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Dr. Patrick Heiser FernUniversität in Hagen Datenauswertung mit der Grounded Theory Methodologie Kodieren ▪ Typenbildung ▪ Forschungsbeispiel

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Dr. Patrick Heiser

FernUniversität in Hagen

Datenauswertung mit der Grounded Theory Methodologie

Kodieren ▪ Typenbildung ▪ Forschungsbeispiel

Vorlesungen zur qualitativen Sozialforschung

Erhebung qualitativer Daten

1. Datenerhebung mittels narrativer Interviews

Auswertung qualitativer Daten

2. Datenauswertung mit der Narrationsanalyse

3. Datenauswertung mit der Grounded Theory Methodologie

Patrick Heiser: Datenerhebung mit der Grounded Theory Methodologie Folie 2

Patrick Heiser: Datenauswertung mit der Grounded Theory Methodologie Folie 3

…und nun beginnt die eigentliche Arbeit

Gregory Bateson und Margaret Mead

beim Aufarbeiten von Feldnotizen im Zelt

Die Ausgangslage

Forschungsfrage:

Was sind die auslösenden biographischen Momente, die Menschen zu einer Pilgerschaft

auf dem Jakobsweg veranlassen?

Datenmaterial:

30 narrative Interviews mit Jakobspilgern

ca. 2.000 Seiten Transkripte

Ziel:

Typenbildung mittels Grounded Theory Methodologie

Patrick Heiser: Datenauswertung mit der Grounded Theory Methodologie Folie 4

Grounded Theory als Methodologie

Die Grounded Theory Methodologie ist ein Verfahren zur systematischen

Auswertung qualitativer Daten mit dem Ziel der Beschreibung, Theorie- oder

Typenbildung

Kern des Verfahrens ist ein kontinuierliches Vergleichen im Zuge eines dreistufigen

Kodierprozesses

zirkulärer Prozess: Verknüpfung der Datenerhebung und -auswertung (theoretisches

Sampling)

Theoretische Sättigung

Ist dann erreicht, wenn die Daten aussagekräftig und vollständig sind und aus weiteren

Daten keine neuen Konzepte, Kategorien, Eigenschaften oder Dimensionen mehr

gewonnen werden können.

Patrick Heiser: Datenauswertung mit der Grounded Theory Methodologie Folie 5

Zirkulärer Prozess der Analyse

Patrick Heiser: Datenauswertung mit der Grounded Theory Methodologie Folie 6

Dreistufiger Kodierprozess

1. Offenes Kodieren

Bildung von Konzepten/Codes

Identifizierung von Eigenschaften und Dimensionen

Synthese von Kategorien

2. Axiales Kodieren

Ordnung der Kategorien anhand des Kodierparadigmas

3. Selektives Kodieren

Identifikation von Kernkategorien, die das untersuchte Phänomen zu erklären

vermögen bzw. Typen voneinander abgrenzen

Patrick Heiser: Datenauswertung mit der Grounded Theory Methodologie Folie 7

Patrick Heiser: Datenauswertung mit der Grounded Theory Methodologie Folie 8

Schritt 1: Offenes Kodieren

Offenes Kodieren

Vorgehen:

„Text aufbrechen“: Textaussagen mit Konzepten versehen, die den Inhalt treffend

zusammenfassen

Kleinschrittiges Vorgehen, idealerweise Satz für Satz

„W-Fragen“ an den Text richten:

Was? Worum geht es hier?

Wer? Welche Akteure sind beteiligt? Welche Rollen spielen sie?

Wie? Wie interagieren sie? Welche Aspekte werden angesprochen/betont?

Womit? Welche Ressourcen und Strategien werden angewandt?

Warum? Welche Begründungen werden gegeben?

Wann? Wie lange? Wo?

Ergebnis:

Grundbestand von Konzepten, die dann zu Kategorien abstrahiert werden können

Patrick Heiser: Datenauswertung mit der Grounded Theory Methodologie Folie 9

Das Beispieltranskript

Ich bin selbständig im Beruf, das heißt eben sehr strenges, sehr

volles Arbeitspensum im Alltag. Ich arbeite im Prinzip sieben Tage

die Woche, bin ständig unterwegs, hab ständig Termindruck. Wir

unterhalten uns teilweise in, in, ja, Kurzform. An der Tafel steht:

„Häng die Wäsche auf, ich bin nicht da“ und „Bin um zwanzig Uhr

zurück“. Und er schreibt dann: „Habe ich gemacht, bin beim Fußball,

wir sehen uns morgen“ oder so ungefähr. Und das kann‘s auf Dauer

und überhaupt ne lange Zeit halt nicht sein. Also wir begegnen uns

im Alltag immer nur rein und raus, rein und raus und haben

eigentlich nicht wirklich die Zeit füreinander. […] Natürlich ist

Erfolg schön, aber, ehm, es füllt mich irgendwann nicht mehr aus.

Wenn, wenn das nicht mehr der Sinn oder den Sinn ergibt, den man

eigentlich sucht im Leben, wenn man sagt, man ist ja nur noch da um

zu arbeiten. Ehm, dann muss man irgendwann mal umdenken, wo man

sagt: Was will man denn eigentlich? […] Wir sind ja viel zu, ja,

materiell, zu organisiert und dieses immer mehr, das ist in

Deutschland so stark drin, jedenfalls da, wo ich mich bewege.

Patrick Heiser: Datenauswertung mit der Grounded Theory Methodologie Folie 10

Das Beispieltranskript

Das macht mich krank. Und das erfüllt mich nicht mehr. […] Und da

hab ich gedacht, dass ich für mich erst mal so nen Cut brauche, wo

ich sag: Ich muss mal wirklich, ehm, längere Zeit raus, längere

Zeit nicht darüber nachdenken, was ist das morgen und übermorgen

und dieses, was einen im Alltag so überrollt. Sondern einfach, wie

gesagt, ich brauch mal ne wirkliche Auszeit. […] Das hat‘s so auch

noch nicht gegeben, dass ich jetzt 36 Tage nicht erreichbar bin.

Absolut nicht. Ich hab das Handy dabei. Das Handy ist aus und wird

auch erst wieder in Deutschland eingeschaltet. Also, ehm, das hat‘s

noch nie gegeben und viele mussten sich da erst mal dran gewöhnen,

dass ich das wirklich ernst meine im Vorfeld, dass ich wirklich 36

Tage nicht erreichbar bin. […] Von daher bin ich schon sehr

beeindruckt von diesem Ganzen. Ehm, ich will jetzt nicht sagen, es

bringt mich Gott oder dem Glauben näher oder weiter. Es beruhigt

eigentlich diese ganze, ja, Denkweise in mir, wo ich sag: Ich, ich

werde von Tag zu Tag hier ruhiger. Ja, und das finde ich so schön.

So grob [lacht].

Patrick Heiser: Datenauswertung mit der Grounded Theory Methodologie Folie 11

Patrick Heiser: Datenauswertung mit der Grounded Theory Methodologie Folie 12

Offenes Kodieren: Bildung von Konzepten

Ich bin selbständig im Beruf, das heißt eben sehr strenges,

sehr volles Arbeitspensum im Alltag.

(1) Berufliche Selbständigkeit

(2) „Sehr strenges, sehr volles

Arbeitspensum im Alltag“

soziologisch-konstruierter Code

In vivo-Code

Patrick Heiser: Datenauswertung mit der Grounded Theory Methodologie Folie 13

Offenes Kodieren: Bildung von Konzepten

Ich arbeite im Prinzip sieben Tage die Woche, bin ständig

unterwegs, hab ständig Termindruck.

(3) Hohe Arbeitsbelastung

Patrick Heiser: Datenauswertung mit der Grounded Theory Methodologie Folie 14

Offenes Kodieren: Bildung von Konzepten

Wir unterhalten uns teilweise in, in, ja, Kurzform, an der

Tafel steht: „Häng die Wäsche auf, ich bin nicht da“ und:

„Bin um zwanzig Uhr zurück“. Und er schreibt dann: „Habe ich

gemacht, bin beim Fußfall, wir sehen uns morgen“ oder so

ungefähr.

(4) Kaum Gelegenheit zum

Austausch mit dem Sohn

Patrick Heiser: Datenauswertung mit der Grounded Theory Methodologie Folie 15

Offenes Kodieren: Bildung von Konzepten

Und das kann‘s auf Dauer und überhaupt ne lange Zeit halt

nicht sein.

(5) „Das kann‘s auf Dauer […] nicht sein“

Patrick Heiser: Datenauswertung mit der Grounded Theory Methodologie Folie 16

Offenes Kodieren: Bildung von Konzepten

Also wir begegnen uns im Alltag immer nur rein und raus,

rein und raus und haben eigentlich nicht wirklich die Zeit

füreinander.

(6) Keine Zeit für Familienleben

Patrick Heiser: Datenauswertung mit der Grounded Theory Methodologie Folie 17

Offenes Kodieren: Bildung von Konzepten

Natürlich ist Erfolg schön, aber, ehm, es füllt mich

irgendwann nicht mehr aus.

(7) Erfolgsorientiert

(8) Erfolg gibt keine Erfüllung mehr

Patrick Heiser: Datenauswertung mit der Grounded Theory Methodologie Folie 18

Offenes Kodieren: Bildung von Konzepten

Wenn, wenn das nicht mehr der Sinn oder den Sinn ergibt,

den man eigentlich sucht im Leben. Wenn man sagt, man ist ja

nur noch da um zu arbeiten.

(9) Strenges

Arbeitspensum ergibt

keinen Sinn mehr (10) Sinnsuche

(11) „Man ist ja nur noch da um zu arbeiten“

Patrick Heiser: Datenauswertung mit der Grounded Theory Methodologie Folie 19

Offenes Kodieren: Bildung von Konzepten

Ehm, dann muss man irgendwann mal umdenken, wo man sagt:

Was will man denn eigentlich?

(12) Zeit zum Umdenken

(13) „Was will man denn eigentlich?“

Patrick Heiser: Datenauswertung mit der Grounded Theory Methodologie Folie 20

Offenes Kodieren: Bildung von Konzepten

Wir sind ja viel zu, ja, materiell, zu organisiert und

dieses immer mehr, das ist in Deutschland so stark drin,

jedenfalls da, wo ich mich bewege. Das macht mich krank.

Und das erfüllt mich nicht mehr.

(14) Ablehnung von materieller Orientierung

und Organisiertheit

(15) Keine Erfüllung mehr im Beruf

Patrick Heiser: Datenauswertung mit der Grounded Theory Methodologie Folie 21

Offenes Kodieren: Bildung von Konzepten

Und da hab ich gedacht, dass ich für mich erst mal so nen

Cut brauche, wo ich sag: Ich muss mal wirklich, ehm, längere

Zeit raus, längere Zeit nicht darüber nachdenken, was ist

das morgen und übermorgen und dieses, was einen im Alltag

so überrollt.

(16) Raus aus dem Alltag (17) „Ich brauche einen Cut“

(18) Längere Auszeit, um nicht über

den Alltag nachzudenken

Patrick Heiser: Datenauswertung mit der Grounded Theory Methodologie Folie 22

Offenes Kodieren: Bildung von Konzepten

Sondern einfach, wie gesagt, ich brauch mal ne wirkliche

Auszeit.

(19) Jakobsweg als Auszeit

Patrick Heiser: Datenauswertung mit der Grounded Theory Methodologie Folie 23

Offenes Kodieren: Bildung von Konzepten

Das hat‘s so auch noch nicht gegeben, dass ich jetzt

36 Tage nicht erreichbar bin. Absolut nicht.

(20) Erstmals für lange Zeit

nicht erreichbar

Patrick Heiser: Datenauswertung mit der Grounded Theory Methodologie Folie 24

Offenes Kodieren: Bildung von Konzepten

Ich hab das Handy dabei. Das Handy ist aus und wird auch

erst wieder in Deutschland eingeschaltet.

(21) Handy bleibt auf dem

Jakobsweg ausgeschaltet

Patrick Heiser: Datenauswertung mit der Grounded Theory Methodologie Folie 25

Offenes Kodieren: Bildung von Konzepten

Also, ehm, das hat‘s noch nie gegeben und viele mussten

sich da erst mal dran gewöhnen, dass ich das wirklich ernst

meine im Vorfeld, dass ich wirklich 36 Tage nicht erreichbar

bin.

(22) Soziales Umfeld musste sich

an Nicht-Erreichbarkeit gewöhnen

Patrick Heiser: Datenauswertung mit der Grounded Theory Methodologie Folie 26

Offenes Kodieren: Bildung von Konzepten

Von daher bin ich schon sehr beeindruckt von diesem Ganzen.

Ehm, ich will jetzt nicht sagen, es bringt mich Gott oder

dem Glauben näher oder weiter.

(23) „Beeindruckt von diesem Ganzen“

(24) Jakobsweg bringt Gott nicht näher

Patrick Heiser: Datenauswertung mit der Grounded Theory Methodologie Folie 27

Offenes Kodieren: Bildung von Konzepten

Es beruhigt eigentlich diese ganze, ja, Denkweise in mir,

wo ich sag: Ich, ich werde von Tag zu Tag hier ruhiger. Ja,

und das finde ich so schön. So grob [lacht].

(25) Jakobsweg beruhigt Denkweise

(26) „Ich werde von Tag zu Tag

hier ruhiger“

Patrick Heiser: Datenauswertung mit der Grounded Theory Methodologie Folie 28

Zwischenergebnis: Grundbestand Konzepte

Nr. Konzept Zeilen

1 Berufliche Selbständigkeit 1-3

2 „Sehr strenges sehr volles Arbeitspensum im Alltag“ 3

3 Hohe Arbeitsbelastung 4-5

4 Kaum Gelegenheit zum Austausch mit dem Sohn 5-8

5 „Das kann‘s auf Dauer nicht sein“ 8-9

6 Keine Zeit für Familienleben 10

7 Erfolgsorientiert 10-11

8 Erfolg gibt keine Erfüllung mehr 11

9 Strenges Arbeitspensum ergibt keinen Sinn mehr 12-13

10 Sinnsuche 13-14

11 „Man ist ja nur noch da um zu arbeiten“ 14

12 Zeit zum Umdenken 15-17

Patrick Heiser: Datenauswertung mit der Grounded Theory Methodologie Folie 29

Zwischenergebnis: Grundbestand Konzepte

Nr. Konzept Zeilen

1 Berufliche Selbständigkeit 1-3

2 „Sehr strenges sehr volles Arbeitspensum im Alltag“ 3

3 Hohe Arbeitsbelastung 4-5

4 „Das kann‘s auf Dauer nicht sein“ 8-9

5 Keine Zeit für Familienleben 5-8, 10

6 Erfolgsorientiert 10-11

7 Erfolg gibt keine Erfüllung mehr 11

8 Strenges Arbeitspensum ergibt keinen Sinn mehr 12-13

9 Sinnsuche 13-14

10 „Man ist ja nur noch da um zu arbeiten“ 14

11 Zeit zum Umdenken 15-17

Patrick Heiser: Datenauswertung mit der Grounded Theory Methodologie Folie 30

Offenes Kodieren: Vom Konzept zur Kategorie

(9) Strenges

Arbeitspensum ergibt

keinen Sinn mehr

(10) Sinnsuche

(13) „Was will man denn eigentlich“

(8) Erfolg gibt keine

Erfüllung mehr

(I) Sinnkrise

Patrick Heiser: Datenauswertung mit der Grounded Theory Methodologie Folie 31

Offenes Kodieren: Vom Konzept zur Kategorie

(II) Stress

im Beruf

(2) Sehr strenges, sehr

volles Arbeitspensum im

Alltag

(3) Hohe

Arbeitsbelastung

(11) „Man ist ja nur noch da um zu

arbeiten“

Patrick Heiser: Datenauswertung mit der Grounded Theory Methodologie Folie 32

Ergebnis: Grundbestand Kategorien

Nr. Kategorie Konzepte

I Sinnkrise 8, 9, 10, 13, 14, 15

II Stress im Beruf 2, 3, 11

III Keine Zeit für Familie 4, 5, 6

IV Selbstständig 1

V Erfolgsorientiert 7

VI Jakobsweg als Auszeit 12, 16, 17, 18, 19

VII Lange Nicht-Erreichbarkeit 20, 21

VIII Ruhe 25, 26

IX Beeindruckt von Jakobsweg 23

Patrick Heiser: Datenauswertung mit der Grounded Theory Methodologie Folie 33

Schritt 2: Axiales Kodieren

Axiales Kodieren

Vorgehen

Untersuchung von Verbindungsgeflechten zwischen Kategorien

Kategorie in den Mittelpunkt stellen, um diese ein Beziehungsnetz bilden:

Zeitliche und räumliche Beziehungen

Ursache-Wirkungs-Beziehungen

Mittel-Zweck-Beziehungen

Argumentative, motivationale Zusammenhänge

Ergebnis

Kodierparadigma

Patrick Heiser: Datenauswertung mit der Grounded Theory Methodologie Folie 34

Patrick Heiser: Datenauswertung mit der Grounded Theory Methodologie Folie 35

Das Kodierparadigma

Phänomen Konsequenzen Ursächliche

Bedingungen

Kontext und

intervenierende Bedingungen

Handlungsstrategien

Zeit/Ort/Dauer

Soziales/kulturelles Umfeld

Individuelle Biographie

Patrick Heiser: Datenauswertung mit der Grounded Theory Methodologie Folie 36

Axiale Kodierung des Beispieltranskripts

Jakobsweg als

Auszeit

Stress

im Beruf

Sinnkrise

Keine Zeit für

Familie

Selbständig Erfolgsorientiert

Lange Nicht-Erreichbarkeit

Ruhe

Beeindruckt von

Jakobsweg

Patrick Heiser: Datenauswertung mit der Grounded Theory Methodologie Folie 37

Vom axialen zum selektiven Kodieren

Jakobsweg als

Auszeit

Lange

Nicht-Erreichbarkeit

„Die werden stolz

auf mich sein“

Jakobsweg nach

dem Abitur

„Ich werde denen alles

zeigen und berichten“

Jakobsweg am

Ende des Lebens

Heimisches soziales Umfeld

= Identifikation einer ersten Kernkategorie

Patrick Heiser: Datenauswertung mit der Grounded Theory Methodologie Folie 38

Schritt 3: Selektives Kodieren

Patrick Heiser: Datenauswertung mit der Grounded Theory Methodologie Folie 39

Selektives Kodieren

Jakobsweg als

Auszeit

Nicht-Erreichbarkeit

für 36 Tage

„Die werden stolz

auf mich sein“

Jakobsweg nach

dem Abitur

„Ich werde denen alles

zeigen und berichten“

Jakobsweg am

Ende des Lebens

Heimisches soziales Umfeld

Gemeinschaft

suchen

Anregungen für

künftiges Leben suchen Stille, kaum Kontakt Kommunikationsformen auf dem Jakobsweg

Anstrengung gibt

neuen Rhythmus

Schmerzen als Teil der

Reifeprüfung

Buße für die negativen

Dinge des Lebens (Be-)Deutung der Körperlichkeit

Patrick Heiser: Datenauswertung mit der Grounded Theory Methodologie Folie 40

Finaler Schritt: Typenbildung

Patrick Heiser: Datenauswertung mit der Grounded Theory Methodologie Folie 41

Typ 1: Biographische Auszeit

Alltagsgespräche,

Erfahrung von Gemeinschaft

Rhythmus und Gelassenheit

wiederfinden

Kein Kontakt,

Prioritätenveränderung planen

Extreme alltägliche

Anforderungen, Stress,

Sinnkrise,

Pilgern zur Entschleunigung,

Ruhe und Sinn suchen

„Ich bin selbständig im Beruf, das heißt eben sehr strenges, sehr volles

Arbeitspensum im Alltag. Ich arbeite im Prinzip sieben Tage die Woche,

bin ständig unterwegs, hab ständig Termindruck. Mein Sohn und ich

unterhalten uns teilweise in Kurzform, an der Tafel steht: Häng die

Wäsche auf, ich bin nicht da, und bin um zwanzig Uhr zurück. Und er

schreibt dann: Habe ich gemacht, bin beim Fußfall, wir sehen uns

morgen oder so ungefähr. Und das kann es auf Dauer und überhaupt

eine lange Zeit nicht sein. Also wir begegnen uns im Alltag immer nur

rein und raus, rein und raus und haben nicht wirklich die Zeit

füreinander. (…) Natürlich ist Erfolg schön, aber es füllt mich irgendwann

nicht mehr aus. Wenn das nicht mehr den Sinn ergibt, den man

eigentlich sucht im Leben, wenn man sagt, man ist ja nur noch da um zu

arbeiten, dann muss man irgendwann mal umdenken, wo man sagt, was

will man denn eigentlich. (…) Wir sind ja viel zu materiell, zu organisiert

und dieses ,immer mehr‘, das ist in Deutschland so stark drin, jedenfalls

da, wo ich mich bewege. Das macht mich krank. Und das erfüllt mich

nicht mehr. (…) Und da habe ich gedacht, dass ich für mich erst mal so

einen Cut brauche, wo ich sage, ich muss mal wirklich längere Zeit raus,

längere Zeit nicht darüber nachdenken, was ist morgen und übermorgen

und dieses, was einen im Alltag so überrollt. Sondern einfach, wie

gesagt, ich brauche mal eine wirkliche Auszeit. (…) Das hat es so auch

noch nicht gegeben, dass ich jetzt 36 Tage nicht erreichbar bin. Absolut

nicht. Ich habe das Handy dabei. Das Handy ist aus und wird auch erst

wieder in Deutschland eingeschaltet. Also das hat es noch nie gegeben

und viele mussten sich da erst mal dran gewöhnen, dass ich das wirklich

ernst meine im Vorfeld, dass ich wirklich 36 Tage nicht erreichbar bin.“

Patrick Heiser: Datenauswertung mit der Grounded Theory Methodologie Folie 42

Typ 2: Biographischer Übergang

Vergangenheit besprechen,

Anregungen für Zukunft

suchen

Reifeprüfung

Abgrenzung von anderen

(jung), Leistungsfähigkeit

demonstrieren (alt)

Ende einer in der

Normalbiographie

vorgesehenen Lebensphase,

Pilgern als Übergang in die

neue Lebensphase

„Und dann ist Hape Kerkeling diesen Weg hier gepilgert und dann habe

ich das Buch gelesen und durch ihn wurde das ja dann in Deutschland

auch ziemlich populär. Ja, dann habe ich mich halt immer mehr dafür

interessiert, mich gefragt ob ich das machen kann, ob ich es körperlich

schaffe, ob ich, ja, das ist ja auch eine geistige Herausforderung, sich

mit sich selbst auseinanderzusetzten. Also, ich war mir noch nicht so

ganz klar, was ich nach der Schule machen soll, ich hatte überlegt, zur

Bundeswehr zu gehen und da zu studieren und mich auf längere Zeit,

also 13 bis 16 Jahre, zu verpflichten und als Soldat auf Zeit zu arbeiten.

Und hatte aber noch zwei, drei andere Optionen, wie zum Beispiel

Lehrer oder Förster, hatte ich auch lange Zeit im Hinterkopf noch. Also

sehr verschiedene Richtungen auch und, ja, aber ich glaube, dass ich

auf dem Weg hier zumindest schon den Soldaten ausschließen konnte

für mich. Und so, wie ich mir das momentan überlegt habe, war die

Tendenz dazu, dass ich das, was ich hier für mich gelernt habe, auch

anderen weitergeben will, und ich glaube deswegen ist Lehrer doch die

90 Prozent Tendenz. Ja. Das is eigentlich das, was ich wissen wollte. Ich

bin jetzt mit der Schule fertig, das is doch ein recht großes Kapitel im

Leben. Was macht man nach dem Abitur? Macht man jetzt die sechs

Monate Grundwehrdienst? So Sachen wollte ich mir hier überlegen und

bisher hat es eigentlich ganz gut funktioniert.“

Patrick Heiser: Datenauswertung mit der Grounded Theory Methodologie Folie 43

Typ 3: Biographische Bilanzierung

Stille und innere Einkehr,

wenige Gespräche

Schmerzen als Buße

für negative Erfahrungen

Hohe Bedeutung der Familie,

Vermächtnis für die

Nachkommen schaffen

Ende des Lebens in Sicht,

Rückschau auf eigenes Leben,

Bewertung und Einordnung

von Lebensereignissen

„Ich muss sagen, dass ich das Ganze als ein Dankeschön ansehe,

Dankeschön nach oben (fängt an zu weinen). Ich hatte eine sehr harte

Berufszeit. Ich bin achtzig Jahre, habe früh schon seit dem Berufsleben

ein sehr hartes Berufsleben gehabt. Schönes Berufsleben, aber auch

sehr mit großen Forderungen. Und großen Forderungen an mich und

auch an die Familie. (…) Und, da gibt es, da gab es ja auch Menschen

oder Leute, die einen gefördert haben und an die ich gerne denke, die

vielleicht auch nicht mehr leben oder nicht mehr da sind. Aber man

erinnert sich an diese Menschen, die es mit einem gut gemeint haben,

die einen gefördert haben und dahin gehen die Gedanken und die

Gespräche und ein Dankeschön an die, die einem im Leben begegnet

sind und unterstützt haben, aufgemuntert haben und auch Freude

bereitet haben. Das ist für mich ganz wichtig. Denn nicht alles, was man

selbst erreicht hat, ist nur auf eigene Körperkraft oder Intelligenz

entstanden, sondern es haben auch andere mitgeholfen. Das darf man

nicht vergessen und diese Dinge gehen natürlich auch zurück bis ins

Elternhaus, wo man sich auch seinen Eltern oder Großeltern gegenüber

gerne erinnert und an Geschwister, die nicht mehr leben und so weiter,

die man immer wieder dann auch in den Gedanken mit einbezieht. (…)

Ich möchte an mein Leben, das ich bisher gelebt habe, und die

Stationen gerne zurückdenken. Und dafür brauche ich die Stille. Und

wenn ich am Anfang, gesagt habe, es war ein Wunsch von mir, muss ich

mittlerweile sagen, es ist fast schon so, es ist kein Wunsch, sondern es

ist ein Ruf gewesen, (mit Tränen in der Stimme) das zu tun (muss sich

mehrfach räuspern) und es bestätigt mich auch mit jedem Schritt, mit

allem was ich sehe.“

Patrick Heiser: Datenauswertung mit der Grounded Theory Methodologie Folie 44

Typ 4: Biographische Krise

Trost in anderen finden,

sich des eigenen Glücks

bewusst werden

Reinigung,

Gleichgewicht von Körper,

Geist und Seele

Unbedeutend, da auf der

Pilgerreise das eigene Heil

gesucht wird

Erschütterung durch

ungeplantes Ereignis der

nahen Vergangenheit,

Pilgern als Verarbeitung,

zur Ruhe zu kommen

„Und dann ist mein Papa gestorben, und das hat mich sehr

mitgenommen, weil ich sehr an meinem Vater hing. Und dann war das

irgendwie für mich klar, um mit diesem Schmerz besser umgehen zu

können, ich muss irgendwie aktiv werden, ich muss was machen. Und

dann war plötzlich klar, Jakobsweg, das war es dann einfach. Und das

fand ich für mich wichtig, weil durch die Bewegung hast du die

Möglichkeit, etwas zu verarbeiten, was schmerzt. Und ich glaube, es ist

viel besser, so etwas in der Bewegung zu verarbeiten, als im stillen

Kämmerchen. (…) Für mich war es wichtig, das auch (pustet aus) zu

tun, etwas zu tun, dass der Schmerz besser verarbeitet werden kann,

dass das raus kommen kann. (…) Und auch die Begegnungen auf dem

Weg, vor allem wenn es Begegnungen mit einzelnen Menschen waren,

die waren sehr intensiv, weil ich habe mein Herz ausschütten können

und darüber reden befreit schon mal. Und die haben ihr Herz

ausgeschüttet, man kriegt mit, okay, man ist ja nicht alleine. Auch

andere haben ihr Päckchen zu tragen. Und es tröstet. Es war einfach

gut, hat gut getan. Und durch die Bewegung, find ich, ist es halt immer,

du schwitzt und du schwitzt auch gewisse Sachen raus. Ja, nicht nur

Müll im Gewebe, sondern auch Müll aus deinem Kopf und man wird

wieder frei und... ja, es tut gut. Obwohl es mich nach wie vor bewegt,

weil ich meinen Papa total geliebt habe (Stimme bricht weg) (Sie bricht

in Tränen aus).“

Patrick Heiser: Datenauswertung mit der Grounded Theory Methodologie Folie 45

Typ 5: Biographischer Neustart

Intensiver Austausch mit

anderen,

neue Identitätsbildung

Bezwingung des eigenen

Körpers,

Beweis für Neustart

Heldengeschichte vorbereiten,

neue Selbstpräsentation nach

Rückkehr

Selbstgewählter Bruch im

Lebenslauf,

Neues Leben beginnen

„Bin dann in den Betrieb zurück, wo ich gelernt habe, für drei Monate.

Dann habe ich den Betrieb gewechselt. Und da habe ich jetzt gearbeitet

acht Jahre. Und habe aber die ganze Zeit schon gemerkt, dass der Beruf

mir nichts gibt, also ich war unglücklich und habe aber nie den Mut

gehabt, irgendwas neues anzufangen. War absolut unglücklich in dem

Beruf. Bin jeden Tag wider Willen auf die Arbeit gefahren. (…) In der

Zeit halt, als ich gemerkt habe, das macht mir alles keinen Spaß, dann

habe ich halt auch viel getrunken und habe versucht, die Probleme

damit zu beseitigen. Was natürlich Schwachsinn ist. Habe dann gedacht,

so kann es nicht mehr weitergehen, du musst jetzt noch 30 oder 35

Jahre arbeiten, habe gesagt, es muss doch noch was anderes geben als

das, so kannst du nicht weiterleben. Ich wusste nicht, was ich machen

will, was ich arbeiten kann, nach was ich suchen soll. Habe dann mit

dem Trinken aufgehört und, es ist halt schwer eine Tür zuzumachen,

weil du hast monatlich dein Geld, du gewöhnst dich daran, und es ist

schwer zu sagen, ich mache jetzt was anderes. Da hatte ich Angst vor.

Aber dann habe ich halt von heute auf morgen gesagt, ich kündige

meinen Job, weil ich einfach eine Zeit gebraucht habe für mich,

nachzudenken, was will ich, wer bin ich, wo soll es weiter gehen. Ich

habe keine Ziele mehr gehabt. Ich bin quasi nach meiner Ausbildung

stehen geblieben, habe mir keine neuen Ziele mehr gesetzt. Ja, und so

habe ich mir dann gedacht, du musst den Job kündigen, du musst die

Tür zumachen, um eine andere halt aufzumachen, dass ich dann gesagt

habe, okay, den Jakobsweg gehst du jetzt, da wirst du bestimmt viele

Leute treffen, viele Gespräche haben, du wirst viel Zeit haben, über dich

selber nachzudenken. Ja, so bin ich jetzt auf dem Weg.“

Patrick Heiser: Datenauswertung mit der Grounded Theory Methodologie Folie 46

Biographische Auslöser

Stille und innere

Einkehr,

wenige Gespräche

Schmerzen als Buße

für negative

Erfahrungen

Hohe Bedeutung der

Familie,

Vermächtnis für die

Nachkommen schaffen

Biographische

Bilanzierung

Trost in anderen

finden, sich des

eigenen Glücks

bewusst werden

Reinigung,

Gleichgewicht von

Körper, Geist und

Seele

Unbedeutend, da auf

der Pilgerreise das

eigene Heil gesucht

wird

Biographische

Krise

Alltagsgespräche,

Erfahrung von

Gemeinschaft

Rhythmus und

Gelassenheit

wiederfinden

Kein Kontakt,

Prioritätenveränder-

ung planen

Biographische

Auszeit

Vergangenheit

besprechen,

Anregungen für

Zukunft suchen

Reifeprüfung

Abgrenzung von

anderen (jung),

Leistungsfähigkeit

demonstrieren (alt)

Biographischer

Übergang

Intensiver Austausch

mit anderen,

neue Identitätsbildung

Bezwingung des

eigenen Körpers,

Beweis für Neustart

Heldengeschichte

vorbereiten, neue

Selbstpräsentation

nach Rückkehr

Biographischer

Neustart