nicht einfach: Er

verglich, inszenierte die Differenz. „Welch ein Unterschied zu uns...“

wiederholte er oft. Der Vergleich entmutigte ihn: „Ein sehr tüchtiger,

gottesfürchtiger Bojare sagte mir, daß er zufriedener ist, Gärtner in

diesem Garten zu sein, als Ban und hoher Beamter, zweite Person der

administrativen Hierarchie des muntenischen Staates in der

nichtswürdigen Walachei. Wie sehr hat mir dies gefallen!“

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Wie man gleich bemerkt, war Dinicu Golescu nicht an und für sich

interessiert, Reiseerinnerungen zu schreiben. Für den muntenischen

Bojaren war die Reise eine Öffnung gegenüber „dem Raum der

verwirklichten Utopie“, und das war das aufgeklärte Europa. Er verglich,

suchte Zeichen des Unterschieds, um eine Vorstellung zu schaffen. Als

Anhänger eines westeuropazentrierten Schemas war er nicht daran

interessiert, eine Lobrede auf die besuchte Welt zu halten, sondern,

indem er als Beispiel „das wahre Glück dieser Völker“ nahm, seiner

Heimat ein „Zukunfts“-Projekt zu bieten. Im Namen dieser Zukunft negiert

er die „Gegenwart“, in der sein Vaterland sich befand und die er für einen

Anachronismus hielt. Die kulturelle Differenz zwischen den beiden Welten

bestand also in einer temporalen Beziehung: in der Desynchronie.

Gleichzeitig schlug der muntenische Bojare ein Verhaltensmodell vor als

Bedingung für den Zugang zur geschichtlichen Zeit der Welt. Folglich war

das, was Dinicu Golescu offenlegte, der durch den Kontakt mit einer

bemerkenswerten und verschiedenen Zivilisation hervorgerufene Schock,

aber statt eines erschreckten Rückzugs proklamierte er das Pflichtgebot

der Identität mit dieser Zivilisation, durch Nachahmung und Annahme

einer rationalen Politik.

Neben Dinicu Golescu, waren es noch Barbu Paris Mumuleanu, Eufrosin

Poteca, Petrache Poenaru, die ein Bild des aufgeklärten Europas im

öffentlichen Diskurs durchsetzten. Ihre Aussagen haben eine stark

utopische Anfärbung, aber sie müssen in ihrem normativen,

programmatischen, sogar provozierenden Wert verstanden werden, als

Mittel eines intellektuellen und reformerischen Diskurses. Sowohl die

Ermutigungen, als auch die Gesten Dinicu Golescus fanden einige

Versuche pragmatischer Projektion in der Epoche. Die Aufklärung und die

europäische Aussage waren fast synonym.

Schlußfolgerungen

Der Fall Golescu hinterläßt ein Dilemma: Ging es tatsächlich um eine

„Entdeckung“ Europas, durch seine unmittelbare Erforschung, oder erfand

der walachische Bojare es bloß, unter dem Vorwand einer Reise, zum

Gebrauch seiner Landsleute? War der Kontaktschock real oder gespielt?

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Eine eindeutige Antwort kann nicht gegeben werden. Die „Entdeckung“,

bzw. die absolute Neuheit war gewissermaßen ein simulierter Akt, dazu

bestimmt, die Distanz zwischen den beiden Welten zu dramatisieren. Es

ist gewiß, daß die Informationen über Europas Wirklichkeit in dieser

Epoche zirkulierten. Die Erfindung erscheint sowohl ungewollt, aus

Informations- oder aus Erklärungsnot, als auch gewollt, aus ideologischer

Notwendigkeit. Es darf nicht ignoriert werden, daß lange Zeit die

Vorstellung von Europa durch Kolportageliteratur vermittelt wurde. Das

Kennenlernen, die Entdeckung geschah eingangs mittels der Imagination.

Die Schärfe dieser Wahrnehmung war direkt proportional mit der

Intensität ihrer ideologischen Motivation. Das Imaginäre war in diesem

Fall nicht unschuldig, und Dinicu Golescu kein isolierter Fall seiner Zeit.

Trotzdem müssen, wenn wir von dieser kulturellen „Erfindung“ des

aufgeklärten Europas sprechen, diese beiden historiographischen

Klischees berichtigt werden: Wir befinden uns nicht vor einem kollektiven

und die Epoche dominierenden Gefühl, sondern vor einem Produkt des

dritten Jahrzehnts der aufgeklärten Elite, die selbst kein so großes

Gewicht hatte; andererseits ging es oft nicht um einen freiwilligen Akt,

sondern um eine diffuse Mode, um die Sensibilität einer Antwort auf die

geschichtliche Herausforderung der Zeit. Der Begriff Erfindung bezieht

sich auf eine Praxis der kollektiven Vorstellung, die Realität durch ein

Raster zu sehen, das außerhalb seines Diskurshorizonts herstammt, sei es

nun ein religiöses, ein politisches usw.

Welches ist im Grunde genommen die Kraft eines Bildes, wodurch wird es

eine historische Tatsache? Eine Vorstellung wird zur kollektiven Geste

bloß dann, wenn sie sich als Kolportagethema instituiert, wenn sie von

einer intellektuellen Richtung vereinnahmt wird. Die Quellen, die eine

Bildaussage hervorbrachten, waren fast ausnahmslos einzelne Individuen:

Chronisten, Kleriker, aufgeklärte Politiker, aber sie repräsentierten, wie

wir gesehen haben, kulturelle Typologien. Ihr Impakt in der Epoche muß

mit großer Vorsicht gesehen, darf aber auf keinen Fall ignoriert werden.

Man kann feststellen, daß, von einer einfachen Erwähnung, die vielleicht

unbewußt erfolgte und einen konventionellen geographischen oder

kulturellen Bezug herstellte, sich die Vorstellung mit der Zeit zu einem

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fast magischen, wenn auch noch diffusen Bild entwickelte, wenigstens bis

1821. Es ist interessant, daß das Bild Europas besser ausgeprägt schien in

der Walachei als in der Moldau, falls dies nicht eine Täuschung ist, dank

der fehlenden Homogenität der zugänglichen Quellen.

Das Bild Europas verband sich mit einer bestimmten Raum- und

Zeitvorstellung. Wir haben also, in den spontanen Vorstellungen, einen

Raum des Bizzaren, genauer der Konsumgesellschaft, als der Ort, woher

die Mode, die Luxusartikel und die technologischen Innovationen kamen,

aber dann auch, in den ausgearbeiteten Darstellungen, den Raum der

Vernunft, wo der Komfort nicht synonym war mit Luxus, in dem Sicherheit

der Person, Ereignisse, öffentliches Leben existierten. Es gab eigentlich

drei Vorstellungen des europäischen Raumes: eine, die Europa als einen

geopolitischen Block festlegte, der auch die Türkei und Rußland einschloß,

aber die nichtsouveränen und realpolitisch einflußlosen Staaten

ausschloß; eine, die Europa bloß innerhalb der Grenzen der Zivilisation

und der Aufklärung ansiedelte, ihm aber dafür einen außerordentlichen

symbolischen Wert beimaß; und eine dritte, die Europa in einer

maximalen geographischen Dimension sah, in seiner heute anerkannten

physischen Ausdehnung. Der finale Triumph des aufgeklärten Europas

über letztere Vorstellung war mehr eine Auswirkung der kulturellen

Illusion, denn die drei Vorstellungen scheinen verschiedene und selten

dialogierende Wahrnehmungsebenen ausgedrückt zu haben..

In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts existierte der Raum nicht

autonom, er war Ausdruck einer zeitlichen Beziehung. Die Menschen

lebten nicht in verschiedenen Regionen, Ländern oder Welten, sondern in

unterschiedlichen Epochen. Die Entdeckung Europas, vor allem seitens

der Aufklärer, gegen das Ende der hier behandelten Zeitspanne, war eine

analoge Tatsache zur Entdeckung der geschichtlichen Zeit, bzw., ein

Übergang von der homogenen Dauer der Geschichte, im Einklang mit

Gott, zur Historizität, der menschliche Handlungen und Ursachen

zugrunde liegen. Durch Europas Bild entdeckten die Aufklärer der

Fürstentümer die Zeit der Welt, die exemplarische, organische Zeit,

assoziert mit der Idee des Fortschritts und mit einer Zukunftsvorstellung.

Die Nachahmung Europas war ein Anschlußversuch an die Gegenwart,

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bzw. an die Zeit der Welt. Mehr noch, diese Tatsache deutete an, daß das

geschichtliche Werden eine freiwillige, menschliche Handlung sein konnte,

die den Völkern offen stand. Die Mythologie der Nationalen Renaissance,

die ihre Anfänge in den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts hatte, kann nicht

getrennt werden von diesem Bild einer positiven Geschichte, gestaltbar

einfach durch den menschlichen Willen. Auch die Idee der Zukunft als

Objekt der Träumerei und als Zeit des Wünschbaren, war eine Erfindung

dieser Zeit. Hier stellte Europa nie eine Regression dar.

Das Bild Europas war aber gleichzeitig auch ein Bild von sich selbst; es

deckte ein Bedürfnis nach Identität und ermöglichte dadurch die

Loslösung vom post-byzantinischen Universalismus, der in seinem Kern

die orthodoxe Gemeinschaft und die griechische Kultur hatte, sowie die

Annahme neuer Identitätsprinzipien, wie jenes der Latinität eines war,

welches implizite die (originäre) Gemeinschaft mit der westlichen Welt

andeutete. Die griechische Tradition des Zentrums der Welt (Byzanz)

wurde ersetzt von einer westlichen, europozentrischen Vision. Europa war

der Spiegel, in dem die Fürstentümer ihr Antlitz suchten. Intellektuell

gesehen diente diese Anschauung der Aufgabe des Erklärungsschemas,

demzufolge die Geschichte den drei benachbarten Mächten gehörte, die

einander ihren Einfluß in den Fürstentümern streitig machten. Europa war

ein Subjekt der Träumerei, aber auch eine potentielle politische Stütze. Es

ist wahr, daß eine Translation im Eiltempo eine neue Art von kultureller

Pathologie hervorrufen sollte, verkörpert in einem

Minderwertigkeitssyndrom.

Rief aber, in dem Maße, in dem sie einen Wunsch kultureller und

politischer Erneuerung darstellte, diese ekstatische „Entdeckung“ Europas

nicht eine Spannung hervor zu den einheimischen Traditionen, eine

Gegen-Reaktion dieser? Die negative Anschauung trat diffus, durch die

Behauptung der geographischen Gemeinschaft, aber durch die Ablehnung

der kulturellen Adoptionen in Erscheinung, während die aufgeklärte ,

Europa zugeneigte Position das Bild Europas unter Ignorierung seiner

Geographie konstruierte, zugunsten einer symbolischen Gemeinschaft.

Die Ablehnungsreaktionen waren gewöhnlich spontan, widersprüchlich

und ohne kulturelle Wirkung, beschränkt auf eine Reihe von

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ewigkeitslastige Anschwärzungen. Das Bild Europas wurde, in seinem

ideologischen Sinne, noch nicht als ein opressives wahrgenommen. Im

Gegenteil, es stellte in dieser Zeitspanne den Bezug dar für die

wichtigsten politischen Modernisierungsprojekte. Der Tradition, dem

Orient verblieben der - im allgemeinen passive - orthodoxe Glauben,

sowie auch die Vergangenheit, verstanden als Ahnenkult.

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