gemeindereform mit augenmaß - nomos

6
LKRZ Zeitschrift für Landes- und Kommunalrecht Hessen | Rheinland-Pfalz | Saarland Herausgeber: Claus Böhmer, Präsident des Oberverwaltungsgerichts des Saarlandes | Dr. Lars Brocker, Präsident des Verfassungsgerichtshofs und des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz | Prof. Dr. Christoph Gröpl, Universität des Saarlandes | Prof. Dr. Herbert Günther, Ministerialdirigent a.D., Staatskanzlei des Landes Hessen | Klaus-Ludwig Haus, Direktor des Landesverwaltungsamtes des Saarlandes a.D. | Prof. Dr. Reinhard Hendler, Universität Trier | Prof. Dr. Georg Hermes, JohannWolfgang Goethe-Universität Frankfurt amMain | Prof. Dr. Hans-Detlef Horn, Philipps-Universität Marbug, Richter am Hessischen Verwaltungsgerichtshof a.D. | Prof. Dr. Friedhelm Hufen, Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Mitglied des Verfassungsgerichtshofs Rheinland-Pfalz | Dr. Curt M. Jeromin, Fachanwalt für Verwaltungsrecht, Andernach | Prof. Dr. Siegfried Jutzi, Ministerialdirigent, Ministerium der Justiz und für Verbraucherschutz des Landes Rheinland-Pfalz, Vertreter des öffentlichen Interesses des Landes Rheinland-Pfalz, Honorarprofessor der Johannes Gutenberg-Universität, Mainz | Prof. Dr. Holger Kröninger, Fachanwalt für Verwaltungsrecht, Saarbrücken | Prof. Dr. Klaus Lange, Justus-Liebig-Universität Gießen, Präsident a.D. und Mitglied des Staatsgerichtshofs des Landes Hessen | Dr. Karl-Hans Rothaug, Präsident des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs | Prof. Dr. Gunnar Schwarting, Geschäftsführer des Städtetages Rheinland-Pfalz | Jürgen Wohlfarth, Verwaltungsdezernent der Landeshauptstadt Saarbrücken, Dozent an der Fachhochschule für Verwaltung | Prof. Dr. Jan Ziekow, Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften, Speyer Hauptschriftleitung: Prof. Dr. Siegfried Jutzi, Ministerialdirigent | Schriftleiter Hessen: Rainer Lambeck, Richter am Verwaltungsgericht | Schriftleiter Rheinland-Pfalz: Manfred Stamm, Vorsitzender Richter am Oberverwaltungsgericht | Schriftleiter Saarland: Joachim Schwarz, Richter am Verwal- tungsgericht LKRZ 8/2013 | 313 AUFSÄTZE * Der Beitrag geht zurück auf eie Vortrag, de der Verfasser am 25.02.2013 auf der Mitgliederversammlug des Gemeide- ud Städte- budes Rheilad-Pfalz i Boppard gehalte hat. Der Vortragsstil wurde beibehalte. 1 RhPfGVBl. 2010, S. 272. 2 Vgl. hierzu die statistische Auswertuge bei Mecking, Bürgerwille ud Gebietsreform : Demokratieetwicklug ud Neuordug vo Staat ud Gesellschaft i Nordrhei-Westfale 1965 – 2000, 2012, S. 461 ff. 3 Hierzu etwa Helmut Kohl, Erieruge 1930 – 1982, 2004, der aus- führt, dass die Verbadsgemeide im Zuge der damalige Verwal- tugsreforme so kostruiert wurde, „dass sie bei gleichzeitiger Wah- rug des Gemeidecharakters ihrer Gliedgemeide selbst eie echte Gemeide darstellt“ (S. 221). I der verfassugsrechtliche Diskussio ist die aheliegede Kosequez, de Verbadsgemeide de volle verfassugsrechtliche Schutz der gemeidliche Selbstverwaltugs- garatie zuzuerkee, freilich icht durchgägig gezoge, soder vielfach eie Eiordug der Verbadsgemeide als bloße Gemei- deverbäde favorisiert worde; hierzu vgl. etwa RhPfVerfGH 12, 239, 247; RhPfOVG, AS 25, 232, 234; Jutzi, i: Hedler/Hufe/Jutzi, Lades- recht RhPf., Studiebuch, 6. Aufl. 2012, § 1 R. 125. Für eie weiterge- hede Schutz der Verbadsgemeide aber etwa Winkler, ebd., § 3 R. 63 m.w.N.; Dietlein/Thiel, Verwaltugsreform i Rheilad-Pfalz, 2006, S. 78 ff. m.w.N . Vgl. auch u. II. 3. (bei F. 29). Gemeindereform mit Augenmaß – Stand und Perspektiven der aktuellen Kommunalreform in Rheinland-Pfalz – Univ.-Prof. Dr. iur. Johannes Dietlein, Universität Düsseldorf* Nach dem Auslaufen der sog. „Freiwilligkeitsphase“ am 30.06.2012 ist die bislang primär auf die Verbandsgemeinden fokussierte Kommunal- und Verwaltungsreform in Rhein- land-Pfalz in eine neue, entscheidende Phase getreten. Ob und auf welche Weise aus den formalen Vorgaben des Landesgeset- zes über die Grundsätze der Kommunal- und Verwaltungsre- form (KomVwRGrG) vom 28.09.2010 1 zu einer überzeugen- den, von den Bürgerinnen und Bürgern mitgetragenen Neuord- nung der kommunalen Landschaft gefunden werden kann, er- scheint nur schwer absehbar. Der nachfolgende Beitrag zeichnet die kommunale Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte nach und beleuchtet den aktuellen Diskussionsstand. I.  Ein Blick zurück: Die kommunale Entwicklung in Rheinland-Pfalz Rheinland-Pfalz ist ein besonderes Land; ein Land, das sich im Vergleich mit anderen Ländern durch eine äußerst facettenrei- che und lebendige kommunale Landschaft auszeichnet. Das hat seine Gründe. Es waren vor allem die kommunalen Schicksals- jahre 1968 bis 1978, Jahre ungebremster Planungseuphorie, Jahre, die gerade auf der gemeindlichen Ebene in vielen Län- dern der Bundesrepublik Deutschland zu einem hemmungslo- sen Kahlschlag geführt haben: Als sich andere Länder förmlich darin überboten, historisch gewachsene Gemeinden zu Me- gagemeinden zusammenzuführen, gelang es in Rheinland-Pfalz, Maß zu halten. Während Länder wie Hessen und Nord- rhein-Westfalen die Zahl der Gemeinden ohne Rücksicht auf gewachsene Strukturen um 80 % und mehr reduzierten, ver- ringerte man die Zahl der Gemeinden in Rheinland-Pfalz um vergleichsweise behutsame 20 %. 2 Zugleich schuf man mit der Verbandsgemeinde einen neuen Typus Gemeinde. Einen Typus, der – wie schon der Name der neuen Institution zeigen soll- te – von seinen Urhebern als echte „Gemeinde“ gedacht war, die als dritte Gemeindeform neben den Ortsgemeinden und den verbandsfreien Gemeinden steht. 3 Diversifizierung also, 8/2013 7. Jahrgag, Seite 313-356

Upload: others

Post on 16-Oct-2021

2 views

Category:

Documents


0 download

TRANSCRIPT

Page 1: Gemeindereform mit Augenmaß - Nomos

Au fsätz e | Dietlein, Gemeindereform mit Augenmaß

LKRZZeitschrift für Landes- und Kommunalrecht Hessen | Rheinland-Pfalz | SaarlandHerausgeber: Claus Böhmer, Präsident des Oberverwaltungsgerichts des Saarlandes | Dr. Lars Brocker, Präsident des Verfassungsgerichtshofs und des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz | Prof. Dr. Christoph Gröpl, Universität des Saarlandes | Prof. Dr. Herbert Günther, Ministerialdirigent a.D., Staatskanzlei des Landes Hessen | Klaus-Ludwig Haus, Direktor des Landesverwaltungsamtes des Saarlandes a.D. | Prof. Dr. Reinhard Hendler, Universität Trier | Prof. Dr. Georg Hermes, JohannWolfgang Goethe-Universität Frankfurt amMain | Prof. Dr. Hans-Detlef Horn, Philipps-Universität Marbug, Richter am Hessischen Verwaltungsgerichtshof a.D. | Prof. Dr. Friedhelm Hufen, Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Mitglied des Verfassungsgerichtshofs Rheinland-Pfalz | Dr. Curt M. Jeromin, Fachanwalt für Verwaltungsrecht, Andernach | Prof. Dr. Siegfried Jutzi, Ministerialdirigent, Ministerium der Justiz und für Verbraucherschutz des Landes Rheinland-Pfalz, Vertreter des öffentlichen Interesses des Landes Rheinland-Pfalz, Honorarprofessor der Johannes Gutenberg-Universität, Mainz | Prof. Dr. Holger Kröninger, Fachanwalt für Verwaltungsrecht, Saarbrücken | Prof. Dr. Klaus Lange, Justus-Liebig-Universität Gießen, Präsident a.D. und Mitglied des Staatsgerichtshofs des Landes Hessen | Dr. Karl-Hans Rothaug, Präsident des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs | Prof. Dr. Gunnar Schwarting, Geschäftsführer des Städtetages Rheinland-Pfalz | Jürgen Wohlfarth, Verwaltungsdezernent der Landeshauptstadt Saarbrücken, Dozent an der Fachhochschule für Verwaltung | Prof. Dr. Jan Ziekow, Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften, Speyer

Hauptschriftleitung: Prof. Dr. Siegfried Jutzi, Ministerialdirigent | Schriftleiter Hessen: Rainer Lambeck, Richter am Verwaltungsgericht | Schriftleiter Rheinland-Pfalz: Manfred Stamm, Vorsitzender Richter am Oberverwaltungsgericht | Schriftleiter Saarland: Joachim Schwarz, Richter am Verwal-tungsgericht

LKRz 8/2013 | 313

Aufsätze

* Der Beitrag geht zurück auf einen Vortrag, den der Verfasser am 25.02.2013 auf der Mitgliederversammlung des Gemeinde- und städte-bundes Rheinland-Pfalz in Boppard gehalten hat. Der Vortragsstil wurde beibehalten.

1 RhPfGVBl. 2010, s. 272.2 Vgl. hierzu die statistischen Auswertungen bei Mecking, Bürgerwille und

Gebietsreform : Demokratieentwicklung und Neuordnung von staat und Gesellschaft in Nordrhein-Westfalen 1965 – 2000, 2012, s. 461 ff.

3 Hierzu etwa Helmut Kohl, erinnerungen 1930 – 1982, 2004, der aus-führt, dass die Verbandsgemeinde im zuge der damaligen Verwal-tungsreformen so konstruiert wurde, „dass sie bei gleichzeitiger Wah-rung des Gemeindecharakters ihrer Gliedgemeinden selbst eine echte Gemeinde darstellt“ (s. 221). In der verfassungsrechtlichen Diskussion ist die naheliegende Konsequenz, den Verbandsgemeinden den vollen verfassungsrechtlichen schutz der gemeindlichen selbstverwaltungs-garantie zuzuerkennen, freilich nicht durchgängig gezogen, sondern vielfach eine einordnung der Verbandsgemeinden als bloße Gemein-deverbände favorisiert worden; hierzu vgl. etwa RhPfVerfGH 12, 239, 247; RhPfOVG, As 25, 232, 234; Jutzi, in: Hendler/Hufen/Jutzi, Landes-recht RhPf., studienbuch, 6. Aufl. 2012, § 1 Rn. 125. für einen weiterge-henden schutz der Verbandsgemeinden aber etwa Winkler, ebd., § 3 Rn. 63 m.w.N.; Dietlein/Thiel, Verwaltungsreform in Rheinland-Pfalz, 2006, s. 78 ff. m.w.N . Vgl. auch u. II. 3. (bei fn. 29).

Gemeindereform mit Augenmaß– Stand und Perspektiven der aktuellen Kommunalreform in Rheinland-Pfalz –Univ.-Prof. Dr. iur. Johannes Dietlein, Universität Düsseldorf*

Nach dem Auslaufen der sog. „Freiwilligkeitsphase“ am 30.06.2012 ist die bislang primär auf die Verbandsgemeinden fokussierte Kommunal- und Verwaltungsreform in Rhein-land-Pfalz in eine neue, entscheidende Phase getreten. Ob und auf welche Weise aus den formalen Vorgaben des Landesgeset-zes über die Grundsätze der Kommunal- und Verwaltungsre-form (KomVwRGrG) vom 28.09.20101 zu einer überzeugen-den, von den Bürgerinnen und Bürgern mitgetragenen Neuord-nung der kommunalen Landschaft gefunden werden kann, er-scheint nur schwer absehbar. Der nachfolgende Beitrag zeichnet die kommunale Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte nach und beleuchtet den aktuellen Diskussionsstand.

I.   Ein Blick zurück: Die kommunale Entwicklung in Rheinland-Pfalz

Rheinland-Pfalz ist ein besonderes Land; ein Land, das sich im Vergleich mit anderen Ländern durch eine äußerst facettenrei-che und lebendige kommunale Landschaft auszeichnet. Das hat seine Gründe. Es waren vor allem die kommunalen Schicksals-jahre 1968 bis 1978, Jahre ungebremster Planungseuphorie, Jahre, die gerade auf der gemeindlichen Ebene in vielen Län-dern der Bundesrepublik Deutschland zu einem hemmungslo-sen Kahlschlag geführt haben: Als sich andere Länder förmlich darin überboten, historisch gewachsene Gemeinden zu Me-gagemeinden zusammenzuführen, gelang es in Rheinland-Pfalz, Maß zu halten. Während Länder wie Hessen und Nord-

rhein-Westfalen die Zahl der Gemeinden ohne Rücksicht auf gewachsene Strukturen um 80 % und mehr reduzierten, ver-ringerte man die Zahl der Gemeinden in Rheinland-Pfalz um vergleichsweise behutsame 20 %.2 Zugleich schuf man mit der Verbandsgemeinde einen neuen Typus Gemeinde. Einen Typus, der – wie schon der Name der neuen Institution zeigen soll-te – von seinen Urhebern als echte „Gemeinde“ gedacht war, die als dritte Gemeindeform neben den Ortsgemeinden und den verbandsfreien Gemeinden steht.3 Diversifizierung also,

8/20137. Jahrgang, seiten 313-356

Page 2: Gemeindereform mit Augenmaß - Nomos

Au fsätz e | Dietlein, Gemeindereform mit Augenmaß

314 | LKRz 8/2013

4 Vgl. Zsinka, DÖV 2013, 61, 69, die für Rheinland-Pfalz freilich unzutref-fend von einer ausschließlichen Geltung des Verbandsgemeinde-modells ausgeht und die parallele existenz verbandsfreier Gemeinden übersieht.

5 eingehend hierzu Rüschenschmidt, Die Verwaltungsreform in Rhein-land-Pfalz unter besonderer Berücksichtigung der territorialreform auf der ebene der Kreise und Gemeinden, Diss. trier/Kaiserslautern 1975, s. 358.

6 Hierzu nur Hamm/Rühl/Buntru, Die zufriedenheit der Bürgerinnen und Bürger mit den Verwaltungsleistungen der Verbandsgemeinden, 2008.

7 Vgl. hierzu Zsinka, DÖV 2013, 61, 62.8 zu den diversen Reformvorschlägen eingehend Dietlein/Thiel (fn. 3),

s. 29 ff., bes. s. 30.9 Vgl. hierzu bereits die Bewertungen bei Dietlein/Thiel (fn. 3), s. 72 ff.10 VerfGH RhPf., DÖV 1969, 560, 563; ebenso DÖV 1970, 198, 200.11 Hierzu bereits Dietlein/Thiel (fn. 3), s. 93.12 Ausführliche Vorschläge zu dieser Aufgabenkritik etwa bei Dietlein/

Thiel (fn. 3), s. 97 ff., bes. s. 104 ff.13 zu Recht krit. insoweit Schliesky, NordÖR 2012, 57, 61 f. m.w.N.14 Kritisch insoweit bereits Junkernheinrich/Ziekow u. a., Begleitende

Gesetzesfolgenabschätzung zu den entwürfen des ersten und zweiten Landesgesetzes zur Kommunal- und Verwaltungsreform in Rheinland-Pfalz – zusammenfassung und Handlungsempfehlung (stand: 28.01.2010), s. 10, die von einem negativen entkoppelungs-effekt sprechen und vor allem eine „zementierung von Kreisstruktu-ren“ befürchten.

wegen der demographischen Entwicklung. Denn natürlich sind es auch die kommunalen Infrastrukturen, zumal die Schulen und Schwimmbäder, die gerade jungen Familien – also der Zukunft! – den Verbleib in ihrer Heimat erleichtern können.11 Gewiss muss man über die Gebietszuschnitte und die Leistungs-kraft von Gemeinden sprechen. Dieser Diskussion darf sich nie-mand verweigern. Eines darf allerdings nicht außer Acht gelas-sen werden: Die Dinge hängen alle thematisch zusammen. Von „Kontextualität“ spricht die Wissenschaft.

1.   Zentrale Anforderung an jede Reform: Den Kontext wahren!

Bereits die vielzitierte Frage nach der Leistungsfähigkeit von Gemeinden lässt sich niemals abstrakt beantworten. „Leis-tungsfähig wofür?“, muss die Frage richtig lauten. Die Frage der Leistungsfähigkeit ergibt nur Sinn im Spiegel der jeweils ab-verlangten Aufgaben. Hier ist die aktuelle Reform offenkundig zu kurz gesprungen. Denn das Zusammenlegen von Gemeinden verringert nicht deren Aufgabenlast. Wer Verwaltung zukunfts-fähig machen will, der muss vor allem überlegen, welche Auf-gaben die Gemeinden – Ortsgemeinden, Verbandsgemeinden, verbandsfreie Gemeinden – weiterhin wahrnehmen sollen;12 aber auch, wie Organisationsprozesse optimiert werden kön-nen – erwähnt sei hier etwa das Stichwort e-Government, ein Stichwort, das in der ganzen Debatte bislang kaum zu hören war.13

Gleiches gilt für die Frage nach dem territorialen Zuschnitt einer kommunalen Gebietskörperschaft. Auch sie kann nur im konkreten räumlichen Kontext beantwortet werden. Die sach-verständigen Stellungnahmen haben von Anfang an unisono darauf hingewiesen, dass man über den Zuschnitt von Ver-bandsgemeinden nicht vernünftig reden kann, ohne über die re-formbedürftigen Kreisgrenzen zu sprechen.14 Und was die viel-beschworene Ausblendung der Ortsgemeinden angeht, kommt

wie sie heute, 40 Jahre später, als Instrument einer modernen und zeitgemäßen Kommunalstruktur gelehrt wird.4 Aber auch in der Folgezeit bewies die Politik Augenmaß und Sensibilität im Umgang mit den Gemeinden. So etwa mit dem endgültigen Ja zu den Verbandsgemeinden. Denn diese waren in den 1970er Jahren – wie oft vergessen wird – zunächst nur als Übergangs-lösung hin zu dem Modell einer Einheitsgemeinde gedacht.5 Es waren die Bürgerinnen und Bürger in den Kommunen, die an-ders entschieden hatten – ohne formelles Plebiszit, einfach nur durch eine Identifikation mit den neuen Verbandsgemeinden. Und die Politik ist dem klugerweise gefolgt.

Die Väter und Mütter des Modells der Verbandsgemeinden hätten sich wohl nicht träumen lassen, dass ihr einst als Über-gangsmodell gedachtes Konzept einmal zu einem dauerhaften Erfolgsmodell werden würde,6 nach der Wiedervereinigung im Jahre 1990 sogar zum Exportschlager in die neuen Länder: Denn nachdem Sachsen-Anhalt die Idee der Verbandsgemeinde bereits vor einiger Zeit übernommen hat, steht das Modell wo-möglich auch in Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern vor der Einführung.7

Aber auch in der jüngeren Vergangenheit haben die politi-schen Entscheidungsträger in Rheinland-Pfalz Besonnenheit und Augenmaß walten lassen. Erinnert sei nur an die vor ei-nigen Jahren vereinzelt laut gewordenen Forderungen nach einer vollständigen Abschaffung der Verbandsgemeinden oder Kappung ihrer Leitungspositionen,8 denen die Landesregierung damals zu Recht9 ein klares Nein entgegen gesetzt hat.

Das alles verdient Respekt, zumal in einer Zeit, in der der ökonomische Druck permanent zunimmt – und mit diesem Druck die Rufe nach einer Verschlankung von Verwaltung. Die Politik hat ernst genommen, was auch der VerfGH dieses Landes schon früh verkündet hat: „(…) die Grundsätze der Wirtschaftlichkeit, wie sie etwa für die auf Gewinnstreben aus-gerichteten privatwirtschaftlichen Wirtschaftsunternehmen gel-ten, können niemals das primäre Anliegen einer Verwaltungs-reform sein, sondern nur einen – wenn auch erstrebenswerten – Nebenzweck bilden.“10

II.   Bestandsanalyse und Perspektiven einer Verwaltungsreform

Wo steht Rheinland-Pfalz heute? Ist das Land womöglich Opfer des eigenen Erfolges geworden? Eines ist nicht zu bestreiten: mit 2.455 Gemeinden steht das Land auf den ersten Blick recht üppig da! Verglichen zumal mit Ländern wie Nordrhein-West-falen und seinen gerade einmal 396 Städten und Gemeinden. Berücksichtigt man allerdings, dass 2.258 der 2.455, also weit über 90 % der rheinland-pfälzischen Gemeinden Ortsgemein-den darstellen, die insgesamt 161 Verbandsgemeinden zuge-ordnet sind, ergibt sich freilich schon ein ganz anderes Bild. Nämlich das Bild eines Landes, das die nicht unerheblichen Schwankungen zwischen stark und gering besiedelten Regionen flexibel aufzufangen versucht. Das Bild eines Landes, das die Kirche und die Selbstverwaltung der Menschen im Dorfe lassen will – gerade auch im ländlichen Raum. Und diese Grundaus-richtung verdient Unterstützung. Nicht trotz, sondern gerade

Page 3: Gemeindereform mit Augenmaß - Nomos

Dietlein, Gemeindereform mit Augenmaß | A u f s ät z e

LKRz 8/2013 | 315

15 Zsinka, DÖV 2013, 61, 62. Vgl. in diesem Kontext auch Junkernheinrich u. a., fusion von Verbandsgemeinden und verbandsfreien Gemeinden in Rheinland-Pfalz, teil A, vorläufiger endbericht (stand: 01.08.2012), s. 52, die in deutlichem Kontrast zu den politischen Bekundungen davon ausgehen, dass mit der territorialen erweiterung der Verbands-gemeinden „in der Regel … tendenziell eine Verringerung der Ortsge-meinden anzustreben (ist)“.

16 Vgl. Rosenfeld/Kluth u. a., zur Wirtschaftlichkeit gemeindlicher Verwal-tungsstrukturen in sachsen-Anhalt, Abschlussbericht zu einem Gut-achtenauftrag des Innenministeriums des Landes sachsen-Anhalt, typoskript v. 19.06.2007, s. 220.

17 Vgl. Junkernheinrich u. a. (fn. 15), s. 55.18 Vgl. die studie „Nachhaltige Kommunalstrukturen in RLP“ – 02.02.2011,

erstellt vom fachbereich IV – Volkswirtschaftslehre, abrufbar unter http://www.vgv-kelberg.de/vg_kelberg/Aktuelles/Verwaltungsre-form/Gutachten%20universit%C3%A4t%20trier%20-Projektergebnis-se%20Phase%202%20-%20Kelberg.pdf , wo für diesen fall allerdings eine nachfolgende Reduktion der zahl der Ortsgemeinden auf maxi-mal 75 Gemeinden für notwendig erachtet wird; vgl. aus der regiona-len Presse auch tV vom 3.2.2011, http://www.volksfreund.de/nachrich-ten/region/daun/aktuell/Heute-in-der-Dauner-zeitung-Das-fusions-spiel-in-der-eifel-kann-beginnen;art751,2675403.

19 Vgl. Hoppe/Rengeling, Rechtschutz bei der kommunalen Gebietsre-form, 1973, s. 4.

20 so bereits die Kritik von Erichsen (Kommunalrecht des Landes Nord-rhein-Westfalen, 2. Aufl. 1997, s. 30 m.w.N.) an den nordrhein-westfäli-schen Gebietsreformen von 1967 – 1974.

21 Krit. hierzu Dietlein, Gemeinde und stadt, Beilage 6/2009 zu Heft 12, 2009, s. 1, 5 f.

22 Vgl. tV v. 02.03.2011: „Das fusionsspiel in der eifel kann beginnen“, s.  http://www.volksfreund.de/nachrichten/region/daun/aktuell/ Heute-in-der-Dauner-zeitung-Das-fusionsspiel-in-der-eifel-kann- beginnen;art751,2675403.

23 Vgl. etwa VerfGH sachsAnh, urt. v. 21.04.2009 – LVG 12/08 –, Rn. 46.24 Hierzu Dietlein/Thiel (fn. 3), s. 95 m.w.N.; Dietlein (fn. 21), s. 1, 5 m.w.N.;

vgl. in diesem Kontext auch die im Wesentlichen gleichlaufende Kritik des GstB RhPf., dargestellt in RhPf Lt-Drucks. 15/4488, s. 24; mit detail-lierten untersuchungen auch Rosenfeld/Kluth (fn. 16); ebenso Otting/Neun, NordÖR 2002, 139, 141.

25 Pergande, Des Landes freud, der Gemeinden Leid, in: fAz v. 06.03.2013, s. 8.

der Gesetzgeber seine Festlegung rational begründet. Wer sich hier – etwa hinsichtlich der genannten Mindesteinwohnerzah-len – auf die Suche macht, der wird bitter enttäuscht. Gewiss, die genannten Größenordnungen sind uns aus anderen Ländern nicht unbekannt und können nicht wirklich überraschen: aber warum gerade 10.000 und 12.000, das bleibt im Ergebnis un-geklärt.

Und wie damals folgt das Grundsätze-Gesetz dem unver-brüchlichen Glauben, dass territoriale Erweiterungen automa-tisch mit Kostenersparnissen verbunden seien – insbesondere im Personalbereich. Dass gerade die großen Reformen in Nord-rhein-Westfalen am Ende zu einer höheren Zahl von öffentlich Bediensteten geführt haben, wird hierbei nicht diskutiert;24 und genau so wenig wird das ernüchternde Zwischenergebnis der Kreisgebietsreformen in Mecklenburg-Vorpommern zur Kennt-nis genommen, in deren Folge „alle neu entstandenen sechs Großkreise … in die roten Zahlen gerutscht (sind), obgleich viele der alten Landkreise ausgeglichene Haushalte hatten“.25 Und natürlich wird auch hier allen vermeintlichen „Unkenru-fen“ der obligatorische Hinweis auf günstige Prognosen für die Zukunft entgegengesetzt.

sicher manch einem Goethes Wort in den Sinn: „Die Botschaft hör ich wohl, allein mir fehlt der Glaube.“ Denn wird dort, wo heute über Verbandsgemeinden gesprochen wird, hinter vorge-haltener Hand nicht längst auch über die Ortsgemeinden ge-redet? Es macht schon stutzig, wenn Wissenschaftler mit Blick auf den sektoralen Ansatz der gegenwärtigen Reformdiskussion in Rheinland-Pfalz ganz aktuell eine asynchrone Entwicklung der gemeindlichen Ebene prognostizieren. Eine Entwicklung, die am Ende, statt Kosten zu sparen, sogar zu höheren Transak-tionskosten führen werde!15

2.   Unabdingbar: Rationalität der legislativen Entscheidungsfindung

Dazu kommt eine für den Normalbürger nur schwer nach-vollziehbare Debatte, wie viele Ortsgemeinden von einer Ver-bandsgemeinde verwaltet werden können? Sind es lediglich acht, wie eine Expertengruppe in Mecklenburg-Vorpommern empfohlen hat,16 sind es 51, wie der Umweltökonom Martin Junkernheinrich in einer – durchaus pragmatischen – Anleh-nung an die derzeitigen Höchstzahlen annimmt,17 oder sind es 75, übergangsweise sogar 95, wie Gutachter der Universität Trier mutmaßen?18 Und wie viele Einwohner sollte eine Ver-bandsgemeinde denn nun haben: Achttausend? Zehntausend oder zwölftausend?

Wer zurück blickt, der wird erkennen: All diese Diskussio-nen hatten wir bereits einmal: nämlich in den 1970er Jahren, als Expertenrunden in den großen Bundesländern stolz die Ab-lösung der geschichtlich „gewordenen“ Gemeinde durch die neue „geplante“ Gemeinde feierten;19 als die Planung „vom Reißbrett“ vollmundig an die Stelle gewachsener Identifikation trat, und als eine ganze Generation der „Magie verwaltungs-wissenschaftlicher Zahlenspiele“ verfiel.20 Und so bleibt das un-behagliche Gefühl, dass die eigentlichen Kosten der damaligen Planungsmanie, nämlich die demokratischen Kollateralschäden in der Gestalt mangelnder Wahlbeteiligung, mangelnden po-litischen Interesses und auch mangelnder Identifikation und mangelnden ehrenamtlichen Engagements bis heute verdrängt werden.21

Es kann daher auch nicht wirklich erstaunen, wenn die Re-form bei vielen Bürgerinnen und Bürgern auf Vorbehalte stößt. Auf Vorbehalte vor allem deshalb, weil das, was für sie die Heimatgemeinde ausmacht, mit diesen Zahlen nicht erfassbar ist: nämlich die Gemeinde als der persönliche Nähe- und Er-fahrungsraum! Weil die Reformdiskussion – wie eine regionale Zeitung beiläufig titelte – tatsächlich eher als „Fusionsspiel“22 wahrgenommen wird denn als rational nachvollziehbarer Pro-zess. Und dies ist nicht nur ein politisches Problem. Das Prob-lem schlägt vielmehr unmittelbar auf die rechtliche Bewertung durch: Denn auch wenn die Verfassungsgerichte dem Gesetz-geber weite Spielräume bei der Festlegung abstrakter Krite rien für eine Neugliederung einräumen, eines bleibt stets unver-zichtbar: nämlich die rationale Begründbarkeit jeder einzelnen Festlegung. Etwa auch der Festlegung von Mindesteinwohner-zahlen.23 Dabei reicht es nicht hin, dass sich rationale Begrün-dungen irgendwo objektiv finden lassen. Entscheidend ist, dass

Page 4: Gemeindereform mit Augenmaß - Nomos

Au fsätz e | Dietlein, Gemeindereform mit Augenmaß

316 | LKRz 8/2013

26 BVerfGe 107, 1, 14.27 Vgl. Schönfelder/Schönfelder, sächsVBl. 2007, 249 ff.28 Vgl. VerfGH MV, LKV 2007, 457 ff.29 eingehend hierzu bereits oben fn. 3; höchst zweifelhaft insoweit etwa

VerfGH RhPf., VerwRspr. 1978, 641, 646, der in der unterstellten ge-meindeverbandlichen struktur der Verbandsgemeinden ungeachtet der örtlichen Ausrichtung der Verbandsgemeinden einen „essentiellen unterschied“ gegenüber den einheitsgemeinden sieht, der auch Rück-wirkungen auf die Prüfungsintensität von eingriffen habe, die danach unterhalb der Prüfungsintensität für eingriffe in den Bestand einer einheitsgemeinde liegen soll.

30 zu diesem soziologischen Gemeindebegriff etwa Mecking/Oebbecke, in: dies., zwischen effizienz und Legitimität, 2009, s. 1, 19.

31 Auch wenn das BVerfG bislang scharfe rechtliche sanktionen nach Möglichkeit vermieden hat, wird die hohe Bedeutung des Bürgerwil-lens dort explizit herausgestellt, vgl. BVerfGe 86, 90 ff., wo das Gericht ausführt, dass „die fehlende Akzeptanz des die neue örtliche Gemein-schaft konstituierenden Gebietszuschnitts bei erheblichen teilen der einwohnerschaft (...) nachteilig auf die notwendige Integration und die zu wahrende örtliche Verbundenheit der einwohner (...) auswirken und letztlich die bürgerschaftliche Verwurzelung und die Leistungsfä-higkeit der selbstverwaltung beeinträchtigen“ kann. zu den rechtli-chen Grenzen eines Handelns gegen den Bürgerwillen etwa VerfG Bbg., LKV 1995, 37, 38.

mehr erreichen können, sind – jenseits aller ökonomischen As-pekte – letztlich nicht mehr leistungsfähig! Sie sind nämlich nicht in der Lage, die eigentlichen Zielsetzungen kommunaler Selbstverwaltung, nämlich Bürgerpartizipation und Bürgernä-he, nachhaltig zu verwirklichen.

Fernab aller verfassungsrechtlichen Erwägungen sollte zudem niemand übersehen, dass die Verbandsgemeinden in den vergangenen 40 Jahren ein fester Bestandteil der örtlichen Identifikation der Bürgerinnen und Bürger geworden sind. Und Gemeinde ist eben auch, was Bürgerinnen und Bürger als örtli-che Gemeinschaft wahrnehmen, womit sie sich identifizieren.30 Hier haben Verbandsgemeinden einen Platz im Herzen der Menschen erobert – und das ist keine Drohung, sondern ein Kompliment an die Adresse des Gesetzgebers.

III.   Reformperspektiven: nicht ohne die Bürgerinnen und Bürger

Es ist daher richtig, wenn die Landesregierung den Abschluss freiwilliger Vereinbarungen in der Vergangenheit gefördert hat. Die hier erzielten Erfolge sind, soweit sie sich in das überört-liche Gesamtkonzept einfügen, positiv zu bewerten. Aber diese Regel gilt auch umgekehrt: nämlich in Form der Erkenntnis, dass es nicht gelingen kann, Identifikation „von oben“ zu ver-ordnen. Wer den Gemeindereformen zum Erfolg verhelfen will, der muss sich um die Bürgerinnen und Bürger kümmern. Ihr Votum darf nicht außer Acht bleiben.31 Es ist kaum vermittel-bar, wenn Bürgerinnen und Bürger zwar über den Bau eines Bahnhofs entscheiden dürfen, ihr Votum aber übergangen wird, wenn es um den Erhalt ihrer örtlichen Gemeinschaft geht. In-sofern wäre es fatal, nach dem formalen Ablauf der sog. Frei-willigkeitsphase in den Bemühungen um konsensuale Lösungen nachzulassen und den Hebel bürokratisch in Richtung staatli-cher Zwangsmaßnahmen umzulegen.

3.   Örtliche Überschaubarkeit als Lebenselixier kommunaler Selbstverwaltung!

Gewiss: Rheinland-Pfalz ist nicht Nordrhein-Westfalen – und der dortige Kahlschlag der 1970er Jahre steht in Rhein-land-Pfalz auch heute nicht bevor. Aber es ist ein schleichendes Gift! Gebietsreformen sind von Natur aus Einbahnstraßen. Sie gehen immer nur in Richtung größerer Einheiten. Mit jeder Reform verschwindet unwiederbringlich ein Stück gewach-sener Kommunalgeschichte und damit gewachsener Identität. Und deshalb ist es wichtig, immer wieder darauf hinzuweisen: Gemeinden sind keine konventionellen Verwaltungseinheiten. Sie sind, wie das BVerfG ausgeführt hat, „selbstständige Ge-meinwesen, die … ihren Bürgern ein überzeugender Anlass für ihre lokale politische Identifikation sein sollen“.26 Die Über-schaubarkeit des Raumes und die Erkennbarkeit der örtlichen Angelegenheiten als eigene Angelegenheiten sind und bleiben das Lebenselixier gemeindlicher Selbstverwaltung.27 Hierin un-terscheiden sich die Gemeinden maßgeblich von anderen Ver-waltungseinheiten, ja sogar von den Kreisen auf kommunaler Ebene, denen primär überörtliche und staatliche Aufgaben zu-gewiesen sind. Ohne örtliche Gemeinschaft, ohne die Identifi-kation der Bürgerinnen und Bürger mit ihrer Gemeinde, gibt es keine Gemeinde im Sinne des Grundgesetzes und der Landes-verfassung.

Diese Botschaft ist in neuerer Zeit auch bei den Verfassungs-gerichten angekommen: Die dort lange Zeit anzutreffende In-differenz gegenüber einer ungebremsten Flächenausdehnung kommunaler Körperschaften ist mittlerweile einem durch-aus sensiblen Problembewusstsein gewichen. Dies musste zu-letzt der Gesetzgeber des Landes Mecklenburg-Vorpommern schmerzhaft zur Kenntnis nehmen. Sein auf die Landkreise bezogener Reformansatz, der einseitig auf flächenmäßige Ex-pansion setzte, wurde von dem dortigen Landesverfassungsge-richt spektakulär gekippt.28 Mit Blick auf diese Entscheidung fragt man sich natürlich, welche Vorgaben in Rheinland-Pfalz getroffen wurden, um einer ungebremsten Erweiterung der Ver-bandsgemeinden entgegen zu wirken? Die Antwort des Geset-zes ist Schweigen! Ebenso wenig hat die Frage der Pass- und Anschlussfähigkeit der Verbandsgemeinden an die Kreise im Gesetz Berücksichtigung gefunden – und das, obgleich dem Grundsatz der systemkonformen Abstufung von Kreisen und Gemeinden durchaus Verfassungsrang zukommt. Es ist schon bezeichnend, dass Martin Junkernheinrich in seiner detaillierten Stellungnahme – im Ergebnis völlig überzeugend – autonome Parameter entwickelt, um ungebremsten Flächenausdehnungen entgegen zu steuern. Allein: diese Hausaufgaben hätte der Ge-setzgeber wohl selbst erledigen müssen!

Dieser Hausaufgabe kann man sich auch nicht mit der frag-würdigen These entziehen, dass es sich bei den Verbandsge-meinden um Gemeindeverbände und nicht um Gemeinden han-dele.29 Denn in jedem Falle liegt die zentrale Funktion der Ver-bandsgemeinden in der Wahrnehmung örtlicher Aufgaben. Es gehört daher auch für die Verbandsgemeinden zu den zentralen verfassungsrechtlichen Zielvorgaben, örtliche Expertise und örtliches Engagement zu generieren. Verbandsgemeinden, die dieses Ziel aufgrund ihrer flächenmäßigen Ausdehnung nicht

Page 5: Gemeindereform mit Augenmaß - Nomos

Dietlein, Gemeindereform mit Augenmaß | A u f s ät z e

LKRz 8/2013 | 317

32 RhPfLt-Drucks. 16/1081 v. 21.03.2012 – Alternativantrag der fraktionen sPD und Bündnis 90/ Die Grünen.

33 Krit. Wallerath, in: Mecking/Oebbecke (fn.28), s. 189 ff., bes. s. 199, 208.34 Vgl. Junkernheinrich u. a., fusion von Verbandsgemeinden und ver-

bandsfreien Gemeinden in Rheinland-Pfalz, teil B, september 2012, s. 20.

35 DÖV 1969, 546, 547.36 zu diesem Grundsatz der systemgerechtigkeit oder systemtreue etwa

stGH BadWürtt., esVGH 23, 1, 5; NJW 1975, 1205, 1212 f.; Nds. stGH, Nds-stGHe 2, 1, 154; VerfGH RhPf., As 11, 73, 96.

Hinzu kommt die verfassungsrechtliche Brisanz eines solchen Vorgehens: Denn erneut würden durch dieses – nunmehr zeit-lich gestückelte – Vorgehen Entscheidungen auseinander geris-sen, die nur einheitlich rational getroffen werden können. Zu Recht hat bereits Martin Junkernheinrich als Regierungsgut-achter darauf hingewiesen, dass jede örtliche Neugliederungs-maßnahme in ein überörtliches Gesamtkonzept eingepasst sein muss.34 Diese Bewertung steht vollständig in der Tradition ver-waltungswissenschaftlicher Betrachtung. So führte der Bonner Verwaltungsrechtler Jürgen Salzwedel bereits Ende der 1960er Jahre aus: „Lokales Stückwerk zu schaffen, kann vereinzelte Eingemeindungen rechtfertigen, nicht aber solche einer postu-lierten Gesamtreform.“35 Man kann dasselbe auch bildlich for-mulieren: Wer eine Reform „aus einem Guss“ machen will, der muss auch eine einheitliche Gussform herstellen und darf nicht auf mehrere kleine Gussförmchen zugreifen! Die Durchführung einer solchen Gesamtreform war und ist aber das anspruchs-volle Ziel des vorgeschalteten Grundsätze-Gesetzes. Wenn das aber so ist, dann muss auch umgekehrt gelten, dass parzellie-rende, zeitlich gesplittete Einzelmaßnahmen mit der Systematik des Grundsätze-Gesetzes nicht in Einklang stehen. Die verfas-sungsrechtlichen Konsequenzen eines Abweichens von diesem Grundkonzept wären durchaus erheblich. Denn auch wenn die Verfassungsgerichte dem Gesetzgeber weite Reformspielräume zuerkennen, eines haben sie dem Gesetzgeber strikt verwehrt: nämlich die einmal gesetzten Vorgaben einer Reform ohne sachlich zwingenden Grund zu verlassen.36 Es ist insofern ver-fassungsrechtlich wie auch politisch geboten, Gebietsänderun-gen, soweit sie nach eingehender Prüfung wirklich notwendig sind und nicht im Konsens herbeigeführt werden können, erst dann ins Werk zu setzen, wenn das Gesamtwerk konzeptionell abgeschlossen ist. Die damit verbleibende Zeit kann im Übri-gen durchaus sinnvoll genutzt werden; insbesondere um das Gespräch mit den Gemeinden, den Bürgerinnen und Bürgern aufzunehmen, um freiwillige Lösungen großzügig zu unterstüt-zen und so die Voraussetzungen zu schaffen, die für gemeindli-che Reformen das wichtigste sind: nämlich die Zustimmung der Bürgerinnen und Bürger vor Ort!

IV.  Schlussbemerkung

Die Kommunalreform hat viele Facetten: materiellrechtliche und prozessrechtliche. Nicht alle Aspekte sind abschließend geklärt. Zudem steht die Reform – rechtlich gesehen – noch weitgehend an ihrem Anfang. Gerade die noch ausstehende Umsetzungsphase wird allen Beteiligten viel Arbeitskraft und höchsten Einsatz abverlangen. Hier geht es dann um die Bewer-

1. Glaubwürdigkeitsdefizite durch Auflösung der Kontextualität

Und schließlich gilt: Wer den Reformen in Rheinland-Pfalz zum Erfolg verhelfen will, der muss immer auch den Gesamtkon-text von Gebietsreformen berücksichtigen. Wenn sich daher neuerdings ein flexiblerer Umgang etwa mit bisherigen Kreis-grenzen andeutet, dann ist das in der Tendenz gewiss zu be-grüßen. Das eigentliche Grundproblem, nämlich die bisherige, im Gesetz nach wie vor als Regelfall verankerte Bindung der Gemeindereformen an die bisherigen Kreisgrenzen, wird damit allerdings nicht gelöst. Nicht nur den Bürgerinnen und Bürgern ist es sachlich nicht vermittelbar, warum alte Kreisgrenzen einer künftigen Ausgestaltung von Verbandsgemeinden entgegenste-hen sollen, wenn dieselben Kreisgrenzen in einer schon heute angekündigten32 zweiten Reformwelle ohnehin neu gezogen werden.

Auch verfassungsrechtlich bleibt diese verfehlte Weichen-stellung eine der großen Fallstricke der Reform. Denn – um es deutlich zu sagen – es geht hier ja nicht um eine bloße Ab-schichtung verschiedener kommunaler Reformebenen, also eine sog. Segregation. Über die Zulässigkeit derartiger Segregatio-nen mag man so oder so denken.33 Hier geht es um etwas ganz Anderes, nämlich um die aktive Bindung einer auf Jahrzehnte hin anzulegenden Reform an Leitlinien, die bereits zu Beginn der Gemeindereformen ihrerseits für reformbedürftig erachtet werden. Diese offenkundige Widersprüchlichkeit des Reform-ansatzes hängt wie ein Damoklesschwert über dem gesamten Reformprojekt; also auch über den noch folgenden Einzelge-setzen. Denn diese sollen ja die Leitbilder und Leitlinien des Reformgrundsätze-Gesetzes realisieren. Ihr Schicksal ist damit untrennbar verknüpft mit der juristischen Tragfähigkeit eben dieser Leitbilder und Leitlinien. Und diese stehen auf wanken-dem Grund.

Wer die Reform auf rechtliche sicheren Grund stellen will, der sollte die Kraft aufbringen, diese verfehlte Weichenstellung nicht nur durch unverbindliche Gesprächsangebote zu korrigie-ren, sondern durch ein normatives Nachsteuern. Was wir brau-chen ist eine Reform der Reform! Hierbei wäre es nur folge-richtig, den betroffenen Gemeinden die Möglichkeit zu geben, die neuen Optionen kreisgebietsüberschreitender Modelle jetzt nochmals zu diskutieren und neue Vorschläge zu erarbeiten. Freiwillige Lösungen sind und bleiben der Königsweg jeder Ge-bietsreform.

2.   Glaubwürdigkeitsdefizite durch die zeitliche Abschichtung von Zwangsfusionen

Nicht zuletzt würde dieser Weg eine zweite – verfassungsrecht-lich ebenfalls hochbrisante – Baustelle entschärfen, nämlich die einer zeitlichen Staffelung der Gemeindereformen. Schon po-litisch erscheint eine solche Staffelung kontraproduktiv: Denn muss es von den betroffenen Gemeinden nicht doch als eine Art „Sanktionierung“ empfunden werden, wenn einige von ihnen sozusagen bereits im Vorfeld einer noch nicht abgeschlossenen Gesamtplanung fusioniert zu werden?

Page 6: Gemeindereform mit Augenmaß - Nomos

Au fsätz e | thiel, zur „dauerhaften Leistungsfähigkeit“ als gesetzliches Leitkriterium der Gebietsreform in Rheinland-Pfalz

318 | LKRz 8/2013

37 so explizit thür. VerfGH, NVwz-RR 1997, 639, 643.38 BVerfGe 107, 1, 24; 59, 216, 227 f.; 50, 159, 202. ebenso etwa LVerfG

sachs.-Anh., sächsVBl. 1994, 238, 239.39 Hierzu M. Dietlein, in: Präsident des Landtages NRW, Kontinuität und

Wandel, 40 Jahre Landesverfassung NRW, 1990, s. 131, der die Anhö-rung als „wesentliche schutzvorkehrung vor unerwünschten Neuglie-derungsvorhaben“ qualifiziert. eingehend auch Wallerath, fs. f. schnapp, 2008, s. 695, 706 f.; umfassend zu den Anforderungen an die Anhörung Hoppe/Rengeling (fn. 19), s. 147 ff.

räumt,39 aber auch die Befugnis, ungerechtfertigte Zugriffe auf den eigenen Fortbestand notfalls gerichtlich abzuwehren. Es ist diesem Lande zu wünschen, dass es durch alle streitige Diskus-sion hindurch zu tragfähigen Lösungen findet. Und dass es sich dabei jenes Augenmaß bewahrt, das die Politik dieses Landes bislang ausgezeichnet hat.

tung der Situation vor Ort – die Frage etwa, welche landschaft-lichen, historischen und sonstigen Besonderheiten bei einer Neukonfigurierung der Gemeinden zu beachten sind, oder die Frage, wie die Leistungskraft vor Ort realistisch einzuschätzen ist. Die Last der Normauslegung wird zunächst und vor allem den Gesetzgeber bzw. das vorbereitende Ressort treffen – pa-rallel aber auch die betroffenen Gemeinden selbst. Sie sollten diese Umsetzungsphase sehr wachsam begleiten. Denn gerade die legislativen Umsetzungsakte unterliegen im Falle möglicher rechtlicher Auseinandersetzungen einer intensiven gerichtlichen Überprüfung.37 Dabei sind die Gemeinden – wie die Verfas-sungsgerichte zu Recht betont haben – nicht „Objekt“ staatli-cher Reform, sondern immer auch Partner im Prozess der Ge-meinwohlkonkretisierung.38 Eben deshalb haben die Gerichte den Gemeinden starke prozedurale Mitwirkungsrechte einge-

* Der Verf. ist Professor für Öffentliches Recht an der fachhochschule für öffentliche Verwaltung Nordrhein-Westfalen, Abteilung Köln, und Pri-vatdozent an der Juristischen fakultät der Heinrich-Heine-universität Düsseldorf. – Der Beitrag beruht auf einem Vortrag, den der Verf. am 25.02.2013 im Rahmen einer außerordentlichen Mitgliederversamm-lung des Gemeinde- und städtebundes Rheinland-Pfalz in Boppard gehalten hat. Der Vortragsstil wurde beibehalten, der text um fußno-ten ergänzt.

1 Vgl. dazu auch thür. VerfGH, NVwz-RR 1997, 639, 642: „Mangels ausrei-chender Leistungskraft weitgehend funktionsentleerte Gemeinden entsprechen nicht dem verfassungsrechtlichen Leitbild der kommuna-len selbstverwaltungsgarantie.“

2 erlassen als Art. 1 erstes LG zur Kommunal- und Verwaltungsreform v. 28.09.2010 (RhPfGVBl. s. 272).

3 thür. VerfGH, NVwz-RR 1997, 639, 642; s. ferner Katz/Ritgen, DVBl. 2008, 1525, 1528.

Form follows function! – Zur „dauerhaften Leistungsfähigkeit“ als gesetzliches Leitkriterium der Gebietsreform in Rheinland-PfalzProf. Dr. Dr. Markus Thiel*

Inmitten der kontroversen Diskussionen um die nunmehr an-stehende Umsetzung der Pläne der rheinland-pfälzischen Lan-desregierung zur Gebietsreform auf Ebene der Verbandsge-meinden und verbandsfreien Gemeinden erscheint es erforder-lich, einmal innezuhalten und sich das zentrale Ziel der Reform vor Augen zu führen: Angestrebt sind der Erhalt bzw. die Schaf-fung einer dauerhaften Leistungsfähigkeit und Zukunftsfähig-keit der rheinland-pfälzischen Verbands- und Ortsgemeinden.1 Dies stellt ein ohne jeden Zweifel uneingeschränkt konsensfähi-ges Ziel dar. Umso wichtiger ist es, auch auf dem steinigen Weg hin zu diesem Ziel auf Konsens zu setzen statt auf Konfronta-tion – die zu erwartenden, teilweise bereits als Entwürfe vor-liegenden gesetzlichen Einzelmaßnahmen zur Fusion von Kom-munen werden diesem Bedürfnis nach konsensualen Lösungen zum größten Teil nicht gerecht. Der Beitrag beleuchtet die ge-setzlichen Grundlagen der Reform, vor allem ihr Leitkriterium der „dauerhaften Leistungsfähigkeit“.

I.  Leistungsfähigkeit als Leitkriterium der Reform

Das rheinland-pfälzische Landesgesetz über die Grundsätze der Kommunal- und Verwaltungsreform (KomVwRGrG),2 dessen Umsetzung im Wege von Fusionen auf Verbandsgemeindeebe-ne nunmehr nach Abschluss der sog. „Freiwilligkeitsphase“ als nächster Schritt unmittelbar bevorsteht, erklärt es zum Ziel, „die Leistungsfähigkeit, die Wettbewerbsfähigkeit und die Verwal-tungskraft der verbandsfreien Gemeinden und der Verbands-gemeinden im Interesse einer bestmöglichen Daseinsvorsorge

für die Bürgerinnen und Bürger“ durch Gebietsänderungen zu verbessern (§ 1 Abs. 1 Satz 2 KomVwRGrG). Leitkriterium für die Gebietsreform ist damit auch nach dem Willen des Landes-gesetzgebers die Leistungsfähigkeit der Kommunen. Diese soll landesweit und dauerhaft sichergestellt werden. „Leistungsfä-higkeit“ ist dabei als Oberbegriff für eine ganze Reihe weiterer Kriterien zu verstehen, die mit der Gebietsreform verknüpft sind. Der Begriff weist vielfältige Bedeutungsebenen auf. Je nach Deu-tungsvariante werden zur Leistungsfähigkeit beispielsweise Ver-waltungskraft, Wettbewerbsfähigkeit, Planungs- und Entschei-dungsfähigkeit der Kommunen gerechnet.3 All das sind positiv besetzte Begriffe, die – tritt man ihnen näher – freilich Gefahr laufen, zu Leerformeln zu degenerieren und reformatorischen Beliebigkeiten Tür und Tor zu öffnen. Jedenfalls der Begriff der „Leistungsfähigkeit“ muss daher mit Leben gefüllt werden.