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FUr unser Programm und seine Verwirklichung. Von Wilhelm Roux. Einleitung. Das Programm der Entwickelungsmechanik erwirbt sieh, wie die zahlreichen Autoren des Archivs fur Entwiekelungsmechanik und ihre werthvollen Arbeiten bekunden, immer mehr werkthi~tige Anh~tnger unter den biologischen Forschern. Auch unter M~tnnern, welche andere Forschungsrichtungen pflegen, gewinnt unserc Richtung an Ansehen und Interesse; das .zeigt sich sowohl durch Zustimmung wie auch in allm~thlich laut werdendem Widerspruch. Am meisten haben sich mit den Deutschen die Amerikaner der Vereinigten Staaten und die Italiener erfolgreieh an unseren Bestre- bungen betheiligt; t~st ganz fehlen noch die Englander; angefangen haben die Franzosen; die jUngst yon zwei berUhmten Forschern der- selben: yon E. G. BALBIANI und L. RANVIER begrUndeten Archives d'Anatomie microscopique haben aueh die Entwickelungsmechanik in ihr Programm aufgenommcn. Die Zahl der la'ut hervortretenden Gegner der Richtung ist noch gering, die Zahl der bloB passiven Widerstand Leistenden dagegen bedeutender. Der Widerstand gegen eine neue Riehtung, zumal wenn sie besondcre Vorkenntnisse und Methoden erfordert, kann nicht auffallen. Wir freuen uns der Zustimmung und suchen unsere Gegner zu widerlegen und zu bekehren. Der Widerlegung, hoffentlich auch der Bekehrung sollen die nachstehenden Ausfiihrungen dienen; doch ist es zugleich unser Zweck, das Besondere des Programms der Ent- wickelungsmechanik und der zu sciner Verwirklichung n(ithigen Methodik dutch Gegentlberstellung und Abgrenzung gegen das Her- k~mmlichc gemeinversti~ndlicher zu maehen sowie vorgekommene Archiv f. Entwickalungsmechanik. Y. 1

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Page 1: Für unser Programm und seine Verwirklichung

FUr unser Programm und seine Verwirklichung.

Von

Wilhelm Roux.

Einleitung.

Das Programm der Entwickelungsmechanik erwirbt sieh, wie die zahlreichen Autoren des Archivs fur Entwiekelungsmechanik und ihre werthvollen Arbeiten bekunden, immer mehr werkthi~tige Anh~tnger unter den biologischen Forschern.

Auch unter M~tnnern, welche andere Forschungsrichtungen pflegen, gewinnt unserc Richtung an Ansehen und Interesse; das .zeigt sich sowohl durch Zustimmung wie auch in allm~thlich laut werdendem Widerspruch.

Am meisten haben sich mit den Deutschen die Amerikaner der Vereinigten Staaten und die Italiener erfolgreieh an unseren Bestre- bungen betheiligt; t~st ganz fehlen noch die Englander; angefangen haben die Franzosen; die jUngst yon zwei berUhmten Forschern der- selben: yon E. G. BALBIANI und L. RANVIER begrUndeten Archives d'Anatomie microscopique haben aueh die Entwickelungsmechanik in ihr Programm aufgenommcn.

Die Zahl der la'ut hervortretenden Gegner der Richtung ist noch gering, die Zahl der bloB passiven Widerstand Leistenden dagegen bedeutender. Der Widerstand gegen eine neue Riehtung, zumal wenn sie besondcre Vorkenntnisse und Methoden erfordert, kann nicht auffallen.

Wir freuen uns der Zustimmung und suchen unsere Gegner zu widerlegen und zu bekehren. Der Widerlegung, hoffentlich auch der Bekehrung sollen die nachstehenden Ausfiihrungen dienen; doch ist es zugleich unser Zweck, das Besondere des Programms der Ent- wickelungsmechanik und der zu sciner Verwirklichung n(ithigen Methodik dutch Gegentlberstellung und Abgrenzung gegen das Her- k~mmlichc gemeinverst i~ndlicher zu maehen sowie vorgekommene

Archiv f. Entwickalungsmechanik. Y. 1

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2 Wilhelm Roux

irrthUmlishe Auffassungen zu beriehtigen. Dabsi sollen Programm und Msthodsn bier in frUhsr noeh nieht gegebener Vollst~tndigksit und Ausf'tihrliehkeit dargestellt werden. Wit gsben uns der Hoffnung bin, dass nunmehr Jedsr, auch der his jetzt fernsr Stehende, weleher diese Sehrift mit siniger Aufmerksamksit gelesen hat, zu vollkommener Klarheit tiber das Programm der Entwickehngsmechanik und iiber die zu seiner Verwirklishung ntithige Methodik gslangt sein wird.

Wit haben das Programm der Entwickelungsmsehanik bisher vielleisht zu sehr fur s ich dargestellt und es dabei vers~tumt, die speeifisehen Untersehisde desselben yon anderen Forschungsrichtungen genUgend hervorzuheben. Das soll nun, wsnn es der Fall war, hier mit naehgeholt wsrdsn.

Einer dsr gegnerisehen Autoren, Osc. HERTWIG~ widmete den entwiekehngsmsshanisehen Bestrebungen jUngst sine 200 Seiten starke Sehrift t), in dersn erster H~tlfte er die Entwiekelungsmechanik im Allgemeinen, in der zweiten H~tlfte einige Speeialarbsiten yon mir kritisirt und erstere wie letztere durchweg abfallig beurtheilt.

Der Autor hat sich viel MUhe gegeben, die Irrwege, auf denen er mish und die Genossen gleiehen Strebens glaubt, zu erkennen und deutlieh zu schildern. Nach dem, was ich gelegentlieh vernommsn habe, glaube ieh vermuthen zu dUrfen, dass er in dem einen oder anderen Punkte eine gewisse Zustimmung bei manehen anatomisehen und zoologisehen Kollegen finden wird. Das ist fur mish Veranlassung, auf disse Einwendungen n~ther einzugshsn.

HERTWIO ist, kurz gesagt, der Meinung, dass unser Prog'ramm unklar und nieht neu, dass ebsnso unssre Arbeitsweise nicht neu ist, dass daher aueh der Name Entwickelungsmechanik UberflUssig, auBer- dem aber unrichtig erseheine; ferner glaubt sr, dass auf dem yon uns betretenen Wsge sin wesentlieher Fortschritt der biologisehen Erkenntnis nieht zu erwarten, noch dass sin soleher nach disser Seite hin iiberhaupt niJthig ist. Deutlicher kann man einer neuen Riehtung ihre Existenzberechtigung allsrdings kaum absprechsn.

Ein anderer Autor, O. BOTSCHLI (Litt. 3), behandelt nur ein ms- thodologisches Bedenksn, n~tmlich die MSgliehkeit, oder nach seiner Msinung riehtiger die UnmSglichkeit, aus Versuchen am lebenden Objekte auf normales Gesehehsn zu sehlieBen.

l) O. HERTWIG, Zeit- and Streitfragen der Biologie. Heft 2. Mechanik and Biologic. Mit einem Anhang: Kritische Bemerkungen zu den entwickelungs- mechanischen Naturffesetzen yon Roux. Jena 1897. 211 Seiten.

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Flir unser Programm und seine Verwirklichung.

Da HERTWIG das Thema im Ganzen behandelt hat, so ist es angemessen, dass wir uns in unserer ErSrterung mehr an seine Dar- stellung ansehliel]en und die Besprechung des Bedenkens BiJTSCHLI'S an geeigneter Stelle einftigen.

Die Bekampfung unseres Programms durch HERTWIG erinnert in Mauchem - - si parva lieet eomponere magnis - - an die Bek~mpfung, welche die DARWIN'sche Descendenzlehre erfuhr, ferner an die Be- ki~mpfung yon t:[AECKEL'S Gastraeatheorie, sowie der ersten direkt ursi~ehlich forschenden Bestrebungen His'. Wir lesen jetzt mit Staunen, welchen Angriffen diese Lehren damals, als sic noch neu waren, begeg- neten, und was fUr absonderliche und missverst~tndliche Einwendungen gegen sie erhoben worden sind. Wir zweifeln nicht, dass die nachste Generation mit derselben Verwunderung die jetzt gegen uns erhobenen Einwendungen lesen wird. Immerhin muss die bes~ere Einsicht erst allmahlieh erworben und erk~impft werden. Diesem Zweeke dienen die nachstehenden AusfUhrungen.

I. Das Ziel und die besonderen Aufgaben der Entwickelungsmechanik.

Ia. F rUhere D a r l e g u n g e n des P rog ramms .

Im Laufe der Jahre sind die Ziele der Entwickelungsmechanik und die naehsten aus ihnen sieh ergebenden neuen Aufgaben bei versehiedenen Gelegenheiten yon mir erSrtert worden; dabei wurde die Formulirung derselben zngleieh etwas verbessert.

Wir beabsichtigen zuni~chst, das Wesentliehe der frUheren Dar- stellungen, so weit sie eine fortschreitende Reihe bilden, zu repro- duciren. Da es das Verstiindnis schwieriger Gegenstlinde erleichtert, dieselben in verschiedenen Fassungen behandelt zu sehen, so werden die bei dieser Reproduktion unvermeidliehen, kleinen Wiederholungen in veriinderter Form bei dieser fur weitere Kreise bestimmten Schrift wohl keinen AnstoB erregen.

Unser Gegner hat naeh Belieben einzelne Stellen aus den ver- schiedenen Darstellungen zur Verwendung ausgewiihlt, dabei aber viele wesentliche Theile, ich kann sagen, die w e s e n t l i c h s t e n The i l e unseres P r o g r a m m s u n b e r U c k s i c h t i g t gelassenl) .

1) Wir werden daher, um den Lesern des hier fo|genden Wiederabdruekes unserer programmatischen DarsteUungen das Verst~ndnis der sp~teren Dis- kussion zu erleiehtern, die wenigen, das We s e n der Sache bezeichnenden Theile, die yon Y t e r t w i g sei es durch w(irtliche Citate oder doch inhaltlich benutzt

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4 Wilhelm Roux

Die erste Fassung und Motivirung wurde im Jahre 1885 in der E i n l e i t u n g zu meinen ~Beitr~gen,~ zur Entwickelungsmechanik des Embryo (Litt. 1, Bd. II. pag. 2--4) gegeben. Sie lautet:

))Die b e s c h r e i b e n d e Embryologie ist dureh unermUdlichen FleiB und Scharfsinn vieler Forscher seit dem Ende des vorigen Jahr- hunderts so weir gefSrdert worden, dass wir fast yon jedem Organe der Wirbelthiere und vieler Wirbellosen bis zu einem gewissen Grade der Genauigkeit diejenigen ,Fo rmver i~nde rungen ' kennen, unter denen sich dasselbe successive aus dem befruchteten Ei hervorbildet.

~,Naehdem somit sehon ein anniihernder Uberbliek tiber die fo rmalen Ver i inde rungen , welehe w~hrend der Entwickelung vor sieh gehen~ gewonnen ist, ist es wohl bereehtigt, noch einen Schritt weiter, nach der Kenntnis der ,Vorg~nge ' zu streben, du rch welehe diese Formwandlungen hervorgebraeht werden.

,,Dieses we i te re Ziel li~sst sich in z w e i f a e h e r Weise auf- fassen: einmal wiederum formal, sofern blol~ die , f o rma len ' Vor- giinge erkannt und beschreibend dargestellt werden sollen. Als das letzte Ziel dieses Slrebens wiirde die vollkommene Kenntnis des Wetles zu bezeiehnen seb~, welchen j 'edes gesonder te B a h n e n e insch la- gende Thei lcl ten des befruchtelen Eies his zu seiner, des Theilchens, letzlen Verwendung zum .Aufbaue des Organisrnus durchlauft, ver- bunden rail der Kenntnis des Weges aller yon auflen aufgenommenen und bis zur Vollendung der Engwickelung des [ndividuums zum Au f - baue irgendwle verwendeten Theile [sowie die Kenntnis der Anordnung aller dieser Theilchen zu einander .in jedem Moment der Entwicke- lung] 1). Erst mit der Wiederausscheidung der Theilchen aus dem Or- ganismus warden wit dieselben vor Erreichung des Kulminations- punktes der Entwickelung aus unserer Beobachtung entlassen. Dem Anfange derartiger Betrachtung hi~tte die Kenntnis der Lagerungs- beziehung aller Theile des seine Entwiekelung beginnenden Eies zu einander vorauszugehen.

worden sind, durch kursiven Druck, die zur Ergiinzung niJthigen, yon uns in der Diskussion herangezogenen Siitze dagegen dutch gesperrten resp. fetten Druck kenntlich maehen. HERT~VlG-~S Citate beziehen sich statt auf das Wesen der Saehe iiberwiegend auf unsere Ausspriiehe iiber die Neuheit, Wichtigkeit und Schwierigkeit der Entwickelungsmeehanik. Aus der naeh- stehenden DarsteUung ergiebt sich, dass wir aueh diese Aul3erungen aUe roll vertreten, ohne jedoeh ihre wSrtliche Wiederholung an dieser Stelle ftir n~thig za eracbten.

1) Die in eekige Klammern [] gesetzten Theile bezeichnen gelegentlieh der Herausgabe meiner ~Gesammelten Abhandlungem~ gemachte Zus~itze.

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Ftir unser Programm und seine Verwirklichung.

~Dies ware die d e s k r i p t i v e D e f i n i t i o n der vor uns l i egen - den we i t e r en A u f g a b e der E m b r y o l o g i e ; kurz gefasst also: die vollkomrnene Beschre ibung aller, auch der kleinsten JEnl- wiekelungsvorgiinge als ,Subs tanzbewegungen ' der Theile des JEies und der von ibm aufgenommenen Theile bis zur vollen ~Entwieke- lung des I~Mividuums, gestii/z! auf die vollkommene Kenntnis der Anordnung und iiufleren BesehajTen]~eit jecles kleinsten Theilehens des befruehteten Eies: eine , K i n e m a t i k der E n t w i c k e l u n g ' , wenn wir, wie wohl zu empfehlen ist, uns an Am'~RE'S Eintheilung der Be- wegungslehre anschlieBen.

�9 Wenfl wir d iese K e n n t n i s s e hi~tten, so wUrden wir im Stande sein, die ganze embryonale Entwickelung re in d e s k r i p t i v da r zus t e l l en uud sie somit als eine deskriptive Wissenschaft zu behandeln [ira Sinne KIReHnOFF'S, weleher die Mechanik als eine beschreibende Wissenschaft bezeichnet und behandelt].

~)Wir werden aber d i e ses Ziel n icht nur hie e r r e i chen , sondern auch n icht e inmal uns ihm bloB durch , B e o b a c h - tung ' des , no rma len ' Gesehehens e r h e b l i c h viel w e l t e r zu n~thern vermSgen , als es bereits geschehen ist. Dies aus dem Grunde, weil sowohl diejenigen Bewegungen der Theilchen, welche gt'uppenweise die einzelnen; ~tuBerlich sichtbaren F o r m w a n d l u n g e n hervorbringen, wie auch die Bewegungen, welehe die sogenannten qua l i t a t i ven Ver~inderungen hervorbringen, ihrer Hauptsache nach der d i r e k t e n B e o b a c h t u n g en t zogen sind.

�9 Gleichwohl ist n icht yon vorn here in zu sagen , dass wi r daue rnd au f die K e n n t n i s n a h m e yon ihnen v e r z i c h t e n muss - ten, denn es g ieb t noch e inen a n d e r e n Weg~ sic k e n n e n zu lernen, den des i n d u k t i v e n und d e d u k t i v e n Sch l i eBens au f Grund der Causaliti~t.

~Es leuchtet ein, dass die Entwickelungsbewegungen der Theil- chen des seine Entwickelung beginnenden Eies nach dem ersten Momente der Entwickelung, wenn Uberhaupt~ so nut einen kleinsten Zeitraum und eine minimalste Strecke hindurch selbst i~ndige, d. h. rein dem eigenen BeharrungsvellnSgen folgende sein werden, dass im niichsten Momente sehon g e g e n s e i t i g e B e e i n f l u s s u n g e n s t a t t - f inden mUssen, welche in den dadurch hervorgerufenen Ver~nde- rungen eben die E n t w i c k e l u n g darstellen.

,)Es leuchtet weiterhin ein~ dass, wenn wir die gegenseitige Lagerungsbeziehung aller Thcile des Eies im Momente des Entwicke-

. lungsbeginnes, nebst den B e s c h l e u n i g u n g e n , die jedem derselben

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dabei ertheilt worden sind, und die den T h e i l c h e n i m m a n e n t e n Kr~f te selbst kennten, wenn somit alle , i nne ren U r s a e h e n ' der E n t w i e k e l u n g e ines e inz igen Momentes der E n t w i c k e l u n g und w e i t e r h i n noeh al le yon auBcn h i n z n k o m m e n d e n Kom- p o n e n t e n wi~hrend des ganzen Ver l au fe s der E n t w i c k e l u n g uns b e k a n n t wKren, wir da raus die kUnf t igen E n t w i c k e l u n g s - b e w e g u n g e n a l le r T h e i l c h e n a b z u l e i t e n und so die LUcke der d i r e k t e n B e o b a c h t u n g e n auszufUl len vermSchten . Eine der- artige ,urs~tehliche ' E n t w i c k e l u n g s l e h r e wUrde den Namen ~K.inetik' der E n t w i c k e l u n g verdienen.

�9 Wir w e r d e n ke ine yon be iden so u n t e r s c h i e d e n e n W i s s e n s c h a f t e n vo l l ende t sehen; abet wir w e r d e n immer be ide mit e i n a n d e r zu p f l egen haben , um au f be iden Wegen uns nnse r em Zic le zu n~thern; der somit nSthigen Vereinigung beider Wissenschaften kiinnen wir den Namen ,Entwickelnngsmeehanik' des Embryo beilegen. Es liegt in der Natur der Verhiiltnisse, dass von den bciden Theilen, welche dicser Terminus danach umfasst, die K i n e m a t i k , die bloB d e s k r i p t i v e B e w e g u n g s l c h r e , yon der K i n e t i k , der ,urs~tchl ichen t B e w e g u n g s l e h r e [oder der Lehre yon den , W i r k u n g e n der The i l e au f e inander ' ] mehr und mchr in die Rollc einer bloBen Hilfswissenschaft gedriingt werdcn muss.

�9 Es bedarf wohl keiner besonderen BegrUndung, dass trotz des Lichtes, welches durch die Deseendenzlehre auf die j eweiligen g e for m- ten Resnltate der E n t w i e k e l u n g s v o r g a n g c in jeder Phase der- selben gefallen ist, d icse Vorg~tnge se lber e ine r speeiellen causa len U n t e r s u c h u n g bediirfen, bliemand wird den Nutzen der eventuellen Frtichte darauf gerichteter Untersuchungen in Zweifel ziehen. (Eine leider zu optimistische Auffassung'!) Gehen diese doch darauf aus, uns diejenigen Kri~fte und Wirknngsweisen k e n n e n zu lehren, denen wir die E n t s t e h u n g und E r h a l t u n g u n s e r e r e igenen Ex i s tenz v e r d a n k e n , und mit deren Erkenntnis auch unser ~trzt- liehes Handeln ein in viel hiiherem MaBe wissenschaftliches und daher ersprieBliehes werden wird.,< (1, Bd. II. pag. 12.)

Der an die Einleitnng angeschlossene erste Beitrag znr Entwicke- lungsmechanik des Embryo enthi~lt nun Versuche und Eriirterungen zur e r s ten O r i e n t i r u n g sowohl tiber d ie N a t u r der in der Ontogenese v o r l i e g c n d e n P rob leme wie tiber die Art und Weise, wie diese der U n t e r s u e h u n g zug~tnglich zu machen sind.

Da die bisherige deskriptive Forschung sieh mit der Able i tnng der F o r m e n aus Biegungen , F a l t u n g e n etc. der Ke imbl~ t t e r

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Fiir unser Programm und seine Verwirklichung.

begnUgt hatte, so wurde in einem besonderen Abschnitte dieses Beitrages (pag. 235--240) im Speeiellen dargethan, dass ein und d icsc lbe Formi~nderung, z.B. eine bestimmte B i egung einer Platte, durch iiberaus verschiedene Umlagerung'en ihrer Thcile und darch e n t s p r e c h e n d v e r s e h i e d e n e u r s5ch l i che W i r k u n g s w e i s e n her- vorgebracht werden kann. Diese Sachlage ist der Grund der Un- mSgl i ehke i t , die urs~ichl ichcn Vorffiinge e iner o r g a n i s e h e n Formi~nderung aus der bloBen, wenn aueh Uberaus g e n a u e n B e o b a c h t u n g d ieser >>Formanderung,, zu e rsch l ieBen , da alas gestaltende Wirken im Organischen nicht wie bei Biegungen, die wir vornehmen, ein ~tuBeres, sondern ein inneres und in Folge dessen unsichtbares ist.

Da diese Sachlage zugleieh beding't, dass die d e s c r i p t i v e For - schung Uberhaupt ke ine , s i c h e r e n ~ U r t h e i l e tiber die Ur- sachen der yon ihr e r m i t t e l t e n Form~tnderungen gewi~hren kann, so wurde dies an dem Beispiele der B iegung einer m(igliehst einfach g'estalteten Platte detaillirt dargethan. Aus dem gleichen Grunde wollen wir diese Darlegung hier im Wesentliehen wieder- helen; hierdurch wird das B e s o n d e r e der e n t w i c k e l u n g s m e c h a - n isehen B e s t r e b u n g e n vielleieht am schi~rfsten erli~utert.

B iegung z.B. einer mSglichst einfach gestaltetcn, also allent- halben parallel begrenztcn Platte kann erstens re in pass iv , somit allein durch Wirkung auBerer Kriffte, geschehen; und zwar kiJnnen durch verschiedenartige Einwirkungen auch sehr verschiedene Biegungen hcrvorgebracht werden. Doeh kSnnen andererseits auch durch an sieh ve r s ch i edene K o m b i n a t i o n e n yon Druek- und Zugkraften oder sogar dutch Kombinationen bloB yon Druckkri~ften oder bloB yon Zugkrifften far die i~uliere Besiehtigung die g l e i ehen B i e g u n g e n erzeug't werden. So kann eine Platte durch Einspannen des einen Endes in einen Schraubstock und Abbiegen des anderen E n d e s , - oder durch Einspannen beider Enden in den Schraubstock und Zu- schrauben des Schraubstockes, also allein dutch D r u ck einwirkung, - - oder, wie ein Bog'en zum SchieBen dutch seine angespannte Sehne allein dutch ausgeUbten Z ug, -- ferner unter querem Auflegen auf den offenen Sehraubstock durch Aufschlagen mit dem Hammer g'egen den nicht ge- stUtzten mittleren Theil, - - oder umgekehrt unter Auflegen auf den AmboB und Schlagen auf den gcstUtzten Theil in anniihcrnd gleicher Weisc gebogen werden. An einer Platte aus ziemlich ha r t em Materiale wcrdcn wir an den feincn Form- und Oberfl~tchenverh~ltnissen, an den Merkma len zwc i t c r Ordnung , leicht crkennen k(innen, auf welche

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S Wilhelm Roux

der genannten Weisen, also dureh welehe ~speeie l len Wirkungs - weisen,, der Druck-und Zugkrafte oder (wie in den beiden letzteren Fallen) bloB der Druckkrafte diese Biegung vorgenommen worden ist, natUrlich vorausgesetzt, dass keine naehtragliehe Abfeilung statt- gefunden hat. Dagegen wUrden bei dem uns angehenden weiehem Materiale die feinen Formverschiedenheiten, welche jeder umgestaltend wirkenden biegenden Kombination von Druck- und Zugkraften oder bloB yon Druekkraften eigen sind, fur uns nieht genUgend wahr- nehmbar sein. Wit kSnnten also aus der Form der Biegung nichts Sieheres tiber die Angriffspunkte und die Riehtung und die Beschaffen- heir der bieffenden Krafte, also aueh niehts tiber die b iegende Wir- k u n g s w e i s e folgern.

Diese Biegung rein dutch auBere Krafte ist also pass ive Ver- anderung der Platte, somit pass ive Differenzirunff der Platte, um einen entwiekelungsmeehanisehen Ausdruek daflir zu gebrauchen; die passive Differenzirung stellt den hi~ehsten Grad der *abhangigen D i f f e r e n z i r u n g , eines Gebildes dar.

Wird der Hammer mit der Hand bewegt, so stammen seine de- formirenden Krafte, die erst durch die Verhaltnisse, unter denen sie zur Anwendung ffelangen, zu Druekkraften oder Zugkraften werden sie kSnnten, wenn man auf einen nieht direkt unterstiitzten Theft schlagt, aueh zu direkten Biegungskraften werden), yon den Muskeln her, also aus chemisehen Atomkra f t en ; wird der Hammer (z. B. ein Dampfhammer) bloB auf den bearbeiteten Theft fallen gelassen, dann liefert die S c h w e r k r a f t die Druekkraft etc., wahrend die als jedesmalige Vorbedingung ihrer Wirkung nSthige Energ ie der Lage (Hebung des Hammers) dureh die Dampfkraft, zunachst also dutch Warmeenerg ie , hervorgebracht wird.

Sollten wit uns nun begniigen, bloB festzustellen, unter welchen �9 Formwandlungen,~ des anft~ngliehen EisenstUekes und unter welehen Umlagerungen seiner Theile ein Kessel hervorgebracht wird, nicht auch dutch welehe dieser genannten mi~gliehen ~Wirkungsweisen, , und unter Anwendung welcher Arten yon Energie und woher diese stammen ? Ist dies nieht dis bei Weitem in te ressan te re , und, wenn es sieh, wie stets in unseren Fallen, wesentlieh um S.e lbs tges ta l tung des gebildeten Theiles handelt, aueh die wiehtiffere Aufgabel)?

~) Anm.: Wir verwenden natiirlich bei uaseren Ableitungen die zur Zeit verbreitetsten, ausgebildetsten Auffassungen der Physik und Chemic and operiren daher hier mit Atomen und Molekiilen und den ihnen zugeschriebenen Kr~iften. Wenn die sog. ,~Energetik,, mehr ausgebildet sein wird, kann das Gesagte leieht in die Ausdrueksweise dieser Auffassung iibersetzt werden.

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Der Physiker, der etwa in diese Schrift oder in eine meiner frUheren Abhandlungen blickt, finder den physikalischen Theil der- selben einfach selbstverstandlich; er wundert sich, dass Jemand solche Sachen heut zu Tage erst noeh aus einander zu setzen fUr nSthig halt; er finder wohl auch, dass die Darstellung an sich nicht auf der HShe seiner Auffassung und Ausdrucksweisen, sondern ~u parterre steht, zu sehr mit popularen, also alteren Anschauungen und AusdrUeken arbeitet. - - Manche, vielleieht viele biologische Leser dagegen finden, dass dieselben Darstellungen, wie mir durch persSnliche Mittheilungen be- kannt ist, und wie ich aus dem unvollkommenen Verstandnis der- selben erschlieBe, schwer verstandlich, zu allgemein gehalten sind, dass dieselben zu viel mit den Lesern nicht gelaufigen physikalisch- technischen AusdrUcken arbeiten und zu viel Konkretes als bekannt voraussetzen.

Ieh babe es Inir daher in den neuen Theilen dieser Schrift an- gelegen sein lassen, mich a l l e n biologisehen Lesern m(igliehst ver- standlich zu machen.

Bei einer Platte aus l ebendem Mater ia l kann auBer dutch auBere Einwirkung die Biegung zweitens auch durch K r a f t e be- wirkt werden, welche, yon einem aus lSsenden Momente abgesehen, du rehaus in der P la t t e se lber ge l egen sind; dann nennen wir die Biegung der Platte: ~Selbstbiegung,~, die Veranderung ~Selbst- d i f f e r e n z i r u n g der P l a t t e , , weil die Ursaehen der spec i f i s ehen Art der Formenanderung in der Platte selber gelegen sind.

Auch diese Art der Biegung kann wieder unter Uberaus ver- schiedenen Umlagerungen der Theilehen und durch entspreehend v e r s e h i e d e n e W i r k u n g s w e i s e n , also durch verschiedene Ursachen stattfinden. Halten wir uns hier nur an unser aus Zellen gebildetes Material, so kann die Biegung stattfinden durch ak t ive VergrSBe- rung der Platte bloB auf e iner Flachenseite; diese VergrSI]erung kann durch bloi~es W a e h s t h u m der Zellen, oder durch V e r m e h r u n g der Zellen verbunden mit Wachsthum, oder durch H i n w a n d e r u n g yon Zellen gegen und zwisehen die anderen Zellen, ferner durch blol]e aktive A u s b r e i t u n g der Zellen in den Richtungen der Flache erfolgen. Jeder dieser formalen Vorgange beruht auf qualitativ resp. quantitativ ande ren W i r k u n g e n , also auf anderen , )Wirkungs- weisen, , , resp. anderen GrSBen dieser Wirkungsweisen: also aueh auf anderen, diesen Wirkungsweisen zu supponirenden Kraften resp. KraftgrSBen. Die Z e l l w a n d e r u n g kann selber wieder auf ve r sch i e - denen W i r k u n g s w e i s e n beruhen, z. B. naeh HIs auf einfaehem

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| 0 Wilhelm Roux

Chemotropismus durch Wanderung gegen die Oberfliiche, yon welcher der Sauerstoff eindringt (dann ist diese Biegung also keine ,reine Selbstdifferenzirung, der Platte, da eine wesenfliche, die Ar t der Gestaltung bedingende Ursache von auBen her kommt), oder auf An- lockung yon Zellen dutch andere Zellen (Cytotropismus, 4) sowie auf anders vermittelten Arten yon Cytotaxis (5). Es kiinnen ferner al le die g e n a n n t e n fo rma len Vorgi~nge, also auch deren ursiichliche W i r k u n g s w e i s e n s ich in verschiedenster Art kombin i ren .

Aus der Gestalt~nderung, aus der Biegung der l ebenden P l a t t e k(innen wir also gar n ich t s Bs s t i m m t es tiber die ur- si~chlichen W i r k u n g s w e i s e n und die ihnen zu supponirenden Kr~tfte schl ieBen, welehe diese Biegung hervorbringen.

Die Reihe der Miiglichkeiten ist aber yon uns noeh gar nieht erschi~pft. Diess Biegung kann auch statt durch aktive VergrSl~erung einer Plattenseite, wobei pass ive Umformung der anderen (der kon- kaven) Seite stattfindet, durch a k t i v e V e r k l e i n e r u n g der anderen Fliiehe unter passiver Deformirung der ersten Seite sich vollziehen; nnd diese Verkleinerung kann wieder dutch sehr verschiedene Wir- kungsweisen hervorgebracht werden, z. B. durch Streckung der Zellen der konkav werdenden Fli~che rechtwinkelig zur Fl~tche, also unter Verkleinerung der anderen Zelldimensionen, ferner durch Schwund sei es ganzer Zellen oder blol] yon Theilen vieler Zellen, dutch Aus- seheidung von Zellsubstanzen, dutch Zellenwegwanderung: alles for- male Vorgange , yon denen j e d e r w i e d e r se ine b e s o n d e r e n u r s a e h l i c h e n W i r k u n g s w e i s e n haben muss.

Es ki~nnen abet aueh sowohl auf der konvex- wie auf der konkavwerdenden Seite gleiehzeitig aktive Veranderungen stattfinden,

- - sowohl solehe, welehe sieh bei der Biegung untersttitzen, als auch solehe, dis sieh theilweise 'in ihren biegenden Wirkungen aufheben, so dass im letzteren Falle trotz starker innerer Umordnungen eine nnr geringe iiu[]ere Formwandlung resultirt.

Ferner kann die Biegung der Platte durch Kombina t ion i nne re r und i~ul]erer W i r k u n g e n versehiedener Art sieh vollziehen, z.B. indem die Platte der Fl~tche nach sieh auf sine dsr genannten Weisen /vergri i l ]er t , abet dutch umgebende Theile an der Aus- dehnung in. Riehtung der Flache gehindert wird. Das war die yon HIs vielfach znr Ableitung embryonaler Formenbildung verweIidete Annahme, die abet, wie wir sahen, blol~ e in e n Speeialfall unter sehr vielen mi~gliehen Kombinationsn yon biegenden Wirkungsweisen dar- stellt. Es konnte dureh das Experiment gezeigt werden, dass nach

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Ausschneiden der Medullarplatte des HUhnerkeims eine raschere Zu- sammenbiegung derselben eintritt als normal; so dass also die Biegung der Platte nieht passiv durch Verhinderung ihrer Ausdehnung (somit nieht dutch Stauung) gebogen wird, sondern dass sie im Gegentheil aktiv durch in ihr selber liegende Ursachen sich biegt (s. 1, Bd. II. pag. 246).

Die Entwickelungsmeehanik kann sieh daher nicht mit der Fest- stellung zu f r i eden geben, dass eine neue Form unter einer be- schriebenen )) Bi egung �9 einer Platte stattfindet; sondern sie miichte genau ermitteln, auf welche Weise, das heist hier einmal: auf welehe g e n a u e r e fo rmale Weise, also durch welche formalen Ande- rungen, wie Umlagerung, Vermehrung oder Schwund ihrer Theile, auBerdem abet besonders: durch w e l c h e der vielen vorstehend ge- nannten oder sonstig ))mSglichen % diese Umlagerungen etc. bewirkenden ) )Wirkungsweisen, , im Einzelfalle diese Biegung hervorgebraeht wird, welehe dieser vielen denkbaren Wirkungsweisen tiberhaupt bei den meis ten Gestaltungen die thats~ehlich wirkenden sind etc. Die s t a t t f i n d e n d e n W i r k u n g s w e i s e n sind die U r s a c h e n der beobach- teten Biegung; somit sind sie im Unterschied von den fUr uns d e n k - miSgliehenWirkungsweisen die w i rk l i chen , also die ~ursiichlichen, Wirkungsweisen der e inze lnen Biegung; diese sollen ermittelt werden.

Die Biegung kann sich also vollziehen durch ZellvergrSBerung, Zellvermehrung, aktive Zellstreckung, Zellwanderung etc. Das w~ren die noch ~,an sich s ichtbaren, , , wenn auch oft im konkreten Falle nieht zu sehenden fo rma len Vorg~tnge, welche die Biegung hervor- bringen. Diese selber sind indess nur die R e s u l t a t e an sich uns i ch t - bare r Wi rkungen , W i r k u n g s w e i s e n ; wir mSchten aber auch diese kennen lernen nach ihrer Art, ihrem Sitz, ihrer Riehtung, GriJBe und Zeit. Also: auf welehen Wirkungen beruht dies Wachsthum, yon wo- her wird es angeregt, wie seine GrSBe und Richtung bestimmt? Auf welchen Wirkungen beruht die Zellvermehrung, die Zellenwanderung ? Ist letztere einfacher Chemotropismus oder Cytotropismns oder eine andere der yon mir unterschiedenen Arten der Cytotaxis ? Und worauf beruhen diese wieder, wodnreh werden sie bewirkt? etc.

Wenn solche gestaltenden Wirkungsweisen als b est~tndige er- kannt sind, und wir sie flit e i n f a c h e Wirkungsweisen halten oder wenn wir sie wenigstens trotz unserer Einsicht~ dass sie sehr kom- plicirt zusammengesetzt sind, doch, weil wir sie vorlliufig nicht zer- legen ki~nnen, als Einheiten des Geschehens verwenden miissen, so

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wird ihnen der Bcquemlichkeit der Vorstellung und des Ausdrucks halber wohl auch je eine besondere Kraft supponirt; das sind dann also ~ g e s t a l t e n d e Kriifte% resp. im vorliegenden Falle meist ge- s t a l t end w i r k e n d e ~Kombina t i onen yon Kr~f ten, , , z. B. yon Druck- und Zugkriiften, yon Waehsthumskr~tften: AusdrUcke, die ahnlich~verwendet werden, wie der Physiker yon Centripetalkraft, Centrifugalkraft, ~ormalkraft, Tangentialkraft rede t .

Man spricht so yon Biegungskr~if ten , Tors ionskr~t f ten; das sind Zug- oder Druckkriffte, welehe derartig z. B. an einen Balken angreifen, dass sie Biegung oder Torsion bewirken. Niemand denkt sich dabei, dass dies , )besondere Ar ten yon Kraften,~ wiiren; denn ein Pfundgewicht kann je naeh der Art seiner Anbringung an einem Balken als reine Zug- oder Druckkraft resp. als Biegungs- oder Torsionskraft wirken.

Der d i r e k t e n W a h r n e h m u n g sind somit bei den org'anischen Gestaltungen immer nur die g roben g e s t a l t e n d e n Fo lgen der W i r k u n g s w e i s e n zuganglieh.

Es wurde an der erw~hnten Stelle (1, Bd. II. pag. 240) zugleich ausgeftihrt:~dass uns etwas weiter als bloB die genaue Verfolgung der auBeren Formi~nderung die genaue Verfolgung der mit ihr verbundenen S t r u k t u r a n d e r u n g ftihrt, wie das sehon aus der vor- stehenden Darstellung yon selber hervorgeht, so z. B. durch die genaue Verfolgunff der eventuell bei der Formanderung stattfindenden Umlinderung der G e st a l t tier Zellen an der Konvexiti~t und Kon- kavitat.

Doeh~nur in wenigen Fallen ist die mit einer ~tuBeren Form- iinderung eines Theiles gleichzeitig stattfindende "~nderung der Gestalt vieler Zellen eine derartig gleiehmaBige, dass man die auBere Form- i~nderung des Theils aus der gemeinsamen Gestaltiinderung der ihn zusammensetzenden Zellen ableiten kann. Wenn digs miiglich ist, so ist dann die Frage: Ist diese Gestalt~nderung der Zellen eine aktive oder passive etc. ?

Da aber aueh viele ~ Selbstbiegungem, mSglich sind, die nicht dutch �9 einheitliehe Gestalti~nderungen,, der den Theft zusammensetzenden Zellen bedingt sind, vielmehr dureh Wanderung und Vermehrung yon Zellen, welche sieh wieder mit Gestalti~nderungen yon Zellen kombi- niren kSnnen und hiiufig kombiniren, so ist auch mit diesem le tz ten Gl ied der d i r e k t e n B e o b a c h t u n g : der Ermittelung einzelner Stufen yon S t ruk tu r~ inde rungen - - auch selbst bei g'leiehzeitiger genauer BerUcksichtig'ung der Stellen st~irkster Kernvermehrung und der daraus

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ersehlossenen Zellenvermehrung - - eine s i ehe re E in s i ch t in das w i r k l i e h e g e s t a l t e n d e G e s e h e h e n allein dutch die Hilfsmittel der d i r e k t e n B e o b a e h t u n g des n o r m a l e n Gesehehens selber nieht zu gewinnen.

Was nun yon dem bier er~irterten Beispiel einer B i e g u n g gilt, das gi l t aueh yon j e d e r a n d e r e n s i e h t b a r e n F o r m ~ n d e r u n g eines aus Zellen zusammengesetzten Theils: immer kann diese Form- ~nderung dureh sehr versehiedene Umlagerungen und Umgestaltungen und sonstige Anderungen, z. B. dureh Vermehrung, Waehsthum, Ge- stalt~nderung der Zellen bedingt sein, was aber die Beobaehtung des normalen Gesehehens meist nieht einmal zu ermitteln gestattet.

Wenn abet aueh das an den Zellen stattfindende Geschehen in einzelnen F~llen direkt siehthar zu maehen ist, so gilt dies doeh night far die W i r k u n g s w e i s e n , welehe dies siehtbare normale Gesehehen bewirken. Da wit aber aueh diese kennen lernen wollen, so bedUrfen wir dazu anderer Methoden als derjenigen der direkten B e o b a e h t u n g des n o r m a l e n Gesehehens oder der Integration des- selbeu aus Sehnittserien unmittelbar auf einander folgender Ent- wiekelungsstadien; dazu bedUrfen wit des Experimentes am lebenden Organismus, woriiber im zweiten Ahschnitt ausfUhrlieh gehandelt wird.

Wie weir wir damit kommen, ob wir Alles erreichen k~nnen, was wit wUnsehen, ist eine andere Frage. Bei tier Aufstellung des Programms aber mUssen wir dies Ziel als erstrebenswerth, ja als erstrebensn~thig bezeiehnen. Auf alle F~lle abet ist das Experiment das Mittel, welches uns noeh eine gute Streeke weiter fiihrt als die blol~e, wenn aueh aufs ~ul~erste verseh~rfte und verfeinerte Be- obaehtung des normalen Gesehehens.

Diese grundlegenden Vorstellungen der entwiekelungsmeeha- nisehen Forsehung sind dann sp~ter wiederholt aber, in kUrzerer Form yon mir reprodueirt worden. (Auf unseren Opponenten habeu sic aber offenbar keinen Eindruek gemaeht; denn er ist der Meinung, dass mit der vollst~ndigen Ermittelung und Besehreibung des wenigen wirklich Siehtbaren oder siehtbar zu Maehenden vom normalen Ge- staltungsgesehehen und mit den daraus ahleitbaren, im Speeiellen durehaus unbestimmten ursKehliehen Folgerungen die Aufgabe der Wissensehaft vom organisehen Gestalten yell gel~st w~re, s. u.)

In der Festrede zur Einweihung des neuen k. k. anatomisehen Institutes zu Innsbruek im Jahre 1889 tiber: ~Die E n t w i e k e l u n g s - m e e h a n i k der Organ i smen , e ine a n a t o m i s e h e W i s s e n s e h a f t der Z u k u n f t ~, wird zun~ehst die Entwiekelungsmeehanik mit einem

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Oebitude verglichen und yon ihm gesagt (1, Bd. II. pug. 25): , E s f e M t zu ibm noch der Bauplan, und was wir yon ihr zur Zeit haben, ist nlcht viel mehr als eine ~4nzahl regellos gelagerter, zum Theil be-

hauener, zum Theil unbehauener Steine.~

�9 Aber der GrSBte un t e r uns in V e r g a n g e n h e i t , Gegen- wa r t und w e l t e r Z u k u n f t , CARL ERNST VOS BAER, ha t ihr be r c i t s das Ziel v o r b e s t i m m t , und d a d u r e h zug le i ch D i r e k - t i ven t iber die F u n d i r u n g und Anlage des Banes g e g e b e n . , Diescs von v. BAER formulirte Ziel ist: ~Die b i l d e n d c n Kr~tfte des t h i e r i s c h e n K( i rpers a u f die a l l g e m e i n e n Kri i f te o d e r L e b e n s r i c h t u n g e n des W e l t g a n z e n zurUckzuf i ihren, , (6). Es wurde yon mir zugleich als fraglich bezeiehnet, ob die dieser For- mulirung zu Grunde liegendc Auffassung ttberhaupt v o l l k o m m e n riehtig sei (1, Bd. II. pag. 29).

Naeh einer Besprcchung dcr vier bisher gepfiegten Richtungcn der Anatomic: dcr das Fertige ))besehreibenden% der dasselbe auf seine Funktion deutenden, der beschreibend entwickelungsgeschicht- lichen und der vergleiehendcu folgcn (pug. 27) die Wortc:

,)Wenn wir uns nun in Gedanken in eine zukUni~ige Zeit ver- sctzen~ in der diese vier zur Zeit zUnft igen Richtungen der Anatomic am Ziele der Vollendun~ angelangt sein werdcn, also in eine Zeit, in der alle t y p i s c h e n Thcile und Strukturvcrh:~tltnisse des Menschen his zum klcinsten, mit den vervollkommnetsten optischcn Hilfsmitteln wahrnehmbaren Gebilde und ihre normalen Variationen fehlerlos be- schrieben w~tren, in der wir z. B. allc typisch gelagerten Ganglien- zcllen und h~ervenbahncn des Gehirns und Rttckenmarks genau kennten,

'in der wir ferner den speeicllcn bIntzen jedes dieser zahlloscn Form- gebilde erkannt und aueh die Entstehungsweisc dieser fast unend- lichen Mannigfaltigkeit von Einzelbildungcn erforscht hi~tten, und in der auch die verglcichcnde Methode ihr Material vollkommen er- schiipft hat: wUrde sich dann unser Wisscnstrieb bezUglich der organischcn Formcnbildungen b c fr i c di gt ftthlcn ? Ware die aus diesen vier Richtungen gebildete M o r p h o l o g i e der Organ i smcn dann etwas V o l l e n d e t e s ?

~)Es kiinnte so scheinen! Und wohl werden vielc gegenw~rtige Forseher dicse Ansicht vertrcten.

~)Doch ich muss sagen: , ~e in ' . Denn noeh fehlt uns ein grofier Theil~ um nicht zu sagcn der beste Theil des zur vol lcn E r k e n n t n i s ni~thigcn Wissens, es fehlt die Kenntnis der , d i r e k t e n ' U r s a c h c n des E n t s t e h e n s d i e se r Gebi lde .

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Das jedem Mensehen, wenn sehon dem Einzelnen in sehr versehiedenem Mal~e angeborene Causali t l i tsbedi~rfnis w i r d aueh dureh die v e r g l e i e h e n d e A n a t o m i e nur zum The i l befri.edigt.

>)So weit aueh die theoretisehen Grundla~en dieser Wissenschaft riehtig sind, so werden wit dureh sie besten Falles doeh bloB er- fahren, weleher V o r g e s e h i e h t e das Ei und der SamenkSrper ihre gestaltenden Eigensehaften verdanken; aber d iese se lbs t b l e i ben uns in i h r e r B e s e h a f f e n h e i t und in i h r en ,Wirktmgsweisen' vollkommen unbekannt.

))Wir wissen sodann noeh nieht, we lche Kriifte im befruehteten Ei vorhanden sind, und in weleher Anordnung sie sieh befinden,. dass sie es vermiigen, die Entwiekelung des Individuums einzuleiten; wir wissen nieht, welehe ,Kraftkombinationen' im weiteren Ver- laufe die Entwiekelung bewirken; kurz, wir wissen nieht, w a r u m aus dem einfaeh geformten Ei ein hoch komplieirter, typiseh gebauter Organismus hervorgeht, und warum der auf diese Weise ausgebildete Organismus trotz stetigen Weehsels des Stories lange Zeit sieh relativ unveriindert zu erhalten vermag.

�9 Erst wend wit aueh diese Fragen richtig beantwortet hiitten, wend wir zu den Thatsaehen der vier erstgenannten Riehtungen also noeh die Kenntnis hinzngefagt hittten, w e l e h e n I(r~iften and wel- ehen ,Wirkungsweisen' dieser Kriifte j e d e s S t a d i u m der En t - w i e k e l u n g des Individuums und sehlielllieh j edes e inze lne Organ in Gesta l t , S t r u k t u r , Quali t i i t , Lage und V e r b i n d u n g seine Entstehung und weiterhin seine Erhaltung verdankt, dann warden wit am Ziele unserer bezagliehen Erkenntnis sein und sagen kiinnen: Die ,Morpholog ie ' in u n s e r e m S inne ist fertig, die vollkommene Kenntnis und Erkenntnis der normalen Formenbildung der Organis- men ist erreieht.

Abet Jeder, der die causalen Wissensc]~a f t en kennt, weifl, dass sie hie das S t a d i u m der V o l l e n d u n g erreic]~en, da j'ede neue K e n n t n i s yon Ursachen neue F r a g e n nach den Ursachen dieser Ursachen gebiert. Und aueh weim wir yon den letzten Ursaehen ganz absehen, so ist es doeh fraglieh, ob wir das yon CARL ERNST VOI~ BAER gesteekte Ziel: ,Die bildenden Krafte des thierischen K(irpers auf die allgemeinen Kr~ifte oder Lebensrichtungen des Weltganzen zuraekzufiihren' (6), je erreiehen werden, voraus- gesetzt, dass die zu Grunde liegende Auffassung aberhanpt vollkom- men richtig ist.

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,>Doch nicht der Besitz der vollen Erkenntnis, sondern das erfolg- reiche stetige Streben naeh Erkenntnis ist es, was nns Befriedigung gewahrt. ,,

An spaterer Stelle (1, Bd. H. pag. 36) folgt dann: �9 Wir Mediciner, die wir den htichsten Organismus am genauesten

kennen, werden in der Erforsehung" dcr U r s a c h e n des Aufbaues desselbcn und ~thnlich gebauter Organismen aus v ie len Zcl len und de r E r h a l t u n g s u r s a c h e n d ie ses Aufbaues ein Feld reicher und lohncnder Forschung finden; und es wird auch bei dieser Thatig- keit dem denkenden Beobaehter Manches yon den wesentlichen a l l g e m e i n e n E i g e n s c h a f t e n der Zellen sich ersehlieBen, nnd wahrscheinlieh gerade solches, welches dem Protistenforseher weniger nahe liegt oder fur ihn weniger leicht festzustellen ist.

�9 Vielleicht ist die yon C. E. v. BAER stammende A n a l y s e der organischen Gestaltungsvorgange in gestaltliche und qualitative (ge- webliche) Differenzirung zugleieh e ine eausale .

�9 S i cher aber ist dies n icht der Fa l l beziiglich d e r g e g e n - w i i r t igen A b l e i t u n g der F o r m e n b i l d u n g e n von Fa l tungs - , A u s s t i i l p u n g s - , V e r s c h m e l z u n y s - , Absehn i i rungsvorg i ingen u. dgl.; sowie mit der Zu rUckfUhrung d iese r Vorg~nge au f Verg r i i~e rung , V e r k l e i n e r u n g , U m g e s t a l t u n g , T h e i l u n g und U m o r d n u n g der Zellen.

~Diese Unterscheidungen sind blofl ,gestaltliche~; wit wissen , dass , jeder ' d i e s e r Vorg~tnge du reh zum T h e i l ,versehiedene' U r s a c h e n und , v e r s c h i e d e n e ' d e r s e l b e n du rch ,zum The i l g l e i e h e ' U r s a c h e n bed ing t se in kSnnen .

�9 JEine Analyse der organlschen Gestallungsvorgiinge nach den ,Ursachen ~ and de ren , s p e c i f i s e h e n K o m b i n a t i o n e n ' ste]~t noch aus. Wenn diese auch ein Ziel unseres Strebens sein muss, so wird es trotzdem vor l i iuf ig auch fiir die Entwickelungsmeehanik sehr nUtzl ieh sein, weiterhin dig Entwickelungsvorg~ing'e aufGrund des eben erw~hnten f o r m a l - a n a l y t i s c h e n Schemas zu zerlegen, weil bei diesem Bestrebeu die formalen Vorgi~nge des Genaneren erforscht werdeu, und weil diese Zerlegung immerhin die ZurUckfiihrung einer Vielheit anf eine Minderheit darstellt.

Weiterhin auf pag. 38 u. f.: �9 Wenn wir nun auch g e g e n w ~ r t i g zumeist die , s p e c i f i s c h e n

B e s c h a f f e n h e i t e n ' der U r s a e h e n sc lbs t n i ch t u e r d e n er- m i t t e l n k( innen, so werden wir auf Grund unserer Fragestellung dutch dig Bekanntschaft mit der ,~)rtlichkeit' der l_lrsachen vielfach

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gestaltende Einwirkungen~ zum Thei l wei t en t fe rn te r The i l e auf e inander e rkennen.

�9 Wir werden damit Fak to ren ermi t te ln , welche normale r Weise die ges ta l t ende Th~ t igke i t der Zel len und Gewebe ,ausl~sen' oder naeh Quantit~t , R i eh tung und Qualit~it a l te- riren. Und aueh so weir die Ver~nderungen rein aus in den ver- ~nderten Theilen selber gelegenen KrKften sich vollziehen, also ,Selbstdifferenzirungen' darstellen, werden wir die ,ausli~senden' inneren Momente fur j ede wei te re Ver~inderung zu ermitteln uns bestreben mttssen.

�9 Wit mUssen mit der Zeit anf Grund ana ly t i s ehe r Be t r aeh tung der e rmi t te l ten gestaltenden Reaktionen und Weehselwirknngen m~gliehst a l lgemein zur Wirkung ge langende , gestaltende Wirkungsgesetze (nieht blol~ Tha t saehen- .und Formengesetze) ableiten oder, besser gesagt, die zah l re iehen E i n z e l g e s t a l t u n g e n auf eine mit der Zei t immer k le ine re Minderhei t gestaltender, ,konstanter Wirkungsweisen' zurUekftlhren.

�9 Danach wird es des Weiteren versueht werden kOnnen, die aufgefandenen best~indigen gestaltenden Wirkungsweisen des lebenden Subst ra tes selbst wieder yon noeh allgemeineren Wirkungsweisen abzulei ten, und diese selber sehlieBlieh gleich den meehanisehen Massenwirkungen auf ira Bereiche des Anorga- nisehen erkannte Wirkungsarten, resp. auf die ihnen supponirten" Kraftformen zurliekzufUhren.

�9 Ieh bin der Meinung (pag. 43), diese Thatsaehen (seil. tier Regeneration, Postgeneration und anderer gestaltlieher Selbstregu- lationen) weisen uns auf eine grt~flere E i n h e i t l i e h k e i t unter den Theilen des Organismus hin, als wir trotz der Annahme, class jede bezUgliehe Zelle noeh einen Theil des ~Keimplasma~ enthalte, gegenw~r t ig zu ve r s t ehen im Stande sind.

�9 Die Entwiekelungsmeehanik erh~ilt daher in dem Suehen naeh der urs~iehliehen Vermi t te lung der die typisehe Einheit des Ganzen trotz mannigfaehen Weehse ls tier Verh~iltnisse he r - s te l lenden, e r h a l t e n d e n und w i e d e r h e r s t e l l e n d e n Vorg~inge eine weitere, groBe Aufgabe.

�9 Je weiter wit nun gegenwartig yon diesem Ziele entfernt sind (pag. 50), um so dringlieher mUssen wir sagen: Es ist an der Zeit, dass die E n t w i e k e l u n g s m e e h a n i k nieht mehr auf die ge- legent l iehe Pf lege au f anderen (besonders pathologisehen) Gebieten th~itiger Forseher angewiesen sei; sie bedarf zur

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Liisung ihrer groBen fundamentalen Aufgaben berufsmliBiger Pf leger , und diese werden die Anatomen sowie die entspreehend thi~tigen Zoologen sein, als diejenigen, welehen aueh bisher sehon die Aufgabe tier Erforsehung der organisehen Ges ta l tungen oblag.

)~Wohl wird es der Entwiekelungsmechanik yon g'rSBtem Nutzen sein~ wenn Manner yon der exakten, mathematisch-physikalisehen Schulung der Phys io logen ihr ihre Thatigkeit zuwendGn. DiGS wird jedoeh leider voraussiehtlieh nur vereinzelt gesehehen; denn das Hanptgebiet der physiologischen Forschung stellen die funkt io- nel len Leis tungen des berei ts Gebi ldeten dar, wogegen das Interesse fUr die Funk t ion des Gesta l tens , des Bildens zurUek- steht.

~Doeh dem Anatomen, dem ~Morphologen~ wit er sigh heut zu Tage so stolz nennt, kommt es zu, naeh yel ler Kenntnis und Erkenntnis der organischen Formenbildung zu streben and night wil lkUrl ieh den Begr i f f des ~,d7o~ auf diesem Gebiete mit der E rSr t e rung der B 'eziehungen zwischen ind iv idue l le r und p h y l o g e n e t i s e h e r E n t w i e k e l u n g fur ersch~ipft zu halten.

�9 Der Anatom ~esltzt in den vler bisherigen Richtungen seiner Wissenschaft zugleich die ]lauptsiicMic~en Vorkenntnisse fi~r die er-

folgreiche Bet]tatigung des Strebens nach der fi~nften Richtun.q Mn ; and wohl nur dem Nebenumstande der yon den Untersuehungsweisen der deskriptiven Forsehung abweichenden, fur die Entwiekelungs- mechanik nothwendigen experi~nentel len Forschungsmethode und des Erfordernisses noch mannigfaeher, andersartiger Vorkennt- nisse ist es zuzusehreiben, dass diese iDisciplin bisher s e i t e n s der Anatomen re la t iv wenig, fast nur beiliiufig gepf legt worden ist. Und sie crscheint [selbst manchem ihrer Mitarbeiter noeh so neu, dass er selbstandig ohne gebUhrende IBeaehtung der Leistungen seiner Vorgiinger vorgehen und ohne Erwiihnung der- selben seine Ergebnisse publiciren zu dUrfen glaubt; ein Verhalten, das seltsam absticht gegen die Gewissenhaftigkeit, mit .der unsere Zeit z. B. durehweg jeden Urheber der geringsten teehnisehen Ab- ~nderung einer der besehreibenden Forsehung dienenden Unter- suehungsmethode eitirt.

))Die Entwiekelungsmeehanik wird den vier b isher igen Rich- tungen das, was sie jetzt nnd in Zukunft yon ihnen als Vor- bed ingung ih re r e igenen Leis tungen empfi~ngt, reiehlich ver- gelten: der besch re ibenden Riehtung, indem sie die Aufmerk- samkeit auf bisher Ubersehene formale Eigenschaften lenkt, wie es

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z. B. schon mit der yon den Corrosions-Anatomen Ubersehenen hydro- dynamisehen Gestaltung des Lumens der Bhtgef'allverzweigungen der Fall war (s. 7); der physiologischen Richtung durch die Er- mittclung sowohl des Wirkungsumfanges der ,funktionellen Anpassung', wie der urs~tchlichen Grundlag'e dieses Prineipes der ,Selbstgestaltung des ZweckmiiBigen'.

,Auch die (seil. b e s e h r e i b e n d e ) E n t w i e k e l u n g s g e s c h i e h t e wird wesentliche FSrderung yon der Entwickelungsmeehanik zu ge- w~trtigen habe~n, und zwar einmal, indem gleichfalls mit der urs~teh- lichen Fragestelluug die Beobaeht3mg nach mauehen Riehtungen hin verschi~rft wird, und andererseits, indem dureh die Ermittelung des Wesens der einzelncn Bi ldungsvorg~tnge r i e h t i g e r e W e r t h - u r t he i l e gewonnen werden, wonach z. B. Manehes , was de r re in f o r m a l e n B e t r a c h t u n g als sehr e r h e b l i e h e r s c h e i n t , wie etwa, ob die Chorda dorsalis zur Zeit ihrer Anlage mit dem aureren, inneren oder mittleren Keimblatt im Zusammenhange steht, blot als eine geringe, vorliegenden Falles beim Frosehe sogar blol~ zei t - l iehe Var ia t ion ursiiehlieher Verh~tltnisse erkannt wird (s. 1, Bd. II. pag. 458).

�9 Und selbst die v e r g l e i c h e n d e A n a t o m i e wird in die Lage kommen, es willkommen zu heiren, wenn ihr in der phylogenetischen Deutung ontogenetischer Bildungen an mancheu Punkten nicht voll- kommen sieheres Fundament durch neue causa l e StUtzen ge - fes t ig t oder durch Ubernahme. der Last auf andere Grundlagen enflastet wird. Es ist b e w u n d e r u n g s w U r d i g , we lch hohes Marl yon E i n s i c h t se lbs t bis in d ie s c h e i n b a r s p e e i e l l s t e n Organ i sa t ionsve rh i~ l tn i s se uns die v e r g l e i e h e n d e A n a t o m i e re in a u f G r u n d l a g c der e i n f a e h e n F o r m v e r g l e i c h u n g ge- wi ihr t hat. Und dass dies miJglieh war, ja dass sogar die ge- fo rmten , E n d p r o d u k t e ' im T h i e r r e i e h e k o n s t a n t e r zu sein sehe inen , als die s p e c i e l l e n A r t e n i h r e r H e r s t e l l u n g , ist fiir die Entwickelungsmeehanik yon grorer Bedeutung (1, Bd. II. pag. 93). Doeh haben aueh diese Leistungen der vergleiehenden Anatomie ihre Grenzen; lind ich erinnere nur an die Unsichcrheit in der Deutung der V a r i a t i o n e n der individuellen Entwiekelung, z. B. be- zUglieh der Hyperdaktylie, Oligodaktylie, abnorm gelagerter Muskeln, bTerven, Knoehenkerne etc. Diejenigen dieser Bildungen, welche in iihnlieher Weise bei Thieren, besonders bei den vermutheten Ascen- denten, vorkommen, werden von Manchen ohne Weiteres als RUck- sehl~tge gedeutet. Von Anderen wird dem zwar widersprochen;

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doch leiden manehmal beide Auffassungen an einer gewissen WillkUr. Vor v i e l en d e r a r t i g e n E n t s e h e i d u n g e n solltemeiner Meinung naeh ers t noch die E n t w i e k e l u n g s m e e h a n i k e i n g e h e n d s zu Rathe g e z o ge n w er de n. Sic hat uns auf Grund bezUglieher Untersuchnngen zu belehren, ob dureh eine kleine, so zu sagen zufi~llige Variation gleich ein ganzer Finger mehr entstehen oder fehlen kann, ob beim Fehlen des ftinften Fingers der damit zum R a n d f i n g e r gewordene vierte Finger zufolge der Entwickelungsmechanismen gleich die Be- schaffenheit eines solchen, also des fehlenden fUnften Fingers erlangt, ~hnlich wie bei Extrauterinschwangcrschaft an dazu nicht bestimmter Stelle gleich eine wohlgebaute Placenta materna und Dccidua ent- steht; oder ob im Gegentheil derartige Anderungen, nach der Bc- sehaffenheit des normalen Bildungsmechanismus zu nrtheilen, so vielseitig und typisch begrUndet scin mUsscn, dass sie voraussichtlich bloll entstehen kiinnen, wenn schon yon den Vorfahren her das Keimplasma eine besondere Disposition dazu mitbringt.

�9 Wenn z. B. die ~tltere Angabe; dass man kUnst l ich die B i l d n n g e ine r v e r m e h r t e n F i n g e r z a h l gelegentlich der Regene- ration der abgeschnittenen Hand bei Tritonen veranlasscn kann, sieh besti~tigte~), so erhiclten wir dadurch einen H i nw e i s nicht bloB a u f die ~ a t u r der bezUgl ichen E n t w i e k e l u n g s m c c h a n i s m e n , sondern auch fiir die D e u t u n g der H y p e r d a k t y l i e ; ebenso wie dureh die Beobaehtung, dass die K n o e h e n aueh in neuen Ver- h ~ l t n i s s e n e ine , f u n k t i o n e l l e G e s t a l t ' und , S t r u k t u r ' er- langen, dass die Sehnen in Abhiingigkeit yon den Muskeln entstehen, die Deutung maneher Variationen dieser Organe bestimmt wird.

)>Drei yon den bisherigen Riehtungen der Anatomic bediencn sich der beschreibenden Methode; sic werdcn daher mit der Zeit ihr Material erschiipfen und ein Stadium der Vollendung errciehen oder ihm unter a s y m p t o t i s c h e r N i ihe rung sehr nahe kommcn; aueh die physiologisehe Richtung kann die gleiche Stufe erlangen.

�9 Nur die , u r s i i ch l i che ' Richtung kann hie ihr Material er- sch6pfen, und hie wird ihr die Vollendung verg6nnt sein; aber eben d a r u m wi rd sie auch die ewig f r i s che und ewig p r o d u k t i v e b l e i b e n . Es ist d e r n o r m a l e G a n g d e r W i s s e n s c h a f t e n , dass . a u f die E r f o r s e h u n g der , T h a t s a c h c n ' die E r f o r s c h u n g der , U r s a c h e n ~ folge. JEs wird daher eine Zeit kommen~ yon der an

1) Dies ist D. BARFURTH inzwischen in vorziiglicher Weise gelungen. Auch TORNIER gelang neuerdings dasselbe. Siehe Archly f. Entwickelungsmechanik. Bd. I und III.

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�9 d(eser jetzt yon Vielen gering geachtete, scheinbare Nebentrieb am Baume der anatomischen Wissenschaften z u m H a u p t t r i e b , z u r ; F o r t s e t z u n g des S t a m m e s werden wird. Die JEntwickelungs. mechanik wird alsdann einen 81amm darstellen~ welcher rasch in die H6he strebt und gegenwiirtig noch nicht geahnte neue Seitenzweige trelbt, deren Bl~itter die vier ersten J~ste in i]~ren Schatten nehmen und Nahrungssto~ zur JEntfaltung neuer Knospen fi~r sie bilden werden., (I, Bd. II. pag. 53.)

Aus einem Artikel: Zie le und Wege der En twicke lungs - mechanik (des Jahres 1892) m(igen noch einige Stellen hier Platz finden: ,Das Ziel der Entwickelungsmechanik ist eine best immte Art der ,E rk la rung ' der Organismen, (I, Bd. IL pag. 58).

Naeh AuffUhrung und Charakterisirung der b i s h e r i g e n drei , ,Erkli irungsarten~ der Organismen, ni~mlieh: dem Naehweise der ZweekmgBigkei t (besser der ,Se lbs tnUtz l iehke i t<, ) tier Or- ganismen, ferner der ,,formalen~, en tw ieke lungsgesch i ch t l i ehen Ablei tung des Komplieirten ans dem Einfaeheren, und sehliel~lich der ,,allgemeinen~ causa len Ablei tung der hiiheren Organis- men yon den n iederen aufGrund der Deseendenz wird auf eine nene Erkl~irungsart hingewiesen (J, Bd. II. pag. 59).

,An diese drei Arten yon Erkli~rung der Organismen hat sich nun eine vierte anznschlieBen; die Wissenscha]f t yon den , w i r k - l ichen ~ Bildungsursae]~en, yon den verae causae~ den gestaltenden Kr~iften und deren Kombinalionen, denen das Organismenreich ira Ganzen und in jedem Indivi'duum seine JEntstehung verdankt: die ~Entwickelungsmechanik der Organismen.

>,Das Ziel dieser Wissenschaft ist die Ermittelung der ganzen Reihe n~ichster, naher nnd entfernter, resp. speeieller nnd allge- meiner [Jrsachen jedes organisehen Bildnngs- und Erhaltungsvor- ganges, einerlei, ob es sich um progressive oder regressive Bildnngen oder sogenannte bloBe Umbildungen handelt. Je nach der Definition yon ,Ursaehe' oder ,Kraft' erh~tlt die speeielle Definition dieses Zieles eine andere ,Fassung', womit aber praktisch nichts gefiirdert wird; es sei daher an dieser Stelle davon abgesehen, solche ander- weit bereits angedeuteten Fassungen zu reproduciren.,

~Andererseits abet wird die E n t w i c k e l u n g s m e e h a n i k sich kein Hi l fsmit te l en tgehen lassen dUrfen und daher aueh aus den bereits ermittelten Thatsaehen der ve rg l e i ehenden Anatomie, z. B. aus den wirklich sehr hiiufig blo[~ allmiihliehen Formwandlungen der en twieke l t en Theile wlihrend der Phy logenese , sowie aus

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den Thatsachen des sogenannten b iogenet i schen Grundgesetzes RUckschliisse auf die Iqatur der En twicke lungsmechan i smen zu ziehen sich bestreben (s. auch I, Bd. I. pag. 443--447).

~)Die ablehnende Haltung der Deseendenztheoretiker und ver- gleichenden Anatomen gegen die Entwickehngsmechanik beruht auf der Annahme, dass alas sogenannte b iogenet i sche Grundgesetz allein schon eine genUgende E r k l a r u n g der embryona len Bildung dars te l le , und dass in Folge dessert j ede wei te re ,di- r ek te ' Ablei tung dieser Formen UberflUssig sei (pag. 71).

�9 Diese besonders yon HAECKEL (S) und manehem seiner Schiller vertretene Auffassung beruht meiner Meinung naeh auf einer Ver- wechse lung der Le is tungen zweier ganz ve r sch iedener Er- k la rungspr inc ip ien .

�9 Das biogenetische Grundgesetz ist bloll der Ausdruck der Wiederholung yon typ i schen Bildungen; es sagt jedoch nichts aus tiber die ,Krafte', welche diese Wiederho lung ,vollziehen' . Ohne diese Kraf te kann abet Uberhaupt nichts geschehen. Es ist nicht reeht vers tandl ich , dass es nieht ein ers t rebens- wer thes Ziel sein soil, diese Kraf te und ihre speeiellen Wir- kungsweisen zu erforschen.

�9 Die gr(iBte Befriedigung wird abet unser Erkenntnistrieb an sich ohne Riicksicht auf einen ,lqutzen' nach anderer Seite hin dutch die fortschreitende Einsicht in die Ursachen der organischen Entwickelung gewinnen.

~Der phylogenetischen Entwickehngsmechanik hat, wie wit oben sahen, eine sehr lange Periode der Pflege der ontogenefischen Ent- wickehngsmechanik vorauszugehen.

)~Unser gegenwar t iges Bestreben richter sich daher nur auf die Ermi t t e lung der Mechanismen tier , ind iv iduel len ' Ent- wicke lung (s. pag. 73).

,Dabei werden die Keimplasmata , Ei und Spermatosoma mit allen ihren im Laufe der Phylogenese entstandenen Eigenschaften als gegeben angenommen. Wenn wir dem Gange des onto- genetischen Geschehens folgen mUssten, so ware es nachste Aufgabe der Entwiekelungsmechanik, die Eigenschaften dieser Keimstoffe voll- kommen zu erforsehen und aus ihnen unter BerUeksichtigung der hinzukommenden auBeren Momente alle Entwickelungsvorgange der Ontogenesis abzuleiten. Doch wUrden wir auf diesem Wege nicht vorw~trts kommen.

,)Andererseits kann abet noch mehr gefordert werden, wenn "wit

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die individuelle Entwiekelung v o 11 k o mm en ermitteln wollen; denn dazu ist es niithig, dass wit nicht erst mit dem fe r t ig g e b i l d e t e n Ei und S a m e n k ~ r p e r unsere Forschung beginnen, sondern auch die E n t s t e h u n g d iese r be iden aus dem noch i n d i f f e r e n t e n Ke ims to f f verfolgen.,

RTach Aufstellung und Erlauterung des Begriffes einer Vor- entwickelung des Individuums: einer Periode, welche die UberfUhrung des urspriinglich, z. B. im Stadium der Blastula, vermuthlich iloch nicht auf e inzelne Wesen angelegten, also noch ~)unpers(inlichen(~ Keimstoffes (Keimplasson) zu 'dem die Anlage yon E i n z e l w e s e n darstellenden Ei und Spermatosoma (Keimplasma) bezeiehnet, sagen wit:

))Es ist Aufgabe der o n t o g e n e t i s c h e n E n t w i c k e l u n g s - mechan ik , auch alle d iese Vorgange der individuellea Vor- entwiekehmg zu e r forsehen ; ebenso wie es Aufgabe der phy lo - gene t i s ehen E n t w i e k e l u n g s m e e h a n i k ware, die Vorgange der phylogenetisehen Vorentwiekehmg: der Bildung des Keimplasson resp. Keimplasma auf ~dem Wege der Entwiekelung des ganzen Organismenreiehes ~vom Anfang des Organischen an bis zur Her- stellung des Keimplasson der jetzt lebenden Organismen zu ermitteln, wenn dies m(iglich ware.

�9 Nach der Anzahl der bereits iiber urslichliche Verhliltnlsse der individuellen Entwickelung vorllegenden Angaben wiire die Entwicke- lungsmechanik eine der am meisten gepflegten Wlssenschaften und selber bereits auf einer hohen Stufe der JEntwickelung ; denn d(e For- scher au f dem Gebiete der ~beschreibenden ~ Entwickelungsgesehlchte haben iiber die .Entstehung v(e[er formaler Bildungen schon recht be- stimmte Urtheile ausgesprochen. Doch diesen Urtheilen fehl t f a s t ausnahmslos eine geniigende sachliche Begriindung; es fehlen die , B e w e is e' fi~r die Richtigkeit gerade dleser speciellen Auffassung; wie denn mi t den desk r ip t i ven Forsc]~ungsmethoden an ,nor- malen ' Obj'ekten ,s ichere ~ Bewe i se f a r ur sach l i che Z u s a m - men]~iinge i~berhaupt ,n icht ~ erbrach t~werden k6nnen.

�9 Es wird iiberse]~en, class aus kons tan t en Beziehungen zwischen normalen JErscheinungen oder Vorg~ingen iiber die vermitlelnde Ur- sache dieser Konstanz desshalb keine sicheren Schliisse gezogen werden k6nnen, well wir die Komplicirtheit der normalen Wechselwirkungen noch nicht anniihernd iibersehen k6nne~.((

Obgleich diese so wichtige, f i i r die Methode der causalen biolo~ gischen Forschung bestimmende Sachlage wiederholt hervorgehoben worden ist (1~ Bd. II. pag. 30 und 928), so scheint sie doch bei manchen

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deskriptiven Eorschern nur sehr langsam Versliindnis zu j~nden, denn sie fahren fort, ihre blofl deskrlptiven Beobachtungen causal zu verwerthen und die experimentell gewonnenen .F, rgebnisse unbeachtet zu lassen~ so z. B. O. HERTWIG, J. KOLLMANN 11. A.

�9 Wenn wir (s. pag. 75) zur Zeit unser Augenmerk auf cinen k o n s t a n t e n Begleitcr eincs V o r g a n g e s richten und in ibm die U r s a c h e des letzteren erblicken, ki3nnen wir fast sicher seth, dass auBer ihm noch m e h r e r e F a k t o r c n da stud, die wir nur nicht wahrgenommcn haben. Es verr~tth w e n i g E i n s i c h t in die Vor- gi~nge der Na tu r , den augenf l i l l i g s t en , zuers t b e m e r k t e n B e g l e i t u n g s u m s t a n d auch fa r den w e s e n t l i c h e n , fur den u r s a c h l i c h e n zu ha l ten .

�9 Die causalen Forscher wiirden einen Umweg einschlagen und sich selber ein Armuthszeugnis ausstellen, wenn sic ihr Werk damit anfangen wollten, diese mannigfachen nicht bewiesenen Ausspriiche deskriptiver Forseher auf ihre Richtlgkeit zu priifen. Von diesen ganzen Urtheilen ist kaum mehr zu verwerthen als die Einsicht, class ungleiches ~Uachsthum eine der niichsten Ursachen der Gestaltbildung ist; a b e r sehon tiber den ,Si tz ' so l chen f o r m b e s t i m m e n d e n W a c h s t h u m s bet den , c i n z e l n e n ~ G e s t a l t u n g e n s ind die b i s h e r i g e n A n g a b e n v o l l k o m m e n unzuvcr l i~ss ig; g e s c h w e i g e denn , dass sic Uber die , U r s a c h e ' des W a c h s t h u m s se lbe r A u f k l a r u n g giiben.

�9 Wit haben uns das n o r m a l e Entwickclungsgeschehen der Organismcn als durch so t iberaus kompl i c i r t% und in Folge d e s s e n yon den anorganischen Vorgi~ngen so abweichende Wirkungen bcdingt vorzustellen~ dass wir jetzt, beim Beginne exakter causaler Forschungen, in keinem Falle sagen kSnncn, was fur die Natur dcr e i n f a c h e r e Weg w~ire, da wir die v o r h a n d e n e n , urs~ichlichen Momente noch nicht ahnen, geschweige denn kennen; und doch be- ruhen die causalen Ableitungen dcskriptiver Forscher wesentlich darauf, dass sic glauben, ihre Ablcitung stelle den e i n f a c h s t e n Herstellungsmodus der betrachteten Bildung aus der vorhergehenden dar. Schon die Thatsachen, auf dcncn das b i o g e n c t i s c h e Grund- ge se t z beruht, w i d e r s p r e c h e n vielfach direkt der Erzcugung der Individuen auf dem fo rmal e i n f a c h s t e n Wege.

�9 Die einzige ,s ichere ~ causale F o r s c h u n g s m e t h o d e a u f organischern Gebiete is t die des E x p e r i m e n t e s , und zwar des ,analy t i schen ~ Exper imen te s . Diese Thatsache ist bisher nicht gentigend gewtirdigt worden.~

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Zuletzt wurde in der E i n l e i t u n g zum Areh iv fur E n t - w i e k e l u n g s m e c h a n i k das Programm noehmals dargelegt, aus welcher Ausflihrung hier noeh einige wichtige Punkte nachgetragen werden miissen.

Die Entwiekelungsmeehanik wurde zunachst kurz als �9 die L e h r e yon den U r s a c h e n de r o r f fan ischen Gestal tungen,< bezeiehnet, somit als ,die Lehre yon den Ursachen der Entstehunff, Erhaltunff und RUckbildung dieser Gestaltung'enr

Weiterhin wurde gesagt (2, pag. 2): �9 Da man die Ursac~enjedes Geschehens Kr~ifte resp. E n e r g i e n

nennt, so kann man als das allgemeine Ziel der Entwickelungsmeehanik die , E r m i t t e l u n y der ges ta l t enden K r i i f t e oder E n e r g i e n ' be- zeichnen. In so fern uns j e d o e h die K r a f t e s. E n e r g i e n nur du tch ih re , W i r k u n g e n ' , d. h. j e d e Art d e r s e l b e n d u t c h ih re b e s o n d e r e W i r k u n g s w e i s e b e k a n n t w e r d e n , so lass t s ieh diese Aufgabe aueh als die ,]~rmittelung der gestaltenden Wir- kungsweisen' def in i ren .

),Eine , a l lgemeine ' , nieht quantitative, sondern (zunaehst nur) , q u a l i t a t i v e ' u r s a c h l i c h e E r k l a r u n g besteht dem entsprcehend stets in der ZurUekftihrung des betreffenden Geschehens auf allge- meiner giiltige, d.h. auch bei vielen anderen Vorgaugen vorkom- mende, best~indige, also unter gleichen Umstanden an jedem Orte nnd zu jeder Zeit in gleieher Weise stattfindende ~Virkungsweisen.

�9 Diese aus den E i g e n s c h a f t e n der Komponenten folgenden, also mit N o t h w e n d i g k e i t sich ergebenden ,best~ndigen Wirkungs- weisen' werden gew~ihnlich mit dem ~Namen , N a t u r g e s e t z e ' be- zeichnet; bei Annahme dieser letzteren Bezeichnung'sweise ware es dieAufgabe der Entwickelungsmechanik, die G e s t a l t u n g s v o r g a n g e der o r g a n i s c h e n E n t w i e k e l u n g au f die i hnen zu G r u n d e l i egenden ,Naturgesetze' zurUckzufUhren .

�9 Es ist aber wohl zu e m p f e h l e n , wenigstens in den Fallen, in welchen der Ausdruck , be s t and ige W i r k u n g s w e i s e ' bezeich- nender wirkt, ihn start des auf anthropomorphen Vorstellungen yon der Natur beruhenden Ausdruekes , N a t u r g e s e t z ' zu verwenden. Zumal bei dem Betreten eines neuen groBen, ganz besondere Schwierigkeiten einsehlieBenden Forschungsgebietes seheint es ange- messen, das, was e r m i t t e l t w e r d e n soll, d i r e k t se lbe r zu nennen , s ta t t e inen dem Wesen der Saehe f r e m d e n A u s d r u c k dafUr zu geb rauehen .

�9 Da ferner alle der.Causalitat unterliegenden Wirkungsweisen,

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also alle Wirkungsweisen, welche Gegenstand unserer Erforschung sein kSnncn, ,bes t i indige s. gleichfiirmige' sind, so kann d icses Be iwor t fiir gew( ihn l ich w e g g e l a s s e n w e r d e n , und es genUgt, Matt ,Natargesetz' e i n f a c h ,Wirkungsweisen' zu sagen. Start yon dem Brechungsgesetz des Lichtes kiinnen wit yon der ,Wir- k a n g s w e i s e ' bei der Lichtbrechung reden; statt der ,Gese tze ' der funktionellen Anpassung sagen wir die , W i r k u n g s w c i s e n ' der f u n k t i o n e l l e n A n p a s s u n g z. B. der Muskeln. Diese Bezeichnungs- weise macht zugleich eine in der Biologie schr verbreitete, unrichtige Anwenduag des Wortes, G c set z' unmSglich, n~tmlich die Anwendung des Wortes Gesetz zur Bezeichnung yon Thatsa lchen , yon Resu l - t a t en , start yon W i r k u n g e n , wie es z. B. in der Ublichen Be- zeichnung ,BELL'sches Gesetz' geschieht. Versucht man daftir ,BELL- sche W i r k u n g ' s w e i s e ' zu sagen, so tritt sogleich hervor, dass diese Bezeichnung auf die ,Thatsache' der motorischcn Natur der vorderen und der (angeblich) rein sensiblen ~atur der hinteren Nervenwurzeln nicht anwendbar ist.

�9 Definiren wir nunmehr die allgemeine Aufgabe der Entwicke- lungsmechanik au f die am w e n i g s t e n g e h e i m n i s v o l l e B e g r i f f e e i n s c h l i e B e n d e , also einfachste, und zugleich dem u n m i t t e l b a r e n V o r g e h e n am m e i s t e n s ich a n s c h l i c B e n d e Weise, so haben wir die organischen 0estaltungsvorg~inge aaf die wenigsten and

einfachsten ,Wirkungsweisen' zariickzufiihren. Letzteres schliei~t schon ein, dass fUr jede dicser Wirkungsweisen der e i n f a c h s t e (also der das Wesen bezeichnende) A u s d r u c k gesucht wcrde.

�9 Die organische E n t w i c k e l u n g (s. 2, pag. 4) besteht in der P r o d u k t i o n w a h r n e h m b a r e r , , t y p i s c h g e s t a l t e t e r ' Mannig- f a l t i g k e i t . Sehen wir an dieser Stellc yon den Bedingungen der Wahrnehmbarkeit ab, ~so s ind zar Entstehung ,typischer' Mannig- faltigkeit se lbs tvc rs t i~nd l ich b e s o n d e r e ,typische' Kombiaationen yon Ursachen s. Energien niithig. Ftir die ,gestaltete' ~atur dieser Mannigfaltigkeit sind besondere, ,gestaltead wirkende' Kom- hinationen yon U r s a c h e n e r f o r d c r l i c h , wclche die eben er- wi~hnten , g e s t a l t e n d e n K o m p o n e n t e n oder F a k t o r e n ' darstcllen. Wenn nun diese gestaltenden Komponenten nach ihrcr Art, Gr~ige and Anordnung in vollkommen t y p i s c h e r Weise producirt werden~ so ist selbstverstiindlich, dass beim Fernbleiben iiuBerer St(irung auch die yon ihnen hervorgebrachte gestaltlichc Mannigfaltigkeit eine voll- kommen t y p i s c h e werden mass.

�9 , Speciellen' hubert wit demna.ch j e d c n e i u z e 1 n e n

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G c s t a l t u n g s v o r g a n g a u f die ihn b e d i n g e n d e n b e s o n d e r e n K o m b i n a t i o n e n yon E n e r g i e n resp. a u f die W i r k u n g s w e i s e n d e r s e l b e n zurUckzufUhren , und zwar ist jede dieser Wirkungs- weisen nach ihrer {)rtlichkeit, Zeit, Richtung, Griifse und Qualit~it zu. e rmi t te ln . Oder umgekehrt ki~nnen wit streben, yon jeder an der Entwickelung eines Organismus als betheiligt erkannten Wir- kungsweise ihren specicllen Wirkungsanthcil an den cinzelnen Ge- staltungen festzustellen.

>>Diese Wirkungsweisen, in die wir die organischen Gcstaltungs- vorgiinge zerlegen, und daher auch die sie bedingenden Energien kiinnen einmal dieselben sein wie die des a n o r g a n i s c h e n s. p h y s i k a l i s c h - c h e m i s c h e n Geschehens .

�9 Da es n i ch t Aufgabe des Bio logcn ,als so l chen ~ ist, die W i r k u n g s w e i s e n des , a n o r g a n i s c h e n ' G e s c h e h e n s w e i t e r zu e r f o r s c h e n und zu ze r l egen , als die P h y s i k e r und Chemiker , so n e h m e n wir d iese W i r k u n g s w e i s e n als g e g e b e n hin und k~innen sic, so wcit wir sie bci dem o r g a n i s c h e n Geschehen be- theiligt finden, als ,einfache Komponenten' oder e i n f a c h e Wir - k u n g s w e i s e n dieses Geschehens bezeichnen, so r ~ t h s e l h a f t auch ihr ,Wcsen ' an sich se in mag, und wenn sie auch fi'iiher oder spater yon den Physikern und Chemikern weiterhin zerlegt werden; sobald Letzteres geschehen ist, werden wit uns dieser weiteren, noch e i n f a c h e r e n K o m p o n e n t e n bedienen.

�9 hTeben dem Bestreben der Ermittelung solchcr ,einfacher Wir- kungsweiscn' muss der entwickelungsmechanische Forschungsweg yon Anfang an durch die Einsicht bestimmt wcrden, dass die orga- nische Gestaltung' sich zumcist dutch Vorgi~ngc yon vorliiufig uniiber- sehbarer Komplicirtheit vollzicht, fUr welche ich den Namen ~kom- plexe Komponenten' oder komplexe Vorg~inge vorgeschlagen habe.,< (S. 1, Bd. II. pag. 82. Ich habe in den folgenden Citaten das Wort >>komplexe Komponenten, der lcichteren Vorstellbarkeit halber mehr- fach mit den Bezeichnungen komplexe Vorglinge oder komplexe Wir- kungsweisen vcrtauscht und statt Komponenten auch das identische Wort F a k t o r e n abwechselungshalbcr gebraucht.)

�9 Obschon es unserer unmiltelbaren Auffassung entspricht, class auch diese Wirkungsweisen in letzter Instanz auf anorgan(schen, also ,e!nfachen' Wirkungsweisen beruhen, so verleiht doch die Komplicirtheit ihrer Zusammenselzung dlesen Komponenten Eigenschaften, welche yon denen der anorgani~'chen V~irkungsweisen oft so erhebl(ch verschieden sind, dass sie den Leistungen dieser nicht nur sehr un~ihnlich sind~

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sondern ihnen zum Theil geradezu zu widersprechen scheinen; solches bekundet z. B. die Nichtexosmose tier Salze der lebenden, im Wasser liegenden Fiseheier, die 5~iehteintroeknung lebender kleiner Insekten im Sonnenliehte; wAhrend nach dem Tode dieser Gebilde sofort im ersteren Falle Diosmose, im zweiten Eintrocknung stattfindet; felmer die Absonderung des DrUsensekretes in einem Raum mit hiiherem Druek, als er in den Blutkapillaren der DrUse sich finder. DiGse VorgAnge bekunden, dass in den ersteren FAllen die Salze resp. das Wasser night frei, sondern gebunden, beschAftigt vorhanden sind; wAhrend letzteren Falles besondGre aktive LeistungGn unter eut- spreehendem Aufwand yon Energie seitens der EpithelzGllen vor- liegen.

�9 Es muss daher nnsere zwe i t e H a u p t a u f g a b e sein, d iese wenn aueh komplexen, so doeh best~indigen, d. h. unter gleichen VerhAltnissen stets gleich wirkenden Komponenten zu ermitteln, das heiBt, die organisehe Gestaltung ist auf solche an sieh unverstAndliche, aber konstante Wirkungsweisen zurtickzufiihren.

�9 Jede ,komplexe Wirkungsweise' stellt also bloB die Resultante uniibersehbarer Einzelwirkungen dar. Aus ersteren abet resultiren die meisten der von uns wahrgenommenen GestaltungsvorgAnge; es ist daher unsere Aufgabe, das Chaos innerer Wirkungen in eine mi ig l i ehs t g e r i n g e Zah l so l che r W i r k u n g s w e i s e n zu zerlegen.

�9 Solche , k o m p l e x e n W i r k u n g s w e i s e n ' sind zun~tehst dig elementaren ZGllfunktionen: die Ass imi l a t ion , die D i s s imi l a t i on , die S e l b s t b e w e g u n g der Zelle im Allgemeinen, die S e l b s t t h e i - 1 u n g der Zelle als eine bestimmte Koordination yon Selbstbewegungen; dazu kommen die t y p i s e h e fo rma le S e l b s t g e s t a l t u n g and die q u a l i t a t i v e S e l b s t d i f f e r e n z i r u n g der Zelle, als noch h~iher zu- sammengesetzte Wirkungen.

~Dagegen stellt das M a s s e n w a e h s t h u m der Zellen vielleicht bloB die R e s u l t a n t e n gleichzeitig verlaufender Assimilations- und DissimilationsvorgAnge dar; und dasselbe kann unter Beriicksichtigung AuBerer Druckwirkung aueh vom M a s s e n s c h w u n d der Zelle gelten. L o k a l e s W a e h s t h u m dagegen kann aul~er auf Massenwachsthum am bezUgliehen Orte bereits vorhandener Zellen aueh auf Hinwande- rung yon Zellen, also auf anderen komplexen Komponenten wie C h e m o t r o p i s m u s and C y t o t r o p i s m u s beruhen. ,Aussch l ieBl ieh d i m e n s i o n a l e s W a e h s t h u m (d. h. Vergrii•erung ohne Vermehrung der lebenden Masse, s. 1, Bd. II. pag. 81) kann dagegen auf aktiver Umformung yon Zellen bcruhen. AndGre, gleichfalls die Bewegungs-

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riehtung einzelner Zellen oder mehrzelliger Lebewesen bestimmende komplexe Wirkungsweisen sind der Galvano- , Helio- , Hydro- , Thigmotropismus.

,Die e ins te l l ende W i rkung der ,Gesta l t ' der, noch nicht geweblich differenzirten, Furehunffszel le auf die Richtung der Kernspindel , so die Einstellung der Kernspindel in die grSBte durch den Massenmittelpunkt des Protoplasmas der Zelle legbare Dimension der Zelle; die t rophische Wi rkung der funk t ione l l en Reize (auf welehe alle die auBerordentlich mannigfaltigen Ersehei- nungen der funktionellen Anpassung zurUekzuftihren sind); die tro- phische Wi rkung der Gang l i enze l l en a u f i h r e Ne rven fa se rn und bezUgliehen Endorgane sind weitere bereits festgestellte kom- plexe Wirkungsweisen, dutch welehe viele Gestaltungen vermittelt werden; ebenso die Wirkung vers t i i rk ter Blu tzufuhr auf die Vermehrung des Bindegewebes der betreffenden Theile etc.

,Diese komplexen Wirkungsweisen erseheinen noeh relativ einfaeh im Verh~iltnis zu anderen, mit deren Aufstellung wir die Analyse maneher Formbildungen zu beginnen geniithigt sind. (Hier folgt in griiBerer Ausfiihrung als Beispiel eine Ableitung der Umwandlung des anfanglichen SchlauchdrUsentypus der S~tugethierleber in den F a c h w e r k t y p u s yon naehtriiglicher multipolarer Differenzirung der anf~tnglich bipolaren Leberzellen.)

�9 Sehr viele soleher best i indigen Wi rkungswe i sen werden zuerst noeh zu ermitteln sein, und alle mUssen weiterhin in einfachere und noch verbreiteter vorkommende komplexe Komponenten zerlegt werden. Bei diesem Bestreben wird es wohl manehmal gelingen, aueh zugleich eine ,einfaehe Komponente' aus den komplexen Kom- ponenten abzuspalten.

�9 Auf die Ermittelung einer oder mehrerer Wi rkungswe i sen kann dann die Ermittelung der Wirknngsgriifsen folgen; auf die qual i ta t ive Sonderung der Wirkungen die ma themat i sche Be- handlung derselben; nieht umgekehr t , wie einer der jUngeren Autoren, H. DRIESCH, ftir richtig zu halten scheint (s. 1, Bd. II. pag. 83).

�9 Zuniiehst wird bei diesem Best reben, wie bei j e d e r Analyse, statt e iner Vere in faehung eine Kompl ika t ion ge- wonnen, indem ein seheinbar einfacher Vorgang in zwei oder mehr Komponenten zerlegt wird. Die ve re in faehende Wi rkung der Analyse tri t t erst hervor , wenn die Zer legung auf viele Vorg~tnge ausgedehnt wird und sich dabei oft d ieselben Komponenten ergeben.

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�9 Diese vereinfachende Wirkung zeigt sieh sehon jetzt: Alle die auBerordentlieh mannigfaltigen Formenbildungen der mehrzelligen Lebewesen kiJnnen wir auf die wen igen k o m p l e x e n W i r k u n g s - weisen des Zellwaehsthums resp. Zellsehwundes, der Zelltheilung, der Zellwanderung, der aktiven Zellgestaltung, der Zellausscheidung und der qualitativen Zellverlinderung zurtiekfUhren; gewiss eine an- scheinend sehr einfaehe Ableitung. Es bleibt aber nun die unend l i ch s chwie r ige re Aufgabe, nicht nur den speeiellen Antheil jedes dieser Vorg~tnge an den einzelnen Gestaltungen zu ermitteln, sondern aueh diese k o m p l e x e n W i r k u n g e n se lber in ihre we i t e ren und immer we i t e r en K o m p o n e n t e n zu zerlegen.

~AuBer den W i r k u n g s w e i s e n resp. Energien der En tw icke - lung sind ebenso die Wirkungsweisen resp. Energien der E r h a l t u n g und der RUekbi ldung der organisehen Formen und ihrer Trigger, der Elementartheile, besonders zu erforsehen; wennsehon es wahr- seheinlich ist, dass die ,E rha l tung ~ oft bloB den ,Gle iehgewiehts- fal l ' v e r s e h i e d e n a r t i g e r , auch bei der , E n t w i c k e l u n g ' thii- t iger g e s t a l t e n d e r W i r k u n g s w e i s e n dars te l l t , und dass bei der nachfolgenden ,RUekbi ldung ' dies G le i ehgewieh t zu Gunsten der a l t e r i r e nden , v e r n i c h t e n d e n K omponen t en ges tSr t ist. Neben der Aufsuchung solcher Verh~tltnisse ist aber andererseits noch zu prUfen, ob n ich t doeh j e d e r d iese r S tufeu noch be- sondere , ihr e igen thUm!iehe ge s t a l t ende W i r k u n g s w e i s e n zukommen.

~)Entspreehend ferner der doppelli~ufigen, phyletisehen und onto- genetisehen Entwiekelung muss die Entwiekelungsmeehanik die Ur- saehen resp. Wirkungsweisen jeder dieser beiden Entwiekelungs- arten zu erforschen suehen; und es ist danach eine on togene t i s che und eine p h y l o g e n e t i s e h e E n t w i e k e l u n g s m e e h a n i k auszubilden (siehe aueh 1, Bd. II. pag. 60).

�9 Da die on togene t i s ehe E n t w i e k e l u n g s m e e h a n i k raseh in unserer Gegenwart ablaufendes Gesehehen zum Gegenstande ihrer Forsehung hat, so wird sie naturgemi~B wei taus e rg ieb ige r werden als die phylogenetische, deren Gesehehen grSBtentheils der Vergangen- heit angehiJrt und, so weit es jetzt noch stattfindet 7 zumeist nur auBerst langsam sich vollzieht. Doeh werden, in Folge des innigen Causalnexus beider, viele Ergebnisse der ontogenetischen Forsehung Folgerungen aueh auf phylogenetisehe Vorgitnge zu ziehen gestatten und daher Lieht aueh auf diese werfen; auBerdem ist aueh die Phylogenie innerhalb ihrer jetzt sieh vollziehenden Vorgi~nge der

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eausalen Forsehung nieht ganz unzug~tnglieh; zumal kann auf ex- perimentellem Weg'e maneher ursiiehliehe Zusammenhang ermittelt werden, wie dies z. B. dureh kUnstliehe Zuehtwahl bereits ge- sehehen ist.

�9 Die K o m p o n e n t e n s. Faktoren, mit denen die P h y l o g e n i e bis j etzt aussehlieBlieh gearbeitet hat, die Va r i a t i o n (Anpassung HAECKEL'S) und die V e r e r b u n g , sind noeh komplieirter als die oben genannten komplexen Wirkungsweisen. Doch repriisentirt diese Unterseheidung gleichwohl die A n a l y s e einer auBerordenflich groBen Mannlgfaltig- keit auf zwei, allerdings im Speeiellen ihrer Wirkungsweise selber auBerordentlich mannigfache, also nieht ,best~tndige' Komponenten. Das Wort ,Var i a t ion ' ist in noch viel hSherem Marie als das Wort ,Vererbuhg' ein Sammelname far in gewisser Hinsieht gleiehartige Resultate, welehe aber a u f s e h r v e r s e h i e d e n e n W i r k u n g s w e i s e n b e r u h e n kiJnnen. Es wird daher eine weitere Aufgabe der Ent- wiekelungsmeehanik sein, die mannigfaehen best~tndigen Unterkom- ponenten der so bezeiebneten Wirkungen und danaeh wiederum deren ursiichliehe Wirkungsweisen aufzusuehen.

�9 Aueh damit ist schon ein erfreulicher Anfang gemaeht. Stellte DAaWIN'S Z u e h t w a h l l e h r e allein A u f s p e i c h e r u n g s u r s a e h e n g e g e b e n e r Eigensehaften auf Grund des l~br igble ibens , des Nicbtzugrundegehens dar, so gewiihrt die neue M e t a m o r p h o s e n - l eh re JuLius vo~ SACHS' bereits einen Einblick in wirklieh th~tige, also direkte Bildungsursachen, in gestaltende Wirkungsweisen der Vorgesebiehte der Organismen.~

Ib. O. HERTWIG'S K r i t i k und e i g e n e Auf f a s sung .

HERTWIG kommt zu dem Ergebnis, dass das vorstehend:!gesehil- derte Programm n ieh t s Neues enth~ilt und e n t h a l t e n kann , und dass daher auch kein Grund vorliegt, von einer neuen oder jungen causalen Forsehungsriehtung in der Zoologie und mensehliehen Anatomie zu reden.

Der Autor begrUndet seine Ansieht in folgender Weise: Die oben auf pag. 4 zuniiehst formulirte Aufgabe, die Be-

w e g u n g e n , also die Bahnen, Drehungen und Gesehwindigkeiten aller Theile des Eies und Embryos zu erforsehen und genau zu be- schreiben, ist unaus f t i h rba r ; denn wir kSnnen diese Theile nieht einzeln unter dem Mikroskop verfolgen, theils well sie yon der Ober- fliiehe zeitweilig in die Tiefe gelangen, theils weil die kleinsten geson- derte Bahnen einschla~enden Theilehen Uberhaupt u n si eh t b a r sind.

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AuBerdem wUrde naeh O. HERTWIG diese genaue Besehreibung und dis mathematisehe Bereehnung dieser Verhiilmisse einen im Verhiiltnis zu der aufgewendeten MUhe nur sehr geringen Werth haben; wie man denn vielerlei mathematiseh berechnen ki~nne, ohne dass es den geringsten Werth habe, wie z. B. die Bereehnung der Bahnen eines MUekensehwarms (pag. 38). Letzteres Beispiel ist wohl an dieser Stelle nicht gut am Platze, da es sich bei den Be- wegungen der Theile des Eies resp. Embryos normaler Weiss am typ i sehe , also bei allen Eiern derselben Art in gleieher Weiss vorkommende, somit normirte Bewegungen handelt, deren mathe- matiseh genaue Ermittelung einen unvergleiehlieh h~iheren Wertb hat als die Bereehnung der Bahnen eines MUekensehwarms.

Im Ubrigen wissen dis Leser des vorstehenden Programmes aus pag. 5, dass HERTWIG in dieser angeblieh gegen reich geriehteten und mit allerhand komischen (~bertreibungen ausgestatteten Aus- Ftihrung gleichwohl im Wesentlichen nur meine Ansiehten vertritt. Ieh selber babe d iese Aufgabe nut als die W e i t e r f U h r u n g der re in �9 de sk r ip t i ven~ F o r s c h u n g eharakterisirt und dabei nicht yon einer neuen Wissenschaft gesprochen; auBerdem abet wurde sogleich beigefiigt, dass wit allein auf dem Wege de r d i r e k t e n Beobaeh- tung in dieser Beziehung nicht welt kommen werden. Immerhin mtissen wir abet nach meiner Meinung streben, auch naeh dieser Riehtung hin unsere Kenntnisse mSglichst zu vervollstandigen.

BezUglieh der mathematisehen Bereehnung habe ieh sehon bei viel einfaeheren biologisehen Aufgaben ausgesproehen, dass diese tiber unsere Ftihigkeiten hinausgehen (s. 1, Bd. I. pag. 672); und aui~erdem wurde yon mir (siehe oben pag. 29) gegenUber H. DRIESCH, der in einer seiner ersten Sehriften diese Aufgabe als ni ichste bezeichnet hatte, eingewandt, dass eine solehe Aufgabe (abgesehen yon eventueller bloB heuristiseher Verwendung) Uberhaupt erst naeh anntihernder DurehfUhrung der q u a l i t a t i v e n causalen Analyse in Angriff zu nehmen sei. HERTWm richtet aueb hier seine Reproduktion meiner Ansiehten anscheinend beriehtigend an meine Adresse.

Diese neue Kenntnis wurde aber selbst bei ihrer Vollendung naeh meiner Meinung aus den oben (s. pag. 6 und 10) dargelegten GrUnden keine genUgende eausa l e Erkenntnis gewtihren; woht aber wUrde dies, wie wir sehen werden, fUr HERTWIG der Fall sein. Sie i~llt aber ftir ihn als nieht erwerbbar weg.

Dagegen wurde yon mir (s. o. pag. 5) betont, dass, wenn wit aueh die kleinen Theile nicht in ihren Bahnen d i r e k t beobaeh ten kSnnen,

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wir durum doch noch n ich t v o l l k o m m e n a u f die E r m i t t e l u n g so lcher Bahnen zu v e r z i c h t e n geni i th ig t s ind, da uns noch ein zweiter Weg ihrer Erforsehung often steht, derjenige der Er- mittelung dutch SchlieBen auf Grund der Causaliti~t.

Der Autor wendet sieh nun, wie er meint, zu unserem eigentlichen Programm, also nach unserer Auffassung zur: ,exaktenr E r f o r s c h u n g der ,direktenr U r s a e h e n der o r g a n i s c h e n G e s t a l t u n g e n , in welchem wir selber das Neue erblieken. HERTWIG kann jedoeh darin nichts Neues finden, da er yon diesem Programm das hier durch die Worte: e x a k t e Erforschunff der d i r e k t e n Ursachen Bezeichnete nieht in sein Bewusstsein aufgenommen hat.

Das Ziel selber im A l l g e m e i n e n : die Erforsehung ursi~chlieher Verhitltnisse der organisehen Gestaltungen ist nattirlich nicht neu. Um dies auszudrUcken, babe ieh C. E. v. BAleR als einen Autor eitirt, der dasselbe sogar sehon in ziemlieh speeieller Fassung aufgestellt hat (s. o. pug. 14 und 16). HERTWIG liisst digs aus und bringt dasselbe Citat sp~iter yon seiner Seite als gegen reich gerichtet. Sehon bei CASPAR FRIEDR. WOLFF finden wir diese Aufgabe ~ihnlieh formulirt. Das Programm >~rerum cognoscere causas,~ ist noeh erheblich ~ilter. Auch bei CARTESIUS und ARISTOTELES findet sich die Erforschung der Ursachcn der Organismen als wUnschenswertbes Ziel aufgestellt.

Das Ziel hat also sehon sehr Vielen vorgeschwebt. Aber weniger durum handelt es sich, als um die a n h a l t e n d e , yon Erfolg" b e g l e i t e t e A r b e i t naeh d e m s e l b e n .

HERTWIG safft dem entsprechend (pug. S): �9 Neu is t ein Zie l , wenn es w e s e n t l i c h v e r s c h i e d e n yon den Z i e l e u ist, w e l c h e s die Fo r sehe r b i s h e r v e r f o l g t haben.(, Unter )~bisher~ versteht er im vorliegenden Falle: bis zur Aufstellung meines Programmes.

Er weist nun seinerseits darauf hin, dass die bisherige b e s e h r e i b e n d e Erforschung der w~thrend der Entwickelung des Individuums aus dem Eie ablaufenden normalen Form~tnderungen bereits c ausa l e Erkenntnis darstellt, da j e d e s f r i ihere S t a d i u m die Ursache des f o l g e n d e n ist. Das bestreitet wohl Niemand.

Da wir jctzt zu dem Kernpuukt unserer Differenz kommen, so seien H~RTWm'S Ausichten hier unter Verwendung seiner eigenen Worte reprodueirt.

(pag. 36) ~Eiue lebende Froschkeimblase ist der Grund, weleher mit unfehlbarer Nothwendigkeit zur Entstehung einer Froseh~,astrula als Folge fiihrt, wenn sonst die ~tu[~eren Ursacheu oder die Bedingungen zur weiteren Entwiekelung crftillt sind. Fiir die Worte Gruud und

Archly f. Entwickelungsmechanik. V, 3

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Folge kann man ebenso gut auch die Worte Ursache und Wirkung sctzen. Daher s te l l t die e n t w i c k e l u n g s g e s c h i e h t l i c h e For- schnng , we lche die U m w a n d l u n g der F r o s c h k c i m b l a s e in die Gas t ru la ,beschreibt ' , t i n u r s~ch l i ches Verhi~ltnis und, sofern sic das fiir alle Stadien der Entwickelung des Frosches aus dem Ei t.hut, das E n t w i e k e l u n g s g e s e t z des Frosehes dar.

)In d iescr Richtung hat die Forschung seit ftinfzig Jahrcn die w i c h t i g s t e n causa len E r k e n n t n i s s e zu Tage gefSrdert. Ist nieht causal die Erkenntnis, dass die Eier und Samenl~tdcn einfache Elcmentarorganismcn oder Zellen stud, und dass sic sehon als solehc, wenn die gceigneten Bedingungen erfiillt stud, alle Ursachen (yon den causae externae abgesehen) in sich vereinigcn, welehe zur Ent- stehung des neuen GeschSpfcs erforderlich sind und sic sofort auch in Wirksamkeit tretcn lassen? Is t n icht causal die E r k c n n t n i s , welehe uns zeigt~ in we l ehc r Weise Stufe fiir Stufe Ursaehen und Wirkungcn (Ze l lve rmehrung , u n g l e i c h e s Waehs thum, E in fa l t ung , Auss tUlpung etc.) sich in gesetzma[~iger Weisc ab- spielen uud einc E n t w i c k e l u n g s f o r m nach der ande ren ins Dasein t re ten lasscn ; dass der Entwiekelungsproeess in seinen ersten GrUnden auf der fast ins Uncndliche ibrtschreitenden Ver- mehrung der Eizelle auf dem Wegc der Selbsttheilung beruht, dass die Zellen sich nach festen Gesetzen zu Keimbliittern zusammenordncn, dass fast alle noch so komplicirt gebauten Organe des crwachsenen Thiercs naeh einigcn wenigen, einfachcn Waehsthumsprincipicn durch E in fa l tung und Auss tUlpung der K e i m b l ~ t t e r oder dureh Aus- w a n d e r u n g yon Ze l len aus dem epithelialcn Verbande formal entstanden sind ?

Unsere Lescr wissen, dass wit diese Kenntnis auch ftir nSthig halten and hochsehiitzen, dass sic uns aber noch nicht causal be- fricdigt.

(pag. 38) ,Die hier vorgetragcne Ansicht, welche in der Ent- wiekelung eines Organismus tin System ursitchlieh verbuudener Erseheinungcn erblickt und daher nicht zSgert, die tiber sic handelnde Wissenschaft auch eine causale zu nenncn, weil sic Erscheinungen in ihrem nothwendigcn Causalnexus darzustellen hat, will Roux nieht gelten lassen. Er will die gegenw~rtige Ableitung der Formbildungen yon Faltungen und AusstUlpungen cincr Zellcnmembran (soll wohl heiBcn: aus Zellen gebildetcn Membran, Ref.) yon Verschmelzungs- und Ab- sehnUrun~,svorgiingen u. dgl. nicht als eine causale Analyse anerkennen, ebcnso wenig die ZurUckfilhrung der genannten Vorg~tnge ,auf Vet-

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gr(iBerung, Verkleinerung, Umgestaltung, Theihng und Umordnung der Zellen'. Roux nennt diesc Unterscheidungen bloB gestaltliehe; eine ,Analyse aber der organischen Gestaltungsvorg~tnge naeh den Ur sachen und deren s p e c i f i s c h e n K o m b i n a t i o n e n ' l~tsst cr noch ausstchen.

Ich erinnere hierzu an unsere Ausfiihrungen auf pag. 9, in dencn gezeigt wurde, dass z. B. Zcllwanderung durch sehr v c r s c h i c d e n - a r t ige Wirkungsweisen hervorgebracht werdcn kann , und in denen es als wUnschenswerth bezcichnct wurde, die w i r k l i c h e n urs~ich- lichen Wirkungsweisen der Vorgiinge, z. B. der VergrSBerung, Ver- kleinerung, Umgestaltung und Theilungen der Zellen zu ermitteln.

HERTWIG F~hrt fort: �9 D e r a r t i g e und a n d e r e hSchs t u n k l a r e Ur the i l e yon

R o u x f inden ih re E rk l i i rung haup t s i i c h l i ch d a r i n i dass er dem B e g r i f f , U r s a c h e ~ eine f a l sehe F a s s u n g g e g e b e n hat. FUr ihn ist Ursache gleich Kraft. ,Da man die Ursachen jedcn Gc- schchens Kriifte resp. Energien nennt', bcmerkt er, ,so kann man als das allgcmeinc Ziel dcr Entwickelungsmechanik die Ermittelung der gestaltenden Kr~fte oder Energien' bezeichnen. In d i e sem cinen Sa tze l i eg t w e g e n der aus ihm a b g e l e i t e t e n K o n s e - quenzen die Quel le v ie le r I r r t h U m e r und Se lbs t t i i u sehungen , l icgt die ganze U n k l a r h e i t und e i t le S e l b s t U b e r h e b u n g des R o u x ' s c h c n S t a n d p u n k t e s . Daher hat hier unsere Kritik an erster Stelle einzusetzen!~ (

(pag. 43) ,Mit SCHOPENHAUER, LOTZE n. A. nennen wit causal die Forschung and die Wissenschaft, welche uns die Erscheinungen dieser Welt in ihren urs~ichlichen Zusammenh~ingen darstellt, das heiflt: uns nachweist, dass Erscheinungen in nothwendigem Verhaltnis yon Ursache und Wirkung zu einander stehen. Wir n e n n e n es daher , wie schon frUher erw~thnt wurde, ein c a u s a l e s V e r h a l t n i s e r f o r s c h e n und erkl~tren, w e n n g e z e i g t w i rd , ,w ie ' s ieh die G a s t r u l a , d u r c h E i n f a l t u n g ~ aus e iner K e i m b l a s e , das R U c k c n m a r k ,du tch Z u s a m m e n f a l t e n ' e inc r Z e l l e n p l a t t e zum Rohr an l cg t etc.~

Aus diesen Citaten ersehen wit, was O. HERTWIG wirklieh meint: Die formale Ableitung des sp~tteren Stadiums aus dem fi'tiheren Stadium ist ihm nicht blol~ e in und zwar ein nut sehr allgemcines, im Speciellen unbestimmtcs eausales Verhaltnis, sondcrn sic ist ibm das causale Verh~tltnis • ~ ~oz~v , das g e n U g e n d e causalc Ver- hiiltnis; die A b l c i t u n g der Organe aus c inem K e i m b l a t t durch

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Biegung , F a l t u n g , AbsehnUrung ist ihm die gen i igende cau- sale Able i tung.

Doeh gleieh an das letzte Citat sehlie•t er eine Aui~erung an: die dieser Selbsteinsehriinkung zu widerspreehen seheint, denn er sagt:

~)So we i t die Dinge, welche dem Causalitiitsgesetz nnterliegen, d e r , s i n n l i c h e n ' W e l t a n g e h S r e n , lassen sieh ihre urs~ehlichen Zusammenhiinge auch b e s e h r e i b e n d d a r s t e l l e n . Wit denken daher yon einer deskriptiven Wissenschaft, welche in ihrer Vollendung gedaeht, den Causalnexus der Erseheinungen vollkommen beschreibt, sehr hoeh und sind der Meinung yon SCHO1)EbIHAUER: ,Was wir aus seinen Ursaehen verstehen, das verstehen wir, so weit es Uberhaupt fUr uns ein Verstitndnis der Dinge giebt. ' ,

Abgesehen yon der ani~tngliehen, nieht riehtigen BegrUndung stimmen wir dem zu. Auch wir wUrden yon einer d e s k r i p t i v e n Wis senseha f t , welche in ihrer Vollendung gedaeht, den Causalnexus der Erseheinungen v o l l k o m m e n beschreibt, s e h r h o c h denken!

HERTWlG f'~thrt fort (pag. 44): ,,In diesem Sinne bezeichnet KIRCrlnOFF die Mechanik selbst,

welehe doch allgemein als der am meisten vollendete Zweig der b~aturwissensehaft and als das Vorbild aller Ubrigen Zweige gilt, ,als eine besehreibende Wissenschaft'. Er stellt als die Aufgabe der Mechanik hin, die in der Natar vor sich gehenden B e w e g u n g e n zu beschreiben, und zwar vollsti~ndig und auf die e i n f a e h s t e Weise zu besehreibenl). Er wi l l dami t sagen , dass es sich nut datum handeln soll, anzugeben, welches 1) die , E r s c h e i n u n g e n ' sind, die stattfinden; dagegen will er den Begriff ,Kraft', wegen der ibm an- haftenden Unklarheit, dabei ganz aus dem Spiel lassen.,

�9 Wie die Begriffe ,Ursaehe und Wirknng' ist jetzt aueh der Be- g r i f f ,Kra f t ' , w e l e h e r in der D e f i n i t i o n der E n t w i c k e l u n g s - m e c h a n i k e ine so verh~tngnisvol le Rolle spiel t , noeh einer genaueren Analyse zu unterwerfen.,

Dass sich auch die Causalzusammenh~tnge der sinnlichen Welt b e s e h r e i b e n d d a r s t e l l e n lassen, wird wohl gleiehfalls Niemand bezweifeln; und HERTWlG h~tte erw~thnen kSnnen, dass ich selber (I, Bd. II. pag. 3) auf diese Aul]erung KlaCHItOFF'S hingewiesen habe.

Aber HElCTWIG Ubersieht dabei das Wesentlichste der Saehe: Ehe wir die C a u s a l z u s a m m e n h i i n g e ~beschre iben~ kSnnen , mUssen wi r sie se lbe r ers t e r m i t t e l t haben.

1~ Diese W(irter sind vom Autor in dieser Weise hervorgehoben.

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HERTWIG sag't: ,Er (KIRCHHOFF) will damit sagen, dass es sich nur darum handeln soll, anzugeben , welches die E r s e h e i n u n g e n sind, die stattfindcn.

Das Unangenehme bet unserer Aufgabe ist jedoch, dass die ontogenetischen V o r g a n g e se lbe r uns eben grSBtentheils )~nicht erscheinen,~, dass wir, wie Eingangs dargestellt wurde, bloB die groben formalen R e s u l t a t e derselben wahrnehmen kiinnen. An dieses Unvermiigen knlipft aber HERTWIG nicht an; er fragt nicht: Wie kSnnen wir d i e se ftlr uns u n s i c h t b a r e n E r s c h e i n u n g e n er- mi t te ln? Wenn er danach frag'te, wUrde er auf unser Programm kommen.

Es giebt abet auBer den Vorgiingen, welche bloB zufolge ungUnstiger Umsti~nde fur uns nieht siehtbar sind, aneh noch solehe, welehe Uberhaupt n ieh t s i e h t b a r sind. Aueh diese miiehten wit m~gliehst weit erforsehen, k~nnen sie theilweise erforsehen und dann b e s e h r e i - bend (!) darstellen; das sind die W i r k u n g s w e i s e n , auf denen das formale Gesehehen beruht, durch welehe es hervorgebraeht wird.

hTaeh diesen fragen die rein deskriptiven Forscher und mit ihnen HEI~TWIG in ihrem Profframm nicht; es wird im Geffentheil yon vorn herein auf dieses Streben naeh Volls t i~ndiffkei t der eausalen Erkenntnis verziehtet, und man beffniigt sieh mit der Erforschunff des >)Seheins~, der wirkliehen )~Erscheinnng~, das heiBt dessen, was wir set es d i r e k t als Vorganff oder an fixirten Stnfenreihen

s e h e n k~nnen: mit der Erforsehung der F o r m w a n d l u n g e n yon Ei und Embryo, mit der ZurUekfiihrung dieser Formwandlungen auf Faltung, Bieffung, AbsehnUrung, siehtbare Zellenwanderung u. dgl. Desshalb konnte HE,TWIn, da er sieh mit dem direkt Wahrnehmbaren und den aus ihm ableitbaren nnbestimmten Folgel~nffen vollkommen zufrieden und am Ende des far ihn zu Erstrebenden wie des zu Erkennenden ftihlt, aueh (pag..67) saffen:

~In dem Entwickelungsproeess eines Thieres legt die Natur dam Forscher ihre Geheimnisse often vor, b i e t e t ibm die Quel le u n e r m e s s l i e h e r E r k e n n t n i s , die n ich t e r s t durch alas Ex- p e r i m e n t e r s ch lo s sen zu w e r d e n brancht.<<

D a s i s t d e r P u n k t u n s e r e r D i f f e r e n z . U n s e r Z i e l e x i s t i r t gar n ieht f|ir ihn. Ieh habe in meiner ersten Orientirungsarbeit (s. o. pag. 7) gezeigt, dass sehon eine einfaehe B i egung ether Platte dureh a u B e r o r d e n t l i e h v e r s e h i e d e n e inne re Vorgi~nge und dureh e n t s p r e e h e n d v e r s e h i e d e n e ursaehliche W i r k u n g s - we i sen bewirkt werden kann, und dass es daher n(ithig ist, im

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Einzelfalle die w i r k l i e h e n Vorgange und deren ursachliche Wir- kungsweise zu ermitteln. Ich bitte den Leser, diesen i'tir das Ver- st~ndnis alles Folgenden ~viehtigen Absehnitt anf pag. 7--12 jetzt noeh einmal zu lesen.

Alle diese Kenntnis ist fur HERTWIG UberflUssig; er begniigt sieh mit dem formalen >~Sehein, und ahnt gar nicht, dass d iese se ine )~Geniigsamkeit, , d ie U r s a c h e u n s e r e r D i f f e r e n z ist.

Wer solches eausales BedUrfnis nicht empfindet, der kann aueh leieht tiber >~das in letzter Zeit ,plStzlich' gesteigarte Causalitats- bedtirfnis,~ witzeln.

HERTWIG'S Auffassung ist im Wesantliehan noah diejenige des uns Beiden gemainsamen Lehrers ERNST HAECKEL. Dieser erkl~rt (yon der Caanogenasis abgesehen, deren Ursachen er als zu erforsehen nSthig" bazaichnet) das sogen, biogenatiseha Grundgesetz fur die voll- kommen zureichande >)Erkli~rung,, der Ontogenese; auch er ist mit der vollsti~ndigen Beschreibung' dar Formwandlungen vollkomman zufrieden und kann nieht zugastehen, dass as nSthig sei, ja dass es iiberhaupt einen Werth habe, genau zu ermitteln, dutch walehe Wirkungen resp. Kr~fte diese s i e h t b a r e n Anderungen selber hervor- gebraeht warden: - - eine Einsehr~nkung der Aufgabe, die ieh sehon als sain Schiller nicht habe verstchen kSnnen.

Etwas mehr und sehon etwas dataillirtera und zuverl~ssigere causale Erkenntnis als dia bloBe Baobachtung der normalen Eat- wickelung einas Einzalwesens gew~hrt die v e r g l e i a h e n d e Be- t r a e h t u n g des n o r m a l e n gestaltanden Gesehehens, sowohl die onto- ganatisahe wie die phylogenetische. Auf der so gewonnenen eausalen E r k e n n t n i s ist die Deseendanzlehre erriahtet worden, die ja gleieh- falls eine sehr wiehtige, warm aueh wieder in Bezug auf das E inze l - g a s c h e h e n unbestimmte Causalit:,~t bezeichnet.

Die eausale Erkanntnis, walcha die v e r g l e i e h e n d e Ana tomia und die v e r g l e i e h e n d e E m b r y o l o g i e gawahren, steht etwa in der Mitte zwisehen dernur ganz a l l g e m e i n e n , das heiBt in Bazug auf das Speaiella der Lokalisation und der Wirkungsweisen ganz unbestimmten, causalen Erkenntnis, weleha die n ieh t v e r g l e i e h e n d e Entwiekalungslehre des Normalen bietet, uncl der yon uns erstrabten, in janen Beziehungen viel b e s t i m m t e r e n und in diesem Sinne �9 exakten(~ aausalen Kenntnis. Es lasst sich aber zwisehen der causalen v e r g l e i e h e n d e n Erforsehung des n o r m a l e n gestaltenden Gesehehens der Organismen und dar yon uns erstrebten k e i n e s c h a r f zu b e s t i m m e n d e Grenze ziehen. Desshalb folgert HERTWIG (pag. 22),

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es bestehe |iberhaupt ~keine w e s e n t l i e h e V e r s c h i e d e n h e i t , , zwischcn den beiderlei causalen Bestrebungen. Das wUrde also be- deuten: weil man nicht weiB, auf welchem Stadium tin Kahlkopf beginnt, we seine Grenze ist, so besteht auch k e i n U n t e r s c h i e d zwischen e inem K a h l k o p f und e i n e m Kopf mit d i ch t em Haa r schopf ; oder weil man zwischen Roth und Gelb hundert gleichm~Big graduirte Zwischenfarben einschalten kann, existirt kein Unterschied zwischen Roth und Gelb.

Die vergleichenden Erforschungen des n o r m a l e n Geschehens lehren uns, wenn sie auch schon manche w i c h t i g e n g e s t a l t e n d e n K o r r e l a t i o n e n einander n a h e r oder e n t f e r n t e r T h e i l e des Organismus vermuthen lassen, doeh Uberwieg 'end nur ~formale~< G e s t a l t u n g s w e i s e n , das heiBt, sie lehren die siehtbaren Gestalt- ~tnderungen kennen, abet night (oder doeh nut v e r m u t h u n g s w e i s e ) die Vorg~nge , we lche d iese Ges ta l t~ tnderungen he rvo r ru fen . Dabei ist daran zu denken, dass j e d e s i c h t b a r e G e s t a l t a n d e r u n g in Wirklichkeit das Resu l t a t sehr v ie le r , v e r s e h i e d e n e r , zu- n~chst unbekannter Vorg;.inge sein kann , dass daher eine solche Vermuthung wenig Aussicht hat, gleich das Richtige zu treffen. Wit dageg'en wollen gcrade d icse b e s o n d e r e n urs~tchlichen Vorg~tnge ihrer Qualit~it und Lokalisation naeh kennen lernen, was nur durch eine besondere Forschungsmethode mSg'lich ist.

HERTWIG begriindet seine Auffassung, dass dig Eutwickelungs- mechanik kein neues Programm habe, noch damit, dass sie und die bisherige Forschung beide das ~> Wi e r der Bildung eines entwickelten Organismus kennen lernen wollen. Letzteres ist richtig.

Die Erforschung des ))Wie,<, also der Art und Weise des Bil- dunffsg'eschehens, ist eine gemeinsame Bezeichnung fiir unsere im Speciellen yon einander sehr versehiedenen Bestrebungen. Das )~Wie, ist aber ein Uberaus weiter und vielseitiger Begriff, den man daher auch sehr versehieden auffassen kann; wit aber mSchten~ dass kS bei dem uns interessirenden Geschehen miiglichst voll- s tandig erfasst werde. Das ,Wie~ umfasst in unserem Sinne auch das Warum, denn erst wenn wir letzteres kennen, ist unsere Kenntnis des Ersteren vervollstiindigt.

Dem entsprechend ist die Frage naeh dem ~Wier zu verschie- denen Zeiten und yon versehiedenen Autoren auch in sehr verschie- dener Ausdehnung gefasst worden. Meinerseits wurde ibm Ausdruek verliehen, indem ich sagte: wir miissen die urs~chliehen W i r k u n g s - w e i s e n jedes ontogenetischen Gesehehens ermitteln, w~thrend

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40 Wilhelm Roux

O. HERTWIG schon zufrieden ist, wenn das Far uns s i e h t b a r e Wie des Gesehehens ermittelt ist, wenn die Bildung der Organe auf Faltung~ AbsehnUrung yon Keimbliittern etc. zurUekgefilhrt ist.

Das ist, um an ein friiher gebrauehtes Gleiehnis anzuknUpfen {1, Bd. II. pag. 142), iihnlieh, als wenn Jemand yon einem Luft- ballon aus 4000 m HShe die Anlage und Ausbildung eines grol~en industriellen Etablissements, etwa einer Kanonenfabrik, beobaehtet~ Alles, was er yon diesem entfernten Standpunkt aus s ieht , voll- s t iin dig besehreibt: die erste Anlageform und die erkennbare Struktur derselben, dann die weitere Ausdehnung dieser Anlage, ihre Ver- breiterung, die Bildung yon Strangen in der Anlage (Geleise), das gruppenweise Auftreten yon viereekigen Gebilden (Arbeiterwohnungen) etc., und wenn dann auf Grund dieser Beobaehtungen und Besehrei- bungen der Autor glaubt, das unten stattfindende Geschehen vollkom- men erkannt zu haben.

HERTWIG hat als% wie wir sahen, in Folge des ungelSsten alten Problems vom )~Kahlkopf,, oder yore ,Haufen,, k e i n e n U n t e r s c h i e d zwisehen den bisherigen und unseren neuen Zielen auffinden kSnnen.

Dagegen ist es ihm, entsprechend dem yon uns oben auf pag. 35 gcgebenen Citat, seiner Meinung nach gelungen~ die Ursache auf- zu f inden , w a r u m wir i r r t h U m l i e h e r Wei se g lauben , ein sol- ches Ziel zu haben. Sie besteht darin, dass wir zwar, wie er glaubt, g'leieh der bisherigen Forsehung die U r s a e h e n des organischen Bildungsgeschehens ermitteln wollen, aber eine f a l s che Vors te l lung von ~Ursache(, haben; dazu kommt, dass wir aueh vonder Ermitte- lung von Kr~tften sprechen~ obschon die Philosophen l~tngst festgestellt haben, dass Kriffte niehts Besonderes fUr sich, sondern etwas Ge- dachtes, den Erscheinungen Untergelegtes sind.

Die freundliehen Leser der obigen, haupts~tchlich zu diesem Zwecke vorgenommenen umfangreicben Reproduktionen meiner frtiheren-~uBerungen wissen zwar, dass ieh unter den verschiedenen Formulirungen unsercs Forschungszieles besonders die Ermittelung der W i r k u n g s w e i s e n in den Vordergrund gestellt und weiterhin gesagt babe (s. o. pag. 17):

�9 Es sind die aufgefundenen b e s t a n d i g e n g e s t a l t e n d e n Wir- k u n g s w e i s e n des lebenden Substrates selbst wieder yon noch al l- g e m e i n e r e n W i r k u n g s w e i s e n abzuleiten, und diese selber schlieB- lieh gleich den meehanischen Massenwirkungen au f im Be re i che des A n o r g a n i s c h e n e r k a n n t e Wirkungsarteu~ resp. au f die ihnen supponirten Kraftformen zurUekzufUhren.~,

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>,Jc nach der D e f i n i t i o n yon U r s a c h e und K r a f t erh~tlt die s p e c i e l l e D e f i n i t i o n u n s e r e s Z i e l e s e inc a n d c r c F a s s u n g , womi t abe r p r a k t i s c h n ich t s g e w o n n e n is t (s. o. pag. 2l).

~In so fern uns jcdoch die Kri~fte resp. E n e r g i e n nur dutch ihre besonderen Wirkungen, d. h. jede Art derselben durch ihre be- sondere Wirknngsweise bekannt werden, so l~tsst s ich u n s e r e A u f g a b c auch als die Ermittelnng der gestaltenden Wirknngs- weisen definiren.<, Diese Stelle folgt, wie ein Blick oben auf die vorstehende pag. 25 zeigt, in u n m i t t e l b a r e m Anschluss auf die- jenige Stclle yon den Kri i f ten, an welche HERTWIG seine ganze~ irrthtimliche Polemik kntipft; und im Anschluss daran wird dann im Original yon mir auf sicben Seiten eingehend tiber diese ~Wirkungs- weisen<< gesproehen.

lqaeh Empfehlung mSglichster Einsehr~nkung in der Anwendung des auf anthropomorpher Auffassung beruhenden Ausdruckes , N a t u r - gesetz<, und seiner Eliminirung arts der Definition unserer Aufgaben, heiBt es dann in der Einleitung des Archivs fur Entwickelungs- mcchanik wetter:

�9 Definiren wir nunmehr die allgemeine Aufgabe der Entwicke- lungsmechanik au f die am w e n i g s t e n g e h e i m n i s v o l l e B e g r i f f e e i n sch l i eBende , also e i n f a c h s t c und zugleich dem u n m i t t e l - baren V o r g e h e n am mei s t cn sich a n s e h l i e B e n d e Weise , so haben wir die organischen Gestaltungsvorglinge auf die wenigsten und einfaehsten Wirkungsweisen zuriickzufiihren. Letzteres schlieBt schon ein, dass fttr-jede dicser Wirkungsweisen der einfachste Aus- druck gesucht werde.<<

H~itte nnscr Kritiker sich an dicse von mir als die beste be- zeichnete und wciterhin allein verwendete Definition gehalten, so wiirde se ine m i s s v e r s t a n d l i c h e A n f f a s s u n g unmtigl ich ge- wesen sein; oder h~ittc cr sie nur in seinen Citaten mit verwendet, so wtlrden die Leser seincr Einwendungen das Unrichtige derselbcn sogleich erkannt habcn. Letzterem hat ][~ERTWIG dadurch vorgebeugt~ dass cr a l le die z a h l r e i c h e n S tc l len , in welchen die Erinitte- lung dcr g e s t a l t e n d e n W i r k u n g s w e i s e n als unsere hufgabe be- zeichnet wird, k o n s e q u e n t a u s g e l a s s e n hat. AuBerdem aber unter- stcllt er mir willkiirlich falsche Begriffe yon Ursaehe und Kraft.

Mit dem Hinweis auf diese Dcfinitionen unserer Aufgabe wird dem ersten, 60 Druckseiten umfassenden und reich mit Citaten aus philosophischen Schriftstellern ausgestatteten Abschnitt yon HERTWIG'S Buch der Boden entzogen.

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Aus meinen Darlegungen ergiebt sich wohl deutlieh, dass gestrebt wurde, nicht nur den Ausdruck Iqaturgesetz, sondern anch den B e g r i f f der K r a f t aus den D e f i n i t i o n e n u n s e r e r Aufgabe mSgl i ehs t zu e l i m i n i r e n und s tar t des sen da s j en ige , was wi t e r m i t t e l n ki innen, also die bes t i ind igen W i r k u n g s w e i s e n zu nennen. Immerhin habe ieh, da diese Betonung der Wirkungsweisen neu, also den Lesern noch fremd ist, um an Bekanntes anzukniipfen, immer noeh dazwischen Formulirungen mit Verwendung des Kraftbegriffes und des Energiebegriffes angefiihrt. Ich eliminirte auch den Kraft- begriff nicht, weil er nicht brauehbar w~re, sondern weil er eine Komplikation der Vorstellung repr[tsentirt und nicht unbedingt nSthig ist. Desshalb habe ich aueh meinen Lesern keine aus einem Philo- sophen entlehnte Definition desselben dargeboten.

Kri i f te sind bequeme H i l f s b e g r i f f e , die mit Vorliebe dann verwendet warden, wenn man sigh die Ursache einer Erscheinung~ also das der Erscheinung vorhergehende, sic hervorbringende Ge- s c h e h e n n i ch t d e u t l i c h vo r s t e l l en kann.

Auch den E n e r g i e b e g ' r i f f habe ieh in meinen Definitionen etwas zurtickgedr~tngt oder, wie vielleicht Andere sagen werden, vernachlassig't. DiGs g'eschah desshalb, wail ieh das Aufsuehen des S p e e i f i s c h e n des org'anisch'en G e s t a l t u n g s g e s c h e h e n s , also der g e s t a l t e n d e n W i r k u n g s w e i s e n als das Wesenfliehste hin- stellen wollte.

FUr die Erledigung dieser a l l g e m e i n e n Aufgabe : der Elnnitte- lung der die specifischen organisehen Gestaltungen hervorbringenden Wirkungsweisen, ist es nebensiiehlich, wo die Energievorri~the zu dem bezUglichen Geschehen lagern oder herkommen: ob sie als b~ahrungsdotter schon zu einem grol~en Theil im Ei enthalten sind oder a l le yon auBen her, sei as in Form yon fitissiger, gas- f6rmiger Nahrung~ sei es als Wi~rme, Lieht zugefUhrt werden. Diese Agentien sind ja fUr viele sehr verschieden gebaute Thiere naeh Lokalisation und Beschaffenheit d i e se lben ; also wird die speeifisehe, typische Verschiedenheit der Gestalt und Struktur dieser Thiere nicht durch die 1Nahrung hervorgebracht oder auch nur bedingt; sondern die Verwendung der INahrung zur Produktion typisch versehiedener Gestaltungen h~tngt wesentlich von der Beschaffenheit des thiitigen Eies, also yon seiner physikaliseh-ehemischen Struktur ab. Aus diesem Grunde ist die selbstverstiindlicher Weise gleichfalls nSthige Erforsehung dieser Verh~ltnisse in dem Programm nicht besonders erw~thnt worden.

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Auch werden die ges t a l t enden Wirkung 'sweisen inner - halb sehr groBer Organ i smengruppen im Wesent l i chen die- selben sein, und die Unte rseh iede der p roduc i r t en Gestal- tungen wesen t l i ch auf quan t i t a t iven , lokalen und zei t l iehen Unterschieden in der Beth:~ttigung dieser Wi rkungswe i sen beruhen. Die ~)allgemeine E n t w i c k e l u n g s m e c h a n i k , kann also die gcnannten Verh~tltnisse etwas veruaehl~tssigen.

Dag'egen werden sic fiir die , spec ie l l e En twicke lungs - mechanik, , yon griiBerer Bedeutung sein, obschon z. B. auch viele Thierc mit gleieh groBem und gleich gelaffertem Nahrungsdotter sehr verschiedene Gestalt ausbilden.

Unter speciel ler E n t w i e k e l u n g s m e e h a n i k wird man die Lehre yon der besonderen Verwendung zu verstehen haben, die im Einzelfalle yon den allgemeinen gestaltenden Wirkungsweisen gemacht wird. Dabei werden aueh die Lokal i sa t ion der Nahrung als der Energievola'~tthe, sowie die Bahnen, die sie zu ihrer Verwen- dung' und b ei ihrer Verwendunff einschlagen, yon groBem Interesse sein. Doch sind fiber die Bahnen der Energie bei ihrem Wirken selbst die Physiker trotz der einfacheren Verh~tltnisse ihrer Unter- suchung'sobjekte manchmal noch im Zweifel.

Ursache eines Geschehens ist ein diesem Geschehen voraus- gebendes Geschehen, aus welchem das ersterw~thnte Geschehen mit Nothwendig 'kci t folgt. H~tufig besteht das vorausgehende Ge- schehen aus mehre ren zusammenwirkenden Theilen, den soge- nannten Komponenten oder Faktoren , yon denen ein oder mehrere schon lange vorher bes tehen , also einen Zus tand dar- stellen, w~thrend nur eine Komponente unmittelbar vorher neu hinzukommt; diese Komponente stellt also das letzte der Wirkung vorhergehende Ereignis dar. Popul~trer Weise bezeichnet man ge- wShnlich nur diescs letzte Ereignis als die Ursache des Geschehens. So bezeichnet man z. B. bei der Explosion einer Pulvermine gem den Funken als die Ursaehe der Explosion, w~thrend doch das Pulver ebenso nSthig dazu ist; nur war dieses vielleicht schon lange vorher da, w:,thrend erst mit dem Hinzukommen des Funkens die Explosion stattfand. Ebenso ist die Ursache eines rollenden Billardballes nicht bloB der mit dem Queue gegebene StoB, sondern auch der Billardball. Die Ursaehe einer flieg'enden Kanonenkugel ist nicht bloB der Funken, das Pulver und die Kugel, sondern auch das Kanonenrohr; diese alle zusammen bilden die Komponenten des Fliegens einer Kanonenkugel. Eine in dieser Weise angegebene

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Ursaehe eines Gesehehens heiBt die , v o l l s t a n d i g e U r s a e h e , des Geschehens.

In diesem Sinne haben wir gesagt, dass k e in G e s ehe hen ~ e i n s e i t i g , b e d i n g t se in kann , dass kein Gesehehen bloB e ine Komponente, sondern m i n d e s t e n s zwei K o m p o n e n t e n , s. Fak- toren, z. B. den Billardball und das bewegte, ihn stoBende Queue haben muss. Alle K o m p o n e n t e n e ine r W i r k u n g mtissen r o t - her , ,exis t i ren,~, sie b r a u c h e n abe r n ieh t a l l e u n m i t t e l - ba r v o r h e r ,anzufangen% heigt es daher in der Logik.

Von diesen nnseren AusfUhrungen ist HEItTWIO anseheinend niehts bekannt.

Man betraehtet tiblicher Weise das Gesehehen aueh auf eine a n d e r e einseitigere ,Art, indem man ihm eine K r a f t unterlegt und dann die K r a f t als die U r s a e h e des G e s e h e h e n s bezeiehnet. An diese nieht philosophisehe, aber den Physikern gelaufige, z. B. aueh Yon KIRCHHOFF (23, Vorrede pag. III) erwahnte Definition habe ieh der Mehrseitigkeit der Darstellnng halber neben der zumeist bevor- zugten philosophisehen Definition des Begriffes Ursaehe auch einmal angeknUpft (s. o. pag. 25). HERTWIG ist der Gebrauch dieser De- finition unbekannt, weil die Philosophen der Vereinfachung halber den Kraftbegriff aus ihrer Definition der Ursache eliminiren. Daran klammert er sich nun und bringt seitenlange philosophisehe Citate dagegen.

Es ist ibm somit aueh nieht bekannt, dass die Zeit, zu weleher die Naturforscher noeh in der yon dam Philosophen geriigten und bekampften falschen Vorstellung" yon den ,,Kraften, befang'en waren, sehon lange vorUber ist. Wenn er statt Philosophen, ~md zwar meist ~tlterer Philosophen, moderne Natnrforscher, besonders Physiker, ge - lesen hatte, so hatte ihm das nieht entgehen kiinnen. Was er erst noeh durch seine Citate zu erkampfen for ntithig halt, ist sogar be- reits sehon pop n l~tr geworden; und wir haben uns dem entsprechend ausgedrUekt (s. o. pag. 40).

Naeh den reiehen philosophischen Lesefrtichten folgt dann eine Darstellnng von HERTWIG'S c i g e n e n A u f f a s s u n g e n , der wir einige Aufmerksamkeit zu widmen Veranlassnng haben.

Er erwahnt zunachst (pag. 45) die bekannte Thatsaehe, dass die Krafte bloB von uns den Erscheinungen nntergelegte Begriffe sind: ,Die Physik beschaftigt sich daher streng genommen nicht mit der Erforsehung der magnetischen und elektriscben Kra f t etc., vielmehr mit der Erforschung yon E r s e h e i n u n g e n , welehe FOr

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unser Denken etwas Gemeinsames haben, das wir unter dem ab- strakten Begriff der magnetischen, der elektrischen Kraft etc. oder des Magnetismus and der Elektricitiit zusammenfassen.~ ,Mit vollem Reehte hat daher KIRCHHOFF, wie oben erwiihnt wurde, als die A u f g a b e de r M e e h a n i k bezeichnet: die in der l~atur vor sich gehenden Bewegungen vollstiindig and auf die e i n f a c h s t e Wei se zu b e s c h r e i b e n , and hat daher die Mechanik als die Wissenschaft yon der Bewegung bezeichnet,, (pag. 46).

So weir kSnnen wir dem Autor im Wesentliehen zustimmen. Nun abet folgt HERTWIG'S eigene Interpretation. Er i~thrt fort:

))Denn Uber das Wesen der flit das Zustandekommen der Be- wegungen angenommenen Grundkr~ifte in der Mechanik kann uns die Forsehung nicht mehr ,lehren', als es die auf die einfaehste Weise gegebene ,Beschreibung' yon den Bewegungen der KSrper that,, (pag. 46). U n d e r f~ihrt unmittelbar fort: ~Angesiehts der Aussprtiche yon Roux and manehen anderen Forschern 7 welche die Erforschung der gestaltenden Kr~fte oder Energien, der verae causae, als die wahre Aufgabe der Biologie hinsteHen , seheint es uns an der Zeit dicse Verh~ltnisse wieder einmal klar zu legen.~

Obgleich wir uns nicht besonders fur die Krl i f te , sondern direkt ftir die W i r k u n g s w e i s e n engagirt haben, wollen wit uns doeh den Sinn dieser .~uflerung HERTWIG'S klar maeh~n. Derselbe ist offenbar der, dass die F o r s c h u n g tiber die Kr~tfte uns n ich t s mehr l e h r e n k a n n als es die auf die einfachste Weise gegebene Besch re ibung tha t ; und I~ERTWIG tibertr~igt diese Auffassung yon der Massenmechanik, welehe es ja mit leicht tibersehbaren Vorg~tngen zu than hat, durch seinen Nachsatz sogleieh aaf die Biologic, speciell auf die Entwickelungsmechanik.

HERTWIG ahnt offenbar nieht, dass das, was KIRCHHOFF unter :NB. vollstiindiger und einfaehster B e s e h r e i b u n g versteht, e twas ganz Ande re s ist, als was er s e lbe r sieh dabei denkt . Es handelt sich nieht, wie er glaubt, um einfache, das heiBt kurze and klare sowie vollstitndige Besehreibung des unmittelbar W a h r n e h m b a r e n einer einzelnen Bewegung; sondern erst die auf Grand tiberaus v i e l s e i t i g e r B e o b a c h t a n g e n , in sehwierigen F~tllen aueh auf Grand b e s o n d e r e r E x p e r i m e n t e r gewonnene E i n s i e h t yore W e s e n t l i c h e n dieser Vorg~tnge ermSglieht die yon KIRCtIIIOFF gemeinte v o l l s t a n d i g e nnd e in f achs t e , das heiflt ,mit den wenigsten and allgemeinsten Annahmen auskommende, Besehreibung des w i r k l i c h e n G e s c h e h e n s , nicht bloB seines ~tu[$eren Seheins.

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In diesem Sinne sagt KIRCHHOFF sclber auf der ersten Seite seines Buches (23) unmittelbar nach der von HERTWm citirten De- finition der Mechanik Folgendes:

�9 Es soll die Besehreibung der Bewegung eine vol l s t~ndige sein. Die Bedeutung dieser Forderung ist vollkommen klar: es soll eben k e i n e F r a g e , die in B e t r e f f de r B e w e g u n g e n ges te l l t w e r d e n k a n n , u n b e a n t w o r t e t b le iben.

~b~icht so klar ist die Bedeutung der zweiten Forderung, dass die Besehreibung die e i n f a e h s t e sei. Es ist yon vorn herein sehr wohl denkbar, dass Zweifel dartiber bestehen kSnnen, ob eine oder die andere Besehreibung gewisser Erseheinungen die einfachere ist; es ist auch denkbar, dass eine Besehreibung gewisser Erseheinungen, d ie h e u t e u n z w e i f e l h a f t die e i n f a c h s t e ist, die man geben kann , sp~ter , bei w e i t e r e r E n t w i c k e l u n g de r Wissenseha f t d u t c h e ine noeh e i n f a e h e r e e r s e t z t wird. Dass .~hnliehes stattgefunden hat, daf'ttr bietet die Gesehichte der Mechanik mannig- faltige Beispiele dar.,

Da HERTWIG auch der Meinung ist, KIRCltHOFF bed iene sich n ich t des Beg r i f f e s Kraf t , so sei noch ein weiterer Satz dieser ersten Seite des Buches citirt: ~ ,Bewegung ' ist die Anderung des Ortes mit der Zeit; was sich bewegt, ist die Materie. Zur Auf- fassung einer Bewegung sind die Vorstellungen yon Raum, Zeit nnd Materie nSthig, abet auch hinreichend. Mit diesen Mitteln muss die Meehanik suehen ihr Ziel zu erreichen, und mit ibnen ,muss ' sie die H i l f s b e g r i f f e k o n s t r u i r e n , die sie dabei nSthig hat , z. B. die Begriffe der K r a f t und der Masse.~ KIRCHROFF erwi~hnt noeh besonders (Vorrede pag. IV), dass man auch auf dem yon ihm eingesehlagenen Wage es mit dem Begriffe K r a f t zu thun hat, der aber keine Unklarheit zur Folge hat, ~da die E in f t i h rung der Kr~f t e h i e r nur ein Mit te l bildet~ um die A u s d r u e k s w e i s e zn ve re in faehen~ um n~imlich in kurzen Worten Gleichungen auszudrtieken, die ohne Hilfe dieses ~ameus nur sehwerFallig dureh Worte sich wtirden wiedergeben lassen.~ In versehiedenen Ab- sehnitten handelt dann KIRCHHOFF auf seine Weise yon Kr~ften im Speeiellen.

Herr KmCH~OFF hat wohl nicht geahnt~ was sein Aussprueh tiber die ~vollstiindige nnd mSgliehst einfache Besehreibun~',( der Massen- bewegungen, also tiber das an sich schon einfachste, am leiehtesten zu beobachtende und vorzustellende Geschehen durch eine den Sinn seiner Worte nicht erfassende Dentung und dnreh rein mechanisehe,

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anpassungslose 0bertragung auf ein anderes, der direktcn Beobachtung viel weniger zugiingliches Gebiet ftir Vcrwirrang anrichten wUrde.

Die M e c h a n i k ist i i be rhaup t n i ch t bloB a u f ,,be- sch re ibende , , Weise e n t s t a n d e n , sondern unter Anstellung yon zah l losen s c h a r f s i n n i g e n , a n a l y t i s c h e n E x p e r i m e n t e n , die liber ein Jahrhundert in Anspruch nahmen.

Erst so ist die E i n s i c h t gewonnen worden, die zu deduktiver und mathematischer Bearbeitung die M(iglichkeit bet; und dann endlich konnte nach tiber zweihundert Jahren ein KIRCHttOFF daran gehen, diese Vorg~nge auf die ~einfachste~ und (m5glichst) ~voll- stiindige~ Weise zu ,beschreibenr

Bei dieser Forschunffsarbeit sind viele Hypothesen gemacht und wieder verworfen, oder allmiihlich verificirt worden.

HERTWIG glaubt auch, :NEWTON babe k e i n e H y p o t h e s e ge- macht. Er interpretirt daher den Satz: ,hypotheses non fingo~, als: ~ich mache keine Hypo thesenr

NEWTON war aber Verh'eter der Emanationshypothese des Lichtes und der auf dicse gegriindeten Theorie. Der Iqachdruck in jenem Satze ist also wohl wenigcr auf h y p o t h e s e s als auf f i n g o zu lcgen; und so bedeutet der Satz: Ich e r d i c h t e keine Hypothesen, sondern ich leite, sie aus den Thatsachen selber ab.

Auch hat ~EWTON mancherlei analytische Experimente gemacht, bis er. unter Benutzung dieser und mit Verwerthung der Beobachtung des unmittelbaren Naturgeschehcns zu seiner einfachen, allerdings sehr vorsichtig ausgesprochenen ~,Hypothese(< kam, dass die Massen so auf einander wirken, als ob yon ihnen selber (yon ihren Mittel- punkten) die sichtbaren ~therungswirkungen ausgingen.

Die andere, neuerdings wieder yon einigen Autoren vertretene Auffassung, dass die bezUglichen Wirkungen n icht yon den sich niihernden Massen se lber ausgehen, sondern dutch KuBere E in - w i r k u n g e n auf diese Massen hervorgebracht werden, ist in der That viel komplicirterl). ~EWTON'S Auffassung gestattet daher die ,ein- fachste,, Beschreibung des Geschchens.

HELMHOLTZ sagt SO, unserer Auffassung wohl entsprechend, in

1) Wie dutch prim~ir abstof3ende Wirkungen zweier Gebildo N~iherung derse lben in d i r e k t e r R i c h t u n g hervorgebrachtwerden kann zeigt auf das SchSnste mein Versuch der Se lbs tkopu la t i on yon Chloroformtropfen, welche auf gesiittigter w:,isseriger Karbolsiiure schwimmen (1, Bd. II. pag. 34!.

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seinem Vorwort zu I-IERTZ'S Prineipien der Mechanik (28) pag. XX: ))Erst :NEWTON kam zum Begriff der F e r n k r a f t . Es ist bekannt, wie sehr Anfangs ihm selbst and seinen Zeitgenossen der Begriff un- v e r m i t t e l t e r Fernwirkung widerstrebte,, (das ist eine Fernwirkung, ohne dass in dem zwisehenliegenden Medium irgend eine Ver~tnderung vet sieh geht, wie bei Lieht und Elektrieititt. Ref.). ,Die allgemeinen prineipiellen Sittze der Meehanik haben sieh alle entwiekelt unter der Voranssetzung yon ~EWTON'S Attributen der konstanten, also aueh konservativen Anziehungskri~fte zwischen materiellen Punkten und der Existenz fester Verbindungen zwisehen denselben. Sie sind ursprUnglieh nur unter der Annahme soleher gefunden and b e w i e s e n women.

Erst die dutch Verg l e i ehung und A n a l y s e vieler, zum Theil k l ins t l i eh h e r v o r g e b r a e h t e r Fi~lle versehiedener Art gewonnene, das W e s e n t l i c h e des Geschehens erfassende E i n s i e h t gestattet die yon KIRCHtIOFF gemeinte vollst:,tndige und einfachste Beschrei- bung des meehanisehen Gesehehens.

Da es sich somit nicht, wie HI~RTWIG meint, um einfache B e- s e h r e i b u n g des G e s e h e n e n nach se inem ~iuBeren Sche in handelt~ so hat dieser Autor liei seinem Aussprueh noch ein Zweites~ fast noeh wichtigeres Moment iibersehen. Das bezUgl iche Ge- s c h e h e n muss ni~mlich U b e r h a u p t e r s t au f die yon uns ge- nann te W e i s e v o l l s t R n d i g , e r f o r s c h t , sein, ehe w i r e s voll- st~tndig und auf diese einfaehste Weise b e s e h r e i b e n kSnnen. Die ))Besehreibungr kann uns von diesem Wissen niehts ~ l e h r e n , , was wir nieht zuvor auf nieht bloB das G e s e h e n e b e s e h r e i b e n d e , sondern auf eine das W e s e n t l i e h e aus wieder zum Theil experi- mentell erzeugten F~tllen a b s t r a h i r e n d e W e i s e erforscht haben.

Was so erforscht worden ist~ d a s kSnnen wit dann aueh be- s e h r e i b e n d darstellen.

Das ist nun aueh auf den sehiinen Ausspruch ~AEGELI'B anzu- wenden: ~Einen Naturvorgang b e g r e i f e n heist gleichsam niehts Anderes als ihn d e n k e n d wiede rho len~ ihn in Gedanken hervor- bringen.~ Dies ist sehr riehtig, aber es gen i ig t n i e h t , sieh seinen s i e h t b a r e n A b l a u f , also seinen ~tuBeren Sche in , denkend zu wiederholen; sondern es ist zuvor meist vieljithrige and mannig- faehe experimentelle Forsehung niithig, his wir einen Vorgang so weit erkannt haben, dass wit ihn selber, also das bei ihm statt- findende wirkliehe Geschehen und Wirken uns annKhernd vorstellen und daher ,denkend wiederholenr k0nnen. So vollstiindig haben

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wir noeh gar keinen Vorgang erkannt, um ihn vo l l s t i ind ig in Ge- danken wiederholen zu kSnncn. Wi t s c h r c i t e n aber for tw~thrend w e i t e r in s o l c h e r c a u s a l e r E r k e n n t n i s ; das muss uns Tros t und G e n u g t h u u n g s e i n .

Das >>Wie,, das cigentliehe Wesen des Wirkens ist nns zwar in l e t z te r Ins tanz immer unbekannt. Abcr wir kennen doch schon rech t v e r s c h i e d e n e W i r k u n g s w e i s e n im Bereiehe des Anorga- nischen und Organischen; desshalb habc ich als unsere praktische, mit Erfolg angreifbarc Aufgabe formulirt, das so Uberaus mannig- faltige organischc gestaltende Geschehen jederzeit aufcine mSgl ichs t k l e ine Anzahl bes t i ind iger , das heiBt sieh s te t s g le ich b l e iben - der W i r k u n g s w e i s e n zurUckzufUhren. Diese Zahl best~tndiger Wirkungsweisen wird zun~tchst ziemlieh groB werden; aber sie wird dureh weitere Zerlegnng allm~thlich verinindert werden; und immer mehr werden wir sp~tter auf Wirkungsweisen kommen, die vom anorganischen Geschehen her bekannt sind. Mag sieh stets die folgende Generation bemUhen, die Zahl der ihr iiberlicferten noeh komplcxen aber best~tndigen Wirkungsweisen zu vermindern nnd somit die er- kannten Wirkungsweisen zu vcrallgemeinern.

I-IERTWIG fasst dann scin Urtheil tiber unser Programm in die, wie wit sahen, nicht sachlieh begriindeten Worte zusammen (pag. 55):

�9 In seinen (scil. Roux's)Schriften begegnet arts aufSehritt und Tritt die yon SCItOPENIIAUER und LOTZE gctadeltc Verwendung der Begriffe ,Ursache und Kraft'. In ihnen erh~lt ferner der Begriff der Causalitat eine solche Fassung, dass man n ich t weiB, was man au f dem Geb ie t e d e r Biologie Uberhaup t noeh e ine ,ur- s i ichl iche F o r s e h u n g ' n e n n e n soll. Denn iwenn Roux als solche ~die Ermittelung der gestaltenden Kriifte oder Energieen' bezeichnet, so stellt er der Entwickelungsmechanik eine Aufgabe, welehe, streng genommen, die Naturwissenschaft tiberhaupt nicht erforschen kann, und tr:,igt in ihre Definition gleich alle die Unklarheiten hinein, welche dem Begriff der Kraft anhaften. Bei solcher Unklarheit kann es uns fUrwahr nicht Wunder nehmen, wenn Roux yon der gewaltigen GrSBe der Aufgabe seiner Entwiekelungsmeehanik mit einer gewissen ehrfurchtsvollen Scheu redet, als dem ,schwierigsten' Untcrnehmen, ,an welches sieh der Mensehengeist gewagt hat'.

�9 Die Sehwierigkeit besteht eben darin, dass Niemand aus den genauer dargelegten GrUnden naher angeben kann, was denn nun eigcntlieh erforscht werden soll. Es ist g e n a u d e r s e l b e Zus t and , der e i n t r e t e n wUrde, wenn J e m a n d als die Aufgabe der

Archly f. Entwicke|ungsmechanik. V. 4

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g e s a m m t e n N a t u r w i s s e n s c h a f t die E r fo r sehung der wel t - b i l dende n Kraf t angeben wollte.r

Also es kann Niemand angeben, was nach meiner Meimmg nun eigentlieh erforseht werden soll. Ieh darf wohl hoffen, dass die Leser unseres vorstehend reprodueirten Programms anderer Meinung sind; sie werden noeh weiter darUber aufgekli~rt sein, wenn sie auch den zugehSrigen zweiten, tiber die Forsehungsmethoden handelnden Abschnitt gelesen haben werden. Diese ganze Expektoration HERT- WIG'S hat zur Vorbedingung die yon ihm s t r eng durchgef t ih r te V e r s e h w e i g u n g des W e s e n t l i c h s t e n meines Programms, der Erforschung der ge s t a l t enden W i r k u n g s w e i s e n ; und sie beruht andererseits auf der unriehtigen Auffassung ]:IEI~TWIG'S iiber meine Vorstellungen yon Ursaehe and Kraft.

Ie. , ,Physik und Chemie k e n n e n ke ine g e s t a l t e n d e n Krafte..((: O. HERTWIG.

Vor dem eben eitirten Endurtheil tiber das Programm der Ent- wiekelungsmeehanik ftigt HERTWIG noch einen langeren Exkurs tiber die ~ges t a l t enden Kraf ter ein, du wir gelegentlieh der zn er- forschenden g e s t a l t e n d e n Wirkungsweisen aueh yon den ihnen zu supponirenden ges . ta l tenden Kr~ften gesprochen haben. Die Bezeichnung )~gestaltend, wurde yon mir angewendet zur Unter- scheidung yon den keine Gestaltungen oder n ieh t b le ibende , sonde rn raseh vo rUbe rgehende G e s t a l t u n g e n producirenden Fnnktionen, welche die gegenwitrtige thierisehe Phys io log ie er- forseht.

Die Organismen vollziehen bekannflieh aul]er den die Gestaltung bewirkenden G e s t a l t u n g s f u n k t i o n e n noeh andere die E r h a l t u n g des Gestalteten bewirkende Funktionen: die E r h a l t u n g s f u n k t i o n e n . In der ersten Periode des individuellen Lebens treten die Gestaltungs-, in der zweiten Periode die Erhaltnngsfunktionen in den Vordergrund. Doch kommen den Erhaltungsfunktionen in Folge des VermSgens der ) ) funkt ionel len A n p a s s u n g , unter gewissen Verhiiltnissen aueh b l e ibende , )~gestal tende, Wirkungen in unserem Sinne zu; auch findet wiih r end der scheinbaren alleinigen Erhalmng gleichwohl dutch innere Regeneration (Ausbesserung nnd Ersatz abgenutzter oder za alter E?] Bestandtheile) auch Produktion bleibender Gestaltung statt. Immerhin verlaufen die reinen Erhaltungsfunktionen an sich zumeist ohne Bildung neuer bleibender Gestaltung.

Die den Moq)hologen interessirenden Gestaltungen sind abet

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w~thrend der e n lb ryona l en E n t w i e k e l u n g groBenthcils scheinbar nicht bl e ib e n d 6, da sic dutch die weitersehreitende Entwiekelung rasch unlge~ndert werden. Sic stellen dabei aber doeh nothwendige Vorstufen nachfolgender bleibender Gestaltungen dar und gehiiren in diesen1 Sinne zu den , b l e i b e n d e n ~ Gestaltungen. Auch handelt es sigh Uberhaupt nicht un1 lebensliingliehes Bleiben (wir erinnern nut an dis wicder rtlckgGbildeten Organe), sondern um die wichtigere Unter- scheidung der ~ Dauergestaltungen,, yon den rasch vorUbergehenden und immcr in wesentlich gleicher Weise wechselnden Gestaltanderungen, die die Vollziehung der Erhaltangsfunktionen bedingt, wie z. B. die Gestalt~inderungen bet der ThKtigkeit der Muskeln oder der DrUsen- zellen. Diese beiderlei Gestaltungen nlUssen wir untersGheiden, so wie man die bleibende Struktur einer Maschine yon den wechselnden Zu- stiinden derselben zu unterseheiden hat~ die sis bet ihrer Thiitigkeit durch die Drehung der R~der, Bewegung yon Hebeln etc. fortwahrend

u n d in gleieher Weise sieh wiederholend eri'tihrt. Es muss also KrKfte und Kr~i f tekonlb ina t ionen geben, welche

allein oder vorzugsweise diese b l e i b e n d e n Gcstaltungen bewirken; wie es andererseits Kr~tfte und Kr:,tftekonlbinationen geben muss~ welche das Gestaltete in seinem Stoffwechsel e ' rhal ten und die Er- haltungsfimktionen des Ganzen vollziehen

Es giebt auch in der Physik viele Vorg~tnge (also Wirkungen yon Kr~ften), die ke ine b l e i b e n d e n , sondcrn raseh vort|bergehende G e s t a l t u n g e n hervorbringen; so das ruhige FlieBen des Flussesin seinem Bette oder der Elektrieit~it im metallisehen Letter, die Be- leuehtung yon Gegenst~tnden. Mit r e l a t i v g e r i n g e r g e s t a l t e n d e r W i r k u n g in1 Vcrhiiltnis zur Krystallisation, oder zur zerstiirenden Wirkung des Sturmwindes, sings abnorm angesehwollenen Flusses: oder der einen Felsen sprengenden Mine ist ferner z. B. die bloBe Erw~rnlung eines Kiirpers verbunden.

D a u e r n d e oder vorUbGrgehende G e s t a l t u n g e n , sowie Vor- g:,~nge nlit g e r i n g e r oder s t a r k e r P r o d u k t i o n yon Ges t a l t ung : das sind far die Physik im Allgemeinen untergeordnete Untersehei- dungen; fur uns als Morphologen aber s ind es f u n d a m e n t a l c Un te r sehe idungen . Daher babe ieh die die organischen Gestal- tungen bewirkenden Kr:,ifte und Kr~tftekonlbinationen als ~>gestaltende Kr~tfter und ~ ) g e s t a l t e n d w i r k e n d e K o n l b i n a t i o n e n yon Kr~tf- ten~ besonders bezeiehnet.

Von diesen g e s t a l t e n d e n Kr~tften resp. g e s t a l t e n d e n Kon1- b ina t ionen yon Kri~ften finden sieh in meinen Al:beiten allge-

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meinen wie speeiellen Inhalts viele Beispiele gegeben, dis ieh mir erlaube, HERTWIG zur LektUre zu empfehlen.

Es sei zun~tehst wieder an das Eingangs (pag. 7--12) ausfiihrlieh citirte Beispiel yon den B iegung bewirkenden KrKften erinnert, da die Biegung einen generellen Grundvorgang der embryonalen Form- bildung darstellt.

Ferner sei der ~aehweis erwi~hnt (1, Bd. I. pag. 75), dass die Gestalt der Lichtung der BlutgeF~tBe sine Anpassung an die Selbst- gestaltungstendenz des Blutstrahles, also an die Resultirenden der im Blutstrahl wirkenden Propulsions- und Seitendruckkriifte darstellt; ferner die Ableitung der in neuen statisehen Verhaltnissen ent- stehenden, diesen aufs ,Zweekm~Bigste, angepassten Knochenstruktur yon der Vertheilung der Druek- und Zugkri~fte, die also dabei ge- staltend wirken; weiterhin denken wit daran, dass G. BERTHOLD, O. B~TSCHLI, QUINCKE U.A. die Kohiisionskraft der Oberfiiichen- sehicht yon Tropfen zur Ableitung vieler Zellgestaltungen verwandt haben, wie aueh ich neuerdings diese Kraft zur Ableitung der Selbst- ordnungsvorgiinge der Furehungszellen herangezogen habe.

i

Mithin sind die versehiedenen Biegungskrlifte, die h~tmodyna- misehen Kr~fte, die im Knochen fortgepfianzten Druck-~ und Zug- kr~fte, dis verschieden groBen Koh~sionskr~fte der Oberfl~iehe yon Tropfen sowie noch fast fli|ssiger Zellenenoberfiiichen solehe mehr oder weniger ,bleibende, Gestaltungen veranlassende, also gesta l - t ends K r ~ f t e .

Aus dem Bereiche des Anorganisehen sei noeh der Krystalle gedaeht, welche durch die supponirten Molekularkriifte ihre specifisehe Gestaltung empfangen, ferner der vieli~Xltigeu Gestaltung der Gebirge, die dutch die ungleiehe Festigkeit der Gesteine (also wieder durch Molekularkr~tfte), wie andererseits dutch herabfiieBendcs Wasser, durch Frost (d. h. dutch die Ausdehnung des Wassers beim Gefrieren), dutch Wirku'ng der Kohlensiiure etc. bedingt ist; weiterhiu der Ge- stalt der Thitler, der Flussl~tufe uud der sie bewirkenden Kombi- na t ionen von verschiedenen Kr~ften.

Wir miichten nun auch womiiglieh wissen, welehe Kombinationen der im Anorganisehen erkannten physikaliseh-chemischen Kr:,tfte bei den organischen gestaltenden Grundvorg~,tngen: so beim Wachsthum (der Assimilation), bei der Zellwanderung, Zellstreekung, Zelltheilung etc. betheiligt sind, und wie, d. h. durch welehe Arten yon Wirkungs- weisen diese Leistungen hervorgebraeht werden etc.

b~ach HERTWIG dagegen giebt es liberhaupt keine ge s t a l t enden

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Kr~fte; er l e i t e t soga r aus e ine r p h i l o s o p h i s e h e n D e f i n i t i o n des B e g r i f f e s der Kr~tfte ab, dass die Kr~f t e n ieh t g e s t a l t e n d w i r k e n kiinnen.

Wir wollen seinen Exkurs hier in tote verbotenus, also ohne j e d e A u s l a s s u n g abdrucken, um der Einwendung vorzubeugen, seine Auffassung w~ire durch unvollstiindige Wiedergabe entstellt worden. Denn wenn wit auch diese Auffassung durchaus nicht theilen, so charakterisirt diese eigene Darlegung tIERTWlG'S seine physikalisehen und chemischen Ansichten besser als irgend eine Schilderung yon fremder Seite dies zu thun vermiichte. Die Leser g e w i n n e n v i e l l e i c h t dabe i aueh g l e i ch mir e ine Aufkl i~rung darUber , wa rum O. I-IERTWIG m e i n e v i e l f a e h w i e d e r h o l t e n D a r s t e l l u n g e n u n s e r e r A u f g a b e n n i eh t v e r s t a n d e n ha t und n ieh t v e r s t e h e n konnte .

Er sagt (pag. 56): ,Was sollen wir uns, bei Liehte besehen, unter E r m i t t e l u n g yon gestaltenden Kriiften vorstellen? Physik und Chemie kennen solehe vor der Hand nicht!,

(Von p h y s i k a l i s c h e n gestaltenden Kr~ften haben wir vorher eben gesprochen; es sei daher hier in Bczug auf die gestaltende Wirkung' c h e m i s c h e r KrKfte nur noch an die S t e r e o c h e m i e er- innert, die jetzt ihre Triumphe feiert und die auf der Annahme be- stimmt ordnender, also gestaltender Atomkr~tfte beruht.)

Unser Autor begrUndet nun sofort die ausgesprochene Behaup- tung, indem er (pag. 56) fortfKhrt:

�9 Denn der B e g r i f f ,Kraf t ' ziel t , wenn er mit Nutzen verwandt werden sell, immer au f das A l l g e m e i n e der E r s e h e i n u n g e n , auf a l l geme ine E i g e n s c h a f t e n de r Mate r ie ; daher er am meisten in der Physik, schon weniger in der Chemie gebraucht wird und in der Biologie ohne Schaden entbehrt werden kiinnte. Die Verbindung der beiden Worte ,gestaltende Kraft' insbesondere schlieBt eine natur- wissenschaftlich brauchbare Verwendung des Kraftbegriffes geradezu aus. Denn Ges ta l t ist s te ts e twas B e s o n d e r e s , e twas Kon- k re t e s , wodurch ein Ding sich ve t einem anderen Ding auszeichnet. Der Ausdruck ,gestaltende Kraft' ist wissensehaftlich ebenso werthlos wie die ,Lebenskraft', welche LOTZE dutch seine meehanischen Lehren hatte beseitigen wollen.~

Die Kriifte bewirken somit naeh HERTWIG bloB ~Al lgemeines , ; Gestalten aber sind etwas zu ,>Besonderes , , als dass sie durch Kr~fte bewirkt werden k(innten; daher kann es keine gestaltenden Krafte, .somit logiseher Weise doch wohl auch keine Gestaltungs-

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vorgiinge, denen wir diese Kriifte supponiren kiinnten, also aueh keine Gestalten geben ? Das iibertrifft noeh die kUhnsten Erwartungen, die man in Bezug auf Negation des Thats~chliehen yon einem >>reinen Theoretiker,, hegen darf. Dagegen ist die Jahrhunderte dauernde Verleugnung der Meteoriten, >~weil im Himmel keine Steine sind und also aueh keine aus ihm herunterfallen kSnnen,,, noch empirische Exaktheit; denn der Meteoritenfall ist doch, vom Ende Au~qlst ab- gesehen, eine nicht allzu h~tufig'e Erscheinung, die aueh nicht Jeder zu sehen bekommt, wie die Gestalt~tnderungen von Berg und Thal und die Krystallbildungen etc.

HERTWIG f'~hrt fort: �9 Eine genauere Analyse des Begriffes ,gestaltende Kraft oder

Energie' wird uns zeigen, wie wenig er leistet und wie wenig einer Erkenntnis durch ihn gedient wird.

�9 Wer yon gestaltenden Kr~tften redet, kommt in die Lage, so v ie le e i n z e l n e G e s t a l t u n g s k r ~ t f t e a n n e h m e n zu mtissen, als es v e r s e h i e d e n e G e s t a l t e n giebt . Eine Kraft, welche einen Kochsalzkrystall erzeugt, muss yon der Kraft, welche einen Krystall yon Glaubersalz schafft, ebenso verschieden sein, als das auskrystalli- sirte Kochsalz sigh in seinen Eigenschaften yore auskrystallisirten Glaubersalz unterscheidet. Und G le i ches g i l t yon j e d e r th ie- r i s chen , yon j e d e r p f l a n z l i c h e n Gesta l t . An S te l l e des H e e r e s der o r g a n i s c h e n G e s t a l t e n e r h a l t e n wir au f d iese W e i s e nur ein Hee r yon g e s t a l t e n d e n Kr~tften.,

Also die Krystalle werden yon HERTWIG doeh als gestaltete Ge- bilde angesehen; sie kSnnen bloB night dutch >,gestaltende Kr~tfte.~ hervorgebraeht worden skin.

Der Autor i~,thrt fort: ,Im Organismenreich zerflillt uns abet der Begriff ,gestaltende

Kraft' unter unseren H~nden noch weiter. Jede organische Gestalt entwickelt sich, wie wir wissen. Im Entwickelungsprocess eines Thieres folgen sich zahlreiche Gestaltungen auf einander, die sich eine in die andere gesetzm~ig umwandeln. Folglich mtissen wir wenn wir die Besonderheit einer Gestalt als das Ergebnis einer ge- staltenden Kraft bezeichnen, konsequenter Weise auch so v ie le v e r s c h i e d e n e g e s t a l t e n d e Kr~tfte, als es F o r m s t u f e n ih der E n t w i c k e l u n g g i eb t und eine Umwandlung derselben in einander annehmen; wir mUssen zum Exempel der F r o s c h b l a s t u l a e ine F r o s c h g a s t r u l a b i l d e n d e K r a f t und dieser wieder eine Neurula bildende Kraft zuschreiben nnd so weiter jedem Entwickeluagsstadium

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eine Kraft, welche sich in dem ~Naehfolgenden verwirklicht. Es wird Jeder einsehen, dass wit auf diesem Wege mit dem Kraftbegriff ins Gedriinge gerathen und dass bier fUr unsere Erkenntnis niehts ge- wonnen wird, wenn wir ,die Welt der Erscheinungen in die Welt der Kr~fte' tt,bersetzen.,,

�9 Doeh vielleicht hilft uns ein anderer Weg. Vielleicht haben wir mehr GlUck~ wenn wir, wie Roux auch 1) vorsehli~gt, die Kraft, welche eine zusammengesetzte Gestalt erzeugt, in einzelne Kompo- nenten, in Kombinationen yon Energien (?) zerlegen. Roux ge- braucht dafUr auch die Ausdrticke ,gestaltliehe Mannigfaltigkeit pro- ducirende Komponenten' oder ,komplexe Komponenten yon vorl~ufig nniibersehbarer Komplicirtheiff oder besondere , g e s t a l t e n d wir- kende K o m b i n a t i o n e n von U r s a e h e n ' . ,Da die organische Entwickelung in der Produktion wahrnehmbarer, typiseh gestalteter Mannigfaltigkeit bestehe', heiBt es, ,so seien zur Entstehung typischer Mannigfaltigkeit selbstverstandlieh auch besondere t y p i s e h e Kom- b ina t ionen yon U r s a e h e n (s. Energien) nSthig.' ,Verm(ige der Komplicirtheit ihrer Zusammensetzung" mUsse man diesen Komponenten Eigenschaften zuertheilen, welche yon denen der anorganisehen Wirkung'sweisen oft so erheblich verschieden seien, dass sie den Leistungen dieser nicht nut sehr unahnlich seien, sondern ihnen zum Theil geradezu zu widersprechen scheinen.' Hierzu fiigt Roux noch hinzu, dass es allerdings seiner unmittelbaren Auffassung entspreche, dass auch diese Komponenten in letzter Instanz auf anorganischen Wirkungsweisen beruhen.,

HERTWIG i~thrt fort (pag. 58): >~Eine Z e r l e g u n g des B e g r i f f e s , g e s t a l t e n d e K r a f t ' in

K o m p o n e n t e n li~sst s ich wohl am b e q u e m s t e n in der Wei se e r r e i chen , dass man die o r g a n i s e h e Ges t a l t in ih re ve r - s c h i e d e n e n T h e i l e z e r l eg t und fUr d iese die g e s t a l t e n d e n Kra f t e setzt. Man erhalt dann anstatt der allgemeinen Gestaltungs- kraft eine Scha r b e s o n d e r e r g e s t a l t e n d e r Kr~f t e , wie m u s k e l - b i ldende, n e r v e n b i l d e n d e , leber- , k n o c h e n b i l d e n d e K r a f t etc. Auf dem betretenen Wege noch weiter schreitend kann man alle Elementartheile, welche man durch anatomische Analyse und Me- thode dargestellt hat, als Triiger gestaltender Kr~tfte bezeichnen und dadurch noeh eiue weitere Zerlegung in besondere gesfaltende Krafte

I) Dieses ~auch~ ist nicht zutreffend; denn ieh habe die vorher erwiihnte Auffassung nicht vertreten. Diese bleibt unbestrittenes Eigenthum HERTWm'S.

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herbeifiihren. In dieser Weise kfinnte man yon einer gestaltenden Kraft der Zelle, des Kerns und der wieder im Protoplasma unter- seheidbaren ElementarkSrnehen sprechen (Roux's Isoplassonten, Auto- kineonten, Automerizonten, Idioplassonten).,,

Also naeh I:IERTWIG ,I~sst sigh eine Zerlegung des Begr i f f e s , g e s t a l t e n d e K r a f t ' in Komponenten wohl ,am b e q u e m s t e n ' in der We i se erreiehen, dass man die organisehe ,Ges ta l t ' in ihre v s r s e h i e d e n e n The i l e z e r l e g t und fur d iese die g e s t a l t e n d e n Kr~f t e setzt~.

Auf die Bequemlichkeit kommt es uns bei der Forsehung weniger an als auf die Riehtigkeit, auf die Wahrheit.

Wir erfahren aus dieser AusFahrung HERTWm'S, wie er sieh eine wissensehaftliehe 7,Analyse ~ vorstellt. Naeh dieser Probe sind unsere AuffaSsungen darUber so versehieden, dass wir uns kaum in dieser Hinsicht verstandigen werden. Er sieht abet selber ein, dass bei d i e s e r (seiner) Ar t der A n a l y s e der gestaltenden Kr~fte nichts Brauehbares herauskommt, denn er fithrt fort:

~Wird auf diesem Wege etwas gewonnen? Liegt nieht klar auf der Hand, dass der causale Forseher hier niehts Anderes thut, als nur die Ergebnisse des deskriptiven Forschers in eine andere Spraehe zu Ubersetzen und seinen durch Analyse gewonnenen Erscheinungen das WSrtchen ,Kraft' unterzusehieben?~

Dem stimmen wit vollkommen zu; anf diese yon HERTWIG angegebene Weise wird allerdings niehts gewonnen.

~Roux selbst hat eine Zerlegung der gestaltenden Kraft in Komponenten in der konsequenten Weise, wie wit es hier gethan haben, um den Gedanken durehzudenken, nieht ausgefiibrt. Da- geg'en sprieht er, abgesehen yon den sehon oben angefiihrten, all- g e m e i n e n R e d e w e n d u n g e n , yon Energien der Entwiekelung, der Erbaltung, der Riiekbildung' tier ZGllen und ihrer Elementartheile. Als komplexe Komponenten fithrt er auf die elementaren Zell- flmktionen: die Assimilation, die Dissimilation, die Selbstbewegung, Selbsttheilung, die Selbstdifferenzirung der Zelle etc., lauter Ding'e, welche der deskriptive Anatom auf Grund seiner Beobaehtung'en den Zellen als Eigenschaften beigelegt hat. E r f a h r e n wir e twa h ie r - aus, was fu r s i n e N a t u r k r a f t denn nun e i gen t l i ch d i e , g e - s t a l t e n d e K r a f t ' ist, was e ine Kombina t i on yon Ene rg ien , was sine komplexe and was eine einfaehe Komponente yon ihr ist? Namen, l ee re Namen und n ieh t s wei te r ! Auf festen Boden gelangen wir nur da, wo Roux sigh der Ergebnisse und

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Ausdrucksweisen der von ihm so g e r i n g g e s c h a t z t e n (? Ref.) ,deskriptiven Biologie ~ bedient.~

Die yon HERTWIG hier allein citirten komplexen Komponenten des organischen gestaltenden Gcschehens sind, wie ich gesagt habe, noch erste Nothbehelfe; immerhin bczeichnen sie doch b e s t a n d i g e W i r k u n g s w c i s c n yon g e s t a l t e n d c r Bedeutung. Doch habe ich auBcr diesen bereits yon der deskriptiven Forschung erkannten kom- plcxen Komponenten auch schon anderc yon mir erkanntc aufgefUhrt, die HERTWIG allerdings auslasst, da sonst sein Schlusssatz nicht auwendbar gewesen ware, dass nur, so weir wit bei der deskriptiven Forschung Anleihen gemacht haben, ctwas Brauchbares herausge- kommen sei.

Es sei daher an die t r o p h i s c h e W i r k u n g , das heiBt Knochen-, Knorpel-, Binde-, Muskelgewebebildung ausltisende Wirkung de r bezUglichen f u n k t i o n e l l e n Reize erinnert, r komplexe Kompo- nente, auf welche sieh racine Millionth specieller Gestaltungen er- klarende Theorie dcr funktionellen Anpassung sttitzt; ferner an die dirckte/~aherungswirkung, welche Furchungszellen auf cinander aus- tiben kiinnen (Cytotropismus), an anderc Arten yon Cytotaxis, ferner an den (trotz HERTWm) zuerst yon mir erbrachten ~ a c h w e i s , dass die >>Gestalt<< dcr Furchungszellc die Theilungsrichtung derselben be- stimmt und besonders an die durch eine Reihe ausgezeichneter Unter- suchungcn yon Mitarbeitern des Archly fur Entwickelungsmechanik, wie DRIESCtI, MOI~GAN, 0. SCHULTZE, ZOJA ermittelte Wirkung der Ges ta l t der erstcn Furchungszellen dahingehend, dass sie bestimmt, ob ein halber oder ein ganzer Embryo aus ihr hervorgeht, eine Thatsache, welche hie dutch Bcschreibung des normalen Geschehens hatte ermittelt wcrden ktinnen. Das sind einige Beispiele yon kom- plexen Wirkungsweiscn, resp. yon ihncn zu supponirenden, unUber- sehbar komplicirten Kombinationen yon Kraften.

Der Leser wird ferner bemerkt haben, dass HERTWIG statt des yon mir verwendeten Plurals >>gestaltende Krafte,, und statt der ge- staltend wirkendcn Kombinationen yon Kraftcn es vorzieht, in seinen AusfUhruugen unrichtiger Weisc immer im Singular yon >>derr ge- s t a l t e n d e n Kra f t zu sprechen; so fragt er auch: >>Erfahren wir, was fur ,c ine ' Naturkraft denn nun eigentlich ,d ie ' gestaltende Kraft ist?, und fiigt hinzu: ~>lN'amen, l e e r e N a m e n und nichts weiter!~ Diese letztere Charakterisirunff wcndet er auch, wic wir sahen, auf K o m b i n a t i o n e n von Kraften, sowie auf komplexe und einfache Komponenten an.

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~un ich hoffe, dass diejenigen freundlichen Leser, welche meine Eingangs reprodueirten frUheren ~-ul~GrungGn dartiber mit einigem Nachdenken gelesen haben, und noch mehr solehe, welche auch Kenntnis yon meinen Speeialarbeiten besitzen, anders darUber denken werden als HERTWIO. Wir w u s s t e n schon sei t LangGm, dass unse re E r ~ r t e r u n g e n fur ihn blol~ ,Wor te , l e e r e Worte~ sind, dass er i h r e n I n h a l t n ight zu a p p e r c i p i r e n vermag.

Man wUrde naeh den vorstehenden AusFuhrungen noch glauben k~nnen, dass HEm'wm blofl gegen meine ~ B e z e i C h n u n g~, ~gestaltende Kr~fte,, opponire, weil er sieh, wig wir gesehen haben, irrthUmlicher Weise darunter immer eine fUr jede speeielle Gestalt bes0ndere Kraft, eine Kraft yon besonderer, bleibender QualitKt denkt; und dass daher unsere Differenz der Meinungen mit der Aufkl~rung versehw~nde, dass es sigh bei mir blol~ um dig bereits als bekannt angenommenen physikalisch-chemisehen Kr~fte und zwar meist um besondere Kom- b i n a t i o n e n dieser Kr~Ke handelt, denen dann aueh besondere gestaltende Wirk~mgen zukommen, dass wir darunter keine beson- d e r e n Kr~fte, sondern, entspreehend den zahlreich gegebenen Bei- spielen, nut die gew~hnlichen physikaliseh-chemisehen Kr~fte uns denken, (lie abet in zur P r o d u k t i o n der o r g a n i s c h e n Ge- s t a l t u n g e n gee ig 'ne ten K o m b i n a t i o n e n th~tig' sind.

Doch aueh d i e se A u f k l ~ r u n g u n s e r e r D i f f e r enz is t un- mSglieh. HERTWIG e l imin i r t d iese MSgl i ehke i t und ble ibt dabei , dass es auch k e i n e g e s t a l t e n d e n K o m b i n a t i o n e n yon KrKften geben k~nne , indem er forff~hrt (pag. 59):

,~oeh ein dritter Weg bleibt zu versuehen, die gestaltende Kraft direkt in die Grundkr~fte der Physik zu zerlegen und die organisehen Gestalten d i r e k t aus k o m p l e x e n Komponen ten yon Sehwerkraft , Koh~sionskraft, ehemisehen, elektrischen, mag- netischen Kr~ften zu erkl~ren.

~,l)ass dieser Weg ebenfalls nicht der reehte ist, braueht kaura einer n~heren l)arlegung. Zwar sind die Grundl~r:Mte der ~Natur wie in den unorganischen K~rpern aueh in den Organismen wirk- sam und k~nnen, wo sic sich in Erseheinung zeigen, untersucht werden, abet wi r k ~ n n e n k e i n e ,g 'es ta l tende Kraf t ' dureh K o m b i n a t i o n yon S c h w e r k r a f t , K o h ~ s i o n s k r a f t , chemisehe r , e l e k t r i s c h e r K r a f t k o n s t r u i r e n oder dutch Vereinigung yon ein bischen Sehwerkraft, ehemiseher Kraft, Koh~sionskraft zur Symbiose

la DREYER organisehe Gestalt produciren. ~< HERTWIG h~ttte hinzuftigen kSnncn ~ dass dieser yon ihm gleich-

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falls als unmiJglich bezeiehnete .Weg derjenige ist, den ich fur den r i e h t i g e n ha l te , den aueh sehon BAEI~ und KASleAR FRIEDRICH WOLFF bezeiehnet haben, und den ich in verschiedenen Special- arbeiten, wit ieh hoffe, nieht ganz erfolglos betreten habe.

Ich erlaube mir als Beispiel nochmals an meine Ableitung der trajektoriellen neuen Knoehenstruktur naeh Heilung yon Knochen- brtiehen und bei Ankylosen zu erinnern; es gelang mir~ diese wunderbar zweekmttBigen gestaltlichen Anpassungen an ganz neue Verh~tltnisse yon einer e i n f a e h e n und e i n e r k o m p l e x e n Kom- ponente abzuleiten: niimlieh yon der Fortpflanzung des Druekes und Zuges in der Knoehensubstanz und yon der trophisehen, d. h. Knoehen- bildung anregenden Wirkung tier bei der Einwirkung des Druekes und Zuges statttindenden ErsehUtterung resp. Spannung auf die Osteoblasten.

Also ,,wir kSnnen k e i n e ~gesta l tende Kra f t ' du t ch Kom- b ina t ion yon S c h w e r k r a f t , Koh i i s ionsk ra f t , chemisehe r , e l e k t r i s e h e r K r a f t kons t ru i renT, Das mUssen wir uns wohl zur Naehaehtung' unverlierbar einpr~tgen und bei unseren For- schungen stets gegenwitrtig halten?

Da mtissen wir doeh die Frage aufwerfen: wodurch sind denn nach HER'rWIG die G e s t a l t u n g e n der anorganisehen und orga- nischen Natur entstanden, wenn es keine einfachen ,gestaltenden Kr~tfte<., also keine Wirkungsweisen, denen wir solehe Krgfte sup- poniren kSnnen, giebt~ und wenn auch keine Kombinationen yon Krgften besondere Gestaltungen hervorzubringen verm~Jgen? Dann bleibt kein anderer Sehluss Ubrig als: es giebt aueh keine Gestaltungen; also Berge, Thliler, Felsen, Krystalle, Organismen existiren nieht, da sic (nach HERTWXr Voraussetzungen) nieht entstehen konnten.

Nunmehr haben wir keine Veranlassung" mehr~ uns zu wundern, dass f|ir HERTWIG auch me ine H a l b e m b r y o n e n , die ieh bereits auf drei Versammlungen yon ~Naturforsehern und in einigen naturwissen- sehaftlichen Gesellsehaften demonstrirt habe, n i eh t exis t i ren , noeh weniger darUber, dass ftir ihn auch der yon mir entdeekte, subtilerer Beobaehtung bedtirfende Cytotropismus nicht existirt.

Es ist HERTWIG nieht bekannt, dass j e d e e inze lne d i e se r yon ihm g 'enannten Krg f t e sehon fur s ieh , ,gestal tendr wi rk t , sofern diese ihre Wirkung nieht dutch andere Kriifte aufgehoben wird. Wenn z. B. die Schwerkraft oder die magnetische oder elek- trische Kraft zwei Theile einander n~thert, so ist das sehon die Pro- duktion neuer Ges ta l tung , wenn aueh nur sehr einfaeher Gestaltung.

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60 Wilhelm Roux

V e r s c h i e d c n s t a r k e W i r k u n g e n e iner und d e r s e l b e n K r a f t (oder wieder, wie wir vorziehen zu sagen: einer und derselben Wirkungsweise) ki innen schon t iberaus m a n n i g f a l t i g e Ges t a l - t u n g e n h e r v o r b r i n g e n . Allenthalben gleich starke Kohiision in der Oberfli~chenschicht eines Tropfens macht ihn kuge l rund . So- fern aber durch auBere oder innere Einwirkungen die Koh~sion an verschiedenen Stellen verschieden stark wird, so entstehen Forts~itze yon verschiedener Gestalt, die in groBer Zahl und Mannigfaltigkeit auftreten kSnnen. Sind das k e i n e G e s t a l t u n g e n ? Ist die Ko- hasionskraft also keine gestaltende Kraft ? Haben nicht yon solchen Wirkungen BERTI-IOLD, QUINCKE U. A. viele den Zellgestalten ent- sprcchende Gestaltungen abgeleitet?

Kann night, um HERTWIG'S Ausdrnck zu gebrauchen, ,das All- gemeiner wenn es in q u a n t i t a t i v e n Verschiedenheiten vorkommt. dann entspreehend Verschiedenes, also B e s o n d e r e s hervorbringen ?

~Noch manni~'faltiger in der Art der Wirkungen sind nun K o m b i n a t i o n e n verschiedener Kriffte resp. ihrer Wirknngsweisen.

Wir lassen der Vollsti~ndigkeit halber noch HERTWIG'S Schluss- urtheil hier folgen (pag. 60):

,Somit fassen wir denn diesc ganze ErSrterung dahin zu- sammen, dass es sieh mit dem B e g r i f f de r , g e s t a l t e n d e n Kraft<, oder ~Energie, in einer Bezichung genau so verhl i l t , wie mit "dem i i l teren B e g r i f f de r L e b e n s k r a f t ; so wenig wie diese ist sic e ine a l l g e m e i n e ~ a t u r k r a f t , da es k e i n e a l l g e m e i n e Ges t a l t , sondern nur besondere Gestalten giebt. Weder die eine noch die andere llisst sich mit den Kriiften der Physik vergleiehen. Letztere sind wissenschaftlich brauchbare Begriffe, sic lassen sich in ihrer Bedeutung genauer definiren; mit dem Begriff ~gestaltende Kraft, li~sst sich in der Naturwissenschaft ebenso wenig anfangen, als mit den unziihligen besonderen Krifften, die man im gewShn= lichen Leben jedem Dinge beilegen kann, wenn man yon einem aktiven Zustand desselben reden will (Verdauungskraft des Magens und Darmes, Nerven- und Muskelkraft, Kaufkraft des GcldGs, Wider- standskraft eines Heeres etc.). Daher ist es naturwissenschaftlich richtiger, yon den Erscheinungen, die sigh, so weit die Beobachtung reicht, genau definiren lassen, als yon gestaltenden Kraften zu sprechen, die doch immer nur fiir jeden einzelnen Fall besondere sind, da dis Gestalt oder Form stets etwas Konkretes ist, dutch welches sigh ein Ding yon anderen unterscheidet.

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Wenn irgendwo, so trifft fur die Verwerthung des BegriffGS Kraft in der causalen Morphologie yon Roux, der sehon frUher citirte Ausspruch yon Ku~ro FISCHER ZU: ,In der That findet sich im Gcbrauch des Begriffes Kraft eine Tiiuschung, die wir einleuchtend machen und zerstiiren mUssen. Man Ubersetzt die Erseheinung in die Kraft, dis .ihr gleichkommt, dann iibersetzt man diese Kraft zurUck in die Erscheinung und meint jetzt, die letztere erkliirt zu haben.'

,Darum mUsscn wi r das yon R o u x a u f g e s t e l l t e Zie l der E n t w i c k e l u n g s m c e h a n i k - dig Erforsehung der gestaltenden Kriifte oder Energien der Organismen - - a ls ein u n k l a r e s und w i s s e n s c h a f t l i e h n ieh t g e n a u e r d e f i n i r b a r e s b e z e i c h n e n , als ein Ziel, bei dessen Bestimmung. namentlich gegen den Gebrauch des Begriffes Kraft sieh sehwerwiegende Bedenken erheben.,,

Wir sehen also: NiGht bloB die meinen, sondern aueh vieler anderer Forseher Arbeiten sind von vorn herein verfehlt, weil die Philosophie ]:IERTWlO gelehrt hat, dass ,der Begriff der Kraft auf das Al lgemeine der Erseheinungen zielt,,, , G e s t a l t aber etwas Be- sonderes , etwas K o n k r e t e s ist, wodureh ein Ding sieh yon einem andercn unterscheidet,<. Desshalb kann es keine g e s t a l t e n d e n Kriffte und keine gestalteuden Wirkungen geben.

Ja, die Philosophie!

Nachdem wir die AuBerungen unseres Autors vollkommen re- producirt und dazu genUgend Stellung genommen haben~ wollen wir die Frage nach den g e s t a l t e n d e n Kr~iften der O r g a n i s m e n noch tin wenig weiter behandeln.

Wo kommen nun die von uns angenommeuen typisch gestaltenden physikalisch-chcmischen Kr~tfte, resp. die t y p i s c h e n K o m b i n a - t ionen yon Kr~iften her?

Die jetzigen Kombinationen stammen immer yon friiheren ty- pischen Kombinationen her, und so zurUek bis zu e ine r anf i ing- l ichen t y p i s c h e n Kombina t ion . Die erste anf~tngliehe typisehe Kombiuation denken wit uns aber entsprechend der Descendenz- theorie viel e i n f a c h e r als die Mehrzahl der jetzigen; wir nehmen also an, dass sp~tter successive neue gestaltend wirkende Kriifte- kombinationen dazu erworben worden sind, und zwar in einer Uber- tragbaren, also selbsterhaltungsfiihigen und selbstwiedererzeugungs- F~thigen Art (Vererbung).

Die ers te organische t y p i s c h e Gestaltung ist nach meiner

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Hypothcse, welche die e r s t e Entstchung des Lebens dutch ,suc= cess ive ZUchtung der , G r u n d f u n k t i o n e n ' des Lebens aus zu- F~lligen Variationen~ des irdischcn Gcschehens crkl~trt, die zur Ass imi l a t ion nitthige Struktur (s. 1, Bd. I. pa~. 409--416, Bd. II. pag. 85). Diese Struktur konnte allm~thlich vervollkommnet werden bis zur Erlangung qualitativ v o l l k o m m e n e r Assimilation, womit zugleich die erste und vielleicht die cinzige thatsi~chlich existirende Vererbungsweise erworben war.

Dann oder damit gleichzeitig wurdcn wohl die gestaltenden Krifftekombinationen zur sogenannten S e l b s t b e w e g u n g , darauf die zur S e l b s t t h e i l u n g (einer fcsten Koordination yon Selbstbewegungen) durch Auslese aus zufiilligen Variationcn erworben; zum Thcil damit zugleich, meist erst danach die Fi~higkeiten zu sehr vielen Special- gestaltungen yon Charakteren, die viellcicht i~hnlich waren denen der heutigen Protisten; daun oder zugleich wurden wohl die Eigen- schaftcn zum Z u s a m m e n b l e i b e n der durch Theilung eincr Zelle entstandenen Zellen erlangt, wozu Kr~iftekombinationen zur Wieder- produktion der aus m c h r e r e n Zellen gebildeten Strukturen, also zur t y p i s c h e n A n o r d n u n g dieser Ze l l en w~thrend und nach ihrer Bildung n(ithig wareu. Und so weiter zu den immer komplicirteren, typisch reproducirten Gestaltungcn (1, Bd. II. pag. 306).

Wenn die angenommcncn e r s t en Lebensgestaltungen niederster Art, also die zur Ass imi l a t ion , dann die zur Sclbstbewegung und Selbstheilung nSthigen, sowic die allm~hlich non hinzugekommenen specielleren iibertragbaren (vererbbaren) Gcstaltungcn nicht durch Zu- fal l entstehen konnten, was wir aber vorli~ufig nicht wissen, so mUssten sie also etwas yon anderer Seitc her G e g e b e n e s darstellen. Das meint vielleicht DRIESCH (19), da er schon das a l l e r e i n f a c h s t e anorganische Gestaltete als etwas Unvcrst:,tndliches, Gegebenes ansieht. Das ist eine Auffassung, die wir nicht theilen, da wit Ge- staltungen in griiBter Mannigfaltigkeit sich fortwi~hrend aus zuf:,tl- l igen Bedingungcn e r z e u g e n sehen , eben z. B. durch ungleiche Kohitsion dcr Oberfii~che eines Tropfens~ u. dgl. Bcim Orgauischeu abet liegt das Schwicrige, das ~eue in der (~ber t ragung der spe- cifischen Gcstaltung, in der Vcrerbung. Abet vor diescr Schwierig- keit dUrfen wir nicht gleich zurUckschrecken. Durch die Assimi- lations~thigkeit dieser (Jbertragungssubstanz und dutch die nie unterbrochene Kontinuitiit dieser Substanz (nach Auo. WEISMANX. J. yON SACHS U. A.) erscheint auch diese Lcistung m(iglich. Immer aber ist und bleibt, wie ich fi'Uher (1, Bd. II. pag. 79 und 1021) schon

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gesagt babe, die Assimilation speeifisch und hoehgradig komplicirt strukturirter Gebilde nicht blog die erste, sondern zugleich auch die hiichste, das soll heiBen, die am sehwierigsten zu verstehende gestaltliehe Leistung des Organischen; wesswegen ich aueh fur ihre Entstehung die grSBten Zeitriiume in Ansprueh nehme, eine Auffassung, die aber noeh Niemand zn theilen scheint.

Diejenigen organischen g e s t al t e n d e n K r ~t ft e, welehe uns gegen- w~trtig als n~ichste Objekte der causalen Forschung interessiren, sind die den g e s t a l t e n d e n Z e l l l e i s t u n g e n zu supponirenden, also die Kriifte, welehe das W a e h s t h u m (Assimilation) sowohl an sieh, .wie seine GrSBe, eventuell auch seine R i c h t u n g bestimmen (wenn letztere nicht erst naehtriiglieh, nach der Bildung der neuen Substanz be- stimmt wird); ferner die Kr~ifte, welehe die Z e l l t h e i l n n g an sieh, wie deren Zeit, Ort und Riehtung, ferner die a k t i v e Z e l l g e s t a l t u n g , sowie die Or t sver~ tnderung der Zellen, die q u a l i t a t i v e Ver - •nderung der Zellen (gewebliehe Differenzirung) bestimmen. Theil- weise geschieht dies durch inhere Kr~fte der einzelnen Zellen, theil- weise durch ~iul~ere Einwirkungen auf die Zellen, d. h. meist dureh Einwirkang der Zellen auf einander.

Es braucht aber nattirlieh nicht, wie HERTWIG glaubt, fur jede einzelne diescr besonderen Leistungen e ine Kraft yon b e s o n d e r e r Qualit~tt angenommen zu werden, sondern bloB eine b e s o n d e r e Kombina t ion yon Kr~tften, sei es gleicher resp. verschiedener Art, wobei die meisten f o r m a l e n Verschiedenheiten nur durch quan t i - ta t ive Versehiedenheiten der Kr~tfte einer und derselben Kombi- nation hervorgebraeht werden kiinnen, Khnlieh wie durch Druck ver- sehieden gerichteter, verschieden lokalisirter und verschieden starker Kriffte (z. B. mit demselben Hammer) Millionen verschiedener Formen (etwa aus Kupferbleeh) hervorgebraeht werden kSnnen, oder wit lokale Anderungen der Koh:,tsionsgrSBe an der Oberfl~iehe eines Tropfens Millionen versehiedener Formen desselben bewirken kiinnen.

Die Ass imi l a t i on und mit ihr das M a s s e n w a e h s t h u m der lebensth:~itigen Substanz (da Waehsthum der l ebens th i i t i gen Sub- stanz nut einen Uberschuss der Assimilation tiber die Dissimilation darstellt, s. 1, Bd. II. pag. 81) werden vielleicht am langsten eine fiir uns nicht zerlegbare Komponente des organisehen Gestaltens dar- stellen, da diese Leistung einen so tiberaus komplicirten und in sieh lest geschlossenen Komplex yon Wirkungen darstellt, nach dessen geringster Zerlegung, z. B. )~nderung bloB einer Komponente desselben, vielleicht schon die ganze ThKtigkeit des Komplexes aufhSrt.

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So weit diese Uberaus k o m p l i e i r t e e r s te Grundfunktion des Organischen aueh zugleieh an der typisehen gestaltlichen Verwendung der yon ihr produeirten Masse betheiligt ist, kann ich daher den jetzt wieder so beliebten Vergleich des organisehen Gestaltens mit derKrystal- lisation, also mit tier einfaehen g e o r d n e t e n A n e i n a n d e r l a g e r u n g einander g l e i c h e r Theile, nicht ftlr passend erachten. Vielleicht abet kommen aueh im Organisehen den Vorgiingen bei der Krystallisation ~ihnliche bloBe Zusammenlagerungen der Theile dutch in ihnen s e lber l i e g e n d e Kr~ifte vor; vielleicht ist ihnen sogar die Cytotaxis zu- zureehnen? Nach alledem muss aber erst geforseht werden; wir kiinnen es night yon vorn herein annehmen.

Wenn wir aueh die Assimilation (incl. Waehsthum) als komplexe Komponente behalten werden, so kSnnen wir doch vielleieht AuBere z. B. von l~achbarzellen ausgehende Ursaehen ermitteln, wGlehe ihre Thiitigkeit aus l i i sen und ihre Gr~iBe sowie die Anlagerungs- richtung der neugebildeten lebensth~itigen Substanz bestimmen.

Aul~erdem wird dadurch, dass wir die A ss i m i l a t i on nieht zer- legen kiinnen, uns noch nicht das Ubrige Feld der Erforschung des organisehen gestaltendeu GGschehens versehlossen.

Dem Verst:,tndnis der sogenannten S e l b s t b G w e g u n g sind wir auf der Spur; einer Grsten Einsicht in die Vorg~tnge der Se lbs t - t h e i l u n g niihern wir uns schon jetzt immer mehr. Das sind die drei primiiren, Glementarsten Funktionen, die bekannten Min imal - fun k ti o nen eines Lebewesens (abgesehen yon der regressiven Funk- tion der Dissimilation), zu welchen nach meiner Auffassung noeh die S e l b s t r e g u l a t i o n in der Vollziehung dieser Funktionen als neuer w esenflicher Erwerb hinzugekommen ist. Alles Weitere: die t y p i s e h e kompl iGir te G e s t a l t u n g der Gin- und m e h r z e l l i g e n Wesen kann den niedersten aber selbst~indigen Organismen fehlen; sie ist also erst ein zu dem aus diesen drei Funktionen gebildeten organischen GrundstoGk Hinzugekommenes und ist d a h e r auch wohl fur sich e r fo r schba r , ist analysirbar~ selbst wenn diese drei Grundfunktionen jede noch nicht analysirt sind. Wenigstens kann die Analyse so weir

�9 gehen, als sic sich auf i n t e r e e l l u l a r e Wirkungen und aueh yon intraeellularen Wirkungen auf Wirkungen der siehtbaren konstanten Zelltheile: Zellleib, Zellkern, CGntrosoma bezieht.

Kiinnen wir uns nun wenigstGns im A l l g e m e i n s t e n dieses orga- nisehe gestaltende Gesehehen bereits als dutch die uns bekannten Wir- kungsweisen des anorganischen GesGhehens resp. durch die ihnen sup- ponirten Kriifte bewirkt vorstellen? Oder um bescheidener zu fragen:

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Welches kann zun:~tchst der allgemeine Antbeil der bekannten anorganischen Wirkungsweisen an diesen Gestaltungen sein?

Ein Vergleich der Wirkungsweisen und gestaltlichen Leistungen der zur Zeit bekannten Kr~tfte und Energien mit den gestaltliehen Leistungen der Organismen giebt auf den ersten Blick vielleieht kein sehr ermuthigendes Resultat.

Als Wirkungen der der Materie zugeschriebenen, ihr unver~tnder- lieh immanenten Kr~ifte haben wit: e h e m i s c h e Wirkungen (der supponirten chemisehen Atomkr~tfte), K o h i ~ s i o n s w i r k u n g e n incl. Krystallisationswirkungen (der Koh~sionskr~tfte) der Molckel (fUr die Krystallisation treten diese in Kombination mit der Gestalt der Molt- kel), e l a s t i s c h e W i r k u n g e n (der supponirten elastischen Kr~tfte der Molekel) und die Anziehungswirkungen der S c h w e r k r a f t , yon denen allen wir bloB dig gestaltenden Wirkungen der letzteren im Orga- nismus bei Pflanzen und Thieren tin wenig kennen.

Der gri~Bte Antheil kommt wohl Kombinationen yon Koh~tsions- wirkungen und chemischen Wirkungen zu; solche Wirkungen mUssen die prim~tren Wirkungen der die Vererbungsstruktur des Keimplasma bildenden Theile skin, wenn wir auch vom Speciellen ihrer Wirkungs- weisen noeh keine Ahnung haben. Im anorganisehen Gesehehen sind ihre gestaltenden Wirkungen als typischer Ban der Atome, als typiscbe Gestalt und Ordnung der Molekcl (Krystalle), als die mannig- faehen gestaltenden Wirkungen der Koh~tsion in fl|issigen Oberfl:~tchen, sowie als Wirkungen der Diosmose bekannt.

Von den Energien, zu denen wir nun Ubergehen, kann der Elektrieitiit, besonders wohl der statischen, im k l e i n e n und k l e i n s t e n G e s e h e h e n vielleicht tin bedeutender gestaltender Einfluss zu- kommen; flir das grSl]ere: i n t e r c e l l u l ~ r e Geschehen babe ich in dem ersten Beitrag (s. Bd. II. pag. 149) gezeigt, dass auf einen Antheil freier Elektricit~t an der Gestaltung nicht zu recbnen ist; im Beitrag (s. 1, Bd. II. pag. 320, 545 Anm. 3, 556, 571, 583) wurde dasselbe ftir das Griibere des intracelluF, tren Gesebehens wenigstens in Bezug auf die Theilungsrichtung des Kernes and Zellleibes nach- gewiesen.

Die Wi~rme kann ihrer Natur naeh blol] vorhandene Gestaltung alterirend und gestaltende Meehanismen in Thi~tigkeit setzend wirken. Dasselbe gilt wohl yore L i c h t , besonders filr die Pflanzen. Die Energie der c h e m i s c h e n T r e n n u n g hat fur die Bestimmung der �9 groben, Gestaltung der thierisehen Organismen wohl wenig Be- deutung, denn wie ieh in einem Versuche des dritten Beitrt, ges (s. 1,

Archly L Eatwickelungsmech,~nik. V. 5

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Bd. II. pag. 322) an in GlasrShren eingesehlossenen Eiern beobaehtet habe, ist dig Lagerung der Organe ganz unabhangig yon der Zutritts- stelle des Sauerst6ffs; kS werden night bestimmte Organe an dieser Zutrittsstelle angelegt. Etwas grSl]er ist die Abhangigkeit der friihen embryonalen Gestaltung yon einer fest gegebenen Zufuhrstelle der festen und flUssigen Nahrung: yon der Lagerung des bTahrungsdotters~ da der E n t o b l a s t immer dem ~qahrungsdotter anliegt. Beziiglieh der feineren Gestaltungen wurde die Energie der chemisehen und mole- kularen Trennung bereits gelegentlich der Besprechung der dabei wirksamen Atom- und Molekularkriifte verwendet.

Dagegen ist yon sehr groBer gestaltender Bedeutung die E n e r g i e b e w e g t e r Massen , deren gestaltende Wirkungen ich als Massen- k o r r e l a t i o n e n der Theile des Organismus bezeichnet habe (s. 1, Bd. II. pag. 240). Sie wirkt dureh gegenseitigen Druek unter stellen- weiser Umsetzung in Zug allenthalben modellirend auf die Gestalt der Zellen, der Muskeln (s. 1, Bd. II. pag. 270), Sehnen, Bander. Knoehen (s. 1, Bd. IL pag. 701), tier Eingeweide (s. 1, Bd. II. pag. 268). Dies g'esehieht im Embryo in Folge der Raumerflillung, also des Raum- mangels sehon dann, wenn die Bewegungen nur in W a e h s t h u m s b e - w e g u n g e n oder Z e l l w a n d e r u n g e n und Z e l l e n d i f f e r e n z i r u n g e n bestehen. Dazu kommt dann zun~chst die Herzbewegung; yon ihr stammt her die gestaltende Energie des bewegten Blutes, die die hamodynamisehe Gestalt tier BlutgefaBe im Verlauf und an den Verastelungsstellen derselben, sowie die Dicke der GeP,~Bwandung bestimmt (s. 1, Bd. I. pag. 75, 97). Bald danach tritt hinzu die Energie tier Bewegung seitens tier tibrigen Muskeln. Doeh sind die H a u p t m o m e n t e de r G e s t a l t u n g meist schon v o r h e r in der r e l a t i v e n L a g e r u n g der Theile gegeben; und diese Lagerung bestimmt dann die gestaltende Wirkung" der Massenkorrelation. Die Muskeln freilieh o r d n e n sieh durch die Massenkorrelation so, dass sit einander mSglichst wenig driicken, wodureh dann aueh der Ort und die feinere Lagerunff der Sehnen bestimmt wird (s. i, Bd. I. pag. 270, 621).

Gewiss kommt diesen Wirkung'sweisen der Massenkon'elation aueh innerhalb der Zelle sehon ein g'roBer gestaltender Antheil zu.

Die t y p i s e h e G e s t a l t u n g wird aber z u n a e h s t dureh die Atom- und Molekularkrafte der die typische Struktur, die Vererbungs- struktur des Kelmplasmas bildendeu Materie bewirkt, sobald diese Gestaltungsmaschine aktivirt ist.

Die Energie zur Gestaltungsarbeit wird geliefert aul]er durch

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W~rmezufuhr und eventuell dureh Liehtzufuhr yon der aufgespeieher- ten ~ahrung (Nahrung'sdotter) oder dureh yon auBen aufgenommene festweiehe, fliissige und gasf6rmige ~Nahrung; ein sehr erheblieher Theil dieses Materials wird zugleieh als B a u m a t e r i a l zur B i ldung yon Masch inen the i l en verwendet, natUrlieh unter Mitwirkung der eigenen Energ'ie der Lage der Massentheile bei der Strukturbildung.

Wir brauehen nieht zu denken, dass die bekannten physikaliseh= ehemisehen Kr~ifte, wenn wir aueh yore Speeisllen ihrer Wirkung in den Organismen noeh sehr wenig wissen, sehon im Allgemeinen viel zu armselig, zu einfaeh seien, um all die mannigfaltig'e org'anische Struktur hervorbringen zu k~nnen. Diese wenigen Wirkung'swsisen kSnnen dutch quan t i t a t i ve Abstufnngen und Inannigfaehe Kombi= na t ionen unendliche Mannigfaltigkeit bewirken.

Welche unendliehe Mannigfaltigkeit wird allein mit der Energie bewegter Massen dutch ihre Umsetzung in DruckkrKfte (z. B. Arbeit mittels des Hammers, der Presse eta.), in Zugkr~fte (Arbeit mittels Winds und Zange stc.), seherende Kr~ifte (dutch Feile) in allen Zweigen der Technik hervorgebracht? Alle Maschinen entstehen so zugleieh unter Benutzung der W~rme, sei es zum Schmelzen der Metalle (Far den Guss) oder zum Betrieb der Werkzeug- und anderen Arbeitsmasehinen.

Wer hier einwendet, dass die Mannigfaltigkeit in diesen Bei- spielen nut dureh Hilfe des Gsistes entstsht, dssseu Blick lenken wir noehmals auf die Manuigfaltigkeit der anorganischen Natur in den Gebirgsn, Thalern, Fltissen, Wolken, in der Struktur der Ge- steine, Krystalle etc. zurtick.

Diese anorganisehe gestaltliche Mannigfaltigkeit ist zwar (yon den Krystallen abgssehen) a typ i sch (das heiBt sis wiederholt nieht eine vorber gegebene Form); aber wenn vollkommen typisehe Aus- gang'swirkungeu gegeben sind und nichts Atypisches zugeftihrt wird, danu miissen aueh typische Produkte die Folge sein. Und dies ist eben in den Org'anismen durch die typische Struktur des Keimplasma, durch die Selbstdifferenzirung desselben und durch die Selbstregn- lationsn, unter dsren Hilfe die Entwiekelung stattfindet und altsrirende auBere Einwirkungen resist kompensirt werden, der Fall.

Den Inhalt der vorstehenden Ausftihrungen zusammenfassend, haben wir erkannt: sinmal, dass alle der Materie zur Zeit zuge- schriebenen Krgfts entweder Gestalt erhaltend oder neue Gestaltung producirend wirken, also gestaltende sind. Dies ist ja selbstver- stiindlich, da alle diese Kr~tfte Beweg'ung produeiren, dabei also die

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Anordnung, somit die innere oder i~uBere Gestalt eines Systems ~tndern, also neue Gestalt produciren, so lange sic an der bewegen- den Wirkung nieht durch Gegenkr~ifte gehindert sind. Werden sic d~gegen gehindert, so erhalten sic eine Gestaltung, die anderen Falles sonst geandert wiirde (wie die Gestalt eines gespannten Bogens nach Durehsehneidung seiner Sehne sieh ~tndert).

Die typisehe V e r e r b u n g s s t r u k t u r des Keimplasma stellt die typisch gestaltete und naeh ihrer Aktivirung gestaltend wirkende, neue Formen produeirende Ausgangsmasehine des Individuums dar. Die organisehen Gestaltungen sind in ers ter Linie als die Pro- dukte der in der typisehen V e r e r b u n g s s t r u k t u r des Keimplasmas gegebenen t y p i s e h e n K o m b i n a t i o n e n der Molekular - und Atomkr~tfte desselben aufzufassen; sic bestimmen das Typisehe des Gesehehens, die S e l b s t d i f f e r e n z i r u n g des Eies und Embryos.

Zusammenfassend kSnnen wit sagen: die yon auBen zugeflihrte oder vorher aufgespeicherte festweiehe, fiUssige, resp. gasf6rmige Nahrung dient theils direkt als Baumaterial~ indem sie yon den typiseh gestalteten Theilen aus verwendet wird (prim~tre Gestaltung); theils dient sie zur Produktion yon Energien der Bewegung. Die daher stammenden oder die direkt yon auBen zugefUhrten Ener- gien der B e w e g u n g (Wiirme~ Licht~ Elektrieititt, Massenbewegung) kSnnen in zweierlei Weise gestaltend wirken: einmal direkt (abet nur sekund~tr) gestaltend, indem sit die genannten prim~tren Ge- staltungen ~tndern~ und indirekt, indem sic die gestaltende Maschine in Betrieb setzen und erhalten.

l~brigens ist bei allen gestaltlichen Ableitungen daran zu den- ken, dass nieht alles typische groBe Geschehen aus vo l lkommen t y p i s c h e m kleinsten Gesehehen i n t eg r i r t zu werden braucht; sondern dass das typisehe Grol~gesehehen als Resu l t a t des mehr variablen und zwar naeh verschiedenen, sich zum Theft aufhebenden Riehtungen variablen kleinsten Geschehens miiglich ist und dass es daher k o n s t a n t e r als letzteres skin kann und aueh hitufig ist. Es wird vielfach das kleine Geschehen riickw~trts vom grSBeren regulirt werden (s. 1, Bd. I. pag. 220).

Id. Z u s a m m e n f a s s u n g des e r s ten Absehni t tes .

Blicken wir auf das Ergebnis des ganzen Abschnittes zuriiek, so seben wir, dass HERTWIG sich beztiglich der Causalit:,tt mit der a l l g e m e i n s t e n Causa l i t i i t begnUgt, mit der Ermittelung, dass die spiiteren Stadien der Ontog'enese mit den friiheren in einem

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ursiichlichen Zusammenhang stehen und dass Specialformen dureh Biegung, Faltung, Abschniirungen und sichtbare Zcllwanderungen aus den einfacheren Formen des Keimblattes hervorgehen.

Die s i e h e r e Ermittelung, w e l c h e e inze lnen der vielen gleich- zeitigen Anderungen eines fi'Uheren Stadiums mit den einzelnen Anderungen des sp~tteren Stadiums in Causalzusammenhang stehen, Fallt schon nicht mehr in den engen Rahmen der Aufgaben, die ftir ihn a l l e in e x i s t i r e n ; noch weniger strebt er danach, die W i r - k u n g s w e i s e n oder die ihnen zu supponirenden physikaliseh- chemisehen Kr~ifte zu ermitteln, welche diese gestaltlichen )~nde- rungen hervorbringen. Er begniigt sich also mit der Erkenntnis einer sehr a l l g e m e i n e n , aber im Einzelnen unbekannten Cau- saliti~t, w~hrend wir naeh Erkenntnis einer spec i a l i s i r t en , das e inze lne Gesehehen bet]'effenden Causalitiit streben. Er h~tlt die Aufgabe der Morpholog ie mit der vollkommenen Besehreibung des S ieh tbaren , des direkt wahrnehmbaren, f o r m a l e n Gesehehens und mit den aus ihm ableitbaren unbestimmten Folgerungen for beendet; und andercrscits h~ilt er die Erforschung des an sich Unsichtbaren wie auch des nur durch besondere Umst~tnde fur uns Unsichtbaren iiberhaupt nieht flir mSglich. Fiir uns dagegen ist dasjenige, was auf erstere ,deskriptive,, Weise ermittelt worden ist, das F u u d a - ment, auf welches wir den Hebel zu weiterem Eindringen in die Erkenntnis des Geschehens stUtzen wollen.

G e s t a l t e n d e Kr~tfte g ieb t es flir HERTWIG t ibe rhaup t nieht. Naeh ihm verm(igen weder einzelne physikalische Kriifte noch Kombinationen soleher gestaltend zu wirken.

Manche Biologen tibertragen jetzt p h i l o s o p h i s c h e Si~tze ohne Priifung ihrer Anweudbarkeit auf die biologische Forsehung. Das g'eschieht seitens HERTWIG'S mit dem Satz, dass wir das e igen t - l i c h e W i r k e n t iberhaupt n ich t zu e r k e n n e n vermiigen. Diese Auffassung bezieht sich abet auf das letzte, elementarste Wirken.

Der Satz wird yon ihm in dem Sinne auf das biologische Ge- schehen angewandt, dass wir auBer dem s i c h t b a r e n G e s c h e h e n iiberhaupt nichts zu erforschen verm(ichten. Da wir als B io logen uns abet als Hiichstes nut die Aufgabe gestellt haben, das biologische Geschehen womSglich ganz auf die im Bereiche des A n o r g a n i s e h e n vorkommenden, bere i t s e r k a n n t e n W i r k u n g s w e i s e n zurUck- zufUhren, so ist diese Ubertrag'ung des philosophischen Satzes durchaus unangebracht. Sofern es uns nicht gelingt, d iese Aufgabe vollkommen zu 15sen, so hat dies keine erkenntnis-theoretischen,

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sondern rein praktische GrUnde, die auf der K l e i n h e i t und Kom- p l i k a t i o n des Geschehens sowie auf rein o p t i s e h e n Varh~tltnissen beruhen. Ein Anderes ist es, ob diese Formulirung unserer Aufgabe tibarhaupt das Organisahe ganz ersehSpft.

Dar s p e c i f i s c h e The i l unse r e s P r o g r a m m e b e g i n n t dahe r g e r a d e da, we HERTWIG und s e i n e G e s i n n u n g s g e n o s s e n zu- f r i e d e n aufh~iren, und we HERTWIG Weiteres theils ftir nicht existirend, theils fUr principiell unerforschbar hiilt. Das ist der Grund, warum wit naah seinar Meinung kein besonderes Programm haben. Da er von dem besonderen Inhalt unseres Programme trotz der mehr- fachen detaillirten Darstellung desselben nichts appercipirt hat, so meiEr er, wir erstrebten auch nichts B e s o n d e r e s . Da schon lange Each der a l l g e m e i n e n Causalit~tt geforseht worden ist, wir abet Each einer spec i e l l en , e x a k t e r e n Causa l i t~ t streben, welche flit ihn nicht existirt, so meint er, wir erstreben nichts Neuas. Die Ent- wiekelungsmeehaniker kiinnen daze mit GOETHE sagen:

Sehon gut, wir wollen es ergriinden: In Deinem Nichts hog' ich das All zu finden.

MERTWIG ganUgt es ferner schon, dass LOTZE und viele an- dere Philosophen, sowie viele Naturforschar die U b e r z e u g u n g aus- gesproehen haben, dass alles organisehe Gaschehen schliel]lich und allein auf physikalisch-chemischem Geschehen beruhe. Diese Uber- zeugung oder riehtiger diese Hoffnung wird auch von mir getheilt. Aber yon dem Ausspreehen einer solchen Vermnthung bis zu ihrem N a c h w e i s e ist noeh ein sehr weiter Weg, der wohl noch sehr viel Arbeit kosten wird, der aber einmal wirklich zurUekgelegt wardan muss. Die Ube rz ' eugung einiger bedeutender Philosophen ned einer ganzen Generation yon Forschern kann den wirklichen Nach- weis nicht ersetzen.

HERTWIG fi'agt (pag. 10): ,,We sind denn die Forseher, welche sich bishar mit Entwickelungslehre beschiiftigt haben, welche n ich t yon dem Satze ausgingen, dass, wie alle Naturprocesse, so auch die thierisehe Entwickelung allein dam Gesetze der Causaliti~t Enter- liege, und dass die Forschung' Each dan Ursachen der Formbildung eine ihrer Hauptaufg'aben ist? ~<

Wit fragen dageg'en: Wie heiBen denn die Forscher, die vor- dem unse r Ziel : die Erforschung der u r s a e h l i c h e n W i r k u n g s - weisen , deren P r o d u k t e die Formbildungen sind, v e r f o l g t , also bewusster Weise ihm zugestrebt and eine R e i h e yon Untarsuchungen mit geei~'neter Methode zu diesem Zwecke angestellt haben; und we

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sind ihre Arbeiten und welches sind die Erkenntnisse, die sic uns darg'ebraeht haben? WILHELM HIS hat wohl einen Theil unseres Programms bearbeitet, j a >>vcrfolgt,, ; doch hat er sich allein der be - s c h r e i b e n d e n Forschung des n o r m a l e n Geschehens bedient; datum zcigen seine causalen Ableitungen die oben dargelegte Unbestimmtheit.

W~thrend des Suchens in dem letzten Decennium sind bereits in der Litteratur cinige Arbeiten aufgefunden worden, welche causale Erkenntnis der von uns erstrebten Art g'ewiihren; es sind aber nut ver- einzelt dastehende Arbciten, nicht blo$ in der Litteratur, sondern auch in der Reihe der Arbeiten eines und desselben Autors ~). Wahrscheinlich wtirde LUDWIG FICK, der Verfasser zweier schSner experimenteller Untersuchunffen tiber die Ursaehen der normalen Knochenformen unser Ziel >~verfolgt~ haben, wenn ihn der Tod nicht so frlih dahingerafft hi~tte. In dem Abschnitt tiber die >~besondere Methode der Entwieke- lungsmechanikr werden wit auf das hier .bloB berUhrte Thema zurUckkommen.

HERTWIG meint ferner, weil wir noch nicht wissen, was in Wirklichkeit unseren Vorstellungen yon >~Kriiftcn<, zu Grunde liegt, so sci unser auf die Ermittelung der die Entwickelung des Indivi- duums vollziehenden Kr~tfte gcrichtetcs Ziel u n k l a r und inhaltsleer.

Dieser Vorwurf kann wohl nur bedeuten, dass wir nach O. HERTWIG'S Auffassung erst dann nach Erforschung irgend welcher Kriiftc strcben dUrften, wenn wir das Wesen der vorl~tufig den Er- scheinungen yon uns untergelegten Kr~tfte selber sehon vollkommen kennen. Woher aber sollen wit dies Wesen j e kennen lernen, wenn wir es nicht zuvor zum Ziele unserer Forschung machen?

Trotzdem die Physiker heute noch nicht wissen, was Kraft >~wirklich,, ist, obgleich sie also seit Jahrhunder ten >~unklare Ziele,< verfolgt haben, haben sic doch bei ibrem Bestreben, die Kri~fte zu crforschen, bcreits recht erfreuliche Resultate erreicht, und nicht wenig yon den einzelnen Kraftformen und in letzter Zeit auch yon dem ihnen Gemeinsamen erforscht.

I) Es wird mich freuen, wenn HERTWIG, durch diese Frage angeregt, alle jetzt versteckten und verlorcnen causalanalytischen morphologischen Experi- mente aufsucht oder aufsuchen l~isst und gesammelt uns vorlegt, denn ich bin leider sehr wcnig historisch veranlagt. Herr B. SOLGER hatte beroits die Giite, zu ermitteln, wer im vorigen Jahrhundert einmal eine ~hnliche Idee iiber die Knochenspongiosa im Unterschenkel des Pferdes ausgesprochen hat, wie ich in diesem Jahrhundert, wofiir ich ibm sehr dankbar bin. Ich hoffe, dass er diese verdienstlichen littcrarischen Forschungen fleii~ig fortsetzt.

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Wir Biologen kSnnten iibcraus zufrieden sein, wenn wir nur je so weit kamen, die Vorgange der individuellen Entwiekelung durchaus auf solche ~,unklaren Kr~tfte(, zuriickzufiihren. Es kann liberhaupt nieht Aufgabe des Biologen als solchen sein, die physikalisch-chemischen Begriffe weiter zu analysiren als es seitens der Physiker und Che- miker geschehen ist.

Wcnn wir einmal so weir sein werden, um auch nur die Hauptvorg~inge dcr 0ntogenesc auf die Wirkungsweisen der jetzt bekannten Kmftformen zurtickzufUhren, werden die Physiker und Chemiker sicher schon auBerordcntlich viel wciter gelangt sein; und die zu jencr fcrnen Zeit cxistirenden Kulturnationen kSnnen dann gleich yon dicsen weiteren Fortschritten Gebrauch machen.

Vorlaufig aber kSnnen wir gleich den gegenw~trtigcn Physikern weiterhin mit dem herk(immlichen und bequemen Begriffe Kraft arbeiten und kiinnen danach streben, die Kr~tftc zu erkenncn, welche an der Selbstg'cstaltung der Organismen betheiligt sind; dabei kiinnen wit den Vorwurf der Unklarheit seitens O. HERTWIG'S ruhig ertragcn. Ich selber abet habe bercits seit Jahren in den Fallen, in denen es gut ausfUhrbar ist und ~wo es einfacher wirkt,,, die Ausdriicke Wir- kungsweisen und WirkungsgrSBen den Bezeichnun~en: Kraftformen, KraftgrSBen und Naturgesetzc vorgezogen und so die E r f o r s c h u n g de r ~ g e s t a l t e n d e n W i r k u n g s w e i s e n , , als das Ziel der ~all- gemeinen<, E n t w i c k e l u n g s m c c h a n i k h inges t e l l t .

HERTWIG verkennt ferner bei seinem Vorwurf der unklaren Ziele, dass )~Forschungen(, i m m e r ~ u n k l a r e , Z i e l e haben, da die Forschung nicht auf B e k a n n t e s , sondern auf Unbekanntes gerichtet ist. Wcnn das Ziel schon ganz ~)klar,, ware, brauchten wir es nicht erst zu erforschen.

Wer dage~en beabsichtigt, B e k a n n t e s gut darzustellen, der kann und muss ein >)klares Ziel,, haben.

Beim Forschen haben wit bloB eine bestimmte Erscheinung odor einen Komplex you Erscheinungen vor Augcn, die, rcsp. den wit erg'riindcn wollen. Zu welchem Resultat jedoch diese Forschung fUhren wird, wisscn wit vorhcr nicht; und wir kommen dabei sog'ar oft auf einen ganz anderen Wcg', als wit vorher gedacht oder auch nut vermuthet haben. Wie haben sich unsere Auffassungen der Forschungsziele : was ist ElcktriciP, tt, was ist Licht, Tuberkulose, Diphtherie, Nervus sympathicus, im Laufe dcr Forschung verandert?

S i c h c r bekannt ist dcm Forscher bloB dic n~tchste Aufgabe , die er sich g'estellt hat; wohin ihre Verfolgung ihu ftihren wird, ist

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unklar . Darin l ie~ nieht, wie HERTWIG meint, ein Vorwurf, sondern etwas Selbstverstandliehes. Je klarer sehon das Endziel ist, um so weniger ist noeh zu erforsehen.

So sei denn unser yon I:[ERTWIG g'ar nieht erkanntes, ja trotz unserer vielfachen speciellen Darstellungen yon ihm nieht einmal geahntes neues Ziel nochmals dargestellt: als Fortsetzung der dutch die d e s k r i p t i v e Erforschung der normalen Gestaltungsvorgiinge fie- w0nnenen a l l g e m e i n s t e n , das heiBt in Bezug auf das B e s o n d e r e der W i r k u n g s w e i s e n und ihrer L o k a l i s a t i o n sehr u n b e s t i m m - ten, ja meist Uberaus defekten causalen Erkenntnis, welehe uns zudem die Vorgiinge bloB in f o r m a l e r Hinsieht: als zusammen- hi~ngende sichtbare Ges ta l t~ tnde rungen beschreibt oder sie gar bloB aus lUekenhaften Stadienreihen dureh Interpolation integrirt, soll in Znkunft allmiihlich eine e x a k t e eausale Kenntnis treten, das hell't, eine die qualitativ e i n f a c h e n W i r k u n g s w e i s e n und deren Loka l i s a t ion , Wirkungszeit und -GriiBe genau b e s t i m m e n d e Kenntnis; also die Zuri|ekfiihrung jeder neuen Form und Struktur nicht mehr wie bisher nur auf eine Reihe yon F o r m w a n d l u n g e n , sondern auf m S g l i c h s t e i n f a c h e Wirkunf f swe i sen .

Hier taucht der causal-analytische Bogriff der E i n f a e h h e i t wieder auf, den HERTWlG, wie wir sahen, i~,tlsehlich als einen r e in d e s k r i p t i v e n anffasste, indem er ihn auf die E i n f a c h h e i t der Beschre ibunf f als so l ehe r bezog, statt auf die A n a l y s e bis a n f die e i n f a c h s t e n nnd d a h e r a l l g e m e i n s t e n K o m p o n e n t e n und auf die in Folge dessen ,einfaehste,,, das heiBt, das ))Wesen~, des Geschehens darstellende Besehreibung.

Ie. Anhang: D e s k r i p t i v e und cau sa l e F o r s c h u n g .

~Nach der so g'ewonnenen Einsicht sind wir nun im Stande~ die Frage I-IERTWIG'S ZU beantworten: ,Was ist deskriptive, was eausale Forsehung, was sind deskriptive, was causale Forseher?,

Da die deskriptive Forschung auch causale Erkenntnis gewi~hren kann, so ist HERTWIG, wie er sagt, nicht im Stande~ diese F~'age selber zu beantworten, was uns nicht mehr wundern kann, da wir ihn vorher sehon einmal tiber das alte Problem des ,Kahlkopfes, fallen sahen.

Ich denke, die Benennung wird auch hier, wie so oft, wo eine fiieBende, also keine scharfe Grenze, sondern ein allmlihlicher Uber- gang zwischen zwei verschiedenen Sachen vorhanden ist, unter An- wendung des Principes: a pot ior i fit d e n o m i n a t i o , geg'eben.

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Danaeh ist ein deskriptiver Forscher ein solcher, der ausschliei~- lich oder fast ausschliel31ich deskriptiv forscht; tin causaler, wet dies Uberwicgtnd in causalcr Weise thut; dem entsprechend ist dcskriptive Forschung solcht Forschung, die Uberwitgend deskriptivt Kenntnis, causalt Forsthung ist t in t solcht, die Ubtrwiegend urs~chlicht Kenntnis gewiihrt.

Danaeh ist nun noch zu erifrttrn, was hitr >,deskriptiv,,, also ,,besehreibend,( b e d c u t e n soll, denn wir haben ja gcschen, dass

j e d e K e n n t n i s and Erkenntnis ,,bcschrieben,, wtrden~ b c s c h r c i - bend dargestellt wtrden kann and muss.

7,D e s k rip t i v e Anatomic(, ist ein historischer Btgriff~ dessen wirk- liehe Gesehichte dutch besonderes Stadium ermittelt werden muss. Ich gebe daher hier nut meine subjektive Auffassung.

Was man in jedem Einzelfall d i r e k t s t h e n and also zun~tchst and sogleich beschreiben kann, ist die sichtbarc Form and die sicht- bare Bewegung~ also die Formi~ndtrung. Die Btschreibung dieser ist also wohl die ursprtingliche, die prim:~trt; darauf ist daher der ~ame deskriptiv jedenfalls zuerst angewandt wordcn und desshalb daran haften geblieben, also an der Beschreibung des S ieh tba ren . Da- gegen miisscn die u r s ~ c h l i c h e n W i r k u n g s w c i s e n dieser Form- anderungcn auf ganz a n d e r t We i se >,ermittelt<< we rden ; sic kiinncn nur nach umstgndlichen vergleichenden oder nach besondtren experimentcllen Forschungen e r s c h l o s s e n werdtn; erst dann, and in dem MaBe als dies geschehen ist, kSnnen sit auch b e s c h r i c b e n werden; das ist also fine sthr sekundi~r t B e s t h r e i b u n g .

Aber schon vor dieser erst in letzter Zeit in dcr Biologic aktuell gewordtnen Art der Beschreibung, der B e s t h r e i b u n g d t r Wir- k u n g e n als Folge yon Wirkungsweisen~ wurde der deskriptiven Anatomic eine anderc gegenUbergestellt, die v e r g l e i c h e n d e Ana- tomic. Bci ihrem Auftrtten als besondere Diseiplin musste sie das Bestreben haben~ um sich in ihrer Eigenart zu kennzeichnen and so sich besser zur Geltung zu bringen, sieh einen eigcnen ~Namen beizu- lcgen; wit dies jetzt aus dem gltichen Grunde die direkte tausalt Forschung gethan hat. Der Name ~vcrgleichcnde Anatomie~ ist naeh der bcsondcrcn F o r s c h u n g s m c t h o d c gegcben worden. Als Gegensatz oder auch nut zur Untcrschcidung yon der ~,deskriptiven<( Anatomit ist cr aber in so fern nicht richtig, als die vergltichende Anatomic ihrem Wcsen naeh selber beschreibend vorgeht; sic be- sehreibt gleichfalls, was sic an den no rma len Organismen direkt sieht. Nur h~tlt sit sich nicht an die einzelne Ar t von Lebewesen~

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wie die sogcnannte d e s k r i p t i v e Forsehung, sondern verglcicht unter verschiedcnen Arten. Wir kommen daher nochmals zum Begriff des Deskriptiven zurUck.

Es wird historischcr Wcisc noch ein besonderer Gcbrauch yon dem Namen der d e s k r i p t i v e n A n a t o m i e gemaeht. Amtlich ver- steht man bekanntlich in Deutschland und Osterrcich darunter unzu- treffender Weise nur die s y s t e m a t i s e h e Ana tomie , die Schildcrung der KSrpertheilc nach den einheitlichen Systemen, und unterscheidet sic so yon der t o p o g r a p h i s c h e n A n a t o m i e , von der Anatomic der Lage der Theile zu einander und im Ganzeu; das geschieht, obgleich diese Anatomic ebenfalls oder eigentlich noch mehr re in d e s k r i p t i v e , bloB alas Gesehene beschreibende Lehre ist, ohne dass dabei etwas Besondcres zu denken ist, sofern sic nicht, wie es aber meist geschieht, zugleich als a n g e w a n d t c Anatomie behandelt wird, die auf speeielle chirurgisehe und sonstige praktischc BcdUrfnisse und Erfahrungen RUeksicht nimmt.

Ich glaube also: unter ~deskriptiv,, versteht man blol~e Be- schreibung des d i r e k t W a h r g e n o m m c n e n oder direkt Wahrnehm- baren, und zwar zuniichst des E inzc l fa l l es . Eine etwas hiihere Art der deskriptivcn Th~ttigkeit wird entfaltct, wenn yon mehrercn g l e i c h a r t i g e n Objekten, z. B. yon mehreren erwachsenen Menschcn, das G e m e i n s a m e und damit das W e s e n t l i c h e aus dem vielen Zufitlligen speciell herausgenommen und dargestellt wird. DiG ~)de- s k r i p t i v e Anatomies< besteht dem entsprechend (yon den ~,Varia- tioncn,(abgesehen) in der Beschreibung des W e s e n t l i c h e n , der f e r t i g e n , n o r m a l e n (also fUr die betreffende Species ~)typischem~) G e s t a l t u n g e n . Eine noch ~hShere,< Art dcr Beschreibung, um diesen nach HERTWIG freilich fUr die andere Art ))beleidigenden~ Ausdruck zu gebrauchen, ist die Darstellung des Gemeinsamen und des Unterscheidenden, und die darauf gegrtindcte Heraushebung des im eben erSrterten Sinne W e s e n t l i c h e n derselben Organe ver- s c h i e d e n e r Lebewesen, z .B. die Schilderung der wesentlichen Eigenschaften von allen SKugethier- oder allen Wirbelthierherzen, wie sic die v e r g l e i c h e n d e Anatomic erstrebt. Auf fast dicsclbc Stufc gehSrt auch die Schilderung des Wesentlichen, Gemeinsamen und Unterscheidenden v e r s c h i e d c n e r E n t w i e k e l u n g s s t u f e n desselben Organs eines Thieres, wie sic die sogenannte ~deskriptive Entwieke- lungsgeschichte~, die ja eben auch schon vergleicht, bei guter Aus- ftihrung darbietet. Die ~)deskriptive E n t w i e k e l u n g s g e s c h i c h t e ~ bestcht daher (yon den )~Variationem, abgeseheu) in der Beschreibung

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des W e S e n t I i c h e n der n o r m a 1 e n (also ftir die betreffende Species ~typischen<~.) G e s t a l t - nnd S t r u k t u r a n d e r u n g e n der sieh ent- wiekelnden Organismen. Noch h~her steht dann weiter die Ver- gleiehung der Entwickelungsstadien desselben Organs bei v e r s c h i e - denen Thieren, die als v e r g l e i e h e n d e E n t w i c k e l u n g ' s g e s e h i e h t e zav" ~ox~v bezeiehnet wird.

Sehr haufig freilich kann aueh die sogenannte d e s k r i p t i v e E n t w i c k e l u n g s g e s e h i c h t e sieh night mit dem einfaehen Zusehen und mit der Darstellung des G e s e h e n e n begnUgen, da sich die im Inneren stattfindenden formalen Vorgange der direkten Beobaehtung entziehen. Es mUssen also einzelne S t a d i e n konservirt und mikro- tomirt werden etc. ; dann muss aus den gewonnenen Bildern dureh V e r g l e i c h u n g der siehtbaren Befunde die wesentliehe Versehieden- heit tier Stadien ermittelt und der f o rma le U m b i l d u n g s v o r g a n g , dureh den diese Anderungen hervorgebraeht women sind, dutch D e n k e n zu ermitteln gesueht, also der Beobaehtung u n t e r g e l e g t werden. Dabei werden dann natUrlieh oft sehr versehiedene Auf- fassungen ge~uBert, und kS ist ~uBerst schwierig, allmahlieh die richtige Auffassung als solehe zu erweisen.

l~s sei nur an die Lehre yon tier f o r m a l e n Entstehungsweise des m i t t l e r e n K e i m b l a t t e s , sowie an die S p e r m a t o g e n e s e er- innert. Aueh hierbei muss, wie bei jeder Forsehung, oft tier - - sit venia verbo - - naturwissensehaftliehe Instinkt: dig zur Zeit noch nieht zu beweisende subjektive Auffassung vorl~ufig aushelfen.

Aber das eigentliehe Z ie l ist bier wieder dig Ermittelung tier u bloB als Anderungen oder Bewegungen g e f o r m t e r The i l e , night die Ermittelung der W i r k u n g s w e i s e n . Wenn diese Art der Forsehung aber ihr Ziel auf eausale Verhaltnisse richter und sieh dabei nieht bloB auf urs~tchliehe Zusammenh~nge allge- meinster Art besehrankt, so tibersehreitet sic die in ihr selber gelegenen Grenzen zuverlassiger Arbeit.

Selbst die reine Beschreibung des E i n z e l f a l l e s bedarf all- bekannter Weise sehon h~ufig der Unterstellung und Interpolation, tier Erganznng dureh Sehliel~en, sofern sit nach V o l l s t ~ n d i g k e i t der Besehreibung strebt; denn auch ihr wird dig Vollst~tndigkeit der Beobachtung h~ufig unm~glich gemaeht. Da sieh oft feine Theile, z. B. ~Nervenfasern, der Wahrnehmung entziehen und selbst die besten F~rbungen uns im Stiehe lassen, so muss zeitweise das nieht Sieht- bare zun~ichst naeh Analogien ersehlossen werdcn.

Die im Sinne der obigen Definitionen v e r g l e i e h e n d e n Wissen-

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schaften des no rma len Gesehehens dagegen g'ew~hren schon erheb- liche causa l e Kenntnis, aus Grtinden, die im Abschnitt tiber Methodik erSrtert werden.

Die re in deskriptive Untersuehung des fertigen Einzelfalles ge- wiihrt fur sich keine causale Kcnntnis; denn daraus, dass immer dasselbe gebildet wird, kann nicht auf die Art seiner bildenden Ursache, sondern nur auf eine Kons t anz der urs~chlichen Verhiilt- nisse gesehlossen werden. Erst wenn )~nderung eintritt und immcr zwei Anderungen zugleich auftreten~ kSnnen wir schlicBen, dass sic in causalem Zusammenhang stehen. Erst groBen R e i h e n solcher Beobachtungen kommt diese Wirkung zu, wobei dann immer schon V e r g l e i c h u n g zur Beschreibung hinzutritt.

hber auch bei der V e r g l e i c h u n g des ~,normalen,, G e s e h e h e n s ist die eausale Ausbeute, wie wir frtiher sahen~ im Verh~tltnisse zur deskriptiven Leistung noch relativ gering; und die Schliisse auf die ursachliehen Wirkungsweisen sind in Bezug auf die Qualitiit, Lokalisation, Zeit und GrSlle dieser Wirkungsweisen sehr unbe- stimmte.

Anders ist es nun bei der yon uns als d i r e k t e oder e x a k t e causa le Forschung bezeichneten Richtung, deren Hilfsmittcl das causalmorphologischc, insbesondere das a n a l y t i s e h e Experiment ist, iiber welches im zweiten Abschnitt ausftihrlich gchandclt wird. Hier gestattet nieht selten ein einzigcs, mehrmals mit demselben Erfolg wiederholtes, richtig angestelltes und gut gelungenes Experiment einen sicheren Sehluss auf u r s i i ch l i che B e z i e h u n g e n b e s t i m m t e r The i le and zwar auf W i r k u n g s w e i s e n , die wit auf Grund aueh der sorgfitltigsten deskriptiven und vergleichenden Beobachtung des no rma len Gesehchens hie erfahren haben wtirden. Ich crinnere an die Ermittclung~ dass die Richtung der Medianebene des Frosch- embryo im Ei durch den kUnst l ich bestimmbaren Befi'uchtungs- meridian bestimmt werden kann, dass es yon der Ges t a l t und An- o rdnung des Dotters einer isolirten der beiden ersten Furchungs- zellen abh~tngt, ob ein halber odor ganzer Embryo aus dieser einzelnen Zelle entsteht.

Die weitere BegrUndung dieser Saehlage wird in dem Absehnitt tiber die Methodik erfolgen.

Wir kSnnen nun auch eine weitere Frage HERTWIG'S, die er wieder nicht selber 15sen konnte, beantworten, die Frage: Wie s teh t die E n t w i c k e l u n g s g e s c h i c h t e zur E n t w i c k e l u n g s m e e h a n i k ?

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E n t w i c k e l u n g s g e s e h i c h t e bezeichnet, das Wort ;n seiner vo l len Bedeutung genommen, die vollst: , tndige Lehre vom Ent- wickelungsgesehehen; sie ist somit der allgemeinere, umfassendere Begriff als Entwickehmgsmeehanik, sofern wir letztere, um ihr Spe- cifisches hervorzuheben, allein als die eausa le Entwickelungslehre bezeiehnen, wobei wit abet yon meiner ersten Definition abweichen, welche anch die Besehreibung aller Bewegungen als solcher mit um- fasste (s. o. pag. 6). Nur ist dabei die I-Iauptsaehe nicht zu Ubersehen, dass die , E n t w i e k e l u n g s g e s c h i c h t e , ~)historiseher,, Weise b i s h e r dan ~engeren , , B e g r i f f d a r s t e l l t e : da sie nicht ro l l genommen, nieht als die v o l l s t a n d i g e Lehre alles Entwiekelungs- gesehehens, sondern bloB als die vollst~indige Lehre vom S i c h t b a r e n des normalen Entwiekelungsgesehehens, als die Lehre yon den iiuI~eren und inneren F o r m w a n d l u n g e n aufgefasst worden ist.

Doeh ist dem fl-tiher Gesagten noch beizufUgen, dass auch die d e s k r i p t i v e entwiekelungsgeschichtliche Forschung, in ihrer neueren f e i n e r e n Art der Untersuehung zum Theil schon eine wiehtige Frage beantworten hilft, die yon uns als eine n:,tehste Vor f r age der c a u s a l e n Forschung bezeichnet worden ist: n:,tmlich die Frage naeh g e n a u e r e r L o k a l i s a t i o n der Ursachen . Sic thut dies 7 in so fern sie z. B. die Keimbahnen w~thrend der Ontogenese miiglichst genau verfolgt, oder bei Formbildungen, welehe unter lokalem W a c h s t h u m stattfinden, indem sie dureh Beobachtung der Kern- theilungsstadien festzustellen sueht, an w e l e h e n S t e l l en dabei die Zelltheilungen vor sieh gehen, also welehe Stellen die a k t i v e n (NB. abet nut in Bezug auf Z e l l t h e i l u n g die aktiven)sind. Dabei kann freilieh die F o r m b i l d u n g auBerdem zugleich dutch Zellenzu- wanderung oder -Fortwanderung sowie durch Anderung der Zcll- gestalten bedingt sein. Immerhin gewiihrt uns bier die deskriptive Forsehung wieder eine wiehtige Hilfe, wesshalb wir solehe, die un- mittelbaren V o r f r a g e n der )~qualitativen~< causa len F o r s c h u n g behandelnde U n t e r s u e h u n g e n g e r n in das Areh iv ftir En t - w i e k e l u n g s m e e h a n i k a u f n e h m e n .

In der Einleitung dieses Arehivs habe ich diese ganze Saeh- lage und den ~utzen der anderen bioloffisehen Disciplinen flit die Entwickelungsmechanik auf pag. 24--36, also ziemlieh ausfiihrlich behandelt. HERTWIG hat daraus nut eine minimale Auslese getroffen, sagt aber gleiehwohl, ieh hatte die anderen Diseiplinen als inferior zurUckgewiesen.

Im Gegensatz zu dieser Unterstellung wurde diese Einleitung

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Fiir unser Programm und seine Verwirklichung. 79

mit der Ausftihrung gcschlossen (2, pag. 38), dass die Entwiekelungs- mechanik nnr in ~,steter Symbioses< mit ,,allen~< anderen biologischen Disciplinen in d a u e r n d E r fo lg v e r s p r e c h e n d e r We i se f fepf leg t w e r d e n kann.

O. BiJTSCHLI hat jtingst (5, pag. 13) in Erinnerung gebracht, dass er bereits im Jahre 1876 a u f die c ausa l e Unvollst : , tndig 'kei t der a l le in auf die v e r g l c i c h e n d e A n a t o m i c f fegrUnde ten ,,Morpholog'icr (11) hingewiesen hat, wobci er zuglcich die yon uns als d i r e k t e bezeichnete causa le For schung postulirte. Dcr Autor sagt: , ,Diese Morpholog ie b e g r e i f t nur e ine Se i te des ge - s a m m t e n W e s e n s o r g a n i s c h e r Ges t a l t cn , da d iese auch e i nze l n fUr sich, aus den g e g c b e n c n G r u n d l a g e n und B e d i n g u n g e n

. i h r e s H e r v o r g e h e n s s ieh c rk l i i r en l a s scn mUssen. Iqurd iese Auffassung dcr Morphologic der organischen Wesen, jetzt noch ein nebelhafter Tra.um der fernsten Zukunft, wUrde das leisten kiinnen, was sieh die hcutige Morphologic meiner Ansicht nach mit Unrecht zuschreibt: n~tmlich die causa l c m e c h a n i s c h c Erkl~trung der or- g a n i s e h e n Ges ta l t en . Denn wenn auch gezeigt worden ware, dass eine organische Form sich aus eincr anderen herleitet, und wenn selbst, was heute kaum in eincm Falle mSglich g'cwescn ist, die Bedingungen des Eintretcns dieser Umwandlung'en dargelegt worden w:~trcn, so wtirde dennoch nur das Material ~egcben sein, an welchem eine causal-mechanische Erkliirung sich kUnftig" zu versuchen h'~tte; gerade wie Jcmand, der, ohne Kenntnis dcr Einrichtung und der wirk- samen Kr:Mte in einer abgefeuertcu Kanone, dutch vielfachc Be- obaehtung zu dcr sicheren l~berzeugung gelangt w:,ire, dass die Thiitigkcit des Kanoniers die Ursachc des HervorschicBcns des Gc- sehosses sei, nun auch damit cine causal-mechanische Erkl:~irung der wirklichen Entstehung der Geschossbewegung gefunden zu haben ~,'laubte. �9

HERTWIG stellt mir schlieBlich die Aufgabe, anzugebcn: ,~welchen B c s t a n d t h e i l e n d e r v e r g l e i c h e n d e n A n a t o m i c und E n t - w i c k c l u n g s g c s c h i c h t e nun d i e E h r e d e r A u f n a h m e im Arehiv fur E n t w i e k e l u n g s m e c h a n i k zu The i l w c r d e n soll,,.

Die bczUgliche AusfUhrung am Schlussc der Einlcitung des Archivs scheint ihn also nicht befriedigt zu habcn. Anderc Autoren dagegen habcn mich gerade untcr Bezugnahme auf diese Stelle dazu be- glUckwiinscht, dass es mir gclungen sei, das Gebiet der Entwicke- hngsmechanik so gut abzugrcnzcn. Ich erlaube mir daher zur

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80 Wilhelm Roux, Fiir unser Programm und seine Verwirklichung.

Ergi~nzung diese Stelle hier noch zu reprodueiren~ ohne eine weitere Hinzufiigung fUr nSthig zu halten. Sie lautet (2, pag. 36):

~,Wie die E n t w i c k e l u n g s m e e h a n i k sich a l le r Methoden, welehe m's~ehlicbe Erkenntnis gew~hren, und a l l e r biologisehen D i s c i p l i n e n fiir ihre Z w e e k e bed ien t , so umfasst aueh ihr Forsehungsgebiet alle Lebewesen yon den niedersten Protisten bis zu den hSchsten thierisehen und pflanzlichen Organismen.

�9 Demgemiil~ wird dieses Archiv u rs i i eh l i ehe A b h a n d l u n g e n aus a l i en b io log i s ehen Di se ip l inen aufnehmen. Da dasselbe jedoeh nieht beabsiehtigt, den Fachzeitschriften dieser anderen Riehtungen auf ihrem s p e c i e l l e n Gebiete Konkurrenz zu machen, so w e r d e n bloB so lehe Arbe i t en d i e se r R i e h t u n g a u f z u n e h m e u sein, we lehe ~direkt ' e in e a u s a l e s Ziel ve r fo lgen (haudele es, sich um die ()rtliehkeit~ Zeitlichkeit, GrSl~e oder Qualitlit der Ursache) und w e l c h e d i e s e m Z w e e k e e n t s p r e e h e n d ihr F o r s c h u n g s - m a t e r i a l g e s a m m e l t und b e a r b e i t e t haben.

�9 Deskriptive Arbeiten dagegen~ welchen bloB gelegentlieh einige causale Vermuthungen eingeftigt sind, ohne dass versucht wird, dareh V e r g l e i c h u n g von entsprechend v e r s e h i e d e n e n Thatsachen diese Annahmen zu stiitzen~ fallen daher nicht in den Rahmen dieses Arehivs.

~Verg le i chend a n a t o m i s c h e Abhandlungen~ welche die Ge- stalten der behandelten Objekte aussehlieBlieh auf die Faktoren der Var ia t ion und V e r e r b u n g zurUckFtihren, ohne naeh der w e i t e r e n A n a l y s e dieser komplexen Komponenten zu streben, liegen gleieh- falls auflerhalb des Gebietes unseres Arehivs, da diese erstere Analyse ebenso wie der Naehweis der Abstammung das eigenste Forsehungsgebiet der vergleiehenden Anatomie darstellt.,<

(Schlnss folgt.