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Gerontologie und Sozialpolitik

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Gerontologie und Sozialpolitik

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Gerontologie und Sozialpolitik

Clemens Tesch-Römer (Hrsg.)

Band 214Schriftenreihe des Bundesministeriumsfür Familie, Senioren, Frauen und Jugend

Verlag W. Kohlhammer

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In der Schriftenreihe des Bundesministeriums für Familie, Senioren,Frauen und Jugend werden Forschungsergebnisse, Untersuchungen,Umfragen usw. als Diskussionsgrundlage veröffentlicht. Die Verant-wortung für den Inhalt obliegt der jeweiligen Autorin bzw. dem jeweili-gen Autor.

Alle Rechte vorbehalten. Auch fotomechanische Vervielfältigung desWerkes (Fotokopie/Mikrokopie) oder von Teilen daraus bedarf der vor-herigen Zustimmung des Bundesministeriums für Familie, Senioren,Frauen und Jugend.

Herausgeber: Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend10118 Berlin

Titelgestaltung: 4 D Design Agentur, 51427 Bergisch-Gladbach

Gesamtherstellung: DCM � Druckcenter Meckenheim, 53340 Meckenheim

Verlag: W. Kohlhammer GmbH2002

Verlagsort: StuttgartPrinted in Germany

Gedruckt auf chlorfrei holzfrei weiß Offset

Die Deutsche Bibliothek � CIP-Einheitsaufnahme

Tesch-Römer, Clemens, (Herausgeber)

Gerontologie und Sozialpolitik / Clemens Tesch-Römer. [Hrsg.:Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend].� Stuttgart ; Berlin ; Köln : Kohlhammer, 2002

(Schriftenreihe des Bundesministeriums für Familie, Senioren,Frauen und Jugend; Bd. 214)ISBN 3-17-017433-9

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Zum 25-jährigen Bestehen des Deutschen Zentrumsfür Altersfragen

Sehr geehrte Damen und Herren,

ich bin gerne heute morgen zu Ihnen gekommen, um gemeinsam mitIhnen das 25-jährige Bestehen des Deutschen Zentrums für Altersfra-gen e.V. zu feiern. Als zuständige Bundesseniorenministerin freue ichmich, dass die Arbeit Ihrer Einrichtung ganz offensichtlich bedeutendeFrüchte trägt und zu diesem Anlass viele und renommierte Persönlich-keiten zusammenführt. Und als Berlinerin freue ich mich nicht wenigerdarüber, dass der Glanz dieses Institutes auch auf die neue Bundes-hauptstadt abfällt.

Lassen Sie mich Ihnen, Herr Dr. Tesch-Römer, den Mitgliedern desTrägervereins sowie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Deut-schen Zentrums für Altersfragen im Namen der Bundesregierung undauch ganz persönlich sehr herzlich zu diesem Silberjubiläum gratulie-ren.

Seit nunmehr 25 Jahren widmet sich das DZA, wie es in Fachkreisenabgekürzt wird, seinem satzungsgemäßen Zweck �Erkenntnisse überdie Lebenslage alternder und alter Menschen zu erweitern, zu sam-meln, auszuwerten, aufzubereiten und zu verarbeiten�. Schon in diesemkurzen Satz kommen zwei der für die Arbeit des Institutes zentralenZielsetzungen zum Ausdruck: Die differenzierte und anwendungsorien-tierte Untersuchung der Lebenslagen und der Lebenssituation älterwerdender Menschen im sozialpolitischen Kontext einerseits und ande-rerseits die Aufbereitung und Dokumentation der stets anwachsendenInformation und Literatur zum Thema Alter.

Welch spannendes und reichhaltiges Forschungsfeld sich hinter diesenbeiden Arbeitsschwerpunkten verbirgt, wird besonders einleuchtend,wenn man noch einmal einen kurzen Blick zurück in die Geschichte desDZA wirft und nach den Menschen schaut, die hier tätig waren und sind.Denn als das Zentrum am 1. Juli 1974 seine Arbeit aufnahm, gab esbereits eine international und national organisierte Gerontologie mitentsprechen regem Informationsaustausch. In der BundesrepublikDeutschland dominierten die drei Zentren in Nürnberg, Bonn und Kölndas gerontologische Geschehen.

Besondere Strahlkraft hatte dabei die Universität Köln, wo � langfristigverbunden mit dem Namen Otto Blume � die Sozialpolitik und die Le-

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benslagenforschung von alten Menschen zu speziellen Erkenntnisinte-resse erhoben worden war. An diese Fachrichtung knüpfte alsbald auchdas DZA mit einer Vielzahl von qualifizierten Projekten erfolgreich an.Auf immer verbunden sind die beiden ersten Jahrzehnte des DZA mitdem Namen Margret Dieck. Sie hatte sich, geprägt durch die KölnerSchule, schon sehr früh wissenschaftlich mit den Lebenslagen sozialschwacher Personengruppen befasst. Nach ihrem Wechsel 1974 andas DZA und unter ihrer Leitung drei Jahre später avancierte das Zen-trum zu einem der führenden sozialpolitikwissenschaftlich ausgerichte-ten Forschungs- und Dokumentationszentren in Deutschland. Am tref-fendsten haben wohl Gerhard Naegele und Rudolf-Maria Schütz die indiesem Hause stattgefundene Symbiose von Mensch und Lebenswerkaus Anlass des frühen Todes von Margret Dieck 1996 mit den Wortenformuliert: �Die Bezeichnung �DZA� und der Name �Margret Dieck� warenfür viele ein Synonym.� Kaum eine als relevant erkannte altenpolitischeFragestellung wurde in diesem Vierteljahrhundert vom DZA nicht auf-gegriffen und bearbeitet. Viele der erzielten Forschungsergebnisse be-sitzen unvermindert hohe Relevanz oder gewinnen gerade in diesenWochen und Monaten erneut große Aktualität.

Ich will nur auf drei Themen hinweisen, die mir besonders aufgefallensind. Zum einen sind das Schwerpunkte der Arbeit von Margret Dieck,deren sich auch die Bundesregierung in besonderer Weise annimmt.Ich meine beispielsweise die Aufrechterhaltung der Zukunftsfähigkeitunseres Systems der sozialen Sicherung für ältere Menschen und dieÜberwindung und Behebung der Ursachen von Problemlagen und sozi-aler Not im Alter. An prominenter Stelle rangiert dabei stets auch dieFrage des sozialen Alternsrisikos für Frauen.

Die Bundesregierung ist im September vergangenen Jahres mit demZiel angetreten, ein bezahlbares Rentensystem zu schaffen, das denMenschen im Alter einen angemessenen Lebensstandard garantiert.Die Verwirklichung dieses Zieles ist ein wesentlicher Bestandteil desvon der Bundesregierung beschlossenen �Zukunftsprogramms 2000�.

Das hierin enthaltene Altersvorsorgepaket soll die Alterssicherung aufdie demographische Entwicklung einstellen und zukunftsfest machen.Auch ist es unser erklärtes Ziel, die Rentenversicherung als weiterenReformschritt armutsfest zu gestalten.

Die angesprochene eigenständige Alterssicherung von Frauen ist mirpersönlich dabei ein ganz wesentliches Ziel. Um dies alles zu erreichen,ist die solidarische Anstrengung der ganzen Gesellschaft erforderlich.

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Am deutlichsten werden sich die Maßnahmen vor allem beim Beitrags-satz zur gesetzlichen Rentenversicherung zeigen.

Durch die Einnahmen aus den weiteren Stufen der Ökosteuerreformwird der Rentenbeitrag auf unter neunzehn Prozent gesenkt und vor-aussichtlich bis zum Jahr 2014 unter dieser Marke gehalten werdenkönnen. Ohne diese Reform � und dies allein verdeutlicht schon derenNotwendigkeit � würde der Beitragssatz bis 2020 auf sechsundzwanzigProzent steigen. Erforderlich ist aber auch ein solidarischer Beitrag derRentner selber. Daher kann die Erhöhung der Renten in den Jahren2000 und 2001 nur im Umfang des Anstiegs der Lebenshaltungskostenerfolgen. Ab dem Jahr 2002 werden dann die Renten wieder nach derEntwicklung der Nettolöhne angepasst. Wie erforderlich dies ist, belegteinerseits das sich verschärfende Verhältnis zwischen über 65-jährigenRentnern und beitragszahlenden Beschäftigten. Lag dieser Alten-Be-schäftigungs-Quotient 1995 noch bei 40,8 � es kamen also auf einenRentner noch 2,4 Beitragszahler � so werden 2030 nur noch 1,4 Bei-tragszahler auf einen Rentner kommen. Wie vertretbar diese Maßnahmezugleich ist, belegen aktuelle Daten über die Höhe der Alterseinkom-men aus der solidarischen Rentenversicherung. Denn der durchschnitt-liche Rentenzahlbetrag stieg in den alten Bundesländern von 1975 bis1999 bei den Frauen wie bei den Männern um annähernd einhundertProzent: Bei Frauen von 423 DM auf 833 DM und bei Männern von 954DM auf 1.873 DM. Demgegenüber hat erfreulicherweise der Anteil älte-rer Menschen, die auf Sozialhilfe zur Bestreitung ihres Lebensunterhaltsangewiesen sind, deutlich abgenommen.

Eine der Fragen, die auch im DZA lange Jahre engagiert diskutiert wur-de, spielt somit heute erfreulicherweise nur noch eine untergeordneteRolle. Ich meine die Tatsache, dass die soziale Sicherung älterer Men-schen heute dem Versorgungsstandard anderer Bevölkerungsgruppenvoll und ganz entspricht, ja insbesondere gegenüber der heute zu pro-blematisierenden Gruppe der Familien mit Kindern sogar relativ günsti-ger dasteht.

Lassen Sie mich ein zweites Thema von gemeinsamem Interesse nennen.

Zu den zentralen Arbeitsgebieten des DZA zählte stets auch die Beo-bachtung, Analyse und Unterstützung zur Weiterentwicklung der Sys-teme der Altenhilfe in der Bundesrepublik Deutschland mit all ihren ein-zelnen Diensten.

So war das DZA vom Anbeginn mit dabei, als es darum ging, das eben-falls 1974 ins Leben gerufene Heimgesetz in die Praxis umzusetzen.

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Sie haben zur Information der Praxis Grundlagen für die Altenhilfepla-nung erstellt und sich immer wieder auch mit der Aus-, Fort- und Wei-terbildung des Pflegepersonals beschäftigt. Sie wissen daher am aller-besten um die übergroßen Schwierigkeiten, die durch die fortwährendeLandeszuständigkeit für die Altenpflegeausbildung sowohl für die inte-ressierten Berufsanwärterinnen und -anwärter als auch für die betroffe-nen Einrichtungen bestehen.

Um so mehr freue ich mich natürlich, dass es uns nun gelingen kann,die seit vielen Jahren von allen Fachvertretern und auch von fachkundi-gen Politikern geforderte bundeseinheitliche Altenpflegeausbildungdurchzusetzen. Denn Pflege ist ein Dienst am Menschen und fordertEngagement und die Kompetenz von Menschen: Von Familienange-hörigen, von ehrenamtlich Tätigen und ganz besonders in zunehmen-dem Maße von professionellen Pflegekräften. Darum tragen vor allemAltenpflegerinnen und Altenpfleger dazu bei, dass eine qualifizierte undmenschenwürdige Betreuung und Versorgung geleistet wird. Dem müs-sen wir auch politisch Rechnung tragen, und zwar um so mehr, da dieZahl der beschäftigten Altenpflegekräfte wächst, allein von 1993 bis1998 um ca. 49% auf 268.000. Der Altenpflegeberuf braucht ein klaresProfil und ein attraktives Berufsbild. Hohe Arbeitsbelastung, geringe Be-rufsverweildauer, schlechte Aufstiegsmöglichkeiten dürfen nicht längerdie prägenden Stichworte sein.

Die Bundesregierung hat daher einen Gesetzentwurf über die Berufe inder Altenpflege vorgelegt, der am 1. Oktober 1999 erstmals im Deut-schen Bundestag diskutiert wurde. Unser Ziel ist es, eine dreijährigeRegelausbildung mit theoretischem und fachpraktischem Unterricht so-wie praktischer Ausbildung zur Altenpflegerin bzw. zum Altenpfleger zuerreichen. Weiterhin werden wir die Berufsbezeichnung schützen undendlich eine Ausbildungsvergütung verbindlich einführen. Dies ist nochimmer nicht in allen Bundesländern garantiert.

Um aber sozial motivierte junge Menschen für die Ausbildung in derAltenpflege zu gewinnen, muss dieser Beruf konkurrenzfähig sein; hierist die Ausbildungsvergütung für die Jugendlichen verständlicherweiseeine wichtige Entscheidungsgrundlage. So wie bei der längst überfälli-gen bundeseinheitlichen Regelung der Altenpflegeausbildung wollen wirauch mit der Novellierung des Heimgesetzes den von uns im vergange-nen Jahr vorgefundenen Reformstau beseitigen. Hier geht es mit vorallem darum, die Rechtsstellung und den Schutz der Bewohner von Al-ten- und Pflegeheimen zu verbessern. Wir brauchen eine verbesserteZusammenarbeit von Heimaufsicht und Pflegekassen, eine wirkungs-vollere Heimaufsicht, die wir stärker in die Pflicht nehmen müssen, und

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bessere Mitwirkungsmöglichkeiten für die Heimbewohnerinnen und-bewohner selbst. So soll sich künftig die Mitwirkung des Heimbeiratsauch auf die Qualitätssicherung erstrecken. Der Heimbeirat soll auch fürAngehörige und sonstige Vertrauenspersonen der Heimbewohner ge-öffnet werden, weil es sonst in vielen Fällen Schwierigkeiten gibt, Heim-beiräte zu bestellen.

Ich will einen letzten Punkt nennen, bei dem sich ein früher Arbeits-schwerpunkt des DZA mit der aktuellen Seniorenpolitik der Bundesre-gierung verbindet. Ich denke hierbei an die zu Beginn der 1980er Jahrein Ihren Institut geleistete Unterstützung zur Vorbereitung der Weltver-sammlung der Vereinten Nationen über die Fragen des Alters und desAlterns. Bei dieser ersten Weltversammlung 1982 in Wien hat die Völ-kergemeinschaft als Bezugs- und Handlungsrahmen den Weltaltenplanverabschiedet.

Sie im DZA haben seinerzeit eine der wohl umfassendsten Gesamt-schauen über die Lebenssituation alter Menschen in der Bundesrepu-blik sowie der relevanten Angebote und Dienste erstellt. Mittlerweilesind annähernd zwei Jahrzehnte seit der Verabschiedung des Weltal-tenplans vergangen. In manchen Passagen hat sich das Dokument alsfortlebig und überraschend weitsichtig erwiesen. Die allermeisten Pas-sagen sind jedoch mittlerweile überholt und entsprechen nicht mehrdem aktuellen Stand der Diskussion.

Ich habe daher anlässlich der Sonderdebatte der Vereinten Nationenzum Abschluss des Internationalen Jahres der Senioren Anfang Okto-ber in New York vorgeschlagen, einen neuen und umfassenden Ver-such zu unternehmen, den alten Wiener Aktionsplan zu Altersfragenden veränderten Bedingungen anzupassen und auf zukünftige Heraus-forderungen einzustellen.

Ich würde mir wünschen, dass das DZA auch im Rahmen dieser Über-arbeitung wieder eine aktive Rolle übernimmt und die Bundesregierungwissenschaftlich berät und unterstützt.

Unser Ziel ist es, im Jahre 2002 anlässlich des 20-jährigen Bestehensdes Wieder Aktionsplans die Arbeit der vergangenen zwei Jahrzehntezu würdigen und einen neuen, zweiten Weltaltenplan zu verabschieden.

Sehr geehrte Damen und Herren,

ein Vierteljahrhundert Arbeit im Deutschen Zentrum für Altersfragene.V. bietet einen hervorragenden Anlass für den Blick zurück. Noch

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wichtiger aber ist es, mit sicherem Gespür die zukünftigen Entwicklun-gen zu erkennen.

Ich kann mir in diesem Expertenkreis jeden Hinweis auf Einzelheitendes demographischen Wandels in den kommenden Jahrzehnten spa-ren. Wir alle wissen um die Zusammenhänge und werden sicher auchim folgenden Vortrag weiter interessante Informationen erhalten.

Worum es uns gehen muss, ist aus dem Wissen von heute die rich-tungsweisenden Fragestellungen für das Morgen abzuleiten. Dabei ste-hen auch Forschungsinstitute im selbstverständlichen Wettbewerb umIdeen, schlüssige und fundierte Antworten auf aktuelle Herausforderun-gen und nicht zuletzt um qualifiziertes Personal und finanzielle Ressour-cen. Dies gilt für die Alternsforschung wie für alle anderen wissen-schaftlichen Disziplinen.

Wenn das DZA in diesem Wettbewerb heute gut dasteht, ist dies in denletzten Jahren vor allem das Verdienst der beiden Leiter, die auf FrauDieck folgten. Herr Prof. Schulz-Nieswandt übernahm im November1996 die kommissarische Leitung des DZA und hielt sie inne bis zu sei-nem Ruf an die Universität Köln. Seit dem 1. September 1998 steht nunHerr Dr. Tesch-Römer in der Verantwortung.

Bei der Wahrnehmung dieser Aufgaben wünsche ich Ihnen weiterhinviel Glück und Geschick.

Gerne ermutige ich Sie darin, auch neue Wege zu gehen, neueSchwerpunkte vor dem Hintergrund der demographischen und gesell-schaftlichen Entwicklung auszubauen. So bleibt selbstverständlich diedifferenzierte Analyse der sozialen und wirtschaftlichen Lebenslagenälterer Menschen ein wichtiges Aufgabenfeld.

Doch ist es nicht so, dass sich auch die Lebensstile zunehmend diffe-renzieren? Die Alten der Zukunft werden im Durchschnitt ein noch weithöheres Bildungsniveau aufweisen und � geprägt durch ein aktives Le-ben in der Informations- und Dienstleistungsgesellschaft � mit sehr vielgrößerem Selbstbewusstsein und Gestaltungswillen Erwartungen anden Lebensabend haben.

Viele weitere Fragen richten sich auf das Verhältnis der Generationen.Aus einer Reihe von aktuellen Studien wissen wir heute, wie unverän-dert eng die Hilfs- und Netzwerkverbindungen zwischen Jung und Alttrotz der hohen Mobilitätsanforderungen des Arbeitslebens sind. Doch

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kann man darauf setzen, dass dies in den nächsten Jahrzehnten sobleibt?

Welche Hilfspotentiale können die Menschen innerhalb der Familien oderder Nachbarschaften auf Dauer selbst tragen und wie viel Unterstüt-zung brauchen sie in Zukunft dabei? Antworten hierauf zu erhalten, istauch für die Seniorenpolitik in der Bundesregierung von großer Bedeu-tung.

Ich halte es daher für besonders erwähnenswert, dass sich das DZAjüngst erfolgreich um die Durchführung eines Projektes über intergene-rative familiäre Solidarität und die Rolle der unterstützenden Hilfssyste-me im Europäischen Vergleich bei der europäischen Kommission be-worben und gegenüber mehr als 200 Mitkonkurrenten durchgesetzt hat.

Hierzu gratuliere ich Ihnen sehr herzlich und bin gespannt auf die Er-gebnisse insbesondere dieser Arbeit.

Sie fügt sich ein in ein modernes Profil von Arbeitsschwerpunkten, vondenen ich nur noch zusätzlich erwähnen will

• die Geschäftsführung der Altenberichtskommission der Bundesregie-rung, die seit 1995 bei Ihnen angesiedelt ist,

• die Unterhaltung der größten Spezialbibliothek zur sozialen Geron-tologie im deutschsprachigen Raum mit über 18.000 Büchern undetwa 130 Fachzeitschriften,

• den Aufbau und die Pflege zweier hochmoderner Informationssys-teme, wie die Datenbank GEROLIT zur gerontologischen Literaturund GEROSTAT als elektronisches Informationssystem für die ge-rontologische Sozialforschung und Sozialberichterstattung.

Dies alles sind Daueraufgaben, deren Ergebnisse gerade vor dem Hin-tergrund der stillen demographischen Revolution, vor der wir stehen,mehr denn je gebraucht werden und somit auch dem DZA in der Land-schaft der Altersforschungsinstitute einen herausragenden Platz si-chern.

Für Ihre weitere Arbeit wünsche ich Ihnen Glück und Erfolg.

Dr. Christine BergmannBundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort ............................................................................................. 5

Gerontologie und Sozialpolitik ...................................................... 21Clemens Tesch-Römer

1 Das Konzept der Lebenslage in der Gerontologie ............ 22

1.1 Sozialpolitikwissenschaftliche Verwendung des Konzepts�Lebenslage� ..................................................................... 23

1.2 Soziale Ungleichheit in Lebenslagen ................................ 24

1.3 Personale Kompetenzen und Lebenslagen ...................... 28

1.4 Ziele sozialpolitischen Handelns ....................................... 31

1.5 Reformulierung des Lebenslage-Konzepts ....................... 32

2 Profil des Deutschen Zentrums für Altersfragen ............... 34

2.1 Sozialpolitisch relevante Forschung.................................. 34

2.2 Information und Dokumentation ........................................ 35

2.3 Beratung............................................................................ 37

3 Ausblick ............................................................................. 38

Der demographische Strukturwandel in Deutschland � einigeAnmerkungen dargestellt mit Daten des Statistischen Infor-mationssystems GeroStat .............................................................. 43Elke Hoffmann

1 Zum demographischen Strukturwandel............................. 43

2 Die demographische Situation. Ausgewählte Fakten zuden Determinanten demographischer Alterung inDeutschland ...................................................................... 47

2.1 Fertilität.............................................................................. 47

2.2 Mortalität............................................................................ 50

2.3 Migration............................................................................ 51

3 Demographische Maße zur Abbildung von Alterung(Aging population) ............................................................. 52

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3.1 Absolute Besetzungszahlen und relative Anteilswerte...... 53

3.2 Statistische Verteilungsmaße............................................ 54

3.3 Indexmaße ........................................................................ 54

Beschäftigungssituation älterer Arbeitnehmer in der Dienst-leistungsgesellschaft ...................................................................... 61Christoph Behrend

Vorbemerkung.............................................................................. 61

1 Ein kurzer Abriss der Thematik: Ältere Arbeitnehmer undBeschäftigung in den letzten zwanzig Jahren .................. 62

1.1 Die Entwicklung in den achtziger Jahren .......................... 62

1.2 Die Entwicklung in den neunziger Jahren ......................... 64

2 Erwerbswirtschaftlicher Wandel und der Trend zurDienstleistungsgesellschaft ............................................... 67

2.1 Globalisierung ................................................................... 68

2.2 Dienstleistungsproduktion ................................................. 68

2.3 Gesellschaftlicher Wertewandel ........................................ 70

3 Auswirkungen des Beschäftigungswandels auf dieAlterssicherung.................................................................. 72

4 Beschäftigungsperspektiven von älteren Arbeitnehmernin der Zukunft .................................................................... 73

Wandel der Arbeitswelt � Beschäftigungschancen für Ältere .... 81Gerhard Naegele

1 Altern der Gesellschaft � Verjüngung der Arbeitswelt....... 81

2 Demografischer Wandel als gesamtgesellschaftlicheHerausforderung ............................................................... 82

3 Frühverrentung nicht nur ein Kostenproblem.................... 83

4 Beendigung der Frühverrentungspraxis als längerfristigeDoppelstrategie ................................................................. 84

5 Heraufsetzung der Altersgrenzen ohne konkreten Arbeits-marktbezug........................................................................ 84

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6 Rechtzeitige und umfassende Investitionen in dasHumanvermögen............................................................... 85

7 Beschäftigungsstrategien in einer alternden Arbeits-landschaft .......................................................................... 86

Selbständiges Wohnen im Alter und die Erhaltung geistigerKompetenz ....................................................................................... 91Doris Sowarka

1 Stellenwert der geistigen Kompetenz für dasselbständige Wohnen im Alter........................................... 92

2 Anforderungen des selbständigen Wohnens an diegeistige Kompetenz........................................................... 93

3 Kenntnisse über Bedingungen der Umwelt und dieErhaltung geistiger Kompetenz ......................................... 95

4 Hinweise aus grundlagenwissenschaftlichen Studienüber den Stellenwert des Kontexts für die Erhaltung derkognitiven Kompetenz ....................................................... 97

5 Zusammenhänge zwischen Kennzeichen des selbständigenWohnens und der Erhaltung der geistigen Kompetenz..... 100

6 Welche Schlussfolgerungen kann man aus denbisherigen Ausführungen ziehen?..................................... 103

Wohnkonzepte und Erhaltung von geistiger Kompetenz............ 109Klaus Großjohann, Holger Stolarz, Britta Maciejewski undChristine Sowinski

1 �Passung� von Wohnumfeld und Kompetenz.................... 109

2 Anpassung bestehender Wohnungen ............................... 111

2.1 Anpassungsmaßnahmen .................................................. 111

2.2 Wohnberatung................................................................... 111

2.3 Netz der Wohnungsanpassung ......................................... 112

2.4 Einbindung der Wohnungsanpassung in ein Konzept derwohnbezogenen Altenhilfe ................................................ 113

2.5 Umsetzung des Konzeptes ............................................... 113

2.6 Wohnungsanpassung und geistige Kompetenz ................ 114

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3 Selbstorganisiertes gemeinschaftliches Wohnen.............. 114

3.1 Unterscheidungsmerkmale zum Betreuten Wohnen......... 115

3.2 Beitrag des gemeinschaftlichen Wohnens zur Erhaltungkognitiver Kompetenz........................................................ 116

4 Kleine Wohngruppen bzw. Hausgemeinschaften fürPflegebedürftige ................................................................ 118

5 Neue Konzepte im Pflegeheim � Hausgemeinschaftenfür Pflegebedürftige ........................................................... 119

6 Kriterien der Hausgemeinschaft ........................................ 120

6.1 Selbständigkeit .................................................................. 120

6.2 Privatheit ........................................................................... 120

6.3 Vertrautheit........................................................................ 121

6.4 Geborgenheit..................................................................... 124

6.5 Eigenverantwortlichkeit ..................................................... 125

7 Architektur ......................................................................... 126

8 Bezugspersonen ............................................................... 127

8.1 Die Hausfrau/Der Hausmann ............................................ 127

8.2 Angehörige ........................................................................ 129

9 Typische Planungsmerkmale ............................................ 129

Die neue Pflegelandschaft: Erste Konturen undSteuerungsprobleme ...................................................................... 137Roland Schmidt

Vorbemerkung.............................................................................. 137

1 Kundenorientierung und Pflegevertragsrecht als Gestal-tungsfelder......................................................................... 138

1.1 Mittlerfunktion staatlicher Instanzen? ................................ 140

1.2 Neuer Korporatismus ........................................................ 141

1.3 Öffentliche Steuerung oder Nachfrageorientierung?......... 144

1.4 Die Internationalisierung der Pflege .................................. 145

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2 Impulse zur Rationalisierung: Koproduktion, kooperativeQualitätssicherung und Deregulierung .............................. 146

2.1 Pflege als �geteilte Verantwortung�: Das Beispiel neuerFor-men der Versorgung von Demenzkranken....................... 149

2.2 Kooperative Qualitätssicherung zur Überwindung derSchnittstellenprobleme zwischen Gesundheits-, Pflege-und Sozialwesen ............................................................... 152

2.3 Auflösung von Steuerungsdifferenzen und Deregulierung 155

3 Impulse des Gesetzgebers zur Entwicklung des Pflege-vertragsrechts und der Demenzversorgung ...................... 157

4 Fazit................................................................................... 159

Wettbewerb in der Altenpflege? .................................................... 163Frank Schulz-Nieswandt

1 Wettbewerb und Markt ...................................................... 164

2 Versorgungssicherstellung ................................................ 166

3 Rechtsphilosophie und Sozialpolitik .................................. 169

Makro- und Mikropolitik des Alters................................................ 175Peter Zeman

1 Altenpolitik und gesellschaftlicher Wandel ........................ 175

2 Ausweitung und Differenzierung des Politikfelds �Alter�.... 180

3 Neuere altenpolitische Konzepte....................................... 182

4 Fokuswechsel: Von der Makro- zur Mikropolitik desAlters ................................................................................. 183

5 Felder einer Mikropolitik des Alters ................................... 184

6 Mikropolitik des Alters als Strukturierungsleistung vor Ort 188

7 Perspektiven...................................................................... 193

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Pflegekulturelle Orientierungen ..................................................... 197Thomas Klie und Baldo Blinkert

1 Pflegekulturelle Orientierungen ......................................... 199

2 Soziale Milieus .................................................................. 201

3 Pflegekulturelle Orientierungen und soziale Milieus......... 205

4 Die Produktion von pflegekulturellen Orientierungendurch die Sozialstruktur..................................................... 206

5 Wie haben sich die für pflegekulturelle Orientierungenrelevanten sozialen Milieus verändert? ............................. 211

6 Schlussfolgerungen und Perspektiven .............................. 213

Determinanten und Dynamiken der Verwendung sozial-gerontologischen Wissens............................................................... 219Hans Joachim von Kondratowitz

1 Zur gegenwärtigen Dynamik in der Entwicklung derGerontologie...................................................................... 219

2 Bedeutungsgewinn einer reflexiven �Praxisforschung�? ... 221

3 Der Herstellungsprozess der �Praxisforschung�................ 224

4 Die Anregungskraft der Verwendungsforschung............... 226

5 �Praxisforschung� im Kreuzungspunkt von �Disziplinarität�und �Professionalität� ........................................................ 228

6 Verschränkungen der Diskurse in der Professionali-sierungsdebatte................................................................. 230

Zum Verhältnis von Forschung und Praxis in der SozialenGerontologie: Allgemeine Überlegungen und eine konkreteReaktion auf den Beitrag von v. Kondratowitz ............................. 235Hans-Werner Wahl

1 Ausgangs- und Bezugspunkte des Beitrags ..................... 235

2 Zwischen Praxis und Theorie � einige Beobachtungender aktuellen Sozialgerontologie ....................................... 237

2.1 Vom Anwendungs- und Praxisdruck der heutigenSozialen Gerontologie ....................................................... 237

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2.2 Theorien in der heutigen Sozialen Gerontologie: Theorie-narmut oder Theorien-�Disuse�? ....................................... 239

3 Die Arbeit �Determinanten und Dynamiken der Verwen-dung sozialgerontologischen Wissens� (v. Kondratowitz) ....... 243

3.1 Versuch, diese thesenartig auf den Punkt zu bringen....... 243

3.2 Kommentare und Einschätzungen .................................... 245

4 Fazit................................................................................... 247

Nationale Altenberichterstattung als Instrument derPolitikberatung ................................................................................ 251Holger Adolph

1 Einleitung........................................................................... 251

2 Die bisherigen Altenberichte der Bundesregierung........... 253

3 Altenberichte im System der Sozialberichterstattung inDeutschland ...................................................................... 255

4 Charakteristik der Altenberichte ........................................ 257

5 Die Sachverständigenkommissionen ................................ 257

6 Ziele der Altenberichterstattung ........................................ 259

7 Adressaten der Altenberichte und Verwendung derErgebnisse ........................................................................ 262

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Gerontologie und Sozialpolitik

Zu Gegenwart und Zukunft des Deutschen Zentrums fürAltersfragen

Clemens Tesch-Römer

Deutsches Zentrum für Altersfragen, Berlin

Vor etwas mehr als zwanzig Jahren eröffnete und leitete Margret Dieckeine Konferenz mit dem Thema �Gerontologie und Gesellschaftspolitik�,zu der das wenige Jahre zuvor gegründete Deutsche Zentrum für Al-tersfragen nach Berlin eingeladen hatte und an der sich viele � heutezum großen Teil wohlbekannte � Gerontologinnen und Gerontologenbeteiligten. Ein Blick auf die damals erörterten Themen und Problemezeigt einerseits, dass Gerontologie und Sozialpolitik in den vergange-nen zwei Dekaden erhebliche Erfolge aufzuweisen haben, erinnert an-dererseits jedoch auch daran, dass viele der damals diskutierten Fra-gen auf persistente Probleme gerontologischer Wissenschaft undPraxis verweisen. Dies kann beispielhaft an einem jener Themen ver-deutlicht werden, die von Margret Dieck nicht allein während der dama-ligen Tagung, sondern im Kontext ihres Lebenswerks in den wissen-schaftlichen Diskurs und die politische Debatte eingebracht wordensind, und bei denen zum Teil Fortschritte gemacht worden, zum Teilaber Probleme noch ungelöst sind.

Im Resümee der damaligen Tagung stellte Margret Dieck verschiedeneForderungen an die Politik, von denen die zehnte und letzte Forderunglautete, die �Gerontologie einschließlich der Geriatrie in Forschung,Lehre und Ausbildung� verstärkt zu fördern (Dieck, 1979, S. 276). Heutekann konstatiert werden, dass positive Veränderungen in diesem Be-reich unübersehbar sind: Es gibt eine Reihe gerontologischer und geri-atrischer Forschungsinstitutionen oder universitärer Abteilungen, diemedizinische, ökonomische, soziologische und psychologische For-schung im Bereich der Alternswissenschaften betreiben. Aber auch diewissenschaftlichen Fächer haben sich in den vergangenen Jahrzehnten�gerontologisiert�: Fragestellungen mit Bezug auf Alter und Altern findensich innerhalb einer Reihe disziplinärer und interdisziplinärer For-schungsprojekte. Ebenso gibt es in der Ausbildung nicht wenige Institu-tionen, die gerontologische Aufbaustudiengänge anbieten. Die Entste-hung der Pflegewissenschaft � vor allem an den Fachhochschulen �schließlich zeigt die gewachsene Bedeutung auch gerontologischerSchwerpunkte in der Pflege (Bartholomeyczik, 1998). Allerdings muss

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darauf hingewiesen werden, dass bestimmte Bereiche nach wie vor desAusbaus und der verstärkten Förderung harren: Die Bemühung um eineeinheitliche Ausbildungsordnung in der Altenpflege � nun erst von derBundesregierung vorangetrieben � ist ein bedeutsames Beispiel in die-sem Bereich. Aber auch Geriatrie und Gerontopsychiatrie finden inner-halb des medizinischen Fächerkanons nicht immer jene Wertschätzung,die man angesichts des demographischen Wandels erwarten könnte.

In diesem Kapitel soll anhand ausgewählter Beispiele der Zusammen-hang zwischen gerontologischer Forschung und sozialpolitischer Ziel-setzungen und Maßnahmen diskutiert sowie die Frage gestellt werden,welche Aufgaben sich die soziale Gerontologie, insbesondere aber dasDeutsche Zentrum für Altersfragen (DZA) in seiner zukünftigen Arbeitstellen sollte. Dies soll in zwei Abschnitten geschehen: Erstens wird dasKonzept der �Lebenslage� expliziert und exemplarische Befunde ausder gerontologischen Forschung mit Blick auf das Konzept der Lebens-lage analysiert. Das Ergebnis dieser Diskussion wird der Vorschlag zueiner erweiterten Formulierung des Lebenslage-Konzeptes sein. In ei-nem zweiten Schritt werden die Aufgaben des Deutsche Zentrum fürAltersfragen (DZA) skizziert und Aufgaben sozialpolitisch ausgerichteterForschung, Information und Dokumentation sowie wissenschaftlicherDienstleistung, der drei zentralen Arbeitsschwerpunkte des DZA, be-schrieben werden.

1 Das Konzept der Lebenslage in der Gerontologie

Der zentrale Auftrag des Deutsche Zentrum für Altersfragen, zu seinerGründung festgelegt und auch in Zukunft in Geltung, lautet, �Erkennt-nisse über die Lebenslage alternder und alter Menschen zu erweitern,zu sammeln, auszuwerten, aufzubereiten und zu verbreiten�. Im Mittel-punkt von Zweckbestimmung und Arbeitsauftrag des DZA steht also derBegriff der �Lebenslage�. Zunächst sei die Verwendung des Begriffs imRahmen der Sozialpolitikwissenschaft � insbesondere in seiner Prä-gung durch Margret Dieck � skizziert, sodann Befunde der Gerontologievorgestellt und schließlich eine modifizierte Begriffsverwendung vorge-schlagen.

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1.1 Sozialpolitikwissenschaftliche Verwendung des Konzepts�Lebenslage�

Der Begriff der �Lebenslage� verweist auf den Spielraum, �der einemMenschen für die Befriedigung seiner Bedürfnisse und Interessennachhaltig durch die äußeren Umstände gewährt wird�, wobei materielleund immaterielle Interessen berücksichtigt werden (Dieck, 1979; Dieck& Naegele, 1993; Naegele, 1998). Lebenslagen unterstützen oder be-hindern als bedeutsame Randbedingungen die Befriedigung von Be-dürfnissen und Interessen. Damit ist das Thema der sozialen Ungleich-heit angesprochen: Bildung und Einkommen, aber auch die sozialenKategorien Geschlecht und regionale Herkunft sind Faktoren, die zu er-heblichen Ungleichheiten in Lebenslagen führen können und damit zusehr unterschiedlichen Realisierungschancen von Handlungs- und Le-bensentwürfen (Bäcker, Bispinck, Hofemann, & Naegele, 2000). Hin-sichtlich der sozialen Ungleichheit im Alter lauten die zentralen, vonMargret Dieck schon früh formulierten Annahmen, dass Altern zu einerVerschärfung sozialer Ungleichheit in zweifacher Hinsicht führt (Dieck &Naegele, 1978): Zum einen wird eine strukturelle Benachteiligung älte-rer Menschen im Vergleich mit anderen Bevölkerungsgruppen postuliert(Hypothese der Altersbedingtheit sozialer Ungleichheit), zum anderenwird angenommen, dass sich lebenslang wirksame schichtspezifischeUnterschiede im Alter verstärken (Kumulationshypothese sozialer Un-gleichheit).

Allerdings begnügt sich Sozialpolitikwissenschaft nicht allein mit derKonstatierung und explanativen Aufklärung sozialer Ungleichheit, son-dern setzt sich ein bedeutsames Handlungsziel: das der Verringerungsozialer Ungleichheit und der Verbesserung von Lebenslagen ältererMenschen. Dabei kommt dem Expertenurteil von Wissenschaftlerinnenund Wissenschaftlern hohes Gewicht zu: Objektiv große Spielräume inbezug auf gegebene Interessen führen zu dem Urteil einer �guten� Le-benslage, objektiv geringe Spielräume zu dem Urteil einer �schlechten�oder �sozial schwachen� Lebenslage, wobei in der Regel verschiedeneLebenslagedimensionen wie materielle Sicherung, soziale Integration,Gesundheit und Wohnen unterschieden werden (Alber & Schölkopf,1999; Bäcker et al., 2000; Geiser, 1996). Insbesondere Menschen in ei-ner �sozial schwachen� Lebenslage gilt es, durch geeignete sozialpoliti-sche Maßnahmen zu unterstützen. Auf diese Weise wird Sozialpolitik zueiner � die gesamte �societas� betreffende � planenden und gestalten-den Gesellschaftspolitik (Dieck & Naegele, 1978). Das Konzept der Le-benslage soll nun hinsichtlich dreier folgenden Aspekte genauer be-trachtet werden: (a) empirische Befunde der Ungleichheitsforschung zuden Lebenslagedimensionen Einkommen, gesellschaftliche Partizipati-

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on und Gesundheitsversorgung (b) Bedeutung personaler Kompeten-zen sowie (c) Zielformulierungen sozialpolitischen Handelns.

1.2 Soziale Ungleichheit in Lebenslagen

Betrachten wir exemplarisch die Bereiche Einkommen, gesellschaftlichePartizipation und Gesundheitsversorgung und stellen die Frage, wie dieLebenslage älterer Menschen zu kennzeichnen ist. Es ist also erstenszu fragen, ob es älteren Menschen in diesen Lebenslagedimensionenschlechter geht als Menschen in jüngeren Lebensabschnitten (altersbe-dingte soziale Ungleichheit), und zweitens, ob soziale Ungleichheit imhöheren Lebensalter zunimmt (Kumulation sozialer Ungleichheit).

Einkommen: In dem Einleitungsreferat jener Konferenz, die das DZAvor zwanzig Jahren durchführte, heißt es an prominenter Stelle, dassein �im Vergleich zu anderen Altersgruppen hoher Prozentsatz ältererMenschen [...] durch die Maschen des Systems sozialer Sicherung unddamit in die Zuständigkeit des Sozialhilfesystems� falle (Dieck & Schrei-ber, 1979), S. 1/2). Betrachtet man die heutige Situation der materiellenAusstattung älterer Menschen, so muss eine erhebliche Veränderungdieser Einschätzung konstatiert werden: Das durchschnittliche Äquiva-lenzeinkommen älterer Menschen unterscheidet sich nicht wesentlichvon dem der Bevölkerung insgesamt, zudem scheint es keine mit demAlter zunehmende Spreizung des Einkommens zu geben (Mayer &Wagner, 1996). Auch die Armutsquote älterer Menschen ist nicht höher,sondern eher niedriger als in anderen Altersgruppen � und zwar unab-hängig von den verwendeten Armutsdefinitionen (Fachinger, 1999;Möhle, 1998). Zieht man beispielsweise Daten des Mikrozensus ausdem Jahr 1997 heran, so zeigt sich, dass der Anteil der älteren Men-schen, die Sozialhilfe (Hilfe zum Lebensunterhalt) erhalten, geringer istals in der Gesamtbevölkerung. Regionale Einkommensunterschiedezwischen älteren Menschen existieren, etwa zwischen älteren Men-schen in Ost- und Westdeutschland, sind aber in den vergangenen Jah-ren kleiner geworden (Fachinger, 1999). Man kann sogar behaupten,dass die zwischen 1925 und 1955 geborenen Menschen hinsichtlich derAltersversorgung eine �glückliche Generation� bildeten (Rosenbladt,1987).

Allerdings überdeckt dieses positive Gesamtbild auch problematischeLebenssituationen älterer Menschen: Überdurchschnittlich häufig sindes ältere Frauen und geschiedene ältere Menschen, die in finanziellungünstigen Verhältnissen leben (Wagner, Motel, Spieß, & Wagner,

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1996a). Trotz Einführung des SGB XI ist das individuelle Risiko, beiPflegebedürftigkeit von der Sozialhilfe abhängig zu werden, nach wievor hoch (Rothgang & Vogler, 1998). Zudem muss darauf verwiesenwerden, dass zukünftige Veränderungen des Rentensystems, sei esdurch Anhebung in Höhe des Inflationsausgleichs oder die Einführungeines demographischen Faktors bei der Berechnung des Rentenwerts,zu Einbußen in der Einkommenssituation älterer Menschen führen kön-nen (Fachinger, 1999).

Soziale Integration und Partizipation: Welche Befunde gibt es im Be-reich der sozialen Integration und gesellschaftlichen Partizipation? Ob-wohl die durchschnittliche Netzwerkgröße älterer Menschen mit zuneh-mendem Alter abnimmt, sind die sozialen Beziehungen, und zwarinsbesondere innerhalb der Familien als gut und stabil zu bezeichnen(Kohli & Szydlik, 2000; Künemund & Hollstein, 2000; Wagner, Schütze,& Lang, 1996b). Hier sind allerdings Unterschiede festzustellen: Wäh-rend der Verlust von Verwandten der eigenen Generation � also nebendem Ehepartner auch Geschwister � im hohen Lebensalter eine häufigeLebenserfahrung ist, verändert sich die Häufigkeit von Elternschaft undGroßelternschaft mit dem Alter kaum. Als bedeutsamer Risikofaktor fürdie Übersiedlung in ein Pflegeheim erweist sich die familiale Eingebun-denheit älterer Menschen: Ältere Menschen ohne Ehepartner, aberauch kinderlose ältere Menschen wohnen im hohen Lebensalter häufi-ger im Heim.

Bedeutsame Altersunterschiede zeigen sich in der gesellschaftlichenPartizipation: Im Alter zeigen Indikatoren wie außerhäusliche Aktivitä-ten, politisches Interesse, Wahlbeteiligung und Medienkonsum einedeutliche alterskorrelierte Abnahme der Teilhabe am gesellschaftlichenLeben (Künemund, 2000). Dabei scheinen sich schichtspezifischeUnterschiede im Alter aber nicht zu verstärken, sondern weisen hoheKontinuität auf. Im hohen Lebensalter sind es dann weniger Schicht-merkmale als die funktionale Gesundheit, die zu einem Rückgang ge-sellschaftlicher Partizipation führen. Die einzige Ausnahme ist der Bil-dungsstand, der auch im hohen Alter einen positiven Zusammenhangzu außerhäuslichen Aktivitäten aufweist (Mayer & Wagner, 1996).

Medizinische und pflegerische Versorgung: Und schließlich: Wie siehtes mit sozialer Ungleichheit in bezug auf den Gesundheitszustand undgesundheitliche Versorgung aus? Das Alter ist nach wie vor durch eineZunahme � vor allem chronischer � Krankheiten gekennzeichnet: Vonden in der Berliner Altersstudie untersuchten älteren Menschen wiesenfast alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer (96%) nach objektiven Krite-rien eine medizinische Diagnose auf, die von den untersuchenden Ärz-

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ten als �mittel- bis schwerwiegend� eingeschätzt wurden. Bei fast einemDrittel der untersuchten Personen (30%) wurden fünf und mehr �mittel-bis schwerwiegende� Leiden diagnostiziert. Und ein zweiter uns allenbekannter Befund: Mit dem Alter nimmt die Wahrscheinlichkeit deutlichzu, hilfs- und pflegebedürftig zu werden. Bei den 65-69jährigen sindknapp 2%, bei den über 85jährigen dagegen bereits 28% pflegebedürf-tig (Schneekloth, Potthoff, Piekara, & Rosenbladt, 1996). In der sozial-medizinischen Literatur ist der Zusammenhang zwischen Schicht, Mor-bidität und Mortalität recht deutlich belegt (Manton, Stallard, & Corder,1995). In der großen und umfassenden Berliner Altersstudie findet sichzwar kein gravierender Zusammenhang zwischen Schicht und Morbidi-tät in ausgesuchten Diagnosebereichen, aber es zeigt sich soziale Un-gleichheit bei der Heimunterbringung: Die Wahrscheinlichkeit, im Alterin einem Pflegeheim zu leben, ist für Angehörige der Unterschicht grö-ßer als für Angehörige der oberen Mittelschicht (Mayer & Wagner,1996).

Die Veränderung des Gesundheitsstatus im Alter, der im übrigen kei-neswegs gleichgesetzt werden darf mit Funktionstüchtigkeit und All-tagskompetenz, zeigt deutlich, wie hoch der Bedarf für gute medizini-sche Betreuung im Alter ist. Kann man davon ausgehen, dass dieVersorgung älterer Menschen im Bereich medizinischer und pflegeri-scher Dienste gut ist? Grundsätzlich ist darauf zu verweisen, dass trotzVeränderungen in den letzten Jahre die medizinischen Behandlungs-kosten zum größten Teil und Pflegekosten zu einem erheblichen Teildurch Kranken- und Pflegeversicherung abgedeckt werden. Dies gilt �nicht nur hinsichtlich des Gesamtumfangs der erstatteten Kosten � auchfür ältere Menschen. Allerdings muss man auf Anzeichen einer subop-timalen medizinischen Versorgung älterer Menschen hinweisen. So istbeispielsweise die pharmakologische Behandlung älterer Menschennicht selten durch Übermedikation, aber auch durch Unter- und Fehl-medikation gekennzeichnet ist (Steinhagen-Thiessen & Borchelt, 1996).Noch deutlicher zeigt sich dies im Zusammenspiel zwischen medizini-scher und pflegerischer Versorgung sowie zwischen stationärem undambulanten Bereich, das durch vielfältige Friktionen und Probleme derAbstimmung gekennzeichnet ist (Schulz-Nieswandt, 1997). Die Einfüh-rung der Pflegeversicherung hat eine erhebliche Veränderung in derKostenträgerschaft bei Pflegebedürftigkeit ergeben, so dass man voneinem großen Fortschritt in der finanziellen Absicherung pflegebedürfti-ger (nicht nur älterer) Menschen sprechen kann. Auch wenn die Aus-wirkung der Pflegeversicherung sicherlich noch nicht umfassend unter-sucht worden sind, kann man zumindest darauf verweisen, dass dieLeistungsempfänger selbst zufrieden mit den Leistungen der Pflegever-sicherung sind (Blinkert & Klie, 1999; Schneekloth & Müller, 2000). Al-

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lerdings müssen eine Reihe bislang ungelöster Probleme benannt wer-den: So hat eine ausreichende Integration medizinischer und pflegeri-scher Versorgung älterer Menschen bislang noch keineswegs stattge-funden und auch die Frage, ob die Pflegeversicherung tatsächlich denangestrebten Versorgungs-Mix fördert und Familien bei der Versorgungpflegebedürftiger älterer Menschen unterstützt, ist noch offen (Reuter,1999; Reuter, 2000).

Resümee: Das Konzept der Lebenslage verweist auf den wichtigen Be-reich der sozialen Ungleichheit. Dabei kann die gegenwärtige Lage älte-rer Menschen als recht positiv beurteilt werden: Die materielle Ausstat-tung älterer Menschen ist zur Zeit als gut zu bewerten, schwierigeLebenslagen finden sich heute eher bei Kinder und Jugendlichen, vorallem in Familien mit alleinerziehenden Müttern oder Vätern. Auch diesoziale Integration älterer Menschen ist in der Regel als stabil und an-passungfähig zu bezeichnen, wobei den Familienbeziehungen einegroße Bedeutung zukommt. Im Blick auf materielle Versorgung und so-ziale Integration ist Alter also aktuell kein gravierendes Risiko für diematerielle Lebenslage. Zudem kann man sagen, dass die soziale Un-gleichheit in den materiellen Lebenslagen älterer Menschen zur Zeitnicht wesentlich von der Ungleichheit in früheren Lebensabschnittenverschieden ist (dies verweist stärker auf die Kontinuität sozialer Un-gleichheit als eine Kumulation von Belastungen; vgl. (Kohli, Künemund,Motel, & Szydlik, 2000)). Eine weniger positive Bewertung ergibt sich imBereich der gesundheitlichen Versorgung. Es muss nämlich darauf hin-gewiesen werden, dass man noch nicht von einer optimalen Versor-gung älterer Menschen sprechen kann, obwohl ein großer Teil des Ge-sundheitsbudgets für ältere Menschen aufgewendet wird.

Angesichts dieser Befundlage ist zu fragen: Kann auf das Lebenslage-Konzept und die damit verbundene Thematik sozialer Ungleichheit ver-zichtet werden? Sowohl das Lebenslage-Konzept als auch die Dimen-sion der sozialen Ungleichheit ist aus zwei Gründen für gerontologischeForschung und die Sozialberichterstattung unverzichtbar. Zum einen istes für sozialpolitisches Handeln unerlässlich, Informationen über dieAuswirkungen gesetzlicher Regelungen und anderer Interventionen zuerhalten. Nur bei der empirischen Untersuchung zentraler sozialer Indi-katoren ist in dieser Hinsicht eine aufschlussreiche Bewertung sozialpo-litischen Handelns möglich. Es ist natürlich auch in Zukunft außeror-dentlich bedeutsam, Kenntnisse über die Lebenslagen älterer � undjüngerer � Menschen etwa aufgrund von Änderungen des Rentensys-tems oder anderer Regelungen zu erhalten. Allerdings gibt es noch ei-nen weiteren Grund für die unverzichtbare Stellung des Lebenslage-Konzeptes: Auch als analytisches, sozialwissenschaftliches Konzept

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sind Lebenslagedimensionen notwendig, da in dieser Perspektive diemateriellen Randbedingungen für Lebensentwürfe und biographischeVerläufe in den Blick genommen werden.

1.3 Personale Kompetenzen und Lebenslagen

In einer weiteren Hinsicht ist das Lebenslage-Konzept jedoch kritischerzu betrachten: Es handelt sich dabei um die Vernachlässigung perso-naler Kompetenzen und Bewältigungsstrategien. Das Individuum wirdim Lebenslage-Konzept vor allem als Träger von �Bedürfnissen und In-teressen� vorgestellt. Bedeutsame Faktoren für die Befriedigung dieserBedürfnisse und Interessen sind externe Randbedingungen. Wie diegerontologische Forschung jedoch eindrücklich hervorgehoben hat,muss diese Betrachtungsweise aber um die personale Dimension vonFähigkeiten und Kompetenzen ergänzt werden (Kruse, 1987; Olbrich,1987; Schulz-Nieswandt, 1997; Schulz-Nieswandt, 1998). Biographienwerden nicht allein durch materielle Randbedingungen determiniert,sondern sind auch das Resultat von Handlungs- und Lebensentwürfen.Ein wichtiges Charakteristikum ist die Eigenverantwortung von Men-schen, und zwar auch von älter werdenden Menschen, die eigene Le-benssituation zu gestalten. Dies kann an drei Beispielen deutlich ge-macht werden: Voraussetzungen für Lebensentwürfe, Umgang mitBelastungen, Diskrepanz zwischen Selbst- und Fremdbild.

Voraussetzung für Lebensentwürfe: Lebensentwürfe entstehen auf derBasis der persönlichen Zielvorstellungen der Person, sie sind Antwortenauf die Frage: �Was soll ich tun?�. Zwei bedeutsame Randbedingungenbestimmen Lebensentwürfe: Zum einen die materiellen Bedingungender Lebenslage, zum anderen die personalen Kompetenzen, über diedie Person verfügt bzw. die im Prozess der Sozialisation erst erworbenwerden. Erst im Wechselspiel zwischen den materiellen Lebensbedin-gungen und den Fähigkeiten und Kompetenzen der Person entstehenbiographische Entwürfen, bilden sich Sinn und Richtung des eigenenLebensentwurfs aus (Schulz-Nieswandt, 1998). Damit wird zugleich derEntwicklungsaspekt deutlich: Die Lebenslage besteht nicht in zeitlebensunveränderten Randbedingungen, sondern Lebenslagen ändern sichdynamisch im Lebenslauf � beeinflusst auch von den Handlungen undEntscheidungen der Person. Die Person ist also mehr als der Spielballvon Bedürfnissen, die von äußeren Randbedingungen in höherem odergeringerem Maße befriedigt werden können. In der Verwendung desLebenslage-Konzepts wird diese personale Dimension von Entwicklungund Altern aber vernachlässigt oder allzu gering geschätzt. Selbstver-

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ständlich bilden materielle Randbedingungen wichtige, manchmal ent-scheidende Faktoren bei der Realisierung von Lebensentwürfen, aberdennoch ist es Aufgabe der Person, im Rahmen der gegebenen Le-benslage selbstverantwortlich die Realisierung des eigenen Lebens-entwurfs zu gestalten.

Umgang mit Belastungen: Ein brisantes Beispiel zeigt sich angesichtsder Auseinandersetzung mit Belastungen im Alter. Konzipiert man Be-lastungen ganz allgemein als Diskrepanzen zwischen den Zielvorstel-lungen einer Person und der realen Lebenssituation (Soll-Ist-Diskrepanzen), so sind zwei Bewältigungsprozesse denkbar: Auf dereinen Seite kann die Person versuchen, ihre Lebenssituation so zu ver-ändern, dass diese ihren Zielvorstellungen der Person genügt; auf deranderen Seite ist aber auch denkbar, dass Ziele an die Gegebenheitenin der Welt angepasst werden: Hängen die Trauben zu hoch, dann er-scheinen sie sauer. Diese zweite Bewältigungsform wird häufig mit demBegriff der �akkommodativen Bewältigung� bezeichnet (Rothermund &Brandtstädter, 1997). Gerade in der gerontologischen Literatur ist in ei-ner Vielzahl von Arbeiten belegt worden, dass diese Form der Anpas-sungsfähigkeit von Zielen und Wertmaßstäben große Bedeutung fürdas subjektive Wohlbefinden älter werdender Menschen hat, wobei an-zumerken ist, dass bei außerordentlich hohen Belastungen � wie etwader gleichzeitigen Belastung von Pflegebedürftigkeit, Armut und Isolati-on � eine �kognitive Reinterpretation� der Situation nur noch begrenztoder gar nicht mehr möglich ist (Staudinger, Freund, Linden, & Maas,1996). Diese Form der akkommodativen Anpassung an die gegebeneSituation wird häufig als unangemessene resignative Anpassung angegebene Umstände interpretiert; allemal besser seien Veränderungender tatsächlichen Lebenslage. Natürlich kann diese Interpretation zu-treffen, doch muss daran erinnert werden, dass Alter und Altwerden miteiner Reihe von Verlusten und Einbußen einhergeht, die möglicherwei-se vermeidbar, wenn sie aber eingetreten sind, als unwiderbringlich zubezeichnen sind. Nicht alle dieser Einbußen sind kompensierbar, nichtimmer sind Lebenssituationen veränderbar: Das Prinzip der akkommo-dativen Bewältigungsprozesse, beruhend auf personaler Anpassungs-fähigkeit, ist also nicht notwendigerweise dysfunktional (Brandtstädter,Wentura, & Greve, 1993).

Diskrepanz zwischen Selbst- und Fremdbild: Schließlich deutet dieThematik unterschiedlicher personaler Bewältigungsstrategien auf das� nicht unproblematische � Verhältnis zwischen Laien und Experten in-nerhalb des politikwissenschaftlichen Ansatzes, das sich im Begriff der�wohlverstandenen Interessen� andeutet. Dieses Problem sei mit demsogenannten �Paradox der Lebenszufriedenheit im Alter� illustriert, das

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sich wie folgt formulieren lässt: Angesichts der Verluste und Einbußen,die das Alter für viele älter werdende Menschen mit sich bringt, müssteman davon ausgehen, dass die Lebenszufriedenheit im Alter sinkt. Diesist empirisch aber nicht der Fall: Vielmehr ist die allgemeine Lebenszu-friedenheit im Alter durchschnittlich nicht niedriger als in den Lebens-phasen davor, und auch andere Zufriedenheitsmaße sind nur gering mitdem Alter korreliert (Smith, Fleeson, Geiselmann, Settersten, & Kunz-mann, 1996). In der Regel wird dieser Widerspruch zwischen den Er-wartungen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern und denZufriedenheitsurteilen älterer Menschen dadurch erklärt, dass eine Ver-änderung der Zufriedenheitskriterien mit wachsendem Lebensalter an-genommen wird � also mit den eben diskutierten akkommodativen Be-wältigungsprozessen.

Interpretiert man diesen Befund jedoch aus der Position �wohlverstan-denen Interessen�, so würde man zu einem anderen Urteil gelangen.�Wohlverstandene Interessen� sind solche Interessen, die ein Betroffe-ner hätte, würde er alle Faktoren überschauen, die auf sein Leben Ein-fluss nehmen. Mit anderen Worten: Wenn ein älterer Mensch sagt, dasser mit seinem Leben zufrieden sei, so könnte dies � etwa da er Alterna-tiven zu seiner Lebenssituation unberücksichtigt lässt � nicht in seinemwohlverstandenen Interesse sein. Eine Forscherin oder ein Forscher miteinem weiter gefassten Überblick und reicheren Kenntnissen könnte, jamüsste dieses Zufriedenheitsurteil korrigieren. Dies impliziert, dasskonkrete Interessenäußerungen konkreter Menschen �stets eines Kor-rektivs durch neutrale Dritte� bedürfen (Naegele, 1998) S. 110). Selbst-verständlich ist es möglich, dass Personen Dinge tun, deren Nebenwir-kungen oder langfristige Folgen sie nicht berücksichtigen und diemöglicherweise schädlich für sie selbst sind. Der Austausch über mögli-che Handlungskonsequenzen sollte aber nicht als hierarchische Inter-aktion zwischen Experten und Laie stattfinden, in denen der Expertebelehrt und der Laie belehrt wird (wobei anzumerken ist, an manchenPunkten zu fragen ist, ob jüngere Wissenschaftler oder ältere Men-schen Experten in Sachen �Alter� sind). Expertinnen und Expertenkommt in dieser Interaktion die Rolle von Beratern zu, die ihren Rat an-bieten, nicht aber auf der Annahme ihres Rates bestehen können.

Resümee: Welches Resümee lässt sich aus diesen Überlegungen zie-hen? Es erscheint notwendig, das Konzept der Lebenslage um den As-pekt der personalen Kompetenzen zu erweitern. Personen sind nichtausschließlich Opfer der Lebenslage, in der sie sich befinden. Natürlichbilden Lebenslagen hochbedeutsame Randbedingungen für Lebens-entwürfe und biographische Projekte. Aber Personen handeln auch,und sie sind in ihrem Handeln oft eigensinnig und widerständig � wider-

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ständiger und eigensinniger als dies vielen Experten und Expertinnenlieb ist.

1.4 Ziele sozialpolitischen Handelns

Und damit soll der letzte der hier zu behandelnden Aspekt des Lebens-lage-Konzepts in den Mittelpunkt gerückt werden: Den impliziten Ziel-vorstellungen sozialpolitischen Handelns. Die implizite Zielvorstellungdes Lebenslage-Konzepts lautet, soziale Ungleichheiten zu vermeiden.Ungleichheiten in Lebenslagen sind grundsätzlich negativ zu bewerten,die Vermeidung oder der Abbau von Ungleichheiten sind dagegen zufördern. Es reicht aber sicherlich nicht aus, einzig die Reduktion sozialerUngleichheit als sozialpolitisches Generalziel zu verfolgen. Die Bewer-tung sozialer Ungleichheit ist nämlich abhängig von mittleren Werten inden verschiedenen Lebenslagedimensionen. Ist beispielsweise dermittlere Wohlstand einer Gesellschaft hoch, so sind soziale Ungleich-heiten existentiell wahrscheinlich weniger brisant als dies der Fall inGesellschaften mit einem geringen Wohlstandsniveau ist. Von hoherBedeutung ist es, Situationen der �sozialen Gefährdung� oder �sozialenSchwäche� zu identifizieren, deren Prävention oder Bekämpfung sozial-politisches Handeln dienen muss. Dies impliziert, Sozialpolitik inhaltlichzu begründen, etwa im Sinne von Mindeststandards für bestimmte Le-bensbedingungen.

Dies kann an den Zielen des Internationalen Jahres der Senioren deut-lich gemacht werden, die von der Generalversammlung der VereintenNationen verabschiedet worden sind. Diese Ziele lauten: Unabhängig-keit, gesellschaftliche Teilhabe, Pflege, Selbstverwirklichung, Würde,wobei diesen Generalzielen insgesamt 18 Einzelforderungen zugeord-net wurden. Zwei konkrete Beispiele seien im folgenden näher be-trachtet. Das erste Beispiel betrifft die ganz grundsätzliche Forderung,dass ältere Menschen in angemessener Weise Zugang zu Nahrung,Wasser, Wohnmöglichkeiten, Kleidung und Gesundheitsversorgung ha-ben sollten und zwar durch eigenes Einkommen, Unterstützung durchFamilie und Gesellschaft sowie aufgrund eigenverantwortlicher Selbst-hilfe. Diese Forderung nach basalen Existenzgrundlagen macht sehrdeutlich: Die Verhältnisse in der reichen Bundesrepublik haben es mög-lich gemacht, dass für die allermeisten Menschen diese grundsätzlichenForderungen erfüllt sind. Wir sollten bedenken, dass dies für ältereMenschen in armen Ländern oder in Kriegsregionen ganz anders aus-sieht. Eine zweite Forderung unter der Überschrift �Pflege� lautet, dassältere Menschen in die Lage versetzt werden sollen, institutionelle Pfle-

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ge zu erhalten, die Schutz, Rehabilitation sowie soziale und kognitiveAnregung in einer humanen und sicheren Umgebung bietet. Hier wirdaußerordentlich deutlich, dass dieses Ziel � auch in der reichen Bun-desrepublik Deutschland � noch keineswegs in allen stationären undambulanten Pflegesituationen erreicht ist. Was aber eine �humane undsichere Umgebung� ist, darauf muss man sich in einem gesellschaftli-chen Diskurs einigen � und die soziale Gerontologie ist dabei eine vonmehreren Parteien, die an diesem Diskurs teilnehmen.

In diesem Kontext sei an Überlegungen erinnert, die der amerikanischeHistoriker Thomas Cole anlässlich des fünfzigjährigen Bestehens deramerikanischen Gesellschaft für Gerontologie formuliert hat: Am Endedes zwanzigsten Jahrhunderts reicht es nach Cole nicht mehr aus, diegesellschaftliche Position älterer Menschen ausschließlich in Bezug aufihre Rentenansprüche oder als passive Empfänger von Unterstützungund Pflege zu charakterisieren (Cole, 1995). Damit ist keineswegs ge-sagt, dass sich die Leitbilder der Gerontologie ausschließlich in den Bil-dern des �neuen�, �aktiven� und �produktiven� Alterns bestehen. Aber esist sicherlich auch nicht ausreichend, Alter und Altern von vornehereinals �sozial gefährdet� oder �sozial schwach� zu charakterisieren und ei-ne entsprechende Versorgung zu fordern. Vielmehr ist zu fragen, wel-che Vorstellungen die Gesellschaft über die Rechten und Pflichten älte-rer Menschen hat, wie sich das Verhältnis und das Zusammenleben derGenerationen gestalten soll (Göckenjan, 1993). Dies bedeutet auch,dass die gesellschaftliche Partizipation älterer Menschen gefordert ist.Darüber hinaus sind zwei wichtige sozialpolitische Prinzipien angespro-chen: Solidarität und Selbstverantwortung. Dabei kann Solidarität so-wohl als staatliche Versorgung und Hilfe gedacht werden, aber auch aufdas bürgerschaftliche Engagement der einzelnen Person. Schließlich istauch Selbstverantwortlichkeit gefordert, wobei die Kompetenzen undRessourcen der Person berücksichtigt werden müssen, die sich geradeim Alter sehr stark unterscheiden können.

1.5 Reformulierung des Lebenslage-Konzepts

Welche Einschätzung des Lebenslage-Konzepts kann im Licht der ge-rontologischen Forschung vorgenommen werden? Das Konzept derLebenslage ist nach wie vor ein hochbedeutsames sozialgerontologi-sches, sozialpolitisch relevantes Konzept, dass die gerontologischeForschung und sozialpolitische Praxis leiten kann (Schwenk, 1999).Auch der Blick auf soziale Ungleichheit erscheint bedeutsam. Zu nen-nen sind soziale Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern (Stich-

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wort: eigenständige Alterssicherung von Frauen), Ungleichheitenzwischen Regionen (etwa bei Unterschieden zwischen Ost- undWestdeutschland), aber auch Ungleichheiten in bezug auf die Familien-struktur. Möglicherweise wird sich in Zukunft die Frage, ob älter wer-dende Menschen Kinder haben oder nicht, immer stärker als eine Di-mension sozialer Ungleichheit erweisen. Schließlich kann daraufverwiesen werden, dass neben die Betrachtung der �vertikalen� Un-gleichheit von Lebenslagen auch die �horizontale� Unterschiedlichkeitvon Lebensstilen getreten ist: Der Blick auf den Pluralismus von Le-bensformen ist etwa angesichts der kulturellen Vielfalt in Deutschland,aber auch der zukünftigen Einigung Europas von hoher Bedeutung.

Allerdings sind auch Grenzen in der bisherigen Verwendung des Le-benslage-Konzeptes deutlich geworden. Alter und Altwerden apriori alsGefährdung der Lebenslage zu sehen, erscheint nicht ausreichend.Zum einen kann auf die Kompetenzen verwiesen werden, über die vieleältere Menschen verfügen und die es unangemessen machen, sie aus-schließlich als Klientel einer paternalistischen Wohlfahrtspolitik zu se-hen. Im übrigen ist zu vermuten, dass in Zukunft auch ältere Menschenselbst dieser Einschätzung entschieden widersprechen werden: Im Be-reich der Selbsthilfe sind beispielsweise die Organisationen, die sich inder Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen (BAGSO)zusammengeschlossen haben, ein Indikator für das bürgerschaftlicheEngagement älterer Menschen.

Und schließlich: In der heutigen öffentlichen Diskussion wird deutlich,dass es in Zukunft um die Frage des Miteinanderlebens der Generatio-nen gehen wird. Der Begriff der �Generationengerechtigkeit� ist sicher-lich nur schwer zu operationalisieren, weist aber auf einen bedeutsa-men Umstand hin: Der Generationenvertrag muss neu diskutiert undausgehandelt werden, und zwar nicht allein in bezug auf die Finanzie-rung des Rentensystems, sondern in bezug auf eine Reihe weitererFragen, wie etwa die Verteilung der Arbeit, die Chancen von Familien,mit Kindern zu leben, sowie die Betreuung und Unterstützung pflegebe-dürftiger älterer Menschen (Leisering, 2000). Es darf daran erinnertwerden, dass das Motto des diesjährigen �Internationalen Jahres derSenioren� lautet, eine Gesellschaft für alle Lebensalter zu schaffen.Damit geraten die Lebenslagen nicht nur der aktuell älteren Menschenin den Blick, sondern auch die Lebenslagen der Menschen im mittlerenErwachsenenalter, der Jugendlichen und der Kinder � und zwar derengegenwärtige Situation, aber auch ihre Zukunft als Erwachsene und alteMenschen. Angesichts des weiteren demographischen Wandels unddes damit zusammenhängenden �Strukturwandel des Alter(n)s� (Tews,

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1993) werden diese Fragestellungen weiterhin von hohem sozialpoliti-schen Interesse sein.

2 Profil des Deutschen Zentrums für Altersfragen

Was bedeutet diese Diskussion ganz konkret für die Aktivitäten desDeutschen Zentrums für Altersfragen (DZA)? Zusammenfassend lautendie Überlegungen, dass sich eine Institution wie das DZA einerseits mitder Lebenssituation jener ältere Menschen beschäftigen wird, die inbeachteiligten Verhältnissen leben. Andererseits wird sich das DZAaber auch mit der Frage des aktiven und produktiven Alter(n)s aus-einandersetzen. Damit werden wir am DZA jenes Leitbild realisieren,dass in der Sachverständigenkommission für den dritten Altenberichtdiskutiert wird, das Leitbild der �Ressource�, das in doppelter Hinsichtverstanden wird, und zwar einerseits als Ressourcen, die von der Ge-sellschaft älteren Menschen zu Verfügung gestellt werden, und alsRessourcen, die älter werdende und ältere Menschen für die Gesell-schaft bereitstellen können (BMFSFJ, 2000). Und schließlich sollte diesunter der Perspektive der Generationenbeziehungen und Generatio-nenverhältnisse diskutiert werden. Für das Deutsche Zentrum für Al-tersfragen bedeutet dies, dass die Konstrukte Lebenslage und Lebens-stile die Arbeit in drei Bereichen leiten werden: Forschung, Informationund Dokumentation sowie Beratung.

2.1 Sozialpolitisch relevante Forschung

Die erste der drei Aufgaben, denen sich das DZA stellt, ist die sozialge-rontologische Forschung, und zwar in Zukunft verstärkt im Bereich ge-nuin empirischer Forschung. Wenn man die Forschungslandschaft inDeutschland betrachtet, so zeigt sich, dass im Bereich der Sozial- undVerhaltenswissenschaften in starkem Maße Grundlagenforschung undangewandte Forschung im Mikrobereich durchgeführt wird. So widmetsich beispielsweise das Deutsche Zentrum für Alternsforschung in Hei-delberg den Themenfeldern Entwicklungsforschung, soziale und ökolo-gische Gerontologie sowie Epidemiologie körperlicher Erkrankungen.Es ist sehr deutlich, dass daneben auch empirische Forschung betrie-ben werden muss, die sich an sozialpolitisch relevanten Fragestellungorientiert. Daher wird das DZA seine Aktivitäten in Richtung sozialpoli-tisch relevanter Forschung in Zukunft verstärken. Die folgenden The-

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menfelder werden am DZA in verschiedenen Projekten fokussiert undauch in Zukunft behandelt werden: Prämissen der Altenpolitik, Arbeitund soziale Sicherung, soziale Beziehungen und gesellschaftliche Par-tizipation, Gesundheit und Versorgungsstrukturen im Alter sowie Berufeund Professionen für ältere Menschen.

Ein Beispiel für die Neuausrichtung des DZA im Bereich der empiri-schen Sozialforschung stellt das jetzt anlaufende Projekt �Old Age andAutonomy: The Role of Service Systems and Intergenerational Solida-rity (OASIS)� dar, das von der Europäischen Kommission finanziertwerden wird (Motel, Kondratowitz, & Tesch-Römer, 2000). Es handeltsich bei diesem Projekt um eine gesellschaftsvergleichende Studie, ander Forschungsgruppen aus Israel, Norwegen, Großbritannien, Spanienund Deutschland teilnehmen. In dem Projekt OASIS wird der Fragenachgegangen, wie angesichts von Hilfe- und Pflegebedürftigkeit imAlter ein angemessener �welfare-mix� von familialer Hilfe und Unterstüt-zung durch pflegerische und soziale Dienste geschaffen werden kann.Geplant ist eine Kombination von Survey (N=1.200) und Längsschnitt-untersuchung, wobei Menschen zwischen 25 und über 75 Jahren be-fragt werden. In gewisser Weise handelt es sich dabei um Großeltern,erwachsene Kinder, die selbst Eltern sind (oder sein könnten) und er-wachsene Enkelkinder. Es wird in den Befragungen um Normen zur in-tergenerationellen Solidarität bei Hilfe- und Pflegebedürftigkeit im Altersowie um die Situation älterer Menschen und ihrer familiären Netzwerkegehen. Zudem wird der Frage nachgegangen, welche Rolle pflegeri-sche und soziale Dienstleistungen in diesem Zusammenhang spielen.Die Neuordnung ambulanter und stationärer Versorgung im Rahmender Pflegeversicherung legt die sozialpolitisch außerordentlich bedeut-samen und empirisch zu überprüfenden Fragen nahe, wie sich die Situ-ation pflegebedürftiger Menschen und der sie unterstützenden Familienverändert hat und welche Veränderungen in der Implementation derPflegeversicherung notwendig erscheinen. Es wird erwartet, dass die-ses � in der Tradition sozialpolitisch relevanter Forschung am DZA ste-hende � Projekt einen erheblicher Informationsgewinn für die Imple-mentation angemessener Versorgung für hilfe- und pflegebedürftigeältere Menschen sowie deren Familien darstellt.

2.2 Information und Dokumentation

Das Deutsche Zentrum für Altersfragen ist aber nicht allein ein For-schungsinstitut, sondern sieht sich als Dienstleistungsinstitut zur Bereit-stellung von Informationen für ganz unterschiedliche Gruppen von Inte-

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ressenten: Politik und Verwaltung, Forschung und Wissenschaft, Me-dien und die Öffentlichkeit insgesamt.

Bibliothek: Die Bibliothek des DZA ist die größte sozialgerontologischausgerichtete Bibliothek im deutschsprachigen Raum. Die Zahlen spre-chen für sich: Zur Zeit stehen in der Bibliothek des DZA fast 20.000Bücher und über 100 laufende Fachzeitschriften zu verschiedenstenBereichen der sozialen Gerontologie. Neben den zentralen Wissensge-bieten wie Gerontologie, Geriatrie und Altenhilfe werden auch Fachge-biete erschlossen, die einen Bezug zu Themen des Alters und Alternsaufweisen, wie etwa Soziologie, Psychologie und Pflegewissenschaf-ten. Der Schwerpunkt unserer Sammlung ist dabei natürlich die sozialeGerontologie. Allerdings besteht im Zusammenhang mit einemquerschnittlich angelegten Fach wie der Gerontologie, das Berührungs-punkte zu vielen Disziplinen aufweist, natürlich das große Problem,nicht alle bedeutsamen Veröffentlichungen der vielen Hauptdisziplinenim Rahmen einer Spezialbibliothek sammeln zu können. Daher wird zurZeit sehr intensiv über Verbindungen und Verbünde mit anderen Institu-tionen (genannt seien hier das DZI in Berlin sowie das KDA in Köln), a-ber auch über Kontakte mit wissenschaftlichen Bibliotheken in Berlinnachgedacht.

Literaturdatenbank GeroLit: Die umfangreiche Bibliothek des DZA bildetdie Grundlage ein Informationssystem, das seit 1999 kostenfrei im In-ternet zur Verfügung steht (URL: www.dza.de). Es handelt sich dabeium die Literaturdatenbank GeroLit (diese Abkürzung ergibt sich aus denAnfangssilben der beiden Wörter �gerontologische Literatur�). GeroLitist eine Literaturdatenbank zu den Fachgebieten Altenhilfe und Altenpo-litik, soziologische Gerontologie, psychologische Gerontologie, Geriatrieund Gerontopsychiatrie sowie Pflegewissenschaften (mit Bezug auf alteMenschen). Schwerpunkt der Literatursammlungen sind deutsche Pub-likationen. GeroLit ermöglicht dem Nutzer, sich einen schnellen und ge-zielten Überblick über Publikationen zu einem Thema, einem Fachge-biet oder einem Autor zu verschaffen. Um Literatur zu finden kann manauch eines der der etwa 1.500 Schlagworte verwenden. InteressierteNutzer haben unter anderem zwei Möglichkeiten, Literaturrecherchen inGeroLit zu machen. Zum einen ist GeroLit im Internet zugänglich, undzwar sowohl als einfache kostenlose Version und � in Verbindung mitanderen Datenbanken � in einer umfassenden und kostenpflichtigenVersion. Ausserdem ist es möglich, an das DZA einen Recherche-Auftrag zu geben, der gegen eine Gebühr bearbeitet wird. Alle Litera-turangaben, die in der Datenbank GeroLit enthalten sind, lassen sich inder Bibliothek des DZA finden. Regelmäßige Auswertungen von GeroLit(und zwar von Artikeln in Fachzeitschriften) finden sich im Informations-

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dienst Altersfragen, der zweimonatlich erscheinenden Zeitschrift desDZA.

Statistisches Informationssystem GeroStat: Ein zweites Informations-system ist das Informationssystem GeroStat (diese Abkürzung ergibtsich aus den Wörter �gerontologische Statistik�). In dem Informations-system GeroStat werden statistische Daten und beschreibende In-formationen zu den folgenden Sachgebieten bereitgehalten: Demo-graphische Strukturen, Mortalität, Haushaltsstrukturen, Erwerbsstatus,Einnahmen/Einkommen und Vermögen, Ausgaben, Sicherungssystemeund Freizeit. Die Daten entstammen zur Zeit der amtlichen und halb-amtlichen Statistik, überwiegend aus dem Bestand des StatistischenBundesamtes. Geplant ist, auch empirische Daten aus dem Bereich dergerontologischen Forschung in der Datenbank GeroStat bereitzuhalten.Ab 2000 ist GeroStat im Internet zu erreichen (www.dza.de).

Entwicklung weiterer Informationssysteme: Auch in Zukunft wird dasDZA weitere Informationssysteme entwickeln, die im Bereich der sozi-alen Gerontologie und der Sozialpolitik für das Alter von Bedeutungsind. Eine wichtige Frage ist beispielsweise, Ansprechpartner zu finden,seien es Institutionen oder Personen, die bestimmte Gebiete vertreten.Zur Zeit wird ein Informationssystem mit dem Arbeitsnamen GeroLinkentwickelt (zusammengesetzt aus den Wörtern �gerontologischeLinks�), in denen bedeutsame Institutionen auf den Ebenen Bund, Län-dern und Kommunen, freien Wohlfahrtsverbänden, aber auch wissen-schaftliche Institutionen aufgelistet sind. Es ist geplant, auch dieses In-formationssystem im Internet anzubieten.

2.3 Beratung

Die Aktivitäten in den Bereichen Forschung, Information und Doku-mentation werden ergänzt durch Beratungstätigkeiten des DZA. Eingroßer Teil des Tagesgeschäfts besteht aus der Beantwortung von An-fragen aus der Wissenschaft, der Altenhilfepraxis oder der Politik. DieBeratung von Anfragenden, die die Fragen zur sozialen Gerontologiestellen, ist allerdings nur ein Teil des dritten bedeutsamen Arbeits-schwerpunkte des DZA. In besonderer Weise ist das DZA für seineZuwendungsgeber beratend tätig, für das Bundesministerium für Fami-lie, Senioren, Frauen und Jugend und für die Senatsverwaltung für Ar-beit, Soziales und Frauen in Berlin. Die Geschäftsstellen für die Sach-verständigenkommission zur Erstellung des zweiten, dritten und viertenAltenberichts waren bzw. sind am DZA eingerichtet worden; und auch

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die Geschäftsstelle für die Überarbeitung des Weltaltenplans wird durchdas DZA betreut.

3 Ausblick

Das Deutsche Zentrum für Altersfragen existiert nun seit 25 Jahren undes besteht kein Mangel an zukunftsweisenden Aufgaben. Die Land-schaft gerontologischer Institutionen hat sich in den vergangenen Jahr-zehnten gründlich verändert: Es sind viele neue Institute hinzugekom-men. Es kann auch festgestellt werden, dass die soziale Gerontologieerhebliche Fortschritte aufzuweisen hat (Jansen, Karl, Radebold, &Schmitz-Scherzer, 1999; Wahl & Tesch-Römer, 2000). Dennoch beste-hen offene Fragen � und neue Problemlagen sind hinzugekommen.Auch in Zukunft wird das Deutsche Zentrum für Altersfragen Antwortenauf Fragen suchen müssen, die der demographische Wandel uns auf-gibt. In der Zusammenarbeit mit anderen Institutionen und in der inter-disziplinären Ausrichtung der sozialen Gerontologie, zu der Soziologie,Politologie, Rechtswissenschaften und Psychologie gehören, und vondenen viele nun auch am DZA vertreten sind, wird sich das Zentrumdiesen Aufgaben auch in Zukunft stellen.

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Der demographische Strukturwandel inDeutschland � einige Anmerkungen

dargestellt mit Daten des StatistischenInformationssystems GeroStat

Elke Hoffmann

Deutsches Zentrum für Altersfragen, Berlin

Fragen nach der Größe, dem strukturellen Zustand und der Entwicklungvon Bevölkerungen sind schon immer von zentralem Interesse für dieökonomische, kulturelle, soziale und politische Entwicklung menschli-cher Gesellschaften. Die gegenwärtig in Deutschland nahezu sprung-haft anwachsende Aufmerksamkeit für demographische Prozesse sei-tens der Wirtschaft und Politik, seitens zahlreicher Fachdisziplinenaußerhalb der Bevölkerungswissenschaften, seitens der Medien undschließlich auch seitens der Öffentlichkeit dürfte vor allem aus dem er-reichten Zustand des demographischen Strukturwandels und seinerWirkung auf ökonomische und soziale Entwicklungsprozesse sowie ausdem daraus resultierenden Handlungsdruck insbesondere auf der politi-schen Ebene resultieren. Der vorliegende Beitrag will mit einigen theo-retischen, methodischen und empirischen Fakten zum demographi-schen Strukturwandel in Deutschland und der damit verknüpftenAlterung der Bevölkerung zu einer sachlichen, problemorientierten Dis-kussion dieser Thematik beitragen.

1 Zum demographischen Strukturwandel

Auf der begrifflichen Ebene benennt der �demographische Strukturwan-del� Veränderungen der strukturellen Merkmale einer Bevölkerung (ei-nes Bevölkerungsbestandes) innerhalb eines zeitlichen Verlaufes. Zudiesen strukturellen Merkmalen gehören: das chronologische Alter derdie Bevölkerung konstituierenden Personen, ihr Geschlecht, ihr Famili-enstand, die Staatszugehörigkeit und die regionale Verteilung der Be-völkerung.

Die zweifellos zentrale Kategorie demographischer Strukturen und Pro-zesse ist das biographiebezogene Alter von Personen. Dieses Merkmalund der damit verknüpfte spezielle Prozess des �Alterns von Bevölke-

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rungen� (aging population) stehen im folgenden im Mittelpunkt der Be-trachtungen zum demographischen Strukturwandel.

Der Begriff �Altern� wird hier im bevölkerungswissenschaftlichen Sinnebenutzt als die Abbildung einer Entwicklung, die beim Vergleich zeitlichverschiedener Zustände der Altersstruktur einer Bevölkerung eine Ver-schiebung zu Gunsten des Anteils der älteren und alten Bevölkerungs-gruppen nachweist. Er benennt demnach einen Strom oder Prozess,jedoch keinen Zustand. Methodisch betrachtet steht bei Analysen desdemographischen Wandels somit nicht die reine Altersstruktur der Be-völkerung im Mittelpunkt des Interesses, sondern der relative Bezugvon Altersgruppen oder auch Generationen zueinander sowie das Maßund die Richtung seiner Verschiebung.

Im theoretischen Kontext der Bevölkerungswissenschaften sind die je-weils zu einem bestimmten Zeitpunkt gemessenen demographischenMaße, Zustände und Strukturen ein Produkt langfristiger historischerEntwicklungen, die als Zusammenspiel sozialer Verhältnisse und de-mographisch relevantem menschlichem Verhalten zu beschreiben sind.Dieses Verhalten konsolidiert sich wesentlich in den drei demographi-schen Grundprozessen

� Fertilität � Geburtlichkeit� Mortalität � Sterblichkeit� Migration � Wanderungsgeschehen,

die in ihrer jeweils historisch spezifischen Wechselwirkung bestehendedemographische Verhältnisse prägen. Demographische Zustände undProzesse � so auch das Altern von Bevölkerungen � werden somitdurch spezifische demographische Verhaltensweisen von Individuenunter jeweils konkreten ökonomischen, sozialen und kulturellen Rah-menbedingungen verursacht und konstituiert.

Die demographische Forschung verfügt über eine Vielzahl theoretischerModelle zur Erklärung dieser Verschränkung von Bevölkerung, Wirt-schaft, Kultur, Biologischem und Sozialem, die stark geprägt sind durchdie spezifischen Fragestellungen der jeweiligen Fachdisziplinen wie z.B.der Ökonomie, der Soziologie, der Humanbiologie, der Sozialmedizin(Mackensen 1998; Mackensen 1999; Mueller, Nauck, Diekmann 2000),und die auch innerhalb der wissenschaftlichen Disziplinen weiter diffe-renziert sind und kontrovers diskutiert werden. Nach einer universellgültigen, konsolidierten Theorie der demographischen Entwicklung, derÜbergänge und Umbrüche/Transitionen wird man vergebens suchen.

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Im Rahmen soziologischer Erklärungstheorien zu Bevölkerungsprozes-sen (Huinink 2000) präferiere ich auf der makrotheoretischen Ebenejenen Ansatz, der den demographischen Wandel als Teilprozess derModernisierung von Gesellschaften definiert. Demographischer Wandelwird hier auf den im Zuge der Industrialisierung vollzogenen Bedeu-tungswandel der Familie zurückgeführt. Heutige demographische Ver-hältnisse resultieren demnach aus dem mit der industriellen Revolutionbeginnenden allmählichen Übergang von der vorindustriellen Bevölke-rungsweise, die charakterisiert ist durch hohe Sterbeziffern und hohe,unkontrollierte Geburtlichkeit, zu einer modernen postindustriellen Be-völkerungsweise mit hoher und weiter steigender Lebenserwartungsowie geringer, aber individuell selbstbestimmter Fruchtbarkeit (u.a.Schmid 1997).

Im Zuge gesellschaftlicher Modernisierungsprozesse wie

� der wirtschaftlichen Entwicklung durch eine industrielle Produktions-weise

� der Urbanisierung und der kulturellen Entwicklung in urbanen Le-bensräumen

� der Säkularisierung und Bildungsexpansion� der Demokratisierung� dem Ausbau der Infrastruktur und der Verbesserung der Gesund-

heitsbedingungen� schließlich auch durch den steigenden Lebensstandard der Gesell-

schaft

vollzog sich ein Wandel der familialen Funktionen und der Wertigkeitvon Kindern innerhalb der Familie. Primär verursacht ist dieser Prozessdurch die Auslagerung der Produktionstätigkeit aus der Familie in dengesellschaftlichen Bereich und der darauf folgenden Verlagerung famili-aler Versorgungssysteme auf soziale Institutionen. Daraus resultierteeine schrittweise Anpassung agrarisch-ländlicher Familienformen mithinreichend großer Mitgliederzahl, verlässlichen Aufgaben- undArbeitsteilungen und mit einem hohen Geburtenniveau an industriell-städtische Bedingungen, unter denen für die Familien keine wirtschaftli-chen Nettovorteile von seiten ihrer Kinder mehr bestehen, somit derWert der Kinder auf einen immateriellen Nutzen überging und die Fragenach der Qualität der Sozialisation der Kinder mitsamt der dafür aufzu-bringenden familialen und individuellen Investitionen (Opportunitäts-kosten) ein entscheidender Faktor bei der Festlegung der deutlich sin-kenden Kinderzahlen in den Familien wurde.

Parallel zu der heute erreichten Normalität einer freien und selbstbe-stimmten Familiengründung in industrialisierten Ländern entwickelten

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sich im Zuge der Modernisierungen auch die Chancen für ein längeresLeben durch eine drastische Senkung der Säuglingssterblichkeit undeiner schrittweisen Verbesserung der Überlebenswahrscheinlichkeitenim mittleren und höherem Lebensalter. Die somit aus dem sinkendenFertilitätsniveau und der steigenden Lebenserwartung resultierende Al-tersstrukturverschiebung zugunsten der älteren Generationen mussunter diesem historischen Aspekten als ein sozialer Fortschritt bewertetwerden. Der Bevölkerungswissenschaftler Höpflinger schreibt: �Globalgesehen ist demographische Alterung nicht das Hauptproblem, sonderndie Lösung des Problems permanenten Bevölkerungswachstums. Eingeringer Anteil älterer Menschen ist zudem Hinweis auf eine brutale ge-sellschaftliche und demographische Situation, während ein relativ hoherAnteil älterer Menschen durchaus als zivilisatorischer Fortschritt be-zeichnet werden kann� (Höpflinger 1997: 193). Dieser als Fortschritt zubewertende Prozess der Alterung von Bevölkerungen � das sei an die-ser Stelle ergänzend erwähnt � ist unter bevölkerungswissenschaftli-chem Aspekt analytisch gut erschlossen und prognostizierbar. Ganz imGegensatz zur Biologie, für die das Altern nach wie vor eines der wirk-lich großen Rätsel der Menschheit darstellt.

Bei der Behandlung der Thematik des Alterns kann jedoch nicht über-sehen werden, dass demographische Trends zunehmend als argu-mentativer Kern für gesellschaftliche Krisenszenarien dienen. Auchwenn man sich von derartigen polemischen, wenig differenzierten undzumeist sehr statischen und plakativen Interpretationen distanziert,muss doch in Anbetracht der Dauerhaftigkeit und Kontinuität, des zu-nehmenden Tempos, des hohen Maßes und der regionalen Verbreitungdie Alterung von Gesellschaften als ein globaler Prozess mit nationalenund regionalen Variationen bewertet werden. Er betrifft mit all seinensozialen, ökonomischen und kulturellen Konsequenzen nicht mehr nurmoderne Industriegesellschaften, sondern ist darüber hinaus � zwar innoch nicht ganz so extremer Konstellation wie in Europa � dafür aberaufgrund der Durchsetzung massiver geburtenreduzierender Maßnah-men ziemlich sprunghaft auch in ausgewählten Ländern Asiens undLateinamerikas zu beobachten. Für die von Alterung betroffenen Indust-riegesellschaften besteht nun das Problem darin, dass die natürlichenBevölkerungsprozesse Fertilität und Mortalität ein solches Niveau er-reicht haben, dass das quantitative Verhältnis der Generationen zuein-ander das bisher garantierte Zusammenspiel von ökonomischen, sozi-alen, kulturellen und politischen Umständen erschweren wird. Die indiesem Zusammenhang gern als demographisches Ungleichgewichtdefinierte Altersstruktur kann beispielsweise wirtschaftliche Schwierig-keiten bei der Aufrechterhaltung sozialer Sicherungssysteme durchaus

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noch verschärfen, und zwar langfristig und nachhaltig, wie es dem Cha-rakter demographischer Prozesse entspricht.

Im Interesse einer sachlichen Bewertung dieses globalen Problems desAlterungsprozesses muss hier ergänzend zumindest auf ein weiteresglobales Problem ganz anderer Dimensionen verwiesen werden: undzwar auf das globale Bevölkerungswachstum in den Entwicklungslän-dern. Hier leben ca. ¾ der Weltbevölkerung, die nach UN-Prognosenfür rund 90% des zu erwartenden Zuwachses der Weltbevölkerung ver-antwortlich sind. Allein das für die nächsten 50 Jahre prognostizierteWachstum dieser Bevölkerungen um das Doppelte lässt ahnen, dasssich die daraus resultierenden sozialen und ökonomischen Probleme,die sich nicht nur auf die Länder der dritten Welt beschränken werden,in unvergleichlichen Dimensionen bewegen (Münz, Ullrich 1999:1;Wöhlcke 1999).

2 Die demographische Situation. AusgewählteFakten zu den Determinanten demographischerAlterung in Deutschland1

2.1 Fertilität

Das Geburtenniveau und die Fertilität einer Bevölkerung sind von be-sonderer Bedeutung für strukturelle Veränderungen seines Bestandes,da sie bestimmen, in welcher Quantität junge Generationen heran-wachsen und die absterbende Generation langfristig ersetzen. InDeutschland wird das zur einfachen Bestandserhaltung der Bevölke-rung notwendige Geburtenniveau bereits seit längerem unterschritten:Nach dem Periodenmaß2 wurde es in Westdeutschland 1969 letztmaligerreicht, in der DDR 1971. Nach der Kohortenmessung3 waren es inbeiden Teilen Deutschlands die Frauen der Geburtsjahrgänge 1935/36,die die zur einfachen Reproduktion erforderliche Kinderzahl4 realisier-

1 Vgl. u.a. Höhn 1999; Heigl, Mai 1998; Höpflinger 1997; Schwarz 1997.2 Demographisch relevante Ereignisse lassen sich mit 2 Methoden messen: mit der Perioden-

und mit der Kohortenanalyse. Die Periodenanalyse betrachtet demographische Zustände undVerläufe zu einem exakten Zeitpunkt, hier: die jährliche Messung zum Jahresende (vgl. u.a.Dinkel 1989:11).

3 Die Kohortenanalyse untersucht demographische Abläufe (hier: die Fertilität) einer bestimm-ten Kohorte (hier: Geburtskohorten) über historisch lange Zeiträume (Dinkel 1989:10-11).

4 Für die einfache Reproduktion einer Generation müssen 100 das Gebäralter überlebendeFrauen mindestens 212 Kinder zur Welt bringen.

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ten. In den alten Bundesländern weist die Nettoreproduktionsrate5

(NRR) von 1997 mit 0,689 weiterhin konstant eine Unterschreitung desBestandserhaltungsniveaus um ca. 30% aus, in den neuen Ländern isttrotz einer allmählichen Zunahme der NRR seit dem Tiefpunkt 1993/94noch immer eine Unterschreitung um 50% (mit einer Ziffer von 0,497;Statistisches Bundesamt 1999(1):51) zu konstatieren. Für eine differen-ziertere Beschreibung des Fertilitätsniveaus sollte hinterfragt werden,von wie vielen Frauen dieses Niveau getragen wird, d.h. wie hoch derAnteil jener Frauen ist, die in ihrem Leben tatsächlich Mutter werden.Abbildung 1 verdeutlicht recht anschaulich den wachsenden Anteil kin-derloser Frauen in Deutschland sowie das zunehmend schnellere Tem-po dieser Entwicklung. Im früheren Bundesgebiet bleibt schon jededritte Frau kinderlos, in den neuen Ländern betrifft es jede vierte. Dadas Geburtenniveau in Westdeutschland seit ca. 25 Jahren konstant ist,erbringt demzufolge der kleiner werdende Teil gebärender Frauen einedurchschnittlich höhere Fertilität, d.h. das niedrige Geburtenniveau wirdvon einem � noch � kleineren, jedoch anwachsenden Teil der Bevölke-rung verursacht (Dorbritz; Schwarz 1996).

Der Soziologe Franz Xaver Kaufmann spricht in diesem Zusammen-hang von einer Polarisierung der Gesellschaft in Familien auf der einenund in kinderlos Lebende auf der anderen Seite. Im Sinne der ökonomi-schen Theorie öffentlicher Güter leitet er daraus ein �Trittbrettfahrer-problem� ab. Er schreibt: �Die heute Kinderlosen werden von den Erzie-hungsleistungen der heutigen Eltern profitieren, und zwar um so mehr,je größer ihre Erwerbschancen im Vergleich zu denjenigen der Perso-nen mit Elternverantwortung sind� (Kaufmann 1997:82). Wahrscheinlichist, dass diese Polarisierung nicht nur im beschriebenen ökonomischenSinne relevant sein wird, vielmehr das soziale Verhalten dieser beidenBevölkerungsgruppen insgesamt betrifft. Beispielhaft seien hier derUmgang mit Ressourcen menschlichen Lebens im Sinne von Nachhal-tigkeit oder auch die Solidarität mit heranwachsenden Generationenangeführt.

Der soziologischen Betrachtungsweise des Wirkungsgefüges äußererBedingungen, sozialer Regelungen und individueller � hier: generativer� Verhaltensweisen folgend, ist keine Veränderung der Trends in Sicht.Bei der �Suche nach dem individuellen Wohlfahrtsoptimum� (Schmid1997:234) werden Präferenzen in den Lebenszielen bei zunehmendenHandlungsspielräumen, Lebenschancen und Leistungsorientierung zu-

5 Diese Rate misst, ob die Fertilität einer Frauengeneration unter gegebenen Sterblichkeitsver-

hältnissen ausreicht, diese von den geborenen Mädchen zahlenmäßig zu ersetzen. Ist dieRate 1, ist eine einfache Reproduktion (Bestandserhaltung) garantiert, liegt sie darunter, wirddie Bevölkerungszahl sinken.

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ungunsten von Kindern getroffen, deren Opportunitätskosten als zuhoch und Kinderlosigkeit als persönlicher Vorteil wahrgenommen wer-den.

Auf einen weiteren, gerade auch für die Thematik der Generationenbe-ziehungen nicht unwesentlichen demographischen Trend sei hier kurzverwiesen: In Anbetracht der steigenden Lebenserwartung und der dar-aus resultierenden Lebensverlängerung werden Szenarien wie folgendeskizziert: ein 50jähriger Mann, der zugleich seine Rolle als Vater, Groß-vater, Kind und Enkel erlebt. Bei einer Lebensdauer von ca. 80 bis 90Jahren würde das Generationenabstände von ca. 20 bis 25 Jahren vor-aussetzen. Tatsache ist jedoch, dass der Trend zur Verlängerung die-ser Abstände, die durch das paritätsspezifische Gebäralter (also durchdas Alter der Mutter bei Geburt ihrer Kinder) festgelegt werden, weiterunvermindert anhält. Das Erstgebäralter für ehelich geborene Kinder6

betrug 1997 in Westdeutschland 28,57 Jahre. Für Familien, die in derDDR gelebt haben, werden in den nächsten 30 bis 40 Lebensjahren derjetzigen mittleren Generation noch kurze Generationenabstände kenn-zeichnend sein, denn das 1. Kind wurde in Durchschnitt mit 22 Jahren

6 Die Statistik enthält keine Angabe zum paritätsspezifischen Gebäralter für nichtehelich Le-

bendgeborene. Deshalb ist zu beachten, dass 1997 in Westdeutschland 14% aller Kinder vonnichtverheirateten Frauen geboren wurden.

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geboren. 1997 lag dieses Alter in den neuen Ländern bei 27,64 Jahren(allerdings betrifft diese Angabe auch hier nur die ehelich geborenenKinder; die 44,1% außerehelich geborener Kinder � 1997 � fallen ausdieser Betrachtung heraus). Insgesamt hält der Trend der Verschiebungvon Geburten � egal welcher Ordnungszahl � in ein höheres Lebensal-ter weiter unvermindert an. Somit beginnt die aktive Familienphase derFrauen in Deutschland im Lebensverlauf betrachtet zu einem immerspäteren Zeitpunkt.

2.2 Mortalität

Während die Alterung von Bevölkerungen primär die langfristige Kon-sequenz des anhaltenden säkularen Trends der Geburtenreduzierungauf ein Niveau unterhalb des Ersatzniveaus des Bevölkerungsbestan-des ist, können die vorherrschenden Sterbeverhältnisse die Alterungverstärken, sofern die Lebenserwartung der mittleren und der älterenGenerationen schneller steigen als die Lebenserwartung Neugebore-ner. Dieses Verhältnis birgt die gegenwärtigen und zukünftigen lebens-verlängernden Potentiale moderner Gesellschaften und wird � bezogenauf die graphische Abbildung der Altersstruktur der Bevölkerung mittelseiner Alterspyramide � gern als �Alterung von oben� bezeichnet. Abbil-dung 2 belegt das Absenken der Säuglingssterblichkeit auf ein so nied-riges Niveau (im Vergleich zu 1952 um 90%), dass weitere Verbesse-rungen bei der Gestaltung zukünftiger Überlebensordnungen fürNeugeborene statistisch kaum ins Gewicht fallen werden. Die Verlänge-rung der Lebenserwartung beruht zunehmend auf den Fortschritten beider Bekämpfung der Alterssterblichkeit und gewinnt für das Altern vonBevölkerungen zunehmend an Bedeutung.

Im 20. Jahrhundert verweist die Statistik auf eine Zunahme der ferne-ren Lebenserwartung 60jähriger Männer in Deutschland um 5,3 Jahre,für gleichaltrige Frauen um 8,4 Jahre. Das Statistische Bundesamtprognostiziert für die nächsten 35 Jahren eine Lebensverlängerungfür 60jährige Männer um weitere 2,3 Lebensjahre, für gleichaltrigeFrauen um 2,9 Jahre7 (Sparmann 1999; zur Entwicklung der Lebenser-wartung im 20. Jahrhundert vgl. auch Abb.3a und 3b). Neuere DIW-Bevölkerungsprognosen bis zum Jahr 2050 rechnen in Variante B8 so-gar mit einem Gewinn an Lebensjahren für 65jährigen von 5 bis 6 Jah-ren (Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung 1999).

7 Annahmen zur ferneren Lebenserwartung der 9. Koordinierten Bevölkerungsvorausberech-

nung des StBA (Statistisches Bundesamt 1999(2):599)8 Fortschreibung des jetzigen Rückganges der Sterberate

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Im Hinblick auf die These der Feminisierung des Alters ist zweifellos dieSexualproportion der Überlebensordnung ein für gerontologische For-schung wesentlicher demographischer Aspekt. Diesbezüglich sindkaum noch Differenzen im Säuglingsalter zu beobachten. Im mittlerenAlter ab dem 50. bis 55. Lebensjahr kippt der bis dahin vorhandeneleichte Männerüberschuss9 durch eine höhere Überlebenswahrschein-lichkeit der Frauen und dem aufgebrauchten Überschuss männlicherNeugeborener in einen Frauenüberschuss im Bevölkerungsbestand.Die größten Potentiale zur Lebensverlängerung im höheren Lebensalterdürften vor allem für Männer zwischen dem 60. und 80. Lebensjahr lie-gen, wenn es gelingt, Risikopotentiale für die in diesem Alter häufigsteTodesursache � den Herzinfarkt10 zu vermindern.

2.3 Migration

Betrachtungen zum Wanderungsgeschehen als heutzutage stark poli-tisch gesteuerter Prozess sollen hier auf die Aussage beschränkt blei-ben, dass auf Grund eines starken Zuwanderungsdruckes von außenund/oder eines Zuwanderungsbedarfes von innen die natürlichen Be-völkerungsprozesse überformt werden können. Beispielhaft sei auf die

9 verursacht durch den Knabenüberschuss von 106 neugeborenen Jungen auf 100 Mädchen10 Todesfälle ab 65. Lebensjahr gehen bei Männern zu 54,7% auf Krankheiten des Kreislauf-

systems, insbesondere auf den Herzinfarkt zurück; bei männlichen Todesfällen zwischen dem45. und 65. Lebensjahr zu 33,1%.

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Bevölkerungszunahme in Deutschland bis 1997 verwiesen, die über-wiegend durch Zuwanderungsgewinne erzielt wurden. Im Jahr 1998konnten diese den Sterbefallüberschuss nicht mehr ausgleichen, sodass eine Bevölkerungsabnahme die Folge war. Konsens besteht da-hingehend, dass Migrationsprozesse mit hohen Zuwanderungsüber-schüssen auch mit optimalen strukturellen Merkmalen die Alterung vonIndustriegesellschaften langfristig nicht wirkungsvoll stoppen können.

3 Demographische Maße zur Abbildung vonAlterung (Aging population)

Die Methoden zur Messung von Alterungsprozessen sind sehr vielfältigund sollten je nach Fragestellung in dieser Vielfalt und vor allem auch inVerbindung mit ihrem Aussagewert diskutiert werden. Prinzipiell sinddemographische Alterungsmaße drei verschiedenen Kategorien zuzu-ordnen (Kytir 1995/96).

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3.1 Absolute Besetzungszahlen und relative Anteilswerte

Der Rückgriff auf die Abbildung der Bevölkerung nach einjährigen Al-tersgruppen und Geschlecht zu einem bestimmten Stichtag (mittels ab-soluter Besetzungszahlen) in Form eines Histogrammes (bekannt alssogenannte Bevölkerungs- oder Alterspyramide) ist recht anschaulichund garantiert bereits einen hohen Informationsgewinn, da sie Aussa-gen auf drei verschiedenen Zeitebenen in sich birgt: als Resultat ver-gangener demographischer Verhältnisse verweist sie auf historischeEntwicklungen, sie präsentiert den gegenwärtigen demographischenBestand und sie beinhaltet das Potential zukünftiger struktureller Ent-wicklungen (Abb. 4).

Die Aggregation dieser absoluten Besetzungszahlen zu Hauptalters-gruppen und die Berechnung ihrer relativen Verteilung an der Bevölke-rung (Abb. 5) ermöglicht bereits eine etwas kompaktere Betrachtungvon Verschiebungen in der Altersstruktur. Diese ist jedoch nur als Be-schreibung der Verschiebung relativer Anteile möglich. Regionale undzeitliche Vergleiche werden wegen fehlender Standards bei diesen Be-rechnungen erschwert.

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3.2 Statistische Verteilungsmaße

Zu dieser Gruppe gehören Mittelwerte und Mediane. Allerdings ist dasDurchschnittsalter einer Bevölkerung als ein Mittelwert zur Bestimmungvon Altersverteilungen weniger geeignet. Empfohlen wird das Median-alter als jenes Alter, bei dem genau je 50% der Bevölkerung jüngerbzw. älter sind. Aufgrund des uneffektiven Verhältnisses der benötigtenumfänglichen Datenbasis zu dem eher groben Raster11 findet es jedochnur selten Verwendung.

3.3 Indexmaße

Indexmaße zur statistischen Messung demographischer Alterungspro-zesse bilden Relationen verschiedener Bevölkerungsgruppen zueinan-der ab. Häufigste Verwendung finden die Altersquotienten als soge-

11 Beide Verteilungsmaße behandeln die Verteilungen nach oben und unten von der errechne-

ten Mitte aus als gleichwertig (Dinkel 1989).

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nannte �dependency ratios�12. Je nach Art des Maßes wird die Bevölke-rung im noch nicht erwerbsfähigen Alter (Jugendquotient), im nichtmehr erwerbsfähigen Alter (Altenquotient; Abb. 6 und 9) bzw. beide zu-sammen (Gesamtquotient) ins Verhältnis zur erwerbsfähigen Bevölke-rung gesetzt. Ihr Aussagewert liegt in der Darstellung einer Relationzwischen erwerbsfähiger und nicht erwerbsfähiger Bevölkerung, die be-vorzugt im inhaltlichen Kontext der Gewährleistung sozialer und staatli-cher Transferleistungen (Finanzierung des Sozialaufwandes durch dieerwerbsaktive Bevölkerung) Anwendung findet.

In ähnlicher Weise wird der Aging Index A gebildet: er bezieht die Al-tersgruppe der über 65jährigen auf die Gruppe der unter 15jährigen,und ist somit aussagefähig zum Verhältnis der jüngsten zur ältestenGeneration einer Bevölkerung.

Methodisch einschränkend ist zu diesen Maßen anzumerken, dass derBevölkerungsbestand mit Ausnahme des Gesamtquotienten nur selek-tiv betrachtet wird, da nicht alle Altersgruppen in die Berechnung einge-hen (Esenwein-Rothe 1982; Feichtinger 1979; Müller 1993). Darüberhinaus gibt es keine verbindlichen Standards für die Altersgruppenglie-derungen, wodurch die Maße eine gewisse Varianz erhalten und somitnicht immer vergleichbar sind.

Die Fachliteratur stellt daher das Billeter-Maß J (Abb. 7) als eines derbrauchbarsten Maße zur Quantifizierung demographischer Alterungheraus. Das von Billeter 1954 eingeführte Maß drückt das Verhältnisder Differenz zwischen Kinder- (unter 15jährige) und Großelterngenera-tion (50jährige und Ältere) zur Elterngeneration (15- unter 50jährige)aus. Es setzt die noch nicht reproduktive Bevölkerung vermindert umdie nicht mehr reproduktive Bevölkerung ins Verhältnis zur Bevölkerungim aktiven generativen Alter. Somit bezieht es alle Bevölkerungsgrup-pen in die Berechnung ein und kann angemessen auf Veränderungender Fertilität und der Mortalität reagieren. Je kleiner �J� ist, desto älter istim demographischen Sinne die Bevölkerung. Negative Werte entste-hen, wenn der Anteil der älteren Bevölkerung größer ist als der Anteilder jungen Generation (Dinkel 1989; Kytir 1995/96).

Die Abbildungen 4 bis 7 und 9 illustrieren den Aussagewert der einzel-nen Maße für Deutschland: Abbildungen 4 und 5 zeigen, dass die Dy-namik des Altersaufbaus der Bevölkerung weiterhin bestimmt wird

12 Dependency ratios� werden übersetzt als �Abhängigkeitsmaße�. Diese rein statistische Defini-

tion wurde lange Zeit mit normativen Inhalten besetzt und im Sinne von �Belastungsquotien-ten� (z.B. als �Altenlastquotient�) benutzt. Derartige Begrifflichkeiten gelten in der wissen-schaftlichen Literatur als veraltet.

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durch relativ stabile Anteile gut besetzter Gruppen der mittleren Gene-ration im erwerbsfähigen Alter und einer anteilig schwächer werdenden

Kinder- und Jugendgeneration. Die geschlechtsspezifischen Differen-zierungen, die neben kriegsbedingten Einflüssen im oberen Alter vorallem verursacht werden durch die höhere Lebenserwartung der Frau-en, verweisen auf den Prozess der Feminisierung des Alters. Derdurchaus schwankend verlaufende demographische Alterungsprozessist zum einen die Folge des geringen Geburtenniveaus, zum anderen �und das mit zunehmender Bedeutung � Folge der Verlängerung desLebens auf Grund der Zunahme der Lebenserwartung im mittleren undhöheren Alter. Dieser Zusammenhang wird auch als Phänomen des�doppelten Alterns� bezeichnet (Kytir 1995/96).

Die Maße der Abbildungen 6 und 7 verdeutlichen vor allem zwei Ten-denzen: einerseits die regionale Differenzierung des Altersmaßes, an-dererseits aber auch eine Parallelität, Kontinuität (mit AusnahmeBerlins, bedingt durch seine politische Sonderstellung bis 1990) und Ni-veauangleichung der Entwicklung in den betrachteten RegionenDeutschlands. Hochverdichtete Regionen wie Berlin (bis 1990 nur Ber-lin-West), Bremen und Hamburg weisen nach Billeter J die älteste Be-völkerungsstruktur auf. Berlin profitierte durch die Wiedervereinigungvon der jüngeren Altersstruktur des Ostteils der Stadt und die Bevölke-rung der neuen Bundesländer ist insbesondere durch eine vergleichs-weise günstigere Fertilität in den 80Jahren jünger als die der alten Bun-desländer.

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Neben den inhaltlichen Aspekten dokumentieren diese graphischenDarstellungen auch, welch hoher Bedarf an Daten sowie an statistischerBearbeitung für die Darstellung einfacher Maße erforderlich ist, die dieKomplexität der Alterung nach verschiedenen strukturellen Merkmalen(z.B. regional und zeitlich) vergleichbar machen. Ein Hilfsmittel zur Be-wältigung dieser Anforderungen stellt das am Deutschen Zentrum fürAltersfragen entwickelte statistische Informationssystem GeroStat mit-tels digitaler online-Recherche zur Verfügung.✶ Informationssuchendekönnen sich hier ausgehend von ihrer Fragestellung schnell und un-kompliziert, d.h. ohne detaillierte statistische Vorkenntnisse, numerischeund beschreibende Informationen für den speziellen Bedarf zusammen-stellen und weiter verarbeiten. Über eine Vielzahl von Anfrageseiten(Abb. 8) können die gesuchten Information ausgewählt und nutzerdefi-nierte Ergebnistabellen erzeugt werden (Abb. 9). Die integrierte Funk-tion für elektronischen Datentranfer dieser Ergebnisse ermöglicht dieweitere Ver- und Bearbeitung der Daten.

Abb. 8: GeroStat � Anfrageseite für Altersmaße ✶ http://www.gerostat.de

http://www.dza.de

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Abb. 9: GeroStat � Ergebnis einer Anfrage: Altenquotient inDeutschland 1991 � 1998

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Beschäftigungssituation älterer Arbeit-nehmer in der Dienstleistungsgesellschaft

Christoph Behrend

Fachhochschule Lausitz, Cottbus

Vorbemerkung

Der vorliegende Beitrag gibt einen Überblick über Themen und Ergeb-nisse des Forschungsschwerpunkts zur Erwerbsarbeit im Alter beimDeutschen Zentrum für Altersfragen. Der einleitende Überblick über dieBeschäftigungssituation älterer Arbeitnehmer der achtziger und neunzi-ger Jahre macht auf den Stellenwert aufmerksam, den ältere Arbeit-nehmer auf betrieblicher und sozialpolitischer Ebene innehaben. Dabeiwird insbesondere der enge Zusammenhang zwischen der früh einset-zenden Beendigung der Erwerbstätigkeit und dem rentenversicherungs-rechtlichen Instrumentarium in der Bundesrepublik Deutschland, das dieFrühberentung über Jahre hinweg flankiert hat, aufgezeigt. Von ent-scheidender Bedeutung ist aber auch der Wandel von sogenanntenAltersbildern, hier bezogen auf den Personenkreis der älteren Arbeit-nehmer (vgl. Tews, 1991). Die in der Gesellschaft bestehenden Vor-stellungen über Erwerbsarbeit im höheren Lebensalter und über derenDauer sind geprägt von Sachzwängen: den realen Bedingungen desArbeitsmarktes und der Nachfrage nach Arbeitskräften sowie den Fi-nanzierungsmöglichkeiten, der auf dem Generationenvertrag beruhen-den gesetzlichen Rentenversicherung. Sie werden aber auch vonSelbst- und Fremdvorstellungen über die Leistungsfähigkeit im Alter, in-dividuellen Erfahrungen und vom Verhältnis der Generationen zueinan-der in den Betrieben und in der Gesellschaft insgesamt wesentlich be-einflusst. Der Wandel der Erwerbsarbeit, der sich in der Anwendungund Weiterentwicklung neuer Technologien und einer Neugestaltungvon Arbeit in zeitlicher und organisatorischer Hinsicht zeigt, deutet sichauch in der Bundesrepublik an. Im Zusammenhang mit der Interna-tionalisierung und Feminisierung künftiger Erwerbsarbeit wird voraus-sichtlich auch das Leistungspotential von Älteren eine Neubewertungerfahren. Die Fragen der Zukunft werden sich weniger auf den alters-selektiven Austausch von Arbeitskräften richten, sondern stärker aufden personalwirtschaftlichen Umgang mit dem Potential, das in der Di-version, also der Verschiedenheit der vorhandenen Mitarbeiter besteht.

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1 Ein kurzer Abriss der Thematik: ÄltereArbeitnehmer und Beschäftigung in denletzten zwanzig Jahren

1.1 Die Entwicklung in den achtziger Jahren

In den frühen achtziger Jahren schien die Frage nach der Beschäfti-gungssituation und den Beschäftigungschancen älterer Arbeitnehmer inder allgemeinen sozialpolitischen Diskussion eher ein randständigesThema zu sein, da man glaubte, mit der Erleichterung des Zugangs zudauerhaften Rentenleistungen in einem frühen Alter den Schlüssel füreinen optimalen Generationenaustausch in den Betrieben gefunden zuhaben. Auch für die Bewältigung des strukturellen Wandels, der in demmassenhaften Arbeitsplatzabbau z.B. in den Bereichen des Bergbausund der Schwerindustrie besonders deutlich wurde, stellte die Frühbe-rentung die zentrale arbeitsmarktentlastende Maßnahme dar. Es hattesich seit Mitte der siebziger Jahre eine Kultur der Frühberentung entwi-ckelt, die von allen hieran Beteiligten getragen wurde (Rosenow, 1994;Behrend, 1994). So gingen allein im Jahr 1981 über die Hälfte (51,7% !)der versicherten Männer und Frauen wegen verminderter Erwerbsfä-higkeit (BU/EU) den gesetzlichen Rentenversicherungsträgern zu �Renten, die in engem Zusammenhang mit der (Teilzeit-) Arbeitsmarkt-situation stehen und durchschnittlich weit vor dem Erreichen einer vor-gezogenen Altersgrenze gewährt werden. Der Anteil der Renten die mitvollendetem sechzigsten Lebensjahr in Verbindung mit Arbeitslosigkeitgewährt wurden lag 1981 bei 5,4 Prozent und hatte sich damit gegen-über 1975 ( 2,6%) etwas mehr als verdoppelt (VDR 2000). Verglichenmit der heutigen Perspektive von älteren Arbeitnehmern beim Übergangin den Ruhestand war die Situation in den achtziger Jahren der Bundes-republik hinsichtlich der finanziellen Alimentierung durchschnittlich deut-lich großzügiger bemessen. Das Gesetz zum Vorruhestand von 1984bis 1988, betriebliche Sozialplanregelungen in der Metallindustrie, Re-gelungen zur Altersteilzeit in den Branchen der Chemischen Industrieund im Bereich der Nahrungs- und Genussmittelherstellung flankiertenund förderten zugleich materiell den frühen Austritt aus dem Erwerbsle-ben. Das breite Spektrum von Leistungen aus der gesetzlichen Renten-versicherung wurde ohne Abschläge gewährt. Ausbildungszeiten wur-den für einen Zeitraum von maximal dreizehn Jahren auf die Renteangerechnet (vgl. § 1259 Abs.1 Nr. 4 RVO). Auch die Leistungen beiArbeitslosigkeit an ältere Arbeitslose, ein wichtiger Pfad beim Übergangin den Ruhestand, waren durchaus komfortabel ausgestattet. Eine ver-längerte Leistungsgewährung des Arbeitslosengeldes an Arbeitslose

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erfolgte bereits ab dem 42. Lebensjahr, die Förderungshöchstdauer von832 Tagen galt ab dem 54. Lebensjahr (vgl. § 106 AFG alte Fassung).Das gesellschaftliche Leitbild des älteren Arbeitnehmers bis in die acht-ziger Jahren hinein, des gesundheitlich vor allem körperlich verschlis-senen Industriearbeiters, dessen frühere, in jungen Jahren erworbeneFacharbeiterqualifikation nach einem langen und relativ kontinuierlichverlaufenden Berufsleben entwertet wurde. Die Lebensplanung, vor al-lem derjenigen, die sich in einem abhängigen Beschäftigungsverhältnisbefanden, war an einem möglichst frühen, um das 60. Lebensjahr her-um erfolgenden Ende des Erwerbslebens ausgerichteten.

Im wissenschaftlichen Kontext der Sozialen Gerontologie wurde an die-ses Leitbild angeknüpft. Der Stand der wissenschaftlichen gerontologi-schen Forschung war durch eine Kontroverse geprägt, in deren Mittel-punkt unterschiedliche Auffassungen über den Arbeitsbegriff standen.Die am Konzept der Lebenslage orientierte sozialpolitische Perspektive(vgl. Dieck & Naegele, 1978) analysierte die Situation älterer Beschäf-tigter in den Betrieben und auf dem Arbeitsmarkt als sozialstaats- undgewerkschaftspolitisches Problemfeld. Infolge belastender Arbeitsbe-dingungen und physischem Verschleiß steigt das Gesundheitsrisiko mitdem Alter an. Zugleich nimmt � ebenfalls im Zusammenhang mit demAlter � das Risiko der Entwertung beruflicher Qualifikation zu. UnterVerweis auf diese Risiken entsteht die sozialpolitische Forderung nachaltersgerechten (Schon-) Arbeitsplätzen. Ebenso wird die Notwendig-keit der Bereitstellung von Möglichkeiten für das �lebenslange Lernen�betont. Die Möglichkeit einer frühen Beendigung des Erwerbslebens istvor allem dann als begrüßenswert anzusehen, wenn diese freiwillig er-folgt. Auf den vielfach hinter diesen Regelungen stehenden �stummenZwang� der Ausgrenzung älterer Arbeitnehmer wird kritisch verwiesen(vgl. Friedmann, Naegele & Weimer, 1980).

Aus gerontopsychologischer Perspektive wurde demgegenüber hervor-gehoben, dass der Umstand nur geringer Arbeitskräftenachfrage nachÄlteren vor allem auf Vorbehalte des betrieblichen Personalwesens zu-rückführbar sei (Lehr, 1979). Zuschreibungsprozesse im Sinne einesnegativen Altersstereotyps stehen der Beschäftigung Älterer entgegen.Faktisch sind ältere Arbeitnehmer durchaus leistungs- und lernfähig,allerdings werde dem altersspezifischen Lernverhalten von Älteren nichtausreichend Rechnung getragen. Das Erfahrungswissen der Älteren �wobei offensichtlich Arbeitnehmer im mittleren und oberen Leitungs-segment im Mittelpunkt der Betrachtung stehen � stelle eine extrafunk-tionale Befähigung dar, die von den Betriebsleitungen allzu oftübersehen bzw. unterbewertet wird (vgl. Bayerisches Staatsministeriumfür Arbeit und Sozialordnung, 1986). Frühberentung wird aus psychoge-

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rontologischer Sicht, gegenüber dem sozialpolitischen Ansatz, sehr vielstärker als negative Maßnahme im Sinne eines �Danaergeschenks�(Lehr, 1979) bewertet. Der (lebens-) sinngebende Aspekt, der mit Arbeitverbunden ist, entfällt.

1.2 Die Entwicklung in den neunziger Jahren

Die sozialpolitische Debatte der frühen neunziger Jahre wird zunächstdurch den wirtschaftlichen und politischen Zusammenbruch des ande-ren Teils Deutschlands und der Aufgabe der Zusammenführung derbeiden deutschen Staaten geprägt. Dabei mussten moderne marktwirt-schaftliche Kriterien in den neuen Bundesländern umgesetzt werden.Das Sozialversicherungssystem der alten Bundesrepublik wird nunmehrauch für die neuen Bundesländer gültig � mit all den daraus entstehen-den Wirkungen und Nebenwirkungen. Die Euphorie, die mit der Wie-dervereinigung verbunden war, kann allerdings die offenen und latentenBeschäftigungsprobleme in Deutschland nur zeitweise verdecken undvon diesen ablenken. Auch in den neuen Ländern schien das Instru-ment der Frühberentung als die geeignete Maßnahme struktureller An-passungsmaßnahmen. Die Leistungen zum Vorruhestand und späterzum Altersübergang waren zunächst überaus großzügig bemessen, mitder Folge, dass diese relativ kurzfristig wieder zurückgefahren werdenmussten. Mit dem Auslaufen dieser Regelungen wurde das Beschäfti-gungsproblem Älterer in den neuen Bundesländern dramatisch deutlich(vgl. Behrend, 1998; Ernst, 1996).

In den alten Ländern der Bundesrepublik werden in den Wirtschafts-sektoren, die in den siebziger Jahren noch beachtliche Beschäftigungs-zugewinne verzeichneten, wie z.B. im Bereich des Öffentlichen Diens-tes, dem Bildungswesen, im Handel und Versicherungswesen sowieanderen produktionsnahen Dienstleistungsbranchen u.a. durch dieEinführung der Mikroelektronik zahlreiche Arbeitsplätze abgebaut. Hier-von betroffen sind vor allem die in diesen Wirtschaftszweigen inzwi-schen älter gewordenen Arbeitnehmer. Am Ende der neunziger Jahreist die Zahl der offiziell Arbeitslosen in Deutschland auf rund vier Millio-nen angestiegen. Darunter befindet sich ein nicht unbeträchtlicher undim Zeitverlauf kontinuierlich zunehmender Anteil an Langzeitarbeitslo-sen im höheren Erwerbsalter.

Die Begründung der Rentenreformen in den neunziger (RR �92) Jahrenberuhte überwiegend auf demographischen Argumenten (VDR, 1987).Beschlossen wurde mit dem Rentenreformgesetz´92, die stufenweise

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Heranführung der Altersgrenze an das vollendete 65. Lebensjahr �langfristig bis ins Jahr 2013. Die steigenden Arbeitslosenzahlen in denalten und den neuen Bundesländern ließen die Verkürzung des projek-tierten Zeitraumes notwendig erscheinen. In den neuen Bundesländernstieg bei den Männern nach dem Auslaufen der Regelungen zum Vor-ruhestand bzw. Altersübergang der Anteil der Rentenneuzugänge mitvollendetem 60. Lebensjahr in Verbindung mit Arbeitslosigkeit von 18,2Prozent im Jahr 1993 auf 42,4 Prozent. Im Jahr 1995 gingen übersechzig Prozent (60,2%) der männlichen Versicherten in den neuenLändern wegen Arbeitslosigkeit in Rente (VDR, 2000). Verschiedenegesetzliche Neuregelungen sollen Wachstum und Beschäftigung för-dern (Wachstums- und Beschäftigungsförderungsgesetz ((WFG) vom13.9.1996). Die Altersgrenzen für Frauen und Schwerbehindertewerden gegenüber der Reform �92 vorzeitig angehoben (Rehfeld, 1998;VDR 2000). Neuregelungen zur Altersteilzeit (Art.1 des Gesetzeszur Förderung eines gleitenden Übergangs in den Ruhestand vom23.7.1996), auf die ab vollendetem 60. Lebensjahr ein Rechtsanspruchbesteht, die vor allem aber auf der betrieblichen Ebene ab dem 55. Le-bensjahr ausgehandelt werden können, werden als modifizierte Formder Frühberentung von Arbeitgebern und Arbeitnehmern instrumentali-siert. In der Mehrzahl der Fälle wird Altersteilzeit �verblockt� in Anspruchgenommen. D.h. der Möglichkeit für ein geringeres Entgelt Vollzeit zuarbeiten und dafür um zweieinhalb Jahre früher das Erwerbsleben zubeenden, wird der Vorzug gegenüber einer Arbeitszeitverkürzung übereinen Zeitraum von fünf Jahren eingeräumt (Ehrenheim, 1999). Im Jahr1999 ist die Zahl der Altersteilzeittarifverträge um fast 150 auf 349angestiegen. Rund 13 Mio Beschäftigte befinden sich damit im Gel-tungsbereich dieser Verträge (Sozialpolitische Umschau Nr. 130 vom117.4.2000).

Die Reformmaßnahmen 99 � Einführung eines demographischen Fak-tors für die langfristige Neuberechnung der Rentenleistung sowie dieReform der Erwerbsminderungsrenten werden schließlich nach demRegierungswechsel im Jahr 1998 durch die neue Bundesregierung fürzwei Jahre ausgesetzt (Korrekturgesetz) (Behrend, 1997).

Deutlich wird der Zusammenhang zwischen den Beschäftigungschan-cen von Älteren und dem sozialversicherungsrechtlichen Regelungs-mechanismus für eine vorgezogene Beendigung des Erwerbslebens(Rehfeld, 1998). Dabei führt die Anhebung von Altersgrenzen allerdingsderzeit weniger zu einem längeren Verbleib von Älteren in einer Er-werbstätigkeit, sondern trägt vielmehr zu einer Konsolidierung der ge-setzlichen Rentenversicherung und einem sozialpolitisch vertretbarenBeitragssatz bei. So ging z.B. die Erwerbstätigenquote der männlichen

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deutschen Beschäftigten von 1992 bis 1999 in der Altergruppe der 60bis 65jährigen von 28,5 Prozent auf 27,3 Prozent zurück. Auch bei den55 bis 59jährigen ist ein Rückgang von 67 Prozent auf 65,7 Prozentfeststellbar (Statistisches Bundesamt 2000:42). Zugenommen habendemgegenüber die Quoten der Erwerbslosen und der Umfang der Stil-len Reserve des Arbeitsmarktes. Betrachtet man die aktuelle sozialpoli-tische Diskussion, so dreht sich diese im Kern um die Realisierung derRente mit 60 Jahren. Der gesetzlichen Rentenversicherung kommt inder Arena der rentenpolitischen Akteure bei der Frühberentung heutenur noch eine Rolle am Rande des Geschehens zu. Die entscheidende,von den Tarifparteien zu lösende Frage ist, auf welche Weise und vonwem die rentenrechtlich festgeschriebenen Abschläge von bis zu 18Prozent bei einem Rentenbezug mit 60 Jahren kompensiert werdenkönnen.

Die Aussichten, Abschläge bei den Rentenleistungen hinnehmen zumüssen, wenn die Beendigung des Erwerbslebens wie bisher zu einemfrühen Zeitpunkt erfolgt, die geplante Absenkung des Rentenniveausund nicht zuletzt immer wieder neue Vorschläge für eine Heraufsetzungder Altersgrenze, die von den Realitäten des Arbeitsmarktes weitge-hend abstrahieren, haben zu einer tiefen Verunsicherung der Lebens-planung vor allem bei den älteren Versicherten geführt.

Das typische gesellschaftliche Bild des älteren Arbeitnehmers derneunziger Jahre ist das des in beruflich-kreativer Hinsicht �ausge-brannten� Angestellten mit höheren Bildungsabschluss und einem phy-sisch noch relativ guten Gesundheitszustand. Beschäftigungshemmnis-se bestehen u.a. in mangelnder beruflicher und regionaler Mobilität. Inden alten Bundesländern wird u.a. die Frage nach der Produktivität desAlters diskutiert und die Möglichkeiten der Förderung des ehrenamtli-chen Engagements (Baltes & Montada, 1996).

In den neuen Bundesländern stellte sich die soziale Situation für die vonFrühberentung Betroffenen, insbesondere für die Männer im Zuge derHerstellung der wirtschaftlichen Einheit deutlich anders dar. In der ehe-maligen DDR lag die gesetzlich vorgeschriebene Altersgrenze für dieMänner bei 65 Jahren. Eine frühere Inanspruchnahme war nur im Fallevon Invalidität möglich. Der Betrieb stellte für viele den Lebensmittel-punkt dar. Die notwendige Modernisierung überholter Betriebsstruktu-ren führte zur Abwicklung einer Vielzahl von Produktionsstätten, mit derKonsequenz der Freisetzung von Beschäftigten. Hiervon waren diemännlichen und auch die weiblichen Beschäftigten gleichermaßen be-troffen. Nach dem Auslaufen der Regelungen zum Vorruhestand bzw.Altersübergang konnten gerade ältere Erwerbspersonen die letzten Be-

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rufsjahre nur unter prekären (untertariflich, befristet usw.) Bedingungenverbringen. Die Perspektive einer Beschäftigung bis zum vollendeten65. Lebensjahr bzw. bis zum 60. Lebensjahr bei den Frauen war weit-gehend verschlossen (Rosenow, 1999).

2 Erwerbswirtschaftlicher Wandel und der Trendzur Dienstleistungsgesellschaft

Betrachtet man die Beschäftigungssituation älterer Arbeitnehmer in derBundesrepublik Deutschland am Ende des Jahrtausends, so kann dieseals ambivalent beschrieben werden: einerseits wird deutlich, dass derErwerbsarbeit Älterer von seiten der Betriebe auch weiterhin nur wenigan Wertschätzung entgegengebracht wird. Sinkende Erwerbstätigen-quoten ab einem Alter von ca. 50 Jahren, hohe Anteile Älterer an denLangzeitarbeitslosen kennzeichnen die Lage weiterhin (Deutscher Bun-destag, 1998). Andererseits wird infolge des demographischen Wandelsein mögliches Beschäftigungsproblem für Betriebe vorausgesagt, dadiese infolge des anhaltenden Geburtenrückgangs nicht mehr in vollemUmfang jüngere Arbeitskräfte rekrutieren können. Auch durch höhereZuwanderungen als gegenwärtig wird sich der Altersstrukturwandel derGesellschaft und darin eingeschlossen der des Erwerbspersonenpoten-tials, also des Bevölkerungsanteils zwischen 15 und 65 Jahren, nichtausgleichen lassen. Der für die Jahre nach 2010 vorhergesagte Ar-beitskräftemangel und die Alterung der Belegschaft in den Betriebeninsgesamt, werden, so die Voraussagen, zu einer Neubewertung desverfügbaren Arbeitskräftepotentials in der Bundesrepublik führen (Deut-scher Bundestag, 1998). Dabei werden neben einem stärkeren Einbe-zug von Frauen in das Erwerbsleben auch ältere Arbeitnehmer alswichtige Ressource des Arbeitsmarktes gesehen (Fuchs & Thon, 1999)

Künftig stellt sich also die Frage nach den (Weiter-) Beschäftigungs-chancen von älteren Arbeitnehmern. Dabei sollte allerdings nicht nurder Verweis auf die Demographie einbezogen werden, also die Ver-knappung und Alterung des Arbeitskräftepotentials. Zunehmend wird inder wissenschaftlichen Diskussion auf die Bedeutung des Wandels derErwerbsarbeit für die Beschäftigungssituation von Älteren hingewiesen.

In diesem Zusammenhang werden neben dem demographisch beding-ten Wandel der Altersstruktur der Bevölkerung drei sogenannte Mega-trends diskutiert:

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2.1 Globalisierung

Der Trend zur Globalisierung zeigt sich in der weltweiten Vernetzungökonomischer, sozialer, ökologischer und politischer Aktivitäten. Durchdie Internationalisierung von Kapital und Gütermärkten kann einerseitswirtschaftliches Wachstum entstehen, andererseits aber verschärft sichdie nationale Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt, da nunmehr z.B. auchProduktionsketten mit sogenannten Billiglohnländern aufgebaut werdenkönnen (Spinner, 1998). In diesem Zusammenhang ist in der Bundes-republik eine Debatte um Industriestandortvorteile und deren Ausges-taltung entstanden, wobei vor allem immer wieder auf zu hohe Lohnne-benkosten als Standortnachteil hingewiesen wird (Hickel, 1998). Nebenallgemein hohen Steuer- und Sozialabgaben fallen gerade bei den älte-ren Beschäftigten häufig infolge von sogenannten betrieblichen Senio-ritätsregelungen höhere Kosten für die Betriebe an. Mit der Dauer derBetriebszugehörigkeit und damit indirekt auch dem Alter, erlangen dieBeschäftigten innerbetriebliche Vorteile, wie z.B. höheres Arbeitsent-gelt, längeren Urlaub, verlängerten Kündigungsschutz, Ansprüche aufbetriebliche Altersversorgung usw. Mit Blick auf die bestehenden Ar-beitsbedingungen und Sicherungsleistungen in anderen Ländern, ist derKostenfaktor Arbeit in der Bundesrepublik Deutschland relativ hoch. Indieser Hinsicht ist eine Verbesserung der Beschäftigungslage der Älte-ren wohl nicht zu erwarten. Eine Lösungsmöglichkeit scheint der Aus-bau eines Niedriglohnsektors zu sein (Kommission für Zukunftsfragen,1998; Klammer & Bäcker, 1998). Allerdings mit der nicht unerheblichenGefahr, dass die dort erzielbaren Arbeitseinkommen häufig für die Le-bensstandardsicherung nicht ausreichend sind.

2.2 Dienstleistungsproduktion

Der Trend zur Dienstleistungs- oder Informationsgesellschaft beschreibtden sektoralen Wandel, der aufgrund einer ungleichmäßigen Produkti-vitätsentwicklung zwischen den jeweiligen Wirtschaftssektoren einge-treten ist (Bogai, 1996; Häußermann & Siebel, 1995; Schettkat, 1996).Im industriellen Sektor vor allem in der Automobilindustrie wurde durchtechnologische Innovationen, wie z.B. der Mikroelektronik, der Produkti-vitätsfortschritt deutlich beschleunigt. Langfristig steht der Freisetzungvon Arbeitskräften aus dem sekundären Bereich ein Ansteigen von Ar-beitstätigkeiten im tertiären Sektor, dem Bereich der Dienstleistungengegenüber. So sind derzeit zwei von drei Erwerbstätigen im tertiärenBereich beschäftigt, im Jahr 1970 waren es nur 43%. Eine vollständigeKompensation der Arbeitskräfte, wie man sie sich noch zu Beginn der

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fünfziger Jahre erhoffte, erfolgte allerdings nicht. Einerseits waren diepersonenbezogenen Dienstleistungen zu teuer, so dass im Bedarfsfalleauf Eigenproduktion zurückgegriffen wurde. Hierzu bot sich eine expan-dierende Haushaltsindustrie an, die die Nachfrage nach derartigenDienstleistungen in eine andere Richtung steuerte. Unterschätzt wurdedarüber hinaus, dass Dienstleistungstätigkeiten, die in mittelbarer oderunmittelbarer Nähe zum industriellen Sektor stehen, wie z.B. Vertrieb,Finanzierung, Versicherungen oder Reperatur- und Wartungsarbeitenebenfalls einer hohen Steigerung der Arbeitsproduktivität und damit ei-nem Rationalisierungsrisiko unterliegen. Wie Arbeitsmarktprognosenvorhersagen, sind Zuwächse der Beschäftigung künftig vor allem im Be-reich der sekundären Dienstleistungen, wie Entwicklung, Planung, For-schung, Management, Organisation, Beratung zu erwarten (Prognos,Weidig, Hofer & Wolff, 1996).

Auf der Ebene der betrieblichen Arbeitsorganisation fand eine Abkehrder tayloristischen Produktionsweise statt. Arbeitsabläufe, die routine-mäßig, sich stets wiederholend und auf relativ einfachen manuellemTätigkeitsniveau erfolgten, wurden maschinell ersetzt. Aus Japan wirddas Modell des �Toyotismus� übernommen, wonach billige Massengü-terproduktion durch qualitativ hochwertige Konsum-, aber auch Investi-tionsgüter abgelöst wird. Produktivitätsvorteile bringt die Verschlankungvon Produktionsabläufen (lean-productions), wie z.B. die Arbeit �just intime�. Kosten für die Lagerhaltung wird hierdurch weitgehend einge-spart. Auch die aufgabenbezogene Arbeit in Gruppen oder sogenann-ten Fertigungsinseln soll zu einer Erhöhung der Arbeitsproduktivität füh-ren (Giarini & Liedke, 1998; Rifkin, 1998). Im Zusammenhang mit derNeuorganisation der Erwerbsarbeit wird die Nachfrage nach geringqua-lifizierter Arbeit deutlich zurückgehen. Besondere Bedeutung wird dieFähigkeit erhalten, fachliches und technisches Wissen mit sogenanntenSchlüsselqualifikationen und sozialer Kompetenz zu verbinden. Inwie-weit die neuen Formen der Arbeitsorganisation, die Beschäftigungs-chancen der Älteren dadurch erhöhen, dass z.B. in altersheterogenenArbeitsgruppen das Erfahrungswissen stärker zum Tragen kommt undLeistungsmodifikationen kompensiert werden können, ist empirisch der-zeit ungeklärt (Bullinger, Volkholz u.a. Hrsg., 1993).

Allerdings besteht eine deutliche Abhängigkeit der Beschäftigungs-chancen vom jeweiligen Produktionsregime, das in einem Betrieb domi-niert (Frerichs, 1998). Betriebe, die an dem Regime der diversifiziertenQualitätsproduktion und -dienstleistung orientiert sind (Maschinenbau,Chemie, Banken und Versicherungen), bieten offenbar die besten Be-schäftigungschancen für Ältere. Tayloristische Arbeitsformen sind da-gegen mit einem hohen körperlichen Belastungs- und Verschleißrisiko

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verbunden, mit der Folge, dass es sich bei den noch beschäftigten Älte-ren um eine Auslese im Sinne des �healthy worker�-Effektes handelt.Ebenfalls geringe Beschäftigungschancen für Ältere bieten sich in derinnovationsorientierten Qualitätsproduktion und -dienstleistung, die durcheine jugendzentrierte betriebliche Personalpolitik charakterisiert ist. Hiersind es u.a. qualifikatorische Überforderungen im Zusammenhang miteinem beschleunigten �Wissensumschlag�, denen Ältere trotz insge-samt durchschnittlich höherem Qualifikationsnivau häufig nicht stand-halten können. Insgesamt folgt aus den Ergebnissen, dass für die Erklä-rung von Beschäftigungschancen und/oder -risiken, weniger dieUnterscheidung zwischen Produktionsbetrieb und Dienstleistungsbe-trieb beiträgt, als vielmehr die Differenzierung nach der jeweiligen be-trieblichen Strukturqualität.

Faktisch sind derzeit in den modernen innovationsorientierten und ex-pandierenden Dienstleistungsberufen, z.B. im Bereich der Informations-und Kommunikationstechnologien, Ältere deutlich unterrepräsentiert,während ein Übergewicht in den Bereichen der Sozialversicherung undder öffentlichen Verwaltung besteht � Wirtschaftszweige, die derzeit zu-nehmend vom Personalabbau betroffen sind.

Neue Branchen und Beschäftigungsmöglichkeiten entstehen durch eineveränderte Nachfrage im Zusammenhang mit dem Altersstrukturwan-del. Vor allem im Hinblick auf besondere Kompetenzen in der Betreu-ung und Beratung älterer Konsumenten in Bereichen des Tourismus,der Gesundheitsprävention, bei Geldanlagen usw. kann die Nachfragenach älteren Arbeitnehmern durchaus zunehmen (Barkholt, Frerichsu.a., 1999). So sind z.B. durch die Einführung der gesetzlichen Pflege-versicherung, wenn auch nicht im erwarteten Umfang, zahlreiche neueArbeitsplätze im Bereich der sozialen (personenbezogenen) Dienst-leistungen geschaffen worden (Gerste & Rehbein, 1998). Die Hoffnung,dass hiervon auch Ältere profitieren könnten, wird allerdings in Untersu-chungen hinsichtlich der besonderen Qualifikationsanforderungen undden körperlichen Belastungen im Pflegeberuf relativiert (Döhl, Kratzeru.a., 1998).

2.3 Gesellschaftlicher Wertewandel

Ein schließlich dritter Trend besteht in einem auf das Arbeitsleben be-zogenen gesellschaftlichen Wertewandel. Durch z.B. Kindererziehungs-zeiten, Weiterbildung, Berufswechsel, ehrenamtliches Engagementoder Arbeitslosigkeit, wird das Arbeitsleben zunehmend freiwillig oder

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gezwungenermaßen unterbrochen. In diesem Zusammenhang wird voneiner Destandardisierung der Erwerbsbiographien gesprochen, wobeisich die strikte Aufteilung in die Ausbildungs-, Erwerbs- und Ruhe-standsphase vor allem an den Rändern der jeweiligen Phasen nichtmehr durchhalten lässt (Barkholt, 1998). Erwerbsarbeit ist für viele nichtmehr dauerhafter Lebensmittelpunkt. Die Konsequenz der Tendenz zurDestandardisierung von Erwerbsbiographien ist die Auflösung desProblemfeldes �Vorruhestand� oder Frühberentung in einer lebenslangfragmentierten und durch Diskontinuität geprägten Biographie. Die Be-endigung des Erwerbslebens muss unter den künftigen Bedingungennicht mehr gleichbedeutend mit einem vollständigen Rückzug aus demArbeitsleben sein. Dabei geht es zwar auch darum, sich künftig stärkergemeinwesenorientierten und ehrenamtlichen Tätigkeiten zuzuwenden� möglich wird auch sein, zumindest phasenweise entweder wieder imalten Betrieb oder aber unter ganz anderen Bedingungen, z.B. als Selb-ständiger, ins Erwerbsleben zurückzukehren.

Mit der Zunahme der Frauenerwerbstätigkeit scheint zudem das soge-nannte männliche Erwerbsmodell und damit das Normalarbeitsverhält-nis in den Hintergrund zu treten (Hinrichs, 1996). Die Verausgabung derArbeitskraft über acht Stunden am Tag und im Rahmen einer Fünfta-gewoche über ein langes Erwerbsleben hinweg, ist zwar noch domi-nant, wird aber zunehmend durch Beschäftigungsverhältnisse ersetzt,die sich z.B. durch Geringfügigkeit, Scheinselbständigkeit, Teilzeit oderBefristung auszeichnen. Wie breit angelegte Untersuchungen zeigen,hat die Arbeitskräftenachfrage nach diesbezüglichen Arbeitsverhält-nissen zugenommen. Die Frage, inwieweit derartige �deregulierte�Beschäftigungsverhältnisse auch für ältere Arbeitnehmer verstärkt Be-schäftigungschancen darstellen, ist empirisch ebenfalls noch weitge-hend ungeklärt.

Grundsätzlich werden mehr Anforderungen an die Flexibilität und Mobi-lität von Beschäftigten gestellt. Die Neuorganisation der Erwerbsarbeitzeigt sich in einer zunehmenden Entgrenzung von Arbeit und Freizeit(Gross, 1997; Hielscher, 2000). Aufgrund der Orientierung zur Lösungvon Arbeitsaufgaben im Team sind Arbeitszeitfestlegungen schwererdurchzuhalten. Vor allem unter dem Aspekt der Kundenorientierung imBereich der Dienstleistungstätigkeiten ist eine grundlegend veränderteFlexibilisierung der Arbeitszeit notwendig.

Es wird zunehmend wichtiger, sich in der Erwerbsbiographie nicht nurauf einen Beruf festzulegen, sondern sich der Entwicklung neuer Be-rufsfelder gegenüber offen zu zeigen. Der Leistungsbegriff geht immermehr über eine eng gefasste berufliche Qualifikation hinaus und erwei-

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tert sich um soziale und kommunikative Fähigkeiten (Lorenz, 1997).Wissen und Informationen werden zum wichtigsten Kapital von Be-schäftigten (Senett, 1998; Heinz & Dressel, 1998). Auch in diesemZusammenhang löst sich die Trennung von Arbeitszeit und Freizeitzunehmend auf. Damit wird der Arbeitnehmer immer mehr eigenver-antwortlich für den Wert seines Arbeitsvermögens und somit zum �Ar-beitskraftunternehmer� (Voß/ Pongratz 1998). Das Leitbild des Arbeit-nehmers nähert sich dem des Unternehmers an und es eröffnen sichneue Handlungs- und Gestaltungsspielräume. Andererseits dürfen die-se eher verheißungsvollen Aussichten nach größerer Autonomie nichtvon den bestehenden Marktbedingungen abstrahieren. Die Kehrseitedieser Entwicklung wird in einer zunehmenden Arbeitszeitverdichtungund wachsender Arbeitsbelastung gesehen (Schumann, 1999). Tech-nologische Voraussetzungen für diese Entwicklung bestehen u.a. in derweitgehenden Vernetzung der Arbeitsmittel der Beschäftigten, wie z.B.im Bereich der Telearbeitsplätze.

Die Tendenz zur Destandardisierung der Erwerbsarbeitszeit sowohl intäglicher oder wöchentlicher Hinsicht, als auch im Hinblick auf die ge-samte Erwerbsbiographie, wird die Beschäftigungschancen Älterer ab-sehbar erhöhen. Voraussetzung hierfür scheint aber ein sinnvollesSelbstmanagement der eigenen Arbeitskraft zu sein. Insofern ist dieseEntwicklung Ausdruck eines weitergehenden gesellschaftlichen Indivi-dualisierungs- und Modernisierungsprozesses. Gleichzeitig bedarf esaber ebenso bestimmter Rahmenbedingungen, die einer dauerhaftenÜberforderung und vorzeitigen Vernutzung der Arbeitskraft entgegen-wirken. Dies kann nicht auf der Basis individuellen Aushandelns gesi-chert werden. Notwendig werden deshalb voraussichtlich auch verän-derte Formen und Inhalte der Interessenvertretung der Beschäftigten.

3 Auswirkungen des Beschäftigungswandels aufdie Alterssicherung

Von der Entwicklung des Wandels der Erwerbsarbeit ist zugleich dassoziale Sicherungssystem, vor allem die Alterssicherung betroffen.Wenn das Normal- bzw. Vollzeitarbeitsverhältnis und langfristige konti-nuierliche Erwerbsbiographien nicht mehr die Grundlage für das spätereRenteneinkommen darstellen, muss möglicherweise auf alternativeRentenfinanzierungsarten � �kostendeckend� oder �grundsichernd� �ausgewichen werden. Dies gilt auch hinsichtlich der Einbeziehung vongeringfügigen Beschäftigungsverhältnissen und den sogenannten

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Scheinselbständigen in die Sozialversicherungspflicht. Die Auffassung,dass die gesetzliche Rente allein nicht mehr ausreichend ist, das ren-tenpolitische Ziel, das Lebensstandardniveau der Versicherten zu si-chern, scheint sich allgemein durchgesetzt zu haben. Längere Renten-laufzeiten, aufgrund der durchschnittlich gestiegenen Lebenserwartungund damit höherer Kosten für die Rentenversicherungsträger, sollendurch die mittelfristige Absenkung des Rentenniveaus um rund fünfProzentpunkte insgesamt kompensiert werden. Dadurch würde sich amVolumen der Rentenleistung nichts ändern, sondern dies wird über ei-nen längeren Zeitraum verteilt. Die Versicherten können die monatlicheRentenminderung durch die weiteren Säulen des Alterssicherungssys-tems, wie der betrieblichen Zusatzversorgung bzw. einer gefördertenprivaten Vorsorge auffangen (Schmähl, 2000). Im Hinblick auf eineGrund- oder Mindestsicherung auf der Grundlage von Beitragsleistun-gen stellt sich die Frage, ab wann eine diesbezügliche Leistung gewährtwerden soll. Der erwähnte enge Zusammenhang zwischen betriebli-chen Interessen an der Frühberentung älterer Mitarbeiter und der ge-setzlichen Rentengewährung muss bei dieser Diskussion berücksichtigtwerden, wenn das Ziel der Anhebung der Altersgrenzen erreicht werdensoll (Boecken, 1998).

4 Beschäftigungsperspektiven von älterenArbeitnehmern in der Zukunft

Wie die Arbeitsmarktprognosen erwarten lassen, werden künftig deut-lich höhere Qualifikationsanforderungen an die Arbeitskräfte insgesamtgestellt werden. Eher negative Beschäftigungschancen für Ältere wer-den sich deshalb hinsichtlich des Ausbildungsstandes ergeben, da Älte-re gegenüber Jüngeren für die zunehmenden Anforderungen in höher-bis hochqualifizierten Tätigkeiten benachteiligt sind. Dieses Problem istnur dadurch zu beheben, dass bereits frühzeitig Maßnahmen der be-trieblichen und außerbetrieblichen Weiterbildung erfolgen. Dies setztaber auch eine hohe Flexibilitäts- und Mobilitätsbereitschaft voraus, dieÄltere derzeit nur eingeschränkt aufweisen. Zugleich müssen aber auchBeharrungstendenzen gesehen werden, die z.B. im Verlust von An-sprüchen gegenüber den betrieblichen und sozialen Sicherungssyste-men bestehen und der Flexibilitätsbereitschaft von Arbeitnehmern ent-gegenstehen.

Die Weiterbeschäftigung Älterer muss auch Veränderungen der ge-sundheitlich bedingten Leistungsfähigkeit berücksichtigen und frühzeitig

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gesundheitspräventive Maßnahmen zur Wirkung kommen lassen. Diesbezieht sich auf Verbesserungen des Arbeitsschutzes, aber auch aufRegelungen betreffend die Lage und Dauer der Arbeitszeit. Gerade mitsteigendem Alter und nach längerer Nutzung der Arbeitskraft sind oftlängere Erholzeiten oder die zeitweise Umsetzung auf weniger belas-tende Arbeitsplätze angebracht. Der Aspekt von Arbeitszeitregelungen,die sich stärker an den Bedürfnissen der älteren Arbeitnehmer orientie-ren, sollte künftig auch stärker während der Phase der Beendigung desErwerbslebens Berücksichtigung finden und gleitende Übergänge, aberauch z.B. eine temporäre Beschäftigung in der nachberuflichen Phaseermöglichen.

Von besonderer Bedeutung scheint aber ein Paradigmenwechsel vomPrinzip der Frühberentung als endgültigem Ausstieg aus der Erwerbs-arbeit hin zu einer breiten soziokulturellen Anerkennung von Teilzeitar-beitsverhältnissen und diskontinuierlichen Erwerbsverläufen auch fürMänner zu sein.

Welche Möglichkeiten lassen sich für diejenigen Arbeitnehmer aus derEntwicklung ableiten, die nunmehr schon seit Jahren zu den Problem-gruppen des Arbeitsmarktes gehören, den (älteren) Langzeitarbeitslosen,den Geringqualifizierten und gesundheitlich Leistungsgeminderten?

Wie der Blick auf andere Industriestaaten zeigt, bieten sich hier ver-schieden Wege an. So wurden z.B. in den USA und Großbritanniendurch die relative Senkung der Löhne von personenbezogenen Dienst-leistungen eine hohe Zahl von Beschäftigungen geschaffen, die bereitsals ein �Jobwunder� beschrieben wird. Dies ist allerdings um den Preiseines hohen und wachsenden Personenanteils entstanden, bei dem derArbeitsverdienst längst nicht zum Erreichen des Existenzminimumsausreicht (�working poor�). Hiermit verbunden sind eine Vielzahl sozialerProbleme, wie z.B. steigende Kriminalität, die dem volkswirtschaftlichenGewinn durch die Spreizung von Löhnen und dem Ausbau eines Nied-riglohnsektors gegengerechnet werden müssen (Leutenecker, 1999;Werner, 1997).

Die öffentliche Förderung von Beschäftigung, wie z.B. der Ausbau öf-fentlicher Dienstleistungen, ist mit einer Erhöhung der Staatsquote undeiner erheblichen individuellen Steuerbelastung verbunden. Aus diesenGründen sind z.B. in Schweden zahlreiche Sozialleistungen in denletzten Jahren abgebaut und zurückgefahren worden. Insofern scheintauch dies kein allgemein gangbarer Weg für den Abbau von Arbeitslo-sigkeit zu sein. Allerdings können staatliche Fördermaßnahmen für Ar-beitslose im Sinne eines zweiten Arbeitsmarktes durchaus zumindest

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vorübergehend dazu beitragen, entstehende Problemlagen von Ar-beitslosen zu vermeiden. Diese Instrumente müssten allerdings effekti-ver und vor allem rechtzeitig zum Einsatz kommen und nicht erst wennder Zustand von Dauerarbeitslosigkeit bereits vorliegt. Für ältere Ar-beitslose kann ein vorübergehendes Beschäftigungsverhältnis auf demzweiten Arbeitsmarkt zudem zu einer Erhöhung der Rentenansprüchebeitragen.

Arbeitslosigkeit durch Maßnahmen zur Arbeitszeitverkürzung einzu-dämmen und Beschäftigung zu schaffen, wurde z.B. in den Nieder-landen mit deutlichem Erfolg versucht. Gekennzeichnet ist diese Ent-wicklung durch eine Kombination von starker Arbeitszeitverkürzung,Frühverrentung und dem Ausbau von Teilzeitarbeitsplätzen. Die Grund-lage für diese gezielte Arbeitsmarktpolitik bildete ein nationaler Kon-sens, der Mitte der achtziger Jahre durch ein funktionierendes engesBündnis für Arbeit institutionalisiert wurde, und an dem die Akteure desArbeitsmarktes gleichermaßen beteiligt waren. Für ältere Arbeitslosebietet sich hier die Alternative einer Teilzeitbeschäftigung (Werner,1997a).

Dennoch sind die künftigen Beschäftigungsperspektiven für ältere Ar-beitnehmer nicht grundsätzlich als schlecht anzusehen. Der strukturelleWandel führt nicht nur zu einer altersspezifischen Veränderung des Ar-beitskräfteangebots sondern auch zu einer qualitativen Veränderungder Nachfrage von Konsumgütern und Dienstleistungsangeboten.

Für die Bundesrepublik, die sich bisher auf keinen dieser Wege aus-schließlich festgelegt hat, wird vermutlich ein Mix aus verschiedenenMöglichkeiten zum Tragen kommen. Beschäftigungsprobleme ältererArbeitnehmer werden sich, so kann als Fazit festgehalten werden, nurim Rahmen einer effektiven Beschäftigungspolitik insgesamt lösen las-sen.

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Wandel der Arbeitswelt �Beschäftigungschancen für Ältere

Gerhard Naegele

Institut für Gerontologie/Universität Dortmund

Der vorangehende Beitrag zum Thema �Wandel der Arbeitswelt � Be-schäftigungschancen für Ältere� von Christoph Behrend gab einleitendeinen Überblick über die Beschäftigungssituation älterer Arbeitnehme-rInnen seit Ende der siebziger Jahre. Der folgende Kommentar geht kri-tisch und erweiternd auf einige dort vorgetragene Argumentationen ein.Er bezieht sich im Schwerpunkt auf die aktuelle und künftige Bedeutungder Frühverrentung. Die thesenartige Form der Darstellung ist bewusstgewählt, um Wiederholungen möglichst zu vermeiden und Problem-stellungen zuzuspitzen. Deutlich hervorzuheben ist, dass die Anhebungder Altersgrenzen im Rahmen der aktuellen Rentenreformen die tat-sächliche Beschäftigungs- und Arbeitsmarktsituation von älteren Arbeit-nehmerInnen derzeit unberücksichtigt lässt. Es scheint sicher, dass dieBedeutung von Frühverrentung als personalpolitisches Steuerungsin-strument der Betriebe auch künftig bestehen bleibt, zumindest bis diedemographische Entwicklung den Arbeitsmarkt entscheidend beeinflus-sen wird. Erforderlich sind daher integrierte Politikkonzepte, die dieRahmenbedingungen dafür schaffen, um langfristig die Arbeits- undBeschäftigungsfähigkeit von älteren ArbeitnehmerInnen künftig zu si-chern. Zusammenfassend werden am Ende des Beitrags einige sozial-politische Forderungen aufgeführt, die erfüllt werden müssen, um dieWeiterbeschäftigung von älteren ArbeitnehmerInnen zu gewährleisten.Hierbei handelt es sich um Ergebnisse einer internationalen Konferenz,was darauf hinweist, dass die demographische Alterung von Beleg-schaften kein nur auf Deutschland beschränktes Problem ist.

1 Altern der Gesellschaft � Verjüngung derArbeitswelt

Bei der Frage nach der Zukunft älterer ArbeitnehmerInnen ist zunächstein Blick in die Gegenwart angebracht. Hier zeigt sich ein merkwürdigesParadoxon: Obwohl die Gesamtgesellschaft altert, wird ein zentralesTeilsegment, nämlich die Arbeitswelt, immer jünger. Es scheint, als ob

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der demographische Wandel an den Betrieben und Verwaltungen voll-ständig vorbeigeht. Und vieles deutet darauf hin, dass auch für die ab-sehbare Zukunft � zumindest für die Zeit bis 2015 � die Frühverrentunganhalten wird, dass auch künftig nur der kleinere Teil der älteren Be-schäftigten tatsächlich bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze am Ar-beitsplatz bleiben wird. Obwohl mit den Rentenreformgesetzen von1992, 1996 und 1999 (schrittweise Anhebung der gesetzlichen Alters-grenzen auf das 65. Lebensjahr) die Wege für eine Wende in der Früh-verrentungspraxis geebnet wurden, zeigen schon die Erfahrungen mitder Instrumentierung des Altersteilzeitgesetzes als neues betrieblichesFrühverrentungsinstrument, dass das betriebliche, gewerkschaftlicheund nicht zuletzt das Betroffeneninteresse eindeutig auf ein Fortbeste-hen der Frühverrentungsoption zielt. Eine offene Frage ist, wie die Poli-tik reagiert.

2 Demographischer Wandel als gesamtgesell-schaftliche Herausforderung

Die Beschäftigungsprobleme älterer ArbeitnehmerInnen � so der Bei-trag von Behrend in diesem Band � können nur im Rahmen einer ef-fektiven Beschäftigungspolitik insgesamt gelöst werden. Dieser Aussa-ge kann im Grundsatz nur zugestimmt werden, soll aber hier in einensehr viel breiteren Kontext gerückt werden: Die Beschäftigungsproble-me älterer ArbeitnehmerInnen sind strategisch als Teil der gesamtge-sellschaftlichen Herausforderungen des demographischen Wandels zubegreifen und entsprechend politisch anzugehen und zu �lösen�. Derdemographische Wandel macht auch vor den Toren der Betriebe undVerwaltungen nicht halt, dies ist spätestens nach 2015 der Fall. Nachübereinstimmender Auffassung wichtiger Arbeitsmarktexperten sinddann auch alle Kompensationsstrategien, wie sie jetzt erfolgen und daseben erwähnte Paradoxon erklären, �ausgereizt�. Da erfahrungsgemäßBetriebe ca. 10 Jahre Vorlaufzeit benötigen, um ihre Personalpolitikstrategisch umzustellen, ist der Zeitpunkt für die Suche nach strategi-schen Lösungen der mit dem Altern der Belegschaften verbundenenProbleme jetzt gekommen.

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3 Frühverrentung nicht nur ein Kostenproblem

Ausgangspunkt dieses Kurzkommentars ist die Überzeugung, dass dieungezügelte Fortsetzung der Frühverrentung eine falsche Antwort aufdie gesellschaftliche Problematik des Älterwerdens im allgemeinen unddes Älterwerdens der Belegschaften im besonderen ist. Mindestens fol-gende Argumente sprechen dafür, die bislang dominierende Politik derungebremsten �Entberuflichung des Alters� zumindest kritisch zu hin-terfragen:

• Die Frühverrentung steht im Gegensatz zu strukturellen Verände-rungen im Lebenslauf. Es erscheint paradox, dass in den letzten 50Jahren zwar die Lebenserwartung konstant gestiegen ist und sichparallel dazu der Gesundheitszustand und das berufliche Qualifikati-onsniveau der jeweils nachrückenden Kohorten älterer Arbeitnehme-rInnen verbessert haben, demgegenüber aber das durchschnittlicheBerufsaustrittsalter deutlich gesunken ist.

• Die einzel- wie die gesamtwirtschaftlichen Folgen einer weiteren undungebremsten Fortsetzung der Frühverrentungspraxis müssen sichnicht nur renten- und finanzierungspolitisch legitimieren, sondernauch im Hinblick auf die intergenerationelle Verteilungsgerechtigkeit.In Fachkreisen besteht längst Einigkeit darüber, dass die RelationBeitragszahlerInnen: SozialleistungsempfängerInnen spätestens nach2010/2015 die Heraufsetzung der beitragspflichtigen Lebensarbeits-zeit erforderlich macht, wenn auch nicht alle Arbeitnehmergruppengleichermaßen dazu in der Lage sind.

• Im vorangegangenen Beitrag wurde es schon angedeutet: Der de-mographischen Wandel führt spätestens nach 2015 zu einem spürba-ren Rückgang im Erwerbspersonenpotential und gleichzeitig zu ei-nem Verlust an beruflichen Qualifikationen. Künftig werden ältere Ar-beitnehmerInnen vermehrt benötigt, um die demographisch bedingteLücke im Erwerbspersonenpotential zu füllen. Und sie müssen hin-reichend fachlich qualifiziert sein, um die im Zuge der Globalisierungder Märkte und des technisch-organisatorischen Wandels rascherwachsenden Anforderungen an berufliche Qualifikationen zu erfüllen.

• Schließlich hat die fast 30jährige Frühverrentungspraxis zu zahlrei-chen unbeabsichtigten Widersprüchlichkeiten und Ambivalenzengeführt, die sowohl für die ArbeitnehmerInnen wie für die Betriebegelten (z.B. �olympiareife Mannschaften�, Verlust von Erfahrungs-wissen, permanentes Absenken innerbetrieblicher Altersgrenzen,Förderung der �Diskriminierung� des Alters in der Arbeitswelt). Siealle erschweren die produktive Förderung des Wirtschaftsfaktors Al-ter in der Arbeitswelt massiv.

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4 Beendigung der Frühverrentungspraxis alslängerfristige Doppelstrategie

Die Frühverrentungspraxis in Deutschland ist Ergebnis eines mehr als2 Jahrzehnte dauernden politisch-korporatistischen Handelns relevanterAkteure (Staat, Tarifparteien, Arbeitsmarktpolitik, betriebliche Akteure,Betroffene). In der Konsequenz sind damit auch die verantwortlichenGruppen benannt, wenn es um ihre Überwindung geht. Im Kern mussdiese auf eine sozial-akzeptable Trendwende in der bisherigen, auf älte-re Beschäftigte bezogenen Betriebs- und Arbeitsmarktpolitik zielen, dierelevante Unterschiede in den Lebens- und Arbeitsbedingungen derheterogenen Gruppe älterer ArbeitnehmerInnen angemessen berück-sichtigt (�Arbeitsplätze mit begrenzten Tätigkeitsdauern�, Langfristar-beitslose). Dass dies zu einem Zeitpunkt gesagt wird, zu dem Massen-arbeitslosigkeit dominiert, mag verwundern. Allerdings fehlt es angesicherten Daten über die Wirksamkeit des arbeitsmarktpolitischen In-struments Frühverrentung. Internationale Studien zeigen eine Wieder-besetzungsquote von lediglich einem Drittel der durch Frühverrentungfreigewordenen Stellen. Zudem besteht weitgehend Konsens, dass dieTrendwende in der Frühverrentungspraxis ohnehin nicht von heute aufmorgen stattfinden kann. Gefordert ist daher � zumindest bis 2015 � ei-ne Doppelstrategie, die sowohl Frühverrentungen unter sozial akzep-tablen Rahmenbedingungen für typische Problemgruppen noch in kurz-bis mittelfristiger Sicht ermöglicht als auch die Grundvoraussetzungenfür eine echte zukunftsbezogene Trendwende schafft, die eine Weiter-arbeit auf freiwilliger Grundlage für die Beschäftigten von morgen undübermorgen erst möglich macht.

5 Heraufsetzung der Altersgrenzen ohne konkretenArbeitsmarktbezug

In Deutschland gibt es bis heute kaum Anzeichen für wirkliche Bemü-hungen, die Grundlagen für eine derartige Trendwende in der Frühver-rentungspraxis bereitzustellen. Die rentenpolitischen Beschlüsse zurHeraufsetzung der Altersgrenzen können in diesem Zusammenhangnicht als Belege dafür eingestuft werden. Sie sind reine rentenrechtsin-terne Instrumente ohne konkreten Betriebs- und Arbeitsmarktbezug.Weder der Gesundheitszustand, noch die Qualifikation älterer Arbeit-nehmerInnen noch ihre Lage in den Betrieben und auf dem Arbeitmarkt

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werden sich im �Selbstlauf� verbessern. Die Anhebung der Altersgren-zen erfolgte völlig losgelöst von ihrer tatsächlichen Erreichbarkeit im Ar-beitsleben, denn die konkreten Arbeits- und Beschäftigungsbedingun-gen ändern sich ja nicht: Ältere ArbeitnehmerInnen sollen zwarweiterarbeiten, die Weichen dafür, dass sie dies auch können, sind je-doch nicht gestellt worden.

6 Rechtzeitige und umfassende Investitionen indas Humanvermögen

Damit ist der Kernauftrag für eine Gesellschaftspolitik angesprochen,die sich ernsthaft den Konsequenzen des Alterns der Belegschaftenwidmet. Ihr Ziel muss es sein, die Arbeits- und Beschäftigungsfähigkeit(�employability�) altender Belegschaften zu erhöhen mit dem Ziel, ihreproduktive Weiterbeschäftigung auf freiwilliger Basis zu fördern. Dienotwendige Trendwende kann dabei nur durch gezielte Investitionen indas Humanvermögen alternder Belegschaften und in die Schaffung diesbegünstigender Rahmenbedingungen erfolgen. In diesem Zusammen-hang sind die folgenden Grundsätze zu beachten, die Ausgangspunktfür Politikkonzepte zur Förderung der Beschäftigungsfähigkeit seinsollten:

• Gesellschaftliche Herausforderungen erfordern gesellschaftliche undkeine isolierten Lösungen. Bezogen auf die tangierten Politikberei-che gilt, dass die Beschäftigungspolitik zwar ein essentieller, abereben nur ein Teil einer übergreifenden gesellschaftspolitischen Ant-wort auf den demographischen Wandel sein kann. Gefordert sindintegrierte Politikkonzepte unter Beteiligung der für die Zukunft derBeschäftigungssituation alternder Belegschaften maßgeblichen Teil-politiken, so insbesondere der Bildungs-, Sozial- und Gesundheits-politik, aber auch � wegen der künftig anderen Zusammensetzungdes Erwerbspersonenpotentials � der Gleichstellungs-, Familien- undder Migrationspolitik.

• Dennoch bleibt die betriebliche Ebene die entscheidende Eingriffs-ebene. Hier fällt die Entscheidung für oder gegen eine Zukunft derAlterserwerbsarbeit, für oder gegen die Zukunft älterer Arbeitnehmer-Innen. Politikkonzepte, die auf eine Lösung der Folgeprobleme desÄlterwerdens der Belegschaften zielen, müssen daher primär auf diebetriebliche Ebene und die hier relevanten Akteure abzielen. Einebesondere Bedeutung kommt den Tarifvertragsparteien zu. Auch istdie Betroffenenbeteiligung sicherzustellen. Der Politik kommt dabei

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die Rolle zu, Prozesse zu initiieren, zu moderieren und ggf. die ge-setzlichen Rahmenbedingungen zu schaffen. Der �demographischeWandel der Arbeitswelt� müsste z.B. zu einem Themenschwerpunktim Bündnis für Arbeit werden.

7 Beschäftigungsstrategien in einer alterndenArbeitslandschaft

Aus der Vielzahl der Gestaltungsoptionen zur Erhöhung der Beschäfti-gungsfähigkeit alternder Belegschaften sollen abschließend kurz diefolgenden Aspekte angeführt werden. Es handelt sich dabei zugleichum zentrale Ergebnisse der im Sommer 1999 in Turku/Finnland durch-geführten europäischen Konferenz über �Active Strategies for an ageingworkforce�, Naegele 1999) :

• Die vorherrschenden Praktiken der vorzeitigen Ausgliederung ausdem Erwerbsleben sind zu überprüfen. Statt dessen muss es künftigdarauf ankommen, sowohl die Beschäftigungschancen älterer Ar-beitnehmerInnen abzusichern und zu erhöhen als auch solche Be-troffenen besser zu schützen, deren Risiko, vorzeitig aus dem Er-werbsleben verdrängt zu werden, besonders hoch ist (z.B. ältereLangzeitarbeitslose).

• Maßnahmen, die der Förderung alternder Arbeitskräfte bzw. der Si-cherung ihrer Beschäftigungsfähigkeit (�employability�) dienen, dür-fen nicht erst am Ende, sondern müssen während der gesamten Er-werbsbiographie zum Einsatz kommen (von einer �Politik für ältereArbeitnehmer� zu einer lebenslaufbezogenen Politik der �age neutra-lity�).

• Aktive Förderkonzepte sollten zugleich präventiv sein. Um die Ent-stehung alterstypischer Beschäftigungsprobleme zu vermeiden, giltes, potentielle Beschäftigungsrisiken bereits im Stadium ihrer Ent-stehung, d.h. auf früheren Stufen der Erwerbsbiographie, zu be-kämpfen.

• Viele der heute älteren ArbeitnehmerInnen zeichnen sich durch eineKumulation von Benachteiligungen aus, z.B. durch die Gleichzeitig-keit von formalen Ausbildungsmängeln und zu geringer beruflicherFort- und Weiterbildung. Notwendig ist daher eine �Doppelstrategie�von Maßnahmen, die sowohl auf die vorbeugende Förderung derBeschäftigungsfähigkeit während des gesamten Erwerbslebens alsauch auf die Verringerung und Beseitigung akuter Beschäftigungs-probleme in späteren Stadien abzielt.

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• Maßnahmen zugunsten alternder Belegschaften müssen zielgenauerund effektiver sein. Empfohlen werden auch mehr Möglichkeiten zurFörderung von selbständiger Beschäftigung.

• Es gilt künftig vermehrt, unterschiedliche Maßnahmetypen in sinn-voller Weise miteinander zu kombinieren. Dies gilt für Aktionen aufpolitischer wie auf betrieblicher Ebene gleichermaßen. Aber auchzwischen diesen beiden Ebenen sollten die jeweiligen Maßnahmenbesser abgestimmt und aufeinander bezogen sein (z.B. staatlicheBildungsangebote und betriebliche Arbeitszeitpolitik). Aufgrund derzunehmenden Verschränkung von betrieblichen mit außerbetriebli-chen Lebenswelten ist es weiterhin erforderlich, arbeitsplatzbezoge-ne Initiativen mit örtlichen Aktionen im Bereich der kommunalen So-zialpolitik, so z.B. in den Bereichen soziale Sicherung, beruflicheQualifizierung oder pflegerische Dienste, abzustimmen.

• Eingebettet sein sollten derartige integrierte Konzepte in Überlegun-gen zur Neuorganisation von Lebensarbeitszeit. Diese sollte auf eineÜberwindung der klassischen Dreiteilung des Arbeitnehmerlebens-laufs in Richtung auf Integration von Arbeit, Bildung und Freizeit so-wie auf die institutionelle Verknüpfung dieser drei Ebenen abzielen.

• Die Formel vom �lebenslangen Lernen� muss endlich mit Leben ge-füllt werden. Insgesamt gilt es, die Qualifizierungsbedarfe der Ar-beitswelt besser und strategischer mit den bestehenden institutio-nellen Strukturen der beruflichen Aus-, Fort- und Weiterbildung zuverknüpfen.

• Der Erfolg von Maßnahmen steht und fällt mit der Beteiligung derbetroffenen ArbeitnehmerInnen von Beginn an. Diese sind nicht nurals �Experten in eigener Sache� einzubeziehen. Sie sind ganz gene-rell auch Garant für die erfolgreiche Umsetzung integrierter, arbeits-platzbezogener Maßnahmen.

• Maßnahmenevaluierung, obwohl aufwendig und methodisch schwie-rig, ist notwendig, sowohl um die jeweiligen Akteure über die Be-dingungen der Implementation zu informieren als auch um unbe-absichtigte und womöglich kontraproduktive Nebenwirkungen zuvermeiden. Auch in Deutschland fehlt es an ökonomisch ausgerich-teten Evaluierungsstudien und/oder von cost-benefit-Analysen. Ins-gesamt wird auch mehr Forschung benötigt, die dazu beiträgt, ge-eignete Maßnahmen abzuleiten und erfolgreich zu implementieren.

• Demographische Veränderungen betreffen sowohl die Arbeitswelt wiedie Gesellschaft als Ganzes. Von daher werden geeignete Instru-mente zu ihrer besseren Erfassung i.S. von demographischen �Früh-warnsystemen� benötigt. Zu den wichtigen Zukunftsaufgaben zählt,potentielle Entwicklungen auf nationaler, lokaler oder betrieblicherEbene rechtzeitig vorher zu erkennen. Dies betrifft nicht nur das Al-

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tern der Erwerbsbevölkerung, sondern auch mögliche Störungen inder intergenerationellen Solidarität.

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Selbständiges Wohnen im Alter und dieErhaltung geistiger Kompetenz

Doris Sowarka

Deutsches Zentrum für Altersfragen, Berlin

Es ist sicherlich unbestritten, dass in allen Lebensphasen die Wohnungoder das Haus und das unmittelbare Wohnumfeld ein wichtiger Ort derprivaten Alltagsgestaltung, des Lebensstils, finanzieller Investitionenund des Konsuminteresses und -bedarfs sind. Darüber hinaus sind dieeigene Wohnung und das zugehörige Umfeld eine Quelle für Sicherheit,Autonomie und Wohlbefinden.

In der Lebensphase des Alters treten die alltägliche Umwelt des Woh-nens und die Wohnung in den Vordergrund. Hierfür sorgen nicht zuletztalte Menschen selbst mit ihrem Wunsch, so lange als möglich in derbisherigen Wohnung oder wenigstens in der vertrauten Umgebung blei-ben zu wollen. Dieser Wunsch bahnt sich schon in jüngeren Jahren anund spiegelt sich wider in einem sehr geringen Prozentsatz (3,6%) derUmzüge von Mietern über 55 in eine andere Wohnung (Schader Stif-tung, 1996). Erwartungsgemäß bekunden Mieterhaushalte eine höhereBereitschaft für einen Umzug (19,1%) als Eigentümerhaushalte (3,6%).Aus diesen Informationen zur Umzugsbereitschaft lässt sich die Er-kenntnis gewinnen, dass für den tatsächlichen Umzug in eine meistkleinere und altengerecht ausgestattete Wohnung die eigenen finan-ziellen Spielräume, gesundheitliche Einschränkungen oder Partnerver-lust ausschlaggebend sind.

Bekannt ist der Befund, dass die Grenzen des eigenen Lebensraumsmit zunehmendem Alter enger gezogen sind und die Wohnung und daswohnortnahe Umfeld zu den wichtigsten Lebens- und Aufenthaltsortenälterer Menschen zählen. Dies belegen Zeitbudget-Studien, Tageslauf-schilderungen, Verhaltenskartographie-Studien, Behavior Setting Sur-veys und Aktionsraumstudien aus der Stadtsoziologie, die ein genaue-res Bild über das Alltagsgeschehen älterer und alter Menschen ermittelthaben (Küster, 1996).

Obwohl die Ergebnisse dieser Studien deskriptiv sind, hat sich praktischdie Erklärung durchgesetzt, dass sich die Hinwendung auf die eigeneWohnung hauptsächlich im Gefolge von Krankheiten, Bewegungsein-schränkungen sowie von sensorischen und seelisch-geistigen Funkti-

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onsverlusten abspielt. Im Unterschied dazu treten andere Erklärungs-muster für die Einengung der Lebensumwelt im Alter in den Hinter-grund, obschon sie stärker die Voraussetzungen und Folgen von Per-son-Umwelt-Interaktionen betonen (Sowarka & Baltes, 1999). So findenin Person-Umwelt-Ansätzen nicht nur Ziele, Kompetenzen und Verhal-tensweisen alter Menschen eine stärkere Beachtung. Hier interessiertauch das Zusammenspiel mit dinglichen und sozialen Strukturen derUmwelt, die bisherige Ziele, Lebensmuster und den Erhalt von Kompe-tenzen stärken oder schwächen. In diesem Sinne ist das selbständigeWohnen eine mehr oder weniger fordernde Umweltstruktur, die im Hin-blick auf Ressourcen, Kompetenzen und Aktivitäten im Alter förderndoder restriktiv sein kann.

1 Stellenwert der geistigen Kompetenz für dasselbständige Wohnen im Alter

Die Umweltstruktur des selbständigen Wohnens im Alter ist ein kon-kretes Anwendungsfeld, in dem wichtige Bedingungen und Risiken fürdie Beibehaltung und Wiederherstellung von Selbständigkeit, Selbst-verantwortung und sozialer Eingebundenheit anzutreffen sind. Eine derwesentlichsten Voraussetzungen, um ein eigenverantwortliches undsinnerfülltes Leben im Alter führen zu können, ist die geistige bzw. kog-nitive Kompetenz. Gemeinhin gilt sie als Grundlage, um sich selbst imWandel von Stärken und Schwächen wahrzunehmen, die Umwelt auf-zunehmen, zu verarbeiten und angemessen zu handeln. Für diese Fä-higkeiten stehen auch die Begriffe der intellektuellen Kompetenz oderder Intelligenz.

Während die angewandte gerontologische Forschung zum Wohnen imAlter die intellektuelle Kompetenz vernachlässigt hat, vergessen ältereund alte Menschen nicht, die Erhaltung ihrer geistigen Leistungsfähig-keit als Lebensziel zu nennen. So bestätigen die Ergebnisse der Berli-ner Altersstudie (Staudinger, Freund, Linden & Maas, 1996), dass dieErhaltung der geistigen Leistungsfähigkeit unter den ersten drei wichti-gen Zielen für das Leben im Alter rangiert. Für 70-Jährige und Ältere istes daher wesentlich, dass sie sich auch in Zukunft auf ihre geistigenFähigkeiten verlassen und sie für Belange des persönlichen Lebensund die Anforderungen im Alltag einsetzen können.

Die Bedeutung der erhaltenen oder geminderten geistigen Kompetenzerschließt sich aus dem Alltag alter Menschen, der im Hinblick auf das

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Leitbild der Selbständigkeit und Eigenverantwortlichkeit ein gewissesMaß an geistiger Kompetenz erfordert. Hier muss man keineswegs mitdem Beispiel einer fortgeschrittenen dementiellen Erkrankung argu-mentieren, um zu verdeutlichen, dass das selbständige Wohnen in derangestammten Wohnung nicht mehr möglich ist, wenn ein Schwellen-wert des geistigen Abbaus unterschritten ist.

Ein differenziertes Bild ergibt sich aus den alltäglichen Anforderungendes selbständigen Wohnens, die finanzielles, rechtliches, soziales odergesundheitsbezogenes Entscheiden und Handeln einbeziehen. DerStellenwert der geistigen Kompetenz zeigt sich zudem in konkreten Ak-tivitäten, die im Zeitbudget des Lebens- und Wohnalltags alter Men-schen vielfältige Gestaltungsspielräume bieten. Beispiele sind diehauswirtschaftliche Planung und Organisation, die zeitliche und örtlicheStrukturierung des Tagesablaufs, die Pflege wechselseitiger sozialerKontakte durch Kommunikation, Freizeitgestaltung und die Pflege geis-tiger, musischer, künstlerischer oder handwerklicher Interessen, Rat,Fürsprache und Hilfe bei privaten Problemen, Teilhabe am kulturellen,politischen und gesellschaftlichen Leben und die Mitsprache bei eige-nen oder familiären Ereignissen und Problemen.

2 Anforderungen des selbständigen Wohnens andie geistige Kompetenz

Innerhalb der angewandten Gerontologie wird das selbständige Woh-nen im Alter meistens mit einem Kompetenzbegriff verknüpft, der dieAnfälligkeit des Alterns gegenüber Anforderungen und Bedingungen derdinglichen und sozialen Umwelt einbezieht. Person-Umwelt-Modelle(z.B. Lawton, 1982) enthalten hierzu die Aussage, dass das Verhaltenund die Lebensqualität in zunehmendem Maße von Faktoren außerhalbder Person beeinflusst werden, wenn die Kompetenz der Person ab-nimmt. In diesen Modellen steht daher die Frage im Mittelpunkt, ob undwie sich die Passung zwischen Umweltanforderungen und individuellenKompetenzverläufen herstellen lässt, so dass sie die längstmöglicheErhaltung der Kompetenz im Alter sichert. Der zugehörige Kompetenz-begriff wird mehrdimensional bestimmt und ist eine messbare Qualitätfür die gelungene Anpassung an das Alltagsleben im Alter und die Aus-übung von Aktivitäten, die der selbständigen Lebensführung und demWohlbefinden dienen (Kruse, 1996; Salthouse, 1997).

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Zu den bekannten Aktivitätsbereichen des selbständigen Wohnens ge-hören die grundlegenden Aktivitäten des täglichen Lebens (Activities ofDaily Living; Fillenbaum, 1987) sowie die instrumentellen Aktivitätendes täglichen Lebens (Instrumental Activities of Daily Living; Lawton &Brody, 1969). Basale Aktivitäten sichern die von der Hilfe und Unter-stützung anderer unabhängige Existenz und dienen den wiederkehren-den Abläufen des Lebens in der eigenen Wohnung. Beispiele sind dieSelbstpflege, Essen, Baden oder Toilettenbenutzung. Instrumentelle Ak-tivitäten sind dagegen komplexer und beziehen sich auf Tätigkeiten wieMedikamenteneinnahme, Einkaufen, finanzielle Angelegenheiten, Nut-zung von Transportmitteln, Benutzung des Telefons, eigene Haus-haltsführung oder die Mahlzeitenzubereitung.

Erwartungsgemäß steigen mit zunehmendem Alter die Schwierigkeitenbei der Ausführung solcher Tätigkeiten. Aus Erhebungen in den USA(Salthouse, 1997) wird berichtet, dass ungefähr 25% der 65- bis 74-Jährigen über Ausführungsschwierigkeiten berichten. Diese Anteilesteigen auf ca. 50% bei den 75- bis 84-Jährigen und auf 70% bei den85-Jährigen und Älteren. Diese prozentualen Anteile liegen deutlich hö-her als jene, die in einer früheren Repräsentativbefragung in Deutsch-land ermittelt wurden (Schneekloth & Potthoff, 1993).

In der Berliner Altersstudie wurden einfache und komplexe Verhaltens-abläufe als Alltagskompetenz definiert (Baltes, Maas, Wilms & Borchelt,1996). Entsprechend der zugehörigen Aktivitätsbereiche umfasst dieAlltagskompetenz eine basale und eine erweiterte Komponente. Diebasale Kompetenz bezieht sich auf den Grad der selbständigen Ausfüh-rung einfacher Tätigkeiten, die für die selbständige Lebensführung inder eigenen Wohnung eine Grundvoraussetzung sind. Die erweiterteKomponente der Alltagskompetenz umfasst instrumentelle, soziale undFreizeitaktivitäten, die über die sinnerfüllte Lebensgestaltung und dieLebensqualität im Alter mitbestimmen.

Bei der Prüfung des Zwei-Komponenten-Modells bestätigte sich, dassgesundheitliche Faktoren die basale Kompetenz beeinflussen. Erwar-tungsgemäß hängt die erweiterte Kompetenz vom Grad der basalenKompetenz ab. Über die Ausübung von Aktivitäten, die zur individuellenLebensgestaltung und der Lebensqualität im Alter beitragen, entschei-den auch Prestige und Einkommen, die über Kennwerte der Persön-lichkeit und Intelligenz moderiert werden.

Die Rolle der Intelligenz bzw. der geistigen Leistungsfähigkeit findet beider Erklärung der individuellen Unterschiede der Alltagskompetenz imAlter einen Ausdruck. So erklären kognitive Fähigkeiten 37% der indivi-

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duellen Unterschiede in der basalen Kompetenz und 45 % der erwei-terten Kompetenz (Reischies & Lindenberger, 1996). Eine ähnlicheBefundlage erbrachten Studien aus den USA (vgl. zusammenfassendWillis, 1991). Auch sie sind ein Beleg dafür, dass man aus der Kenntnisdes kognitiven Leistungsstands recht gut die Leistungen in alltagsnahenAufgaben vorhersagen kann. Die längsschnittlichen Veränderungen derAlltagskompetenz innerhalb eines 7-Jahres-Intervalls zeigen allerdingseinen durchschnittlichen Leistungsabfall, der im Zeitverlauf von 77 bis84 Jahren am deutlichsten ausgefallen war (Willis, Jay, Diehl, & Mar-siske, 1992). Während 70% der um sieben Jahre gealterten 63-Jährigen (also die nunmehr 70-Jährigen) in ihrer Alltagskompetenz sta-bil geblieben waren, lagen die prozentualen Anteile bei den nunmehr77-Jährigen bei 50% und bei den nunmehr 84-Jährigen bei 36%.

Diese Befunde belegen daher insgesamt, dass die geistige Leistungs-fähigkeit auf die Bewältigung alltäglicher Anforderungen des selbständi-gen Wohnens und Lebens im Alter zurückwirkt. Außerdem bestimmt diegeistige Kompetenz über die Gestaltung des persönlichen Lebens mitund moderiert Aktivitäten, die sich aus dem Wohnalltag heraushebenund zum Wohlbefinden im Alter beitragen.

3 Kenntnisse über Bedingungen der Umwelt unddie Erhaltung geistiger Kompetenz

Hervorzuheben ist der Zweite Altenbericht des Bundesministeriums fürFamilie, Senioren, Frauen und Jugend (1998), der dem Thema desWohnens im Alter gewidmet ist. Der Bericht beschäftigt sich unter ande-rem ausführlich mit den räumlichen, sozialen, infra- und siedlungs-strukturellen Bedingungen der Wohnsituation älterer und alter Men-schen in Deutschland und kennzeichnet den Rahmen, der über dieQualität und die Erhaltung des selbständigen Leben im Alter mitbe-stimmt.

Dem Bericht zufolge leben 93% der 65-jährigen und älteren Menschenin normalen Wohnungen. Die Mehrzahl der Älteren lebt in Mietwohnun-gen bzw. in Wohnungen mit gutem Wohnstandard, d.h. mit einer Sam-melheizung, Bad und WC innerhalb der Wohnung. Nach wie vor ist derniedrigere Wohnstandard im Osten Deutschlands ein großes Problem.

Die Mehrheit der älteren Menschen im Osten Deutschlands lebt in Eta-genwohnungen größerer Wohnblocks oder in Altbauten, die oft noch

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sanierungsbedürftig sind. Fast die Hälfte der Haushalte älterer Men-schen befindet sich im Westen Deutschlands in Nachkriegsgebäudenunterschiedlicher Gebäudetypen. Was die Wohnungsgröße angeht,scheint die Mehrzahl der Ein- und Zweipersonenhaushalte älterer undalter Menschen nicht weniger Wohnfläche zu haben als die vergleichba-ren Haushalte jüngerer Menschen.

Das Wohnumfeld ist der zentrale Lebensraum, den Menschen jedenAlters miteinander teilen. Verschönerungen des Wohnquartiers durchFarbgestaltung, begrünte Innenhöfe oder den Ausblick auf gepflegteGrünstreifen oder Blumenrabatte sowie ein Angebot für soziale, sportli-che und kulturelle Aktivitäten bereichern daher das Leben von Men-schen jeden Alters. Außerdem bieten solche Maßnahmen und Ange-bote einen Anreiz, sich aktiv am Leben und den Einrichtungen imWohnquartier zu beteiligen.

Einschränkungen für das Leben von Menschen jeden Alters, insbeson-dere alter und sehr alter Menschen, bringen Ausstattungsmängel derWohnung und des Wohngebäudes sowie entsprechende Kennzeichendes zugehörigen Wohnumfelds mit sich (vgl. hierzu bereits DeutschesZentrum für Altersfragen, 1982; Dieck, 1984). Beispiele sind unzurei-chend ausgestattete Hauseingänge und schwierige Zugänge sowiestöranfällige Aufzüge, unübersichtliche Flure, eine unzureichende sozi-ale und kommerzielle Infrastruktur, weite Wege zu den Einrichtungendes täglichen Bedarfs und schlechte Verkehrsanbindungen, unzurei-chende Treffpunkte und Möglichkeiten zu verweilen, schlechte, unge-schützte Wege oder mangelnde Beleuchtung. Bei solchen Bedingungenist daher die Annahme nicht falsch, dass das Zusammenwirken zwi-schen der Umweltstruktur des Wohnens und dem individuellen Reser-voir des Alters, wie körperliche, soziale, geistige Verfassung, die Hin-wendung auf die eigene Wohnung begünstigt. Die Umweltstruktur desWohnens und das Reservoir der individuellen Ressourcen bemessendaher die Breite und Angebotsstruktur des persönlichen Lebensraums,der für die sinngebende Gestaltung des Lebens und die Erhaltung dergeistigen Kompetenz im Alter offen steht.

Einschränkungen im Anregungs- und Anforderungsgehalt des selbstän-digen Wohnens auf die Erhaltung der intellektuellen Kompetenz im Alterwurden bislang kaum untersucht. Erwähnenswert sind die wenigenneueren Arbeiten, die für Zusammenhänge zwischen der Wohnumweltund sensorischen oder (psycho-)motorischen Einbußen sprechen (Kerr& Normand, 1992; Speare, Avery & Lawton, 1991; Wahl, 1994). Unter-repräsentiert sind auch Studien, die auf Zusammenhänge zwischen dertatsächlichen Wohnqualität und Kompetenzeinbußen verweisen (Law-

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ton & Moss, 1985; Reddick, 1984/1985; Schmidt, Kruse & Olbrich,1994) und auf die kompensatorische Funktion einer hohen Wohnquali-tät schließen lassen.

Die im Zweiten Altenbericht beschriebene Untersuchung �Möglichkeitenund Grenzen der selbständigen Lebensführung im Alter� (Bundesmi-nisterium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 1998) erbrachtehierzu den Befund, dass die objektive Wohnqualität mit dem Grad derSelbständigkeit zusammenhängt. Unter ungünstigen oder schlechtenWohnbedingungen lebten ca. 14% der relativ selbständigen Menschen,34% der hilfebedürftigen und 45% der pflegebedürftigen. Eine eher guteoder gute Wohnqualität hatten dagegen ca. 44% der relativ selbständi-gen, 24% der hilfsbedürftigen und 11% der pflegebedürftigen Men-schen.

4 Hinweise aus grundlagenwissenschaftlichenStudien über den Stellenwert des Kontextes fürdie Erhaltung der kognitiven Kompetenz

Die meisten Hinweise über die Bedeutung der Strukturen in der Nah-umwelt für die Erhaltung der geistigen Kompetenz enthalten die grund-lagenwissenschaftlichen Studien, die auf die Erklärung des kognitivenAlterns gerichtet sind. Aus dem Erkenntnisstand dieser Studien ist dieErhaltung der geistigen Kompetenz im Alter durch das Zusammenwir-ken vielfältiger Lebensrisiken bedroht.

Vorneweg steht das mit dem Alter wachsende Krankheitsrisiko für De-menzen, das im Hinblick auf das selbständige Leben und Wohnen alsschlechtes Risiko zu werten ist. Gleichzeitig wirkt sich auf die Beibe-haltung der kognitiven Kompetenz eine im Vergleich dazu ungleicheKraft aus, die aus den verringerten geistigen Anforderungen der Umweltdes Alterns entsteht. Hier erinnern die ursprünglichen Konzepte undBefunde der kognitiven Interventionsgerontologie mit gesunden älterenMenschen daran, dass kognitive Verschlechterungen und Beeinträchti-gungen auch durch gute Risiken, wie mangelnder geistiger Anregungs-gehalt oder Ressourcendeprivation in der alltäglichen Umwelt, zustandekommen können (Baltes & Willis, 1982).

So brachten die Trainingsstudien mit gesunden älteren Menschen dieErkenntnis ans Licht, dass ältere Menschen über eine beachtliche kog-

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nitive Plastizität verfügen � und zwar in jenen Bereichen, die aus biolo-gischen Gründen besonders vom Abbau gefährdet sind (vgl. zusam-menfassend Baltes, Sowarka, Neher & Kwon, 1993; Sowarka, 1992).Andererseits lassen die Studien zur Differenzierung zwischen normalenund pathologischen Abbauprozessen im Bereich der Intelligenz (Sowar-ka, Neher, Gutzmann, Kühl & Baltes, 2000) sowie des Gedächtnissesdarauf schließen, dass die kognitiven Entwicklungsreserven im Alterbegrenzt sind. Im Hinblick auf spezielle Fertigkeiten des Gedächtnisseskonnte gezeigt werden, dass sich kognitive Reserven durch Trainingweniger ausschöpfen lassen, als dies bei jüngeren Menschen der Fallist (Baltes & Kliegl, 1992).

Trainingsstudien veranschaulichen daher die Spannbreite der Person-Umwelt-Effekte, die aus dem Zusammenspiel zwischen neurologischenProzessen und der Anregungs- und Anforderungsstruktur der Umwelterklärt werden können. Gleichzeitig stärken die Trainingseffekte, die aufdie Übung geistiger Fähigkeiten zurückzuführen sind, die Umwelthypo-these, wonach die Anregungs- und Anforderungsstruktur der Umweltden Nichtgebrauch geistiger Aktivitäten und die Minderung der geistigenKompetenz erwirken kann. Letzteres Erklärungsmuster ist durch dieMaxime �use it or lose it� (Salthouse, 1991) bekannt geworden.

Eine neue, längsschnittlich angelegte Studie aus Kanada (Hultsch, Her-zog, Small & Dixon, 1999) legt hierzu nahe, dass die Ausübung geistiganspruchsvoller Aktivitäten im Alter den kognitiven Abbau abfedernkann. Andererseits war aus diesen Befunden nicht auszuschließen,dass die intellektuell Bessergestellten über längere Zeiträume ein intel-lektuell ausgefülltes Leben führen und es erst dann einschränken, wennein kognitiver Abbau eingesetzt hat.

Aus den gut erforschten Altersverläufen der Intelligenz (z.B. Baltes,1984; Schaie, 1983; 1990) wurde der Erklärungswert von Person- undUmweltmerkmalen für die Variabilität des intellektuellen Alterns be-stimmt. Als wichtiges Faktorenbündel für die Erhaltung geistiger Funk-tionen erweisen sich hier Gesundheit, Schulbildung, soziökonomischerStatus, soziale und Freizeitaktivitäten. In ihrem Zusammenwirken brin-gen die Faktoren unterschiedliche Lebensstile und Umwelten hervor.

Die Rolle von Umwelteinflüssen auf die Alternsverläufe der Intelligenzwurde gelegentlich über Lebensstile bestimmt (z.B. Gribbin, Schaie &Parham, 1980; Schaie, 1983; Schaie & O�Hanlon, 1990). Variablen desLebensstils sind in der Regel komplex und erfassen auch Merkmale derhäuslichen Umwelt, wie die Zusammensetzung der Nachbarschaft odersoziale Netzwerke, und das Engagement bzw. die Interaktionen mit der

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Umwelt. In Abhängigkeit vom Lebensstil erbrachten die Analysen überdie Zeit unterschiedliche intellektuelle Leistungsniveaus. Zum Beispielwar ein sozial(-engagiert)er Lebensstil ein guter Prädiktor für die Vor-hersage von hohen späteren Leistungen, während ein sozial zurückge-zogener Lebensstil mit niedrigen kognitiven Leistungen einherging.

Als eine konkrete Bedingung der Umwelt wurde der Anregungsgehaltder bisherigen Arbeitswelt auf die intellektuelle Flexibilität untersucht(Schooler, 1987). Hier zeigte sich, dass die Komplexität der gegenwär-tigen Arbeit substantiell die intellektuelle Flexbilität beeinflusst, wohin-gegen die intellektuelle Flexibiliät die künftige Arbeit beeinflusst. Ob diedauerhafte Ausübung kognitiv anspruchsvoller Arbeit einen günstigerenkognitiven Alternsverlauf erzeugt als kognitiv weniger anspruchsvolleArbeiten, scheint noch nicht definitiv entschieden zu sein. So ist dasZusammenspiel zwischen der Umwelt und den Lebensstil-Verände-rungen nach der Pensionierung sehr komplex und wurde im Hinblick aufintellektuelle Leistungen noch nicht genügend erforscht.

Nachwirkungen der Arbeit in die Pensionierung hinein wurden als �busyethic� behandelt (Eckerdt, 1986). Damit ist gemeint, dass Pensionäre ofteine ähnlich geschäftige Tagesstrukturierung beibehalten wie im frühe-ren Berufsleben. Dabei handelt es sich jedoch keineswegs um eine mil-de Form der Selbsttäuschung, die primär dem Erhalt des Selbstwert-gefühls oder der neuen Rolle dient. Vielmehr könnte sich dieGeschäftigkeit oder der �Unruhestand� als eine wichtige instrumentelleHilfe erweisen, um dem kognitiven Altern vorzubeugen und sich selbstzu kognitiv stimulierenden Aktivitäten anzuhalten.

Die Analysen aus der bekannten Seattle Längschnittstudie (Schaie,1996) geben einen konkreten Einblick in das vielschichtige Zusammen-wirken zwischen der früheren Arbeitswelt und der Pensionierung. Siezeigen, dass die Pensionierung aus Berufen mit hoch komplexen Tätig-keiten 7 Jahre später einen beschleunigten geistigen Abbau mit sichbringt. Dies gilt im Vergleich zu denen, die im selben Zeitraum berufstä-tig geblieben sind. Dagegen zeigten die pensionierten Personen, diezuvor in Routinejobs gearbeitet hatten, im selben Zeitraum keinen Ab-bau, während für die berufstätig gebliebene Vergleichsgruppe ein kog-nitiver Abbau festzustellen war.

Aus diesen Befunden kann man schlussfolgern, dass die Pensionierungmit höheren oder niedrigeren Anregungsbedingungen als das frühereArbeitsleben einhergehen kann. Das Ausmaß der Stimulation nach derPensionierung hängt damit von der Komplexität der früheren beruflichenArbeit und der Gestaltung von Rollen der Pensionierung ab, die mit der

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weiteren intellektuellen Entwicklung im Alter in einer nicht bekanntenWechselwirkung stehen.

Während die bisherigen Befunde innerhalb eines Erklärungsrahmensdiskutiert werden, die den Umweltbedingungen einen maßgebendenEinfluss auf das kognitive Altern beimessen, werden die kognitivenLeistungsunterschiede im Altersbereich von 70 bis 100 Jahren hauptsäch-lich mit neurobiologischen Alterungsprozessen erklärt (Smith & Baltes,1996). Die Befunde der Berliner Altersstudie sprechen für deutliche undfähigkeitsübergreifende intellektuelle Einbuße der intellektuellen Leis-tungsfähigkeit, die durch eine gemeinsame und vermutlich biologischgesteuerte Strukturkomponente erklärt werden.

Gleichzeitig ist der Befund zu berücksichtigen, dass es innerhalb jederAltersgruppe eine beachtliche Variabilität der intellektuellen Leistungs-fähigkeit gab. So wird berichtet, dass einige der alten Menschen � so-gar eine 103-Jährige � zu der Gruppe gehörten, die die besten Leistun-gen zeigte, während einige der 70- bis 74-Jährigen unter denen mit denschlechtesten Leistungen waren.

5 Zusammenhänge zwischen Kennzeichen desselbständigen Wohnens und der Erhaltung dergeistigen Kompetenz

Im folgenden werden einige Ergebnisse aus meinen empirischen For-schungsarbeiten zum Thema dargestellt. Im Überblick wird über aus-gewählte Ergebnisse zu der Frage berichtet, ob zwischen den Kennzei-chen des selbständigen Wohnens in Seniorenwohnhäusern und denkognitiven Kennwerten von Bewohnern ein Zusammenhang besteht(Sowarka, 1997, 1999).

Ein einheitlicher theoretischer Rahmen für das Zusammenspiel zwi-schen intellektuellen Leistungen und Merkmalen des Wohnens im Alterexistiert nicht. Umweltgegebenheiten, wie das Wohnen, sowie Konzepteund Verläufe intellektueller Funktionen im Alter, werden in jeweils unter-schiedlichen Modellen des Alterns behandelt. Empirisch gesicherteBefunde über die Zusammenhänge zwischen Merkmalen des selbstän-digen Wohnens in altershomogenen Einrichtungen und interindividuel-len Unterschieden im kognitiven Status wie im Verlauf intellektuellerFähigkeiten im Alter liegen meines Wissens nicht vor.

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Ziel meiner Studie war es, den Beitrag von Wohnkennzeichen in 16 Se-niorenwohnhäusern der ehemaligen Westbezirke Berlins für die Erhal-tung intellektueller Fähigkeiten im Alter zu erkunden. Die berichtetenErgebnisse beruhen auf meiner erneuten Auswertung kognitiver Per-sonmerkmale im Verlauf des Alterns sowie auf der Auswertung einerZusatzerhebung von Kennzeichen des selbständigen Wohnens in 16Seniorenwohnhäusern der Bezirke Berlins. Diese von mir konzipierteStudie (Sowarka, 1997) wurde nach Abschluss eines für die Jahre 1989bis 1994 durch den BMFT finanzierten Projekts bearbeitet (vgl. M. Bal-tes & Sowarka, 1995; Sowarka, Neher, Gutzmann, Kühl & M. Baltes,2000). Im einzelnen wird über Ergebnisse der folgenden drei Frage-stellungen berichtet:

1 Gibt es in Abhängigkeit von Trägern der Wohneinrichtungen unter-schiedliche Wohnprofile?

2 Unter welchen institutionellen Wohnbedingungen leben Personenmit und ohne Anzeichen des geistigen Abbaus?

3 Gibt es zwischen den Wohnbedingungen und den intellektuellenVeränderungen nach Ablauf eines 2-Jahres-Intervalls einen Zu-sammenhang?

Als Instrument für die Erfassung der Kennzeichen des selbständigenWohnens in abgeschlossenen Kleinwohnungen innerhalb altershomo-gener Einrichtungen kam das in den USA entwickelte und erprobte Mul-tiphasic Environmental Assessment Procedure (MEAP) von Moos undLemke (1992) zur Anwendung. Das eingesetzte Instrumentarium wurdefür die Erhebung von Kennzeichen des selbständigen Wohnens in 16Seniorenwohnhäusern ins Deutsche übersetzt und geringfügig modifi-ziert. In der eingesetzten deutschsprachigen Version bezieht sich dasInstrumentarium auf vier Bereiche des Wohnens, zu denen jeweils meh-rere Kennwerte ermittelt werden: architektonische Merkmale, Hauspoli-tik, Kennzeichen der Bewohner und des Personals sowie eine Beob-achter-Skala. Bei der Anwendung des Instrumentariums wurden nurDaten der Fremdbeobachtung einbezogen, die pro Seniorenwohnhausin zwei bis drei Terminen von erfahrenen Diplom-Psychologen anhandvon Besichtigungen, Aufzeichnungen und Interviews des Personals so-wie Beobachtungen von Bewohnern gewonnen wurden.

Die testpsychologischen kognitiven Kennwerte beruhen auf einer Stich-probe von 106 Bewohnern der 16 Einrichtungen. An der ersten Erhe-bungswelle hatten 156 Studienteilnehmer teilgenommen, die durch-schnittlich 77 Jahre alt waren (SD = 5.5). In der ersten Welle wurde einstandardisierter Pretest für die Erfassung fluider Fähigkeiten sowie einpsychiatrisches Screenig-Verfahren zur Einschätzung eines Demenzri-

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sikos angewandt (SIDAM; Zaudig, Mittelhammer & Hiller, 1990). Im An-schluss an diese Erhebungen hatten die Studienteilnehmer an kogniti-ven Trainingsprogrammen mit mehreren Sitzungen bzw. an einer blo-ßen Testwiederholung teilgenommen. Die zweite Erhebungswelle mit106 Studienteilnehmern fand durchschnittlich zwei Jahre später statt.An diesem Erhebungszeitpunkt wurden die fluiden Fähigkeiten durchTestwiederholung erfasst. Eine ausführliche Beschreibung des Studien-designs, der Stichprobe sowie der eingesetzten Erhebungsinstrumenteenthält ein kürzlich veröffentlichter Artikel über die Hauptergebnisse desBMFT-Drittmittelprojekts (Sowarka et al., 2000).

Die Ergebnisse zu den aufgestellten drei Fragestellungen erbrachtenfür die untersuchten 16 Seniorenwohnhäuser der ehemaligen Westbe-zirke von Berlin unterschiedliche Wohnprofile, die mit der Trägerschaftzusammenhängen. Verglichen mit den Einrichtungen in öffentlicherTrägerschaft hatten die frei-gemeinnützigen Einrichtungen ihren Be-wohnern einen durchgängig höheren Standard und bessere Unterstüt-zungsleistungen (z.B. Barrierefreiheit, Ausstattungshilfen bei körper-lichen Behinderungen, Unterstützung bei der Alltagsorganisation) anzu-bieten.

Mit der Trägerschaft war auch eine auffällige Differenzierung zwischenden Studienteilnehmern und ihren Kennwerten im psychiatrischen De-menz-Screening (Zaudig et al., 1990) verknüpft. So lagen die Anteileder kognitiv beeinträchtigten Studienteilnehmer in den bezirklichen Ein-richtungen (53 %) bedeutend höher als in den frei-gemeinnützigen Ein-richtungen (37%), in denen hauptsächlich kognitiv Unbeeinträchtigtewohnten. Das bedeutet, dass sich das Demenzrisiko nicht in gleicherWeise auf die Studienteilnehmer der Einrichtungen verteilt.

Die individuellen Unterschiede in der Stabilität intellektueller Leistungenwurden nach Ablauf von zwei Jahren für 106 Bewohner der Einrichtun-gen ermittelt. Kriterium einer schrittweisen hierarchischen multiplenRegressionsanalyse waren die individuellen intellektuellen Veränderun-gen zwischen dem ersten und zweiten Messzeitpunkt der zwei Erhe-bungswellen. Als Prädiktoren der Analyse wurden die kognitiven Kenn-werte der 106 Studienteilnehmer und Wohnmerkmale verwendet. Imersten Schritt der Analyse wurden die psychiatrischen Screeningwerte,im zweiten Schritt die Übungsgewinne durch kognitives Training oderTestwiederholung in die Analyse eingegeben. Anschließend wurden dieMerkmale aus drei Bereichen des Wohnens (architektonische Merkma-le, Hauspolitik, Kennzeichen der Bewohner und des Personals) en blocin die Analyse eingegeben.

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Die Ergebnisse der Analyse zeigen, dass die Prädiktoren aus der erstenErhebungswelle (N = 106) ca. 50% der Varianz intellektueller Stabilitätinnerhalb eines Zwei-Jahres-Intervalls aufklären. Signifikante Prädikto-ren sind die psychiatrischen Screeningwerte (11%) sowie die Übungs-gewinne (29%) aus kognitivem Training (N = 94) bzw. bloßer Testwie-derholung (N = 12). Unterschiedliche Kennzeichen des selbständigenWohnens in Seniorenwohnhäusern tragen zusätzlich zur Varianzaufklä-rung intellektueller Stabilität bei (10%). Als bedeutende Merkmaleerwiesen sich hierbei die Erwartungen der Hausleitungen an die Funk-tionstüchtigkeit der Bewohner, einschließlich der geistigen und psychi-schen Fähigkeiten, sowie die Breite und Häufigkeit des hausinternenAngebots an Aktivitäten und Freizeitgestaltung. Von den geistigen Res-sourcen zeigten die Lerngewinne aus einem kognitiven Training, das inden Häusern durchgeführt wurde, eine längerfristige Wirkung. Sie wa-ren für die Aufklärung der Stabilitätsunterschiede intellektueller Leistun-gen der stärkste Prädiktor.

6 Welche Schlussfolgerungen kann man aus denbisherigen Ausführungen ziehen?

Erstens kann man sagen, dass die angewandte gerontologische For-schung zum selbständigen Wohnen im Alter die Fragen zur Erhaltungder geistigen Kompetenz vernachlässigt hat und ihnen erst im Hinblickauf das mit dem Alter wachsende Demenzrisiko mehr Aufmerksamkeitschenkt. Gleichzeitig fehlt bei einsetzenden Demenzerkrankungen einegesicherte Befundlage darüber, welche Wohn- und Umfeldbedingungengünstige Krankheitsverläufe hervorbringen und das Fortschreiten desgeistigen Abbaus verzögern. Da mit dem selbständigen Wohnen undder Erhaltung der geistigen Kompetenz auch Ziele, Werte und Wünschefür die Gestaltung des Lebens im Alter verbunden sind, wird man sichkünftig den konkreten Voraussetzungen in der Umwelt, der Gesellschaftund beim einzelnen Menschen zuwenden müssen.

Zweitens hat sich im Hinblick auf die Bedürfnisse der jetzigen Generati-onen älterer Menschen die Erkenntnis durchgesetzt, dass die bebauteund soziale Struktur der Umwelt im Alter zunehmend wichtiger wird.Dies bestätigt auch eine neuere empirische Studie aus Spanien, in der32 Wohneinrichtungen für Ältere und 1403 ihrer Bewohner einbezogenwaren (Fernández-Ballesteros, Montorio & Fernández de Trocóniz,1998). Die Ergebnisse dieser Studie sprechen insgesamt für sehr kom-plexe Zusammenhänge zwischen Personmerkmalen und Kennwerten

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institutioneller Wohneinrichtungen für Ältere. Darüber hinaus ist dieStudie einer der neueren Belege, dass individuelle Personmerkmale wieKennwerte institutioneller Wohneinrichtungen mit verschiedenen Krite-rien, wie Aktivitäten, Selbsteinschätzungen von Gesundheit und Ge-dächtnis, erlebter Zufriedenheit und Wohlbefinden, in Zusammenhangstehen.

Schließlich wird argumentiert, dass das Zusammenspiel zwischen per-sönlichen Ressourcen und der Umweltstruktur über die Breite des Le-bensraums im Alter mitbestimmt. Dieses Zusammenwirken entscheidetüber die Gelegenheiten für vielfältige Aktivitäten und Lebensstile im Al-ter sowie die Chancen, die den Gebrauch geistiger und sozialer Fähig-keiten fördern oder hemmen. Der Stellenwert der geistigen Fähigkeitenwird daher nicht nur aus der Aneinanderreihung alltäglicher Aktivitätendes selbständigen Wohnens und Lebens im Alter deutlich. Die erhalte-ne geistige Kompetenz leistet darüber hinaus gute Dienste für die Zieleund Entwicklungsaufgaben des Alters und moderiert diese über unter-schiedliche Konzepte und Prozesse, wie z.B. die Kontrolle, Reflexionund Mitsprache über das eigene Leben, das Selbstwertgefühl, dieWahrnehmung der eigenen Kompetenz oder die schlichte Einsicht,dass man mit seinen lebenslang erworbenen Kenntnissen und Erfah-rungen von anderen noch gebraucht werden könnte.

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Wohnkonzepte und Erhaltung von geistigerKompetenz

Klaus Großjohann und Holger Stolarzunter Mitwirkung von Britta Maciejewski und Christine Sowinski

Kuratorium Deutsche Altershilfe, Köln

Co-Referat zum Referat �Selbständiges Wohnen im Alter und die Er-haltung geistiger Kompetenz� von Dr. Doris Sowarka, DZA

Das Kuratorium Deutsche Altershilfe (KDA) beschäftigt sich mit der an-wendungsbezogenen Forschung sowie mit der Entwicklung von Kon-zepten der Altershilfe und der Förderung ihrer Umsetzung. Einige derim Kapitel von Frau Doris Sowarka aufgeworfenen Forschungsfragenzum selbständigen Wohnen und zur Erhaltung der geistigen Kompetenzsollen deshalb anhand aktueller, zukunftsorientierter Wohnkonzepte fürältere Menschen diskutiert werden.

Dabei handelt es sich um drei sehr unterschiedliche Wohn- und Le-bensformen im Alter: der Verbleib in der bisherigen Wohnung (Woh-nungsanpassung), die gezielte und freiwillige Wahl einer neuen Wohn-und Lebensform im Alter (Gemeinschaftliches Wohnen) und schließlichkleine Wohngruppen für ältere Menschen mit hohem Pflege- undBetreuungsbedarf (Hausgemeinschaften für Pflegebedürftige).

In diesem Beitrag wird ein Bezug hergestellt zwischen den aufgeworfe-nen Forschungsfragen und den Wohnkonzepten, die diesen konkretenWohnformen zugrunde liegen. Im Anschluss wird in einem neuen Ab-schnitt das KDA-Konzept für Hausgemeinschaften für Pflegebedürftigeausführlicher dargestellt. Auch wenn es sich hierbei ausdrücklich nichtum eine �selbständige� Wohnform handelt, werden in diesem Konzeptviele Fragen über das Zusammenwirken von räumlichem und sozialemUmfeld einerseits und geistiger Kompetenz andererseits aufgeworfen.

1 �Passung� von Wohnumfeld und Kompetenz

Im vorangestellten Referat wurde unter anderem die Frage diskutiert,welchen Beitrag das selbständige Wohnen für die Erhaltung der geisti-

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gen Kompetenz leisten kann und wie es gestaltet werden sollte, um ei-nen Abbau dieser Kompetenz zu verzögern. Die Einforderung von mehrForschung auf diesem Gebiet und die stärkere Hinwendung auf kon-krete Voraussetzungen und Lebensumstände kann nur bestätigt wer-den. Hinzuzufügen wäre, dass dieser Forschungsbedarf insgesamt fürden Zusammenhang von Wohn- und Umfeldbedingungen und demWohlbefinden älterer Menschen besteht.

Im Folgenden soll das Begriffspaar �geistige Kompetenz� und �selb-ständiges Wohnen� durch ein weiteres ergänzt werden, und zwar �geis-tige Verwirklichung� und �selbstbestimmtes Wohnen�. Dies könnte eserleichtern, nach geeigneten räumlichen und sozialen Wohnbedingun-gen zu forschen, die sich auf unterschiedliche und sich wandelnde Le-benssituationen im Alter beziehen. Beim Begriff �geistige Kompetenz�schwingt auch die Feststellung von Defiziten mit und die möglicheSchlussfolgerung, dass die (abnehmende) geistige Kompetenz für einselbständiges Wohnen nicht mehr ausreichen könnte. Wenn man � wiein dem erwähnten Modell von M.P. Lawton � von einer �Passung� zwi-schen Umweltanforderungen und individuellen Kompetenzverläufenausgeht, ermöglicht dies eine Modifizierung der Fragestellung: WelcheUmweltbedingungen sind erforderlich, damit ältere Menschen auch mitkognitiven Einschränkungen (noch) klarkommen. Hierbei spielen nichtnur die körperlichen und geistigen Defizite eine Rolle. Im Vordergrundstehen vielmehr die immer noch verbleibenden Potentiale. In einer Ne-gativdefinition für die Passung von Umwelt und Kompetenz wird von�struktureller Gewalt� gesprochen. So definiert zum Beispiel Galtung alsUrsache für Gewalt �den Unterschied zwischen der aktuellen soma-tischen und geistigen Verwirklichung eines Menschen und seiner po-tentiellen Verwirklichung�. Diese Definition wurde im KDA-Konzept�Hausgemeinschaften für Pflegebedürftige� aufgegriffen. Ein wichtigerLösungsansatz für die Schaffung einer Umwelt mit guter Passung vonaktueller und potentieller Verwirklichung ist die Ermöglichung von alssinnvoll erlebten Tätigkeiten in vertrauter Atmosphäre auch und geradebei Demenzerkrankungen. Bei einem so verstandenen Konzept vonSelbstbestimmung ist immer auch die Mitwirkung der Bewohner gefragt.Umweltbedingungen, die diese Mitwirkungsmöglichkeiten unterstützen,haben vermutlich auch einen positiven Einfluss auf die Erhaltung geisti-ger Kompetenz bzw. die Verzögerung ihres Abbaus. In einer Erweite-rung des Umwelt-Kompetenz-Modells spricht Lawton im Zusammen-hang mit der besseren Akzeptanz von Wohnumfeldanpassungen durchdie Bewohner von der �selbstbestimmten Gestaltung der räumlichenUmwelt (�proactive shaping�, vgl. Gitlin, 1998).

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Auf einen einfachen Nenner gebracht beinhaltet die hier vorgeschlage-ne Erweiterung der Diskussion um Wohnform und geistige Kompetenz:Es kommt nicht nur auf das richtige Angebot an, sondern auch auf dieMitwirkung der Nutzer. Auch hierüber liegen zwar positive Erfahrungenvor, aber wenige fundierte Forschungsergebnisse.

2 Anpassung bestehender Wohnungen

Ziel der Wohnungsanpassung ist es, bestehende �normale� Wohnungenan die Bedürfnisse älterer und behinderter Menschen anzupassen, da-mit sie ihren selbständigen Haushalt aufrecht erhalten können. ÄltereMenschen sollen nicht deshalb umziehen müssen, weil ihre Wohnun-gen nicht altersgerecht sind. Dies trägt der Tatsache Rechnung, dassdie meisten älteren Menschen in ihren Wohnungen und ihrem vertrau-ten Umfeld bleiben möchten.

2.1 Anpassungsmaßnahmen

Bei der Wohnungsanpassung geht es um kleinere bis mittlere baulich-technische Maßnahmen in individuellen Wohnungen. Die Beseitigungvon Barrieren aller Art sowie kleinere Alltagserleichterungen und auchtechnische Hilfen bilden den Schwerpunkt der Anpassungsmaßnah-men. Der wichtigste Ort für technische Veränderungen ist das Bad. Vonbesonderer Bedeutung sind zudem alle Maßnahmen, die das Überwin-den von Stufen und Schwellen erleichtern.

Wohnungsanpassung ist nicht nur eine technische Aufgabe, sondernsie ist eigentlich nur zu verstehen in der Verbindung mit Beratung bzw.Unterstützung der Bewohner.

2.2 Wohnberatung

Gerade ältere Menschen sind meistens damit überfordert, Anpas-sungsmaßnahmen in eigener Regie vorzunehmen. Das betrifft nicht nurdas Finden einer geeigneten Lösung, die Organisation der handwerkli-chen Ausführung und die Regelung der Finanzierung, sondern beginntbeim Erkennen des Problems in der Wohnung.

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Eine zentrale Aufgabe der Wohnberatung beinhaltet praktische Hilfe,Begleitung und organisatorische Unterstützung bei der Planung undDurchführung von Anpassungsmaßnahmen. Weitere zentrale Aufgabensind die Zusammenarbeit mit allen beteiligten Personen und Einrichtun-gen sowie die Öffentlichkeitsarbeit, um alle Beteiligten zu erreichen undauch eine breitere Öffentlichkeit für selbständiges Wohnen im Alter oderbei Behinderungen zu sensibilisieren.

Drei Prinzipien für die Arbeitsweise von Wohnberatungsstellen sollenhervorgehoben werden:

• Wohnprobleme sollen vor Ort gelöst werden. Es handelt sich nichtum eine Komm-Situation, wo abgewartet wird, dass die Klienten umRat fragen. Dies kommt zwar vor, die Haupttätigkeit ist aber die Be-ratung in den Wohnungen.

• Individuelle Beratung ist notwendig, denn die Anpassungsmaßnah-men sind nur dann erfolgreich und effektiv, wenn sie wirklich auf dieSituation in der einzelnen Wohnung und auf die individuellen Bedürf-nisse der Bewohner abgestimmt sind.

• Die Arbeit in den Wohnberatungsstellen muss vom Ansatz her inter-disziplinär sein. Die Aufgabenbereiche von Sozialarbeitern, Archi-tekten oder auch anderen Bauberufen und von Ergotherapeuten sindfür die Beratungstätigkeit besonders wichtig.

2.3 Netz der Wohnungsanpassung

Eine Maßnahme in der Wohnung kann nur dann erfolgreich durchge-führt werden, wenn ein funktionierendes Netz der Beteiligten aufgebautwurde, in dem alle am gleichen Strang ziehen. Im Mittelpunkt steht derBewohner selbst. Von Bedeutung ist aber auch sein persönliches Um-feld. Ohne die Zustimmung von Verwandten, Freunden und Bekanntenkann der Wohnberater sicherlich wenig ausrichten.

Die sozialen Dienste müssen mitwirken, wenn zusätzliche personelleHilfen notwendig sind und um auf Probleme in der Wohnsituation auf-merksam zu machen. Ärzte sind zum Beispiel auch wichtig, weil sie fürdie Finanzierung von Hilfsmitteln Rezepte ausstellen müssen. Alle In-stitutionen, die Anpassungsmaßnahmen finanzieren, müssen für eineZusammenarbeit gewonnen werden. Auch die Hauseigentümer sindwichtige Partner, denn größere Maßnahmen können ohne ihre Zustim-mung gar nicht durchgeführt werden. Außerdem können oder müssenVermieter auch manche Maßnahmen, z.B. im Treppenhaus, selbst fi-nanzieren. Schließlich sind alle mit im Boot, die für die materielle Um-

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setzung der Maßnahme wichtig sind: Handwerker, Sanitätshäuser bzw.Vertreiber von technischen Produkten sowie Baufirmen.

2.4 Einbindung der Wohnungsanpassung in ein Konzept derwohnbezogenen Altenhilfe

Die �normale� Wohnung wird in zunehmendem Maße als wichtigeWohnform für alte Menschen verstanden und auch zum Gegenstandder Altenhilfe-Planung. Die Wohnungsanpassung ist nicht nur ein Bau-stein in diesem Konzept, sondern enthält auch wichtige Verfahrensele-mente. So setzt sie direkt bei den Wünschen der Bewohner an und be-zieht diese in die Planung ein. Die geforderte Kooperation zwischenWohnungsbau und Altenhilfe wird bei der Wohnungsanpassung not-wendigerweise praktiziert. Auch der generationsübergreifende Ansatzist in der Wohnungsanpassung enthalten: Selbständigkeit in der eige-nen Wohnung ermöglicht in den meisten Fällen auch die Aufrecht-erhaltung der Kontakte zu jüngeren Menschen. Gerade die direkte Aus-einandersetzung mit den individuellen Wohnverhältnissen älterer Men-schen ist eine gute Informationsquelle, die häufig eine realistischereEinschätzung der Wohnbedürfnisse ermöglicht als Umfragen. Die Ver-bindung von Beratung und praktischer Hilfe da, wo die älteren Men-schen leben, könnte ein wichtiger Impuls für die Altenhilfe insgesamtsein.

2.5 Umsetzung des Konzeptes

Für die Finanzierung der Maßnahmen gibt es relativ gute Möglichkeiten:Die wichtigsten Institutionen sind die Sozialhilfe, die Krankenkassenund seit 1995 die Pflegekassen. Für die Finanzierung der Beratungmüssen die Beratungsstellen in der Regel selbst einen oder mehrereKostenträger finden. Weder landes- noch bundesweit existiert eine ge-regelte, gesicherte Finanzierung. Nur in vier Bundesländern gibt eshierfür Ansätze. Das Hauptproblem der Wohnungsanpassung ist die Fi-nanzierung der Beratung.

Heute gibt es bundesweit etwa 200 Beratungsstellen, die allerdingssehr ungleich verteilt sind. Für ein flächendeckendes Netz wäre eineweit größere Anzahl notwendig. Darüber hinaus ist eine Weiterentwick-lung der Qualifikation erforderlich. Das KDA hat die Entstehung undUmsetzung des Konzeptes der Wohnungsanpassung maßgeblich be-einflusst. Für eine Verbesserung der Rahmenbedingungen der Wohn-

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beratung setzt sich zudem die 1994 gegründete Bundesarbeitsgemein-schaft Wohnungsanpassung e.V. ein.

2.6 Wohnungsanpassung und geistige Kompetenz

Die Wohnungsanpassung folgt dem Modell der Passung von Umweltund Kompetenz in direkter Weise. Durch den individuellen Ansatz kanndem Problem der Komplexität jeweils angemessener Umweltanforde-rungen auf relativ einfache Weise begegnet werden. Die positiven Aus-wirkungen im Hinblick auf die Kompetenzverbesserung in der Durchfüh-rung von Alltagsaktivitäten sind unbestritten und in Erfahrungsberichtenauch nachgewiesen (vgl. z.B. Niepel, 1995 und 1998). Diese Verbesse-rungen der Alltagskompetenz haben sicherlich auch positive Auswir-kungen auf das psychologische Wohlbefinden (vgl. Gitlin, a.a.O.) undauch auf die geistige Kompetenz, zumal damit häufig eine Verbesse-rung in der Wahrnehmung sozialer Kontakte einhergeht. Dies ist amehesten dann zu erreichen, wenn der Bewohner die Anpassung seinerWohnumwelt aktiv mitgestaltet.

Die Strategie der Wohnungsanpassung wurde zwar in erster Linie fürkörperliche Einschränkungen entwickelt und ist zumindest bei schwerenDemenzerkrankungen nur sehr begrenzt tauglich. Sei es, dass der Be-wohner die notwendigen Maßnahmen nicht mehr nachvollziehen kann,sei es, dass die selbständige Haushaltsführung überhaupt in Frage ge-stellt ist. Dennoch wurden in letzter Zeit auch Strategien für Demenz-kranke erprobt, insbesondere für solche, die nicht allein wohnen. Sowurde der Maßnahmenkatalog zum Beispiel auf Sicherheitsaspekte undangstvermeidende Milieuverbesserungen erweitert und auch Bera-tungsstrategien auf die Klientel abgestimmt (vgl. BMFSFJ, 2002). DieseEntwicklung steht aber erst am Anfang, und für die Ausschöpfung derhier vorhandenen Potentiale ist eine intensivere Forschung unumgäng-lich.

3 Selbstorganisiertes gemeinschaftliches Wohnen

Im Unterschied zur Wohnungsanpassung ist das gemeinschaftlicheWohnen eine Wohnform für ältere Menschen, die bewusst gemeinsammit anderen noch einmal etwas Neues versuchen wollen. Gerade in derimmer größer werdenden Zeitspanne zwischen Beginn des Rentenal-

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ters und dem hohen Alter suchen ältere Menschen nach neuen Aufga-ben und neuen Formen gemeinschaftlicher Aktivitäten und verknüpfendies mit neuen Wohnformen. Dabei nehmen es die älteren Menschenselbst in die Hand, wie sie wohnen und leben möchten. Innerhalb derletzten 20 Jahre hat sich quasi �von unten� eine Wohnform als eine rea-listische Alternative zu den �professionellen� Wohnangeboten � wie zumBeispiel das Betreute Wohnen � entwickelt.

Das gemeinschaftliche Wohnen unterscheidet sich von den anderenWohnangeboten in zwei wesentlichen Punkten. Eine Besonderheit liegtin der Art des Zusammenlebens, das gemeinsame Aktivitäten und ge-genseitige Unterstützung mit persönlichem Freiraum und Lebensstilverbindet. Die weitere Besonderheit besteht in der aktiven Rolle derBewohner bei der Gestaltung des Zusammenlebens und häufig auchbei der Projektentwicklung.

3.1 Unterscheidungsmerkmale zum Betreuten Wohnen

In einer Broschüre über gemeinschaftliche Wohnprojekte in Nordrhein-Westfalen, die unter Federführung des Kuratoriums Deutsche Altershilfefür die Landesregierung hergestellt wurde (vgl. Ministerium für Jugend,Familie und Gesundheit des Landes Nordrhein-Westfalen, 1999.), sindfolgende Unterscheidungsmerkmale zum Betreuten Wohnen aufgeführt:

• Besondere Qualität des Zusammenlebens: Durch gemeinsame Aktivitäten und gegenseitige Unterstützung wirdein Zusammenleben angestrebt, dass über eine unverbindlicheNachbarschaft hinausgeht.

• Mitwirkung der Bewohner bei der Projektentwicklung: Im Unterschied zum Betreuten Wohnen beginnt die Gemeinschaftvor dem Einzug. Die Bewohner können selbst die Initiatoren sein undagieren quasi als Bauherren (Modell �von unten�). Geht die Initiativevon Trägern bzw. Institutionen aus, werden die Bewohner bei derUmsetzung des Konzeptes beteiligt (Modell �von oben�).

• Die Bewohner sind Organisatoren des Gemeinschaftslebens: Diese Selbstorganisation kann durch einen projektübergreifendenVerein oder durch professionelle Moderatoren begleitet werden. Ent-scheidend für die Bildung einer Gemeinschaft ist eine Mitsprache derBewohner bei der Belegung.

• Zum Selbstverständnis gehört die gegenseitige Hilfe: Diese Hilfe erfolgt freiwillig und ergänzt professionelle Hilfen, ersetzt

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diese aber nicht. Professionelle Hilfen sind in der Regel nicht in dasWohnprojekt integriert; in einigen Fällen werden Kooperationen ver-einbart.

• Das Zusammenleben beschränkt sich nicht nur auf alte Menschenoder eine bestimmte soziale Gruppe: Häufig sind die Wohnprojekte altersgemischt; eine Mischung un-terschiedlicher Einkommensgruppen, eine Mischfinanzierung undentsprechende unterschiedliche Mietkosten werden angestrebt; fürunterschiedliche Haushaltstypen werden differenzierte Wohnungs-größen und Eigentumsformen angeboten.

• Gemeinschaftliche Wohnprojekte streben eine Integration in dasumgebende Wohnquartier an: Diese kann durch eine Öffnung projektinterner Gemeinschaftsräumeoder durch eine Verbindung mit Gemeinschaftseinrichtungen für einWohnquartier erreicht werden.

• Gemeinschaftliche Wohnprojekte verwirklichen gemeinschaftsför-dernde Baukonzepte: Obwohl sie sich äußerlich kaum von �normalen� Wohnungsgebäu-den unterscheiden, wird insbesondere durch die Gebäude- undWohnungserschließung versucht, zusätzliche Begegnungsmöglich-keiten zu schaffen. Ein besonderes Gestaltungsmerkmal ist auch dieMischung unterschiedlicher Wohnungstypen.

Beim selbstorganisierten gemeinschaftlichen Wohnen hat sich eine inhohem Maße nutzergesteuerte Wohn- und Betreuungsform entwickelt,die � in unterschiedlicher Ausprägung � als Prinzip auch für alle ande-ren Wohnformen einschließlich des Betreuten Wohnens in Zukunft vonWichtigkeit sein dürfte. Auch insofern kann der Wert dieser Wohnformnicht nur an der Anzahl der realisierten Projekte gemessen werden. Ihrequalitative Bedeutung besteht darin, dass ein Experimentierfeld ent-standen ist, in dem die älteren Menschen ihre Wohnwünsche direktverwirklichen können.

3.2 Beitrag des gemeinschaftlichen Wohnens zur Erhaltungkognitiver Kompetenz

Sowohl die Ziele des gemeinschaftlichen Wohnens als auch vorliegen-de Erfahrungsberichte sprechen dafür, dass diese selbstorganisierteWohnform einen wichtigen Beitrag für die Entfaltung der Potentiale derBewohner leistet und damit auch ein günstiges Milieu für die Förderungkognitiver Kompetenzen. Auch hierzu gibt es allerdings kaum wissen-

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schaftlich fundierte Forschung. In einer niederländischen Studie (Ver-wey-Jonker-Institut, 1998), die soeben vom KDA auf deutsch veröffent-licht wurde (KDA Hrsg., 2000, Vom Idealismus zum Realismus), wurdeimmerhin ein Vergleich zwischen Bewohnern solcher Projekte und Be-wohnern �normaler� Wohnungen vorgenommen. Hier wurde zum Bei-spiel bei den Bewohnern der gemeinschaftlichen Projekte ein höheresMaß der Beteiligung am gesellschaftlichen Leben festgestellt. Nach ei-ner Einschätzung der Autoren (vgl. KDA, 2000a, Wohnen in Gemein-schaft) wurde der �Mehrwert� der gemeinschaftlichen Wohnprojekte fürdie Bewohner folgendermaßen beschrieben: �Es kann zu einem aktive-ren Leben und zu einer größeren Verbundenheit mit dem Wohnumfeldführen. Es kommt zum Gefühl erhöhter Sicherheit und Geborgenheit,aber auch zu mehr Möglichkeiten des gegenseitigen Kontaktes und dergegenseitigen emotionalen Stützung. Sicherheit und Geborgenheitwerden von den älteren Menschen selber als die wichtigsten positivenAspekte ihrer Wohngruppen genannt. Die Beziehung zu den anderenWohngruppenmitgliedern wird als eine nachbarschaftliche Beziehungempfunden. Der große Unterschied zu einer normalen selbstständigenWohnung ist, dass man mit gleichgesinnten Menschen zusammenlebt,die man in der Regel jeden Tag trifft bzw. antreffen kann. Die nachbar-schaftlichen Verhältnisse in den Altenwohngruppen gehen also weiterals normale nachbarschaftliche Verhältnisse. Alle für die Studie inter-viewten Menschen hatten mit einem oder mehreren Mitgliedern ihrerWohngruppe eine freundschaftliche Beziehung, in der sich auch andereAktivitäten außerhalb der Wohnung entwickelten. Gegenseitige Hilfedrückte sich in erster Linie durch emotionale Unterstützung aus.�

In einer Darstellung der Vorteile des gemeinschaftlichen Wohnensdurch das Forum für gemeinschaftliches Wohnen e.V. (vgl. KDA 2000 a)wird ausdrücklich die Erhaltung der psychischen (und physischen) Ge-sundheit genannt. Dies wird vor allem mit dem Vorbeugen von Verein-samung in Verbindung gebracht.

Die günstigen Voraussetzungen für soziale Kontakte, die Schaffung ei-nes Milieus der Geborgenheit und Sicherheit sowie die aktive Mitwir-kung der Bewohner bei der Schaffung und Organisation ihres räumli-chen und sozialen Wohnumfeldes scheinen ausschlaggebend zu seinfür das psychische Wohlbefinden der Bewohner und auch für die Er-haltung und Förderung kognitiver Fähigkeiten.

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4 Kleine Wohngruppen bzw. Hausgemeinschaftenfür Pflegebedürftige

Diese Wohnform scheint im Widerspruch zu stehen zu dem oben pos-tulierten Prinzip der Nutzersteuerung, handelt es sich doch ausdrücklichum ein Wohnangebot für eine Klientel mit hohem Betreuungsbedarf, dernicht mehr zu Hause geleistet werden kann. Die Selbständigkeit ist inhohem Maße eingeschränkt. Es handelt sich in erster Linie um eine Al-ternative zum herkömmlichen Pflegeheim. Der Umzug in eine Wohn-gruppe bzw. Hausgemeinschaft erfolgt in der Regel nicht freiwillig, son-dern weil die Umstände zur Aufgabe des selbständigen Haushalteszwingen. Allerdings kann eine Entscheidung insofern freiwillig sein, alsdiese Wohnform bewusst als Alternative zum Pflegeheim gewählt wird.

Die Betreuung pflegebedürftiger � auch demenzkranker � älterer Men-schen in kleinen Gruppen hat sich zunächst in Form von Wohngemein-schaften in �normalen� umgebauten Wohnungen entwickelt. Das Kon-zept besteht im wesentlichen darin, das Zusammenleben in einemüberschaubaren, gemeinsamen Haushalt zu organisieren und dadurchsoviel �Normalität� des Wohnens als möglich zu gewährleisten. Durchdie Konzentration auf Haushaltsaktivitäten in geborgener Atmosphärekönnen die Bewohner ihre verbliebenen Fähigkeiten besser entfaltenund sich dabei gegenseitig unterstützen. Die Betreuung richtet sich vorallem darauf, dies zu fördern. Die pflegerischen Tätigkeiten, die denAlltag im Pflegeheim bestimmen, können demgegenüber in den Hinter-grund treten. Durch diese �Normalisierung� des Wohnens und Betreu-ens in kleinen Wohngruppen können auch die früheren sozialen Bezügeim Wohnquartier besser aufrecht erhalten und die Angehörigen in dieBetreuung integriert werden. Die weitgehende Übertragung dieses Prin-zips auf die stationäre Betreuung wird im nachfolgenden Abschnitt zumKDA-Konzept der Hausgemeinschaften ausführlich dargestellt.

Die Wohnumfeldanforderungen sind auch bei älteren Menschen mit ex-trem eingeschränkter Kompetenz nicht grundlegend anders. Normalität,Selbständigkeit und Mitwirkung sind keineswegs als Anforderung ansolche Umwelten aufgehoben. Vielmehr müssen die räumlichen Milieusund Betreuungsformen besonders sorgfältig darauf ausgerichtet wer-den, dass sie die verbliebenen Potentiale unterstützen. Das Prinzip derNutzersteuerung kann sich zwar weniger auf die Schaffung des Rah-mens für das Zusammenwohnen beziehen, wie das etwa beim selbst-organisierten gemeinschaftlichen Wohnen der Fall ist. Dieser Rahmenmuss von anderen geplant werden. Entscheidend dabei ist, dass diesePlanung in erster Linie die Bedürfnisse der Bewohner im Blick hat und

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nicht die Belange eines reibungslosen Betriebsablaufes. Im Alltag sol-cher Hausgemeinschaften ist die Mitwirkung und Selbstbestimmung derNutzer dagegen in hohem Maße gegeben, diese frei wählen könnenzwischen Nähe und Distanz, Mitwirkung und Rückzug und indem sie auchihren zeitlichen Rhythmus des Tagesablaufes mitbestimmen können.

Gerade die Auseinandersetzung mit Wohnformen für ältere Menschenmit eingeschränkter kognitiver Kompetenz könnte wichtige Erkenntnissedazu liefern, welche Wohnumfeldbedingungen überhaupt förderlich fürdie Erhaltung geistiger Kompetenz sind. Die drei vorgestellten Wohn-konzepte sind zwar sehr unterschiedlich. So orientiert sich zum Beispieldas Zusammenleben in den selbstorganisierten Wohnprojekten eher aneinem Modell haushaltsübergreifender Strukturen, während die Haus-gemeinschaften dem Modell eines gemeinsamen Haushalts in einerGroßfamilie folgen. Eine Gemeinsamkeit in der Vielfalt angemessenerWohn- und Betreuungsangebote scheint in der Stärkung der Rolle derNutzer und ihrer Verwirklichungspotentiale zu liegen. Fragen an die an-wendungsbezogene Forschung wären zum Beispiel, inwiefern solchebereits realisierten Wohnkonzepte tatsächlich diese Erwartungen an alssinnvoll erlebtes Altern erfüllen und welche ihrer Umweltmerkmale zurErhaltung geistiger Kompetenz � und ihrer Entfaltung � einen Beitragleisten. Eine ebenso wichtige, sozialpolitische Forschungsfrage wäre,wie die Umsetzung solcher Wohnkonzepte erleichtert werden könnte.

5 Neue Konzepte im Pflegeheim � Hausgemein-schaften für Pflegebedürftige

Das Kuratorium Deutsche Altershilfe hat immer wieder Alternativen zumklassischen Pflegeheim gesucht: Weg von straff organisierten, wirt-schaftlich orientierten Institutionen hin zu möglichst viel gelebter Nor-malität. Auch ältere Menschen sollen weiterhin so leben, wie sie es ihrganzes Leben gewohnt waren. Denn jeder Mensch hat das Grundbe-dürfnis nach selbstbestimmtem Wohnen � auch bei Hilfe- und Pflege-bedarf.

Hausgemeinschaften für Pflegebedürftige sind betreute Gemeinschaf-ten Älterer. Sie setzen sich aus einer überschaubaren Gruppe zwischensechs und acht Personen zusammen. Die Gruppengröße und Zusam-mensetzung darf auf keinen Fall die Ausbildung eines persönlichen so-zialen Gefüges unterbinden oder gar behindern. Die Normalität des Le-

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bensalltags wird durch die Qualitätskriterien Selbständigkeit, Privatheit,Vertrautheit, Geborgenheit und Eigenverantwortlichkeit geschaffen.

Viele pflegerischen Probleme werden durch das Umsetzen dieser Zielegemildert oder treten gar nicht auf, so zum Beispiel die Tag-/Nacht-Umkehr, Inkontinenz, Unruhe, Angst, Depression und Desorientiertheit.Hausgemeinschaften reduzieren außerdem nach Aussagen von Ex-perten den Konsum von Psychopharmaka und Fixierungen.

6 Kriterien der Hausgemeinschaft

6.1 Selbständigkeit

Verschiedene Merkmale sorgen für einen möglichst hohen Grad anSelbständigkeit:

• Ein barrierefreies Umfeld ermöglicht, körperlichen Hilfebedarf aus-zugleichen und die Selbständigkeit somit weitestgehend zu erhalten.Das gilt natürlich nicht nur für dementiell erkrankte ältere Menschen,sondern für alle Menschen mit körperlichem Hilfebedarf.

• Die Integration in die Gemeinde und die räumliche Nähe zum bishe-rigen Wohnumfeld der BewohnerInnen ist besonders für dementiellerkrankte BewohnerInnen wichtig. Werden sie entwurzelt, so fehlendie Orientierungspunkte, die sie sich während ihres Lebens ge-schaffen haben. Hierdurch entstehen ernsthafte Orientierungsprob-leme im neuen Wohnort (Welter, 1998).

• Eine ortsnahe zentrale Lage erhält und fördert die Selbständigkeitder BewohnerInnen in vielen Bereichen des täglichen Lebens. Diesgehört auch zu den Grundprinzipien der französischen Cantous.Gewünschter Nebeneffekt der zentralen Lage ist, dass es auchFreunden und Angehörigen erleichtert wird, �mal eben vorbeizu-schauen� (vgl. Jani-le Bris, 1995).

6.2 Privatheit

Die BewohnerInnen einer Hausgemeinschaft leben in einem Wohnbe-reich zusammen, der wie eine normale Wohnung über Gemeinschafts-räume wie Küche und Wohnzimmer und private Räume verfügt. DieseAufteilung kommt dem Streben eines jeden Menschen nach sozialemLeben, aber auch nach Privatsphäre nach (vgl. Bauer, 1996). Wie jün-

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gere Menschen, so benötigen auch ältere Menschen Räume, mit denensie sich identifizieren können und in denen sie sich wohlfühlen. Die ei-genen Wohn-/Schlafzimmer garantieren den BewohnerInnen Rück-zugsmöglichkeiten und ihre unentbehrliche Privatsphäre. Die meistenMenschen unserer Kultur sind es gewöhnt zu bestimmen, wieviel Pri-vatheit und wieviel soziale Kontakte sie haben. In einem Mehrbettzim-mer sind die BewohnerInnen einander ausgesetzt und können nichtbestimmen, wo das eigene Lebensumfeld aufhört und das des Mitbe-wohners anfängt. Der Kontrollverlust der Privatsphäre führt zu Gewaltund Aggressionen oder Rückzug und Resignation (Welter, 1997). Des-halb ist der persönliche Lebensraum von besonderer Bedeutung, da erIndividualität, Intimität und Schutz bietet. Dafür braucht jeder Menschsein eigenes Territorium, zu dem er eine Beziehung hat, �sei es, indemer an der Gestaltung eines Raumes mitwirken konnte oder dass derRaum mit persönlichen Gegenständen des �Besitzers markiert� ist, dieauch dementiell erkrankte Menschen als ihr Eigentum erkennen können(Welter 1998). Selbstverständlich gehören hier auch die eigenen Möbeldazu. Fehlt diese individuelle Gestaltung, so kann sich der Kranke inseinem Zimmer nicht zurechtfinden oder findet es überhaupt nicht wie-der. Hierdurch werden letztendlich Verwirrtheitszustände wieder geför-dert (Graber-Dünow, 1999).

Zur Einhaltung der Privatsphäre gehört auch ein eigenes Duschbad undWC. Besonders für inkontinente BewohnerInnen ist dies von besonde-rer Bedeutung. Dies wird auch als Grundprinzip der französischenCantous genannt: �Im Falle von Inkontinenzen (insbesondere fäkaler),das häufiges Waschen des Intimbereichs bedingt, widersprechen sani-täre Anlagen, die von mehreren benutzt werden�, dem Grundprinzip,dem Bewohner seine Würde zu garantieren (Jani-le Bris, 1995). Optimalist es, wenn das eigene Zimmer neben dem Bad und dem WC zusätz-lich über eine kleine Diele verfügt und somit ein in sich geschlossenesApartment bildet.

6.3 Vertrautheit

Das Kriterium der Vertrautheit spielt eine zentrale Rolle für eine Wohn-gemeinschaft. In unüberschaubaren und unpersönlichen Einrichtungensind die psychischen und physischen Probleme für ältere Menschengrößer als in kleinräumigen Einrichtungen. Viele verwirrte Menschen ineinem großen, unübersichtlichen Raum sorgen für einen drastischenAnstieg von Wut und Aggression. Die Betroffenen wünschen sich, �nachHause zu gehen� und äußern damit die Suche nach Vertrautem und

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nach Wohlbefinden. Das Unwohlsein und die ständige Suche nach zuHause erzeugt Ärger, Trauer und Aggression (vgl. Bosch, 1998). Jemehr Vertrautheit also geschaffen wird, desto weniger Verwirrtheit undWut, oder das andere Extrem, nämlich Resignation und Apathie tau-chen auf.

Bei dementiell erkrankten Menschen geht mit den Einbußen geistigerFähigkeiten der Gegenwartsbezug verloren. Sie ziehen sich in die Ver-gangenheit zurück. Dieser Zustand hat natürlich bestimmte Verluster-fahrungen zufolge: Verlust von alltäglichen Fähigkeiten, Verlust derFamilie, Verlust der eigenen Rolle in der Gesellschaft. Die neue Situati-on in einer ungewohnten Umgebung verstärkt dieses Gefühl. Das �Erin-nerungsvermögen und dadurch die Fähigkeit, Situationen zu über-schauen, zu interpretieren und neu zu definieren� ist stark reduziert. Diedementiell erkrankten Menschen verlieren �tatsächlich und im übertra-genen Sinn ihr (Zu)haus� (Bosch, 1998). Hinzu kommt die zunehmendeAbhängigkeit von anderen, von der Familie oder der Pflegeperson.Hieraus entsteht ein Gefühl von Nutzlosigkeit verbunden mit der Sehn-sucht nach Vertrautheit, nach Normalität, Sehnsucht nach der Mutter,dem Zuhause und damit nach Sicherheit und Geborgenheit.

Vertraute Möbel, Gerüche und andere Sinneswahrnehmungen bietenden verwirrten BewohnerInnen wichtige Orientierungspunkte. Verlorengegangene Alltagskompetenzen werden geweckt, Erinnerungen wach-gerufen und damit Wohlbefinden ausgelöst.

Die Privaträume der BewohnerInnen werden � wie jede andere Woh-nung auch � nach individuellen Vorlieben gestaltet. Der eigene räumli-che Mikrokosmos entsteht aus Kleinräumigkeit bis hin zu Rückzugsni-schen, die möglichst viel Vertrautes aus der eigenen Biographie bieten.

Neben einer ansprechenden, überschaubaren Architektur sind beson-ders Stimulationen durch Geräusche und Gerüche, die Erinnerungenwecken, wichtig. Wie in der Hausgemeinschaftsküche: Hier spielt sich �wie in den meisten �normalen� Haushalten auch � das Gemeinschafts-leben ab. Die BewohnerInnen können sich aktiv am Kochen beteiligen.Oder sie sitzen einfach dabei. So werden Erinnerungen belebt: In derKüche sitzen, den frischen Kaffee riechen, die Zwiebeln in Pfanne brut-zeln hören, dazu den Lieblingsschlager im Radio hören: Die vertrautenEindrücke durch viele sinnliche Stimulationen (riechen, schmecken, hö-ren, tasten, sehen) sorgen gerade bei dementiell Erkrankten für einebessere Orientierung und damit für mehr Sicherheit und Lebensqualität.

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Dieses Prinzip ist der französischen Wohnform des �Cantous� entnom-men, das eine spezifisch auf demente, alte Menschen zugeschnittene,familienähnliche Lebens- und Wohnform darstellt. Cantou bedeutet�Feuerstelle im Haus�, um die man sich früher versammelte. Hier spieltesich das gemeinsame Leben ab. Bei den Cantous geht es darum, Le-bensqualität für die dementiell erkrankten BewohnerInnen zu schaffen,indem nach den folgenden vier Grundprinzipien gearbeitet wird:

1. Schaffung von Lebensräumen: Jeder Bewohner wird als individuellerMensch betrachtet mit individuellen Charakteristika und Vorlieben.Menschliche Wärme und Verständnis gehören zum Cantou alsSelbstverständlichkeit.

2. Schaffung familienähnlichen Gemeinschaftslebens: Zwischenmensch-liche Beziehungen und Aktivitäten für und von der Gruppe. Geradehäusliche Tätigkeiten in der Küche gehören zu den Grundbedürfnis-sen, die auch reflexhaft von dementiell erkrankten BewohnerInnennoch ausgeführt werden können. Der Gemeinschaftsraum ist tra-gender Mittelpunkt mit einem großen Tisch und einem freistehendenHerd.

3. Erhaltung und Förderung der Selbständigkeit4. Integration der Familie, Nachbarn, Freunden: Das Cantou nimmt die

Familie in die Pflicht; dies ist aber eher freiwillig gedacht: Alle Betei-ligten teilen sich die Verantwortung und machen sich Sorgen umden anderen. Ein Cantou entlastet auch die Angehörigen, da siesich einbringen können, aber gleichzeitig nicht als exklusive Pflege-person fungieren (vgl. Jani-le Bris, 1995).

Dass Vertrautheit in besonderem Maße auch für verwirrte BewohnerIn-nen wichtig ist, umfaßt auch das niederländische Prinzip �warme zorg�,das von dem Arzt Hans Houweling und dem Psychologen Niek de Boerentwickelt wurde (de Boer, 2000; vgl. auch Deutsche Alzheimer Gesell-schaft; Sozialplanung Baden-Württemberg, 1997). Das Prinzip der�warme zorg� geht davon aus, dass die Demenz ein unumkehrbarer undunheilbarer Prozess ist, der aber durch ein vertraute häusliche Umge-bung, Selbstbestimmung, warmherzige Haltung von Angehörigen undMitarbeiterInnen unter anderem verzögert werden kann. Auch von denniederländischen Medizinern wird �warme zorg� mittlerweile anerkannt,um den Krankheitsverlauf zu beeinflussen.

Ebenso spricht Jan Wojnar von einer warmen, entspannten Atmosphä-re, die dem Kranken hilft, seine Angst vor dem �Verlorensein� zu bändi-gen. Denn viele Demenzkranke könnten keine Gesichter und Räumemehr erkennen, Sprache nur noch schwer oder gar nicht verstehen undhätten deshalb das Gefühl, verloren zu sein. Bekannte Dinge oder Sin-

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neswahrnehmungen seien für diese Menschen deshalb besonderswichtig (Wojnar, 1998).

Vertrautheit wird in Hausgemeinschaften zusätzlich durch die feste Be-zugsperson geschaffen. �Ähnlich wie bei der räumlichen Dimensionkann man auch bei der sozialen von einem Territorium sprechen, alsovon einem sozialen Territorium. Das Eingebettet sein in und somit derBezug zu einem sozialen Netz bekannter Menschen, wie auch dessenBeständigkeit hilft der Orientierung� (Welter, 1998). Zu den Urängstendes Menschen gehört, die Verbindung zur Gemeinschaft/Gruppe zuverlieren, da dieser Verlust eine Lebensbedrohung darstellt. DieseAngst kommt besonders bei dementiell erkrankten Menschen zum Tra-gen (Wojnar, 1998). In großen Einrichtungen wechseln die Bezugsper-sonen ständig und es gibt unklare Aufgabenzuständigkeiten in denTeams, die die Verwirrungszustände dieser Menschen ganz wesentlichverstärken (Welter, 1998). Auch wenn die dementiell erkrankten Be-wohnerInnen die MitarbeiterInnen nicht mehr beim Namen nennen kön-nen, konnte man feststellen, �dass � nachdem zum Beispiel ein Mitar-beiter auf Urlaub war � diese Bewohner einen Unterschied zwischenjenen, die ihnen vertrauter sind, und anderen machen� (Leichsenring etal., 1998).

In das Hausgemeinschaftskonzept werden Angehörige stark einbezo-gen. Hiermit befindet sich ohnehin schon eine vertraute Bezugspersonin der Gemeinschaft. Wichtig in der Zusammenarbeit mit den Angehöri-gen ist dabei vor allem die Biografiearbeit. Denn nach Wojnar (1998) be-nötigen gerade Demenzkranke das Gefühl, dass sie den Bezugsperso-nen gut bekannt sind und sich durch bestimmte Eigenschaften vonanderen Menschen unterscheiden.

Durch die Kenntnis der Biografie der BewohnerInnen können darüberhinaus Aktivierung und Stimulierung durch ein phantasievolles und an-regendes Milieu individuell abgestimmt werden.

6.4 Geborgenheit

Geborgenheit ist von Privatheit und Vertrautheit abhängig. Geborgen-heit wird aber auch durch das Gefühl von Sicherheit geschaffen. ÄlterenMenschen geht häufig das Gefühl von Sicherheit verloren, weil ihnendurch ihre gesundheitliche Situation die Kontrolle über ihr Leben immermehr entgleitet. Mehr als 50 % der Menschen, die in Deutschland inLangzeitpflegeeinrichtungen leben, weisen eines oder mehrere Sym-

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ptome auf, die auf dementielle oder psychische Erkrankungen hinwei-sen. Dazu gehören geistige Behinderungen, psychische Erkrankungenwie Schizophrenie und Depressionen, Tabletten- und/oder Alkohol-sucht, auffälliges Verhalten wie starke Unruhe oder Gewalttätigkeiten.Der Kontrollverlust zeigt sich um so gravierender, wenn die räumlicheUmgebung und die Atmosphäre einer Einrichtung � zum Beispiel durchgroße Organisationseinheiten � die Unübersichtlichkeit verstärkt. Kön-nen die BewohnerInnen Einfluss auf die territorialen und sozialen Be-dingungen nehmen, so werden Kontrollverlust und hierdurch entste-hende Aggressionen vermieden. Denn nach Welter (1997) sind es die�sozialen und territorialen Bedingungen, die � durch Architektur mitbe-stimmt � zu Gewalt und Aggression führen.� Der Entzug dieser Ein-flussmöglichkeiten führe häufig auch zu Resignation und Rückzugsver-halten, Hilflosigkeit und Depression (Welter, 1997).

Geborgenheit und Sicherheit werden also einerseits durch räumlicheGegebenheiten und andererseits durch Vertrautheit geschaffen. DerAusdruck �lebendige Mitte�, der von Bettina Rath, Vorsitzende der Alz-heimer Gesellschaft Mittelhessen, geprägt wurde, trifft dieses Kriteriumnach KDA-Empfinden sehr gut. Hier zentriert sich das Gemeinschafts-leben, Erinnerungen werden neu belebt, die Orientierung und somitauch das Sicherheits-, Zusammengehörigkeits- und Geborgenheitsge-fühl gefördert. Die gemeinsame Mahlzeit hilft den dementiell erkranktenMenschen auch, apraktische Störungen zu überwinden, indem sie diepsychisch gesunden Bewohner im Gebrauch zum Beispiel des Ess-bestecks nachahmen (vgl. Wojnar, 1998).

Natürlich ist auch eine angemessene Pflege für die Sicherheit der Be-wohnerInnen verantwortlich. Aber anders als in den traditionellen Ein-richtungen soll in den Hausgemeinschaften die Pflege möglichst diskreterfolgen. Der Tagesablauf wird nicht von Pflegetätigkeiten dominiert,sondern von alltäglichen Arbeitsabläufen wie Einkaufen, Kochen, denTisch decken oder Wäsche falten.

6.5 Eigenverantwortlichkeit

Die familienähnlichen Wohnformen mit ihren Charakteristika Selbstän-digkeit (und dadurch Selbstbestimmung des Alltags), Privatheit, Ver-trautheit und Geborgenheit erhalten und fördern die Eigenverantwort-lichkeit und damit die Kontrolle der BewohnerInnen über das eigeneLeben. Die Selbstbestimmung des persönlichen Tagesablaufs ist einbedeutender Faktor, um Normalität zu schaffen. Der Bewohner be-

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stimmt, wann er schläft, wann er isst, was er tut, an welchen Tätigkeitener teilnimmt oder ob er sich lieber zurückzieht (vgl. auch Leichsenring etal., 1998). Diese Eigenverantwortlichkeit unterstützt durch die Bereit-stellung von öffentlichen und privaten Räumen auch die Kommunikati-on. BewohnerInnen, die sich ohne Störungen zurückziehen können,öffnen sich auch mehr nach außen. �Bewohner von Einzelzimmern er-leben außerdem auch das Heim eher als �Heimat�: ein Einzelzimmerfördert die Überzeugung, den Lebensalltag selbstverantwortlich gestal-ten sowie eigene Bedürfnisse und Wünsche eher verwirklichen zu kön-nen� (Graber-Dünow, 1999).

7 Architektur

Auch die Architektur sollte den alten Menschen ins Zentrum der Pla-nungen stellen. Häufig kann man beobachten, dass sich verwirrte Be-wohnerInnen unter einer Decke verkriechen, sich also quasi eine Höhlebauen als Reaktion auf unpersönliche, kalte Räumlichkeiten. Sieschaffen sich ihren eigenen �kuscheligen� Ort. Eine wichtige Anforde-rung älterer Menschen an die räumliche Qualität ihrer Umwelt ist dieKleinräumigkeit. Das Verlangen nach einem eigenen räumlichen Mikro-kosmos wird von den Architekten aufgegriffen.

Folgende weitere räumliche Merkmale sind von Bedeutung:

• Eine ansprechende Architektur ermöglicht und fördert zwischen-menschlichen Kontakt und Austausch, bietet aber auch gleichzeitigRückzugsmöglichkeiten durch das Vorhandensein gemeinschaftli-cher als auch privater Räume. Hierbei spielt die zentrale Küche einegroße Rolle, wo sich das Herz der Gemeinschaft befindet.

• Das Wohnraumangebot muss barrierefrei und möglichst ebenerdigsein. Es sollte Zugang zu geschützten Außenräumen wie Gärten ha-ben. Eine Untersuchung in der Wohngemeinschaft �Louis Fort� inVilleurbanne, Frankreich ergab, dass Aggressionen von seiten derdementiell erkrankten BewohnerInnen durch Gartennutzung abge-baut wurden (Leichsenring et al., 1998). Gerade für verwirrte Men-schen ist Bewegungsraum von besonderer Wichtigkeit. Die Bewe-gung/das Gehen gehört zu den �ursprünglichsten willkürlichenHandlungen� und ist für viele Demenzkranke die letzte Handlung,�die sie willkürlich, aus eigenem Antrieb und kompetent ausführenkönnen. Darüber hinaus führt die Bewegung durch die Freisetzungbestimmter Stoffwechselprodukte und durch eine Rückkopplung zwi-

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schen dem peripheren Nervensystem und dem limbischen Systemzu einer starken Beeinflussung der Neurotransmitter�. Die Bewegungführt zu einer Stimmungsaufhellung. (Wojnar, 1998). Der Bewe-gungsraum sollte ohne Sackgassen und Engpässe und ohne kom-plizierte Verzweigungen sein.

• Helle Räume mit angemessener farblicher Gestaltung fördern dasWohlbefinden und die Orientierung.

• Fenster mit Ausblick bieten Gelegenheit zur Orientierung. Ausblickeauf die offene Landschaft, Geräusche und Gerüche von draußen ge-ben Hinweise über die Tages- und Jahreszeiten (Welter, 1998).

Diese Gestaltungsprinzipien sind auf die Bedürfnisse aller Menschenabgestimmt. Vor diesem Hintergrund lehnt das Kuratorium DeutscheAltershilfe Sonderarchitekturen für alte Menschen � wie die sogenannte�Dementenarchitektur� � ab.

8 Bezugspersonen

8.1 Die Hausfrau/Der Hausmann

Die Bezugspersonen in der Hausgemeinschaft sind als Präsenzmitar-beiter oder Alltagsmanager zu verstehen, unabhängig davon, ob sie einepflegerische Ausbildung haben oder nicht. Sie übernehmen die Arbeit,die sonst normalerweise von den Angehörigen in der häuslichen Pflegeübernommen wird. Die Bezugsperson gibt Hilfe beim Anziehen, bereitetMahlzeiten zu, reinigt die Wäsche und pflegt den Kontakt zu den Be-wohnerInnen und Angehörigen. Ihre ganzheitlich angelegte Rolle undFunktion ist vergleichbar mit der einer Hausfrau/eines Hausmannes ineinem größeren Familienhaushalt. Da die Organisationsverantwortungund damit auch der Personaleinsatz dem Träger einer Hausgemein-schaft obliegt, muss er auch eine geeignete personale Ausstattung undPflegeprozesssteuerung sicherstellen (vgl. Böhme, 1997). Bei Bedarfwerden zusätzliche externe Fachkräfte aus dem ambulanten oder stati-onären Sektor hinzugezogen. Im Rahmen neuerer Konzepte professio-neller Förderung und Unterstützung verstehen sich die MitarbeiterInnenweniger als ExpertInnen, die für die KlientInnen entscheiden, was zutun ist. Sie nehmen vielmehr die Rolle von AssistentInnen oder auchBegleiterInnen ein, die die KlientInnen bei ihrer jeweils individuellenForm zu leben und bei der Bewältigung der mit dem Alter verbundenenProbleme unterstützen.

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Das Gemeinschaftsleben einer Wohngemeinschaft spielt sich im wohn-bereichsinternen Wohn-/Eß-/Kochbereich ab. Hier ist mindestens eineMitarbeiterin/ein Mitarbeiter in Hausfrauenfunktion über den Tag hinwegals permanente Bezugsperson für die BewohnerInnen ansprechbar.Diese/r Mitarbeiter/in organisiert den Haushalt, kauft ein und kocht dasEssen. Die alten Menschen beteiligen sich � ihren Fähigkeiten und Vor-lieben entsprechend � aktiv an den hauswirtschaftlichen Tätigkeiten,oder sie sitzen ganz einfach dabei und nehmen die Bewegungen, Ge-räusche und Gerüche als wohlvertrautes Leben auf. Die Hausfrau/derHausmann erhält so � wie im Cantou � die Schlüsselposition: �Sie trägtdie Rollen und Funktionen einer normalen Hausfrau/Hausmann in ei-nem normalen Haushalt. Spezifische Eigenschaften, die von ihr erwar-tet bzw. für die Einstellung vorausgesetzt werden sind menschlicheWärme, Großzügigkeit und inneres Gleichgewicht; sie sollte fröhlichsein, mit beiden Füßen fest auf dem Boden stehen, zuhören können.Sehr viel im Cantou hängt von ihr ab, von ihrem Charakter, ihrer Menta-lität ihren Fähigkeiten im Umgang mit anderen Menschen.� (Jani-le Bris,1995). Denn in der Pflege und Begleitung dementiell erkrankter Men-schen geht es weniger um die Behandlungspflege. �Die wichtigsteTriebkraft in der Pflege älterer Menschen mit Demenz liegt in emotio-nalen Beziehungen� (Leichsenring et al., 1998).

Bezugspersonen müssen ein hohes Maß an emotionaler Nähe ertra-gen. Sie gehen automatisch eine intensive Beziehung ein. Damit erhöhtsich die Verbindlichkeit und die Ausweichmöglichkeiten werden gerin-ger. Hinsichtlich dieser hohen emotionalen Nähe und Dichte haben na-türlich Fehlbesetzungen in einer Hausgemeinschaft katastrophale Fol-gen. Es gibt keine Kollegen, die ausgleichen können oder fachlicheSupervision leisten. Deshalb fordert das Kuratorium Deutsche Alters-hilfe auch ein sehr gutes Management, das die Hausgemeinschaftenberät und unterstützt.

Durch die Funktion der Hausfrau/des Hausmannes bleibt den älteren �pflegebedürftigen und/oder verwirrten � Menschen ein an Normalitätund menschlichen Maßstäben ausgerichtetes, anregungsreiches Milieuerhalten. Die Bewältigung der Alltagsaufgaben und die informellen zwi-schenmenschlichen Kontakte stimulieren den älteren Menschen undsorgen so für Wohlbefinden.

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8.2 Angehörige

Die Verfechter des Wohngruppenkonzeptes setzen sich für eine starkeEinbeziehung der Angehörigen und Nachbarn ein. Im niederländischenAnton-Pieck-Hofje können die Angehörigen selbst bestimmen, in wel-chem Maße sie sich einbringen, ob sie in der Wohngruppe zum Beispielselber putzen oder eine Putzfrau engagieren (vgl. Radzey et al., 1999).Die Angehörigen haben in Hausgemeinschaften die Möglichkeit, sichaktiv am Tagesablauf zu beteiligen und einen Beitrag für die Lebens-qualität der BewohnerInnen zu leisten. Damit arbeiten Angehörige undMitarbeiterInnen eng zusammen. Sie müssen die Arbeit des andere ak-zeptieren und wertschätzen und kommunizieren automatisch mehr mit-einander als das in herkömmlichen Einrichtungen der Fall ist (vgl. Rad-zey et al., 1999). Die Angehörigen sind neben der Hausfrau oder demHausmann die zentralen Bezugspersonen. Das bedingt natürlich einhohes Engagement. Die straff geregelten Tagesabläufe in traditionellenEinrichtungen fordern hingegen kaum Leistung von den Angehörigen.Auch für die Angehörigen gilt wie für die Hausfrau/den Hausmann, dassihre Arbeit in einer Hausgemeinschaft verbindlicher wird.

Zusammenfassend kann man mit den Worten von de Boer (2000:53)sagen, dass Hausgemeinschaften �eigentlich nicht grandios� sind. �Wirhaben im Anton-Pieck-Hofje kein Paradies, wir sind keine Engel, undwir versuchen auch nicht, alle superglücklich zu machen. Bei unsherrscht nicht mehr und nicht weniger als das ganz normale Leben.�

9 Typische Planungsmerkmale

Im Rahmen der Planung und Verwirklichung von etwa 30 Hausgemein-schaften hat das KDA typische Planungsmerkmale entwickelt und ver-öffentlicht (vgl. Bundesministerium für Gesundheit, 2. Auflage 2001). Ineinem weiteren Bericht �Zur Typologie einer neuen Wohn- und Le-bensform für Pflegebedürftige wurden die Hausgemeinschaften folgen-dermaßen charakterisiert (vgl. Winter & Gennrich, 2001):

Zugunsten einer weitgehenden Autarkie in Einzelhaushalten mit maxi-mal acht Personen und einer dezentralisierten Hauswirtschaft sind hieralle heimtypischen zentralen Versorgungseinrichtungen und Entsor-gungseinrichtungen bzw. -dienste (Zentralküche, zentrale Wäschever-sorgung, Heim- und Hauswirtschaftsleitung, Hausmeisterzentrale etc.)abgeschafft. So genannte Präsenzkräfte (z. B. Hauswirtschafterinnen)

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übernehmen die Funktion von Alltagsmanagern und beziehen dabeiAngehörige mit ein. In Hausgemeinschaften sind deshalb Hierarchienund institutionalisierte Einrichtungen und Dienste weitgehend abgebaut.Normalität, Vertrautheit und Geborgenheit bestimmen den Alltag. Soentsteht vielfach für pflegebedürftige � und insbesondere auch für des-orientierte � Bewohner mehr Lebensqualität und für Mitarbeiter mehrArbeitszufriedenheit.

Jeder Bewohner hat innerhalb der Hausgemeinschaft ein eigenes Zim-mer, idealer Weise mit direkt zugeordnetem eigenen Duschbad undWC. Als Wohn- und Schlafraum mit vertrautem eigenem Mobiliar bietetdieser Privatbereich jedem einzelnen älteren Menschen die für ihnwichtigen Rückzugsmöglichkeiten. Die Zimmer umschließen einen Ge-meinschaftsbereich, möglichst mit direkt angrenzendem geschütztemGarten, Terrasse oder Balkon. Herzstück des Gemeinschaftsbereichesist eine geräumige, gemütlich eingerichtete, für die Bewältigung der ge-samten Haushaltsführung voll funktionsfähige Küche mit einem Herd alsstimulierendem Zentrum. Von der baulichen Seite her haben die Haus-gemeinschaften die Kostenrichtwerte und Flächenparameter des Pfle-geheimbaus zum Maßstab.

Die Organisation des Haushaltes sowie die unmittelbare Betreuung derBewohnerinnen und Bewohner einer Hausgemeinschaft übernimmttagsüber wechselweise jeweils eine feste Bezugsperson, die ein hohesMaß an persönlicher und sozialer Kompetenz mitbringen muss: Dieseso genannte Präsenzkraft oder Alltagsmanagerin � z. B. eine geprüfteFachhauswirtschafterin � hilft den älteren Menschen unter anderembeim Anziehen oder beim Anlegen von Verbänden, bei der Zubereitungder Mahlzeiten, beim Spülen oder Wäschewaschen. Sie unterstützt sieaber auch bei der Herstellung und Pflege von Kontakten zu Mitbewoh-nern, Angehörigen, Ärzten oder Pflegefachkräften.

Weitergehende Pflegeleistungen werden je nach individuellem Bedarfvon Fachkräften eines hausinternen oder auch externen ambulantenPflegedienstes erbracht. Der Nachtdienst bzw. die Nachtbereitschaft ist� wie in jedem Pflegeheim � mit einer Pflegefachkraft besetzt.

Nach einer Machbarkeitsstudie des Kuratoriums Deutsche Altershilfesind für eine als durchschnittlich angenommene achtköpfige Hausge-meinschaft sechs bis sieben Vollzeitstellen einzurichten, jeweils grobzur Hälfte verteilt auf Präsenzkräfte (bei einer täglichen Besetzungszeitvon 14 Stunden) und auf Pflegefachkräfte. Jede Hausgemeinschaft istso im Prinzip auch unter betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten einein sich funktionsfähige Einheit mit hohem Leistungsstandard. Durch die

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ständige Anwesenheit der Präsenzkräfte von morgens bis abends unddurch die zeitweise Zuschaltung von Pflegekräften steht pro Bewohnerin Hausgemeinschaften wesentlich mehr Zeit für die Betreuung undPflege zur Verfügung als in konventionellen Pflegeheimen. Zur besse-ren Regelung der verbleibenden Verwaltungsaufgaben und des Nacht-dienstes können mehrere Hausgemeinschaften zu kleineren Ensembles(vorzugsweise mit drei oder vier Hausgemeinschaften) zusammenge-fasst werden.

Neben dem oben beschriebenen vollstationären Hausgemeinschafts-Grundtyp gibt es in der Praxis auch Varianten: die HausgemeinschaftenM sowie die Hausgemeinschaften Wb. Auch die Hausgemeinschaft Wbist ein vollstationärer Typ und unterliegt damit � wie der Grundtyp � demHeimrecht. In diesem wohnbereichsorientierten (= Wb) Typ ist unterBeibehaltung der meisten Merkmale des Grundtyps die Anzahl der Be-wohner aber deutlich höher. Hier wird die Zahl der � meist um die 24 �Plätze in Wohnbereichen herkömmlicher Pflegeheime halbiert, so dassin der Regel eine Gruppengröße von etwa zwölf Personen entsteht.Dieser Typus Hausgemeinschaft Wb gewinnt gerade bei den anstehen-den Sanierungen von Heimen älterer Bauart, deren Bausubstanz oftkeine schlankeren Lösungen zulässt, zunehmend an Bedeutung. Beiden Hausgemeinschaften M haben die Bewohnerinnen und Bewohnereinen Mieterstatus (= M). In einem Wohnhaus werden für die Mieter re-gelmäßige Serviceleistungen (Betreuung durch Präsenzkräfte undNachtbereitschaft) erbracht und je nach individuellem Bedarf Pflege-dienstleistungen ambulant hinzugeschaltet.

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Die neue Pflegelandschaft:Erste Konturen und Steuerungsprobleme

Roland Schmidt1

Deutsches Zentrum für Altersfragen, Berlin

Vorbemerkung

Mein Beitrag stellt das fachliche Konzentrat einer Serie von insgesamtvier Workshops2 (vgl. Schmidt, 2000) in ausgewählten Dimensionen vor,die zwischen Sommer 1998 und Frühjahr 1999 ausgerichtet wurden.Dabei werden insbesondere solche Problemstellungen akzentuiert, diein Folge der neuen pflegeökonomischen Steuerungen die Pflegeland-schaft verändern. Ziel der Workshop-Beratungen war es, Konturender �Pflege- und Wohnlandschaft der Zukunft� auf der Grundlage einerkritischen Analyse der derzeitigen Befindlichkeiten und der sich wan-delnden Rahmenbedingungen herauszudestillieren und strategischeOptionen zu erörtern, die geeignet sein könnten, Verwerfungen derVergangenheit und Überregulierungen der Gegenwart abzubauen. Be-sonders eindringlich wirken sich diese Inflexibilitäten auf die Weiterent-wicklung der Versorgung von Menschen mit Demenz aus. An dieserangesichts der Demenzprävalenz und -inzidenz (Bickel, 2000) � ver-bunden mit der fortschreitenden Alterung der Bevölkerung � so rele-vanten Versorgungsfrage sollen die Workshop-Diskussionen thematischvertieft und erweitert werden. Die Dichotomie von ambulanter versusstationärer Versorgung mit jeweils differierender Eigenlogik verunmög-licht nahezu das Entstehen �intelligenter Mischungen�, die den Zwi-schenraum zwischen (gestresstem) Privathaushalt und vollstationärerEinrichtung in der Weise ausgestalten helfen könnten, dass sowohl mitBlick auf Pflegebedarfstypen als auch mit Blick auf den individuellenHilfe- und Pflegebedarf die Stärken beider Versorgungsalternativenkombinierbar werden. Das Fehlen einer Experimentierklausel in der So-zialen Pflegeversicherung (SGB XI) und ihr vergleichsweise geschlos-

1 Der Autor, wissenschaftlicher Mitarbeiter im DZA, vertritt derzeit eine Professur für Gerontolo-

gie und Soziologie an der FH Erfurt und ist sachverständiges Mitglied der Enquete-Kommission Demographischer Wandel des Deutschen Bundestages.

2 Bei dem Arbeitsvorhaben handelt es sich um ein Gemeinschaftsprojekt, das von DZA, Kurato-rium Wohnen im Alter e.V. (KWA) und Vincentz Verlag getragen wurde [Roland Schmidt(Hrsg.): Pflege und Wohnen. Strategien zur Neuausrichtung. Hannover: Vincentz 2000].

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senes Leistungsprogramm (Schulin & Igl, 1999)3 stehen einer nachfra-georientierten und bedarfsangemessenen Weiterentwicklung der Pfle-geinfrastruktur heute (noch?) entgegen.4

Spezifizierung von Leistungen und Versorgungsformen ist aber auchverbunden mit den Folgen der erweiterten Fragmentierung und Seg-mentierung, die das hiesige Sozial- und Gesundheitswesen mit derEinführung der Pflegeversicherung als selbständigem Sozialversiche-rungszweig erfahren hat (Schulz-Nieswandt, 1996). Dies wird ins-besondere in Studien eindrücklich herausgestellt, die Probleme derQualitätssicherung spartenübergreifend untersuchen: Ein stärker nach-frageorientiertes und flexibles Pflegewesen, das hier argumentiert wird,bleibt in den klassischen, von systeminternen Flexibilisierungen nochunberührten Schnittstellen dessen ungeachtet immer erst noch zu fügenmit angrenzenden Systemen sozialer und gesundheitlicher Hilfen, diezudem abweichende Gestaltungsprinzipien und Entwicklungsdynami-ken aufweisen. Unter dem Stichwort �kooperative Qualitätssicherung�soll so gesehen abschließend der Blick schweifen vom Pflegewesen aufdessen Umwelt.

1 Kundenorientierung und Pflegevertragsrecht alsGestaltungsfelder

Der Regulierungsanspruch des Staates zum einen und das Behar-rungsvermögen traditioneller Systematiken der Refinanzierung von Ein-richtungen zum anderen bewirken in der vollstationären Pflege immernoch ein Festhalten an budgetierten Systemen. Eine Abkehr hiervon,eine Steuerung und Kontrolle durch die Verbraucher, ist politisch nichtgewollt. Die Entwicklung eines �freien Marktes� ist vom Systemansatzder Pflegeversicherung her in der vollstationären Pflege unter heutigenBedingungen nicht möglich. Um das zu erreichen, wäre es erforderlich, 3 Zu den Unterschieden im Leistungsprogramm von Pflegeversicherung (SGB XI) und Kran-

kenversicherung (SGB V) vgl Bertram Schulin, Gerhard Igl: Sozialrecht. Düsseldorf: WernerVerlag 1999, 6. Aufl., S. 187: Es existieren weite (SGB V) oder enge Vorgaben (SGB XI) bei

• der inhaltlichen Ausgestaltung der Leistungsprogramme,• Feststellung der gesetzlichen Leistungsvoraussetzungen durch den Leistungserbringer

selbst oder durch Dritte,• Feststellung des Leistungsbedarfs durch den Leistungserbringer oder Dritte,• Qualitäts- und Erfolgskontrolle durch den Leistungserbringer oder wiederum durch Dritte.Ein offenes Programm des SGB V steht in deutlichem Kontrast zu einem geschlossenen derSGB XI.

4 Erst das Pflegeleistungs-Ergänzungsgesetz führte Ende 2001 eine begrenzte Experimentier-klausel (§ 8 Abs. 3 SGB VI) kurz vor Verabschiedung im Deutschen Bundestag ein.

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die Leistungen der Pflegeversicherung als Geldleistung zum Sachleis-tungseinkauf auszugestalten. Nur unter dieser Bedingung ist eine Indivi-dualisierung der Leistungen herstellbar. Weder Staat noch Pflegekas-sen verfolgen das Ziel, eine marktwirtschaftliche Ordnung herbeizufüh-ren.5

Während der Wettbewerb in der vollstationären Pflege nur im spezifi-schen Sinn greift, ist er im Spektrum des Wohnens mit Dienstleistungs-option bereits etabliert und in manchen Regionen voll entbrannt. Diesescharfe Diskrepanz zwischen beiden Segmenten würde sich auflösen,wenn die �ambulante Logik� auch im vollstationären Kontext zur Geltungkäme. Die Preisgestaltung ist in der vollstationären Pflege nicht flexibel.Anbietern ist die Möglichkeit nicht gegeben, Preise unter Beachtung desVerhaltens der Konkurrenten � u.U. auch innerhalb des Einrichtungs-spektrum eines Trägers differenziert � festzulegen. Sie sind nicht freiverhandelbar, sondern müssen im korporativen Geflecht gegen konkur-rierende Interessen durchgesetzt werden. In der Pflegesatzfindungspielen daher wettbewerbliche Impulse keine Rolle.

Mit dem überbordenden Regulierungsstreben verbunden ist auch einDeckel, der auf Konzeptvarianten gelegt wird. Formen des Pflegewoh-nens, also der eigenen Häuslichkeit in Heimen, werden durch fiskali-sche Interessen und konservative Allianzen erschwert, wenn nicht garverunmöglicht. Sie verhindert einen Wettstreit um unterschiedliche Kon-zeptvarianten in den Versorgungssegmenten und stabilisiert den unbe-friedigenden und nicht zukunftsträchtigen Status quo6.

5 Dies hat aus volkswirtschaftlicher Perspektive auch Heinz Rothgang (Wettbewerb in der Pfle-

geversicherung. In: Zeitschrift für Sozialreform 46(2000)5, S. 423-448; hier: S. 424 ff.) noch-mals verdeutlicht. Im Sozialversicherungsbereich haben wir es klassischerweise mit einer Tri-ade zu tun. Während in dem sog. einfachen Marktwettbewerb in Form einer dyadischenBeziehung in der Position des Verbrauchers die Rollen des Entscheidungsträgers, Konsu-menten und Finanzierungsträgers zusammenfallen, sind sie im sog. dreiseitigen Markt desSGB XI auseinandergerissen. Dem Verbraucher verbleibt hier allein die Konsumentenrolle.Die im SGB XI erfolgende Koppelung eines dreiseitigen Marktes (solange die Finanzierungs-zuständigkeit der Pflegekassen reicht) mit einem einfachen Markt (ab dem Moment, wo derVerbraucher Zuzahlungen zu erbringen hat) hat vor allem zum Ziel, �moral hazard�-Phäno-menen quasi von Beginn an entgegen zu steuern.

6 Angesichts der Familienstrukturveränderungen (Zweiter Zwischenbericht der Enquete-Kommission Demographischer Wandel. Bundestags-Drucksache 13/11460 vom 5.10.1998;siehe hier v.a. Kapitel V und Rüdiger Peukert: Familienformen im sozialen Wandel. Opladen:Leske + Budrich 1999, 3. Aufl., S. 101 ff.), die sich im Zuge des demographischen Wandelsmittel- bis langfristig einstellen werden � und deren Vorboten wir bereits heute kennen (undals prekäre Netzwerke diskutieren) -, ist Optionalität bei der Herstellung angemessener Pfle-gearrangements von grundlegender Bedeutung (vgl. hierzu auch Baldo Blinkert, Thomas Klie:Pflege im sozialen Wandel. Hannover: Vincentz 1999, S. 106 ff.).

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1.1 Mittlerfunktion staatlicher Instanzen?

Die in der aktuellen Debatte um die Zukunft der Altenhilfeplanung ver-schiedentlich geäußerte Vorstellung, staatliche Instanzen seien ob einerneutralen Mittlerposition geradezu prädestiniert, zwischen der Nachfra-ge (von Pflegehaushalten) und der Angebotsentwicklung (der Trägeror-ganisationen) zu vermitteln, ist hoch ideologisch.

(1) Staatliche Instanzen sind zutiefst regulierend in das Pflegegesche-hen involviert. Dies resultiert bereits allgemein aus dem Umstand, dassdie Pflegekassen Körperschaften des öffentlichen Rechts darstellen, dienicht nur �den Markt� als Bezugspunkt ihrer Aktivitäten setzen, sondernebenfalls auf Anforderungen des politisch-administrativen Systems rea-gieren, in das dann auch gesellschaftliche Strömungen einfließen (vgl.Okoniewski, 1997). Im besonderen Fall der Pflegeversicherung ist be-kanntlich der Spielraum der Selbstverwaltung zudem deutlich begrenzt:Leistungshöhe und Leistungsmenge sind politisch reguliert und auf jespezifische Art und Weise kontrolliert. Wir haben es keineswegs mit ei-ner marktförmigen Ausgestaltung der Pflegeabsicherung zu tun, son-dern mit einer klassisch sozialstaatlichen � wie Frank Schulz-Nieswandtverschiedentlich herausstellte �, bei der aus Gründen der Steigerungvon Effizienz und Effektivität zeitgemäße marktähnliche Steuerungsme-chanismen eingebaut wurden: Der vermeindliche Pflegemarkt ist imKern somit ein Quasi-Markt, in dem unechte Tauschbeziehungen dasGrundverhältnis zwischen den Beteiligten bestimmen.

(2) Auch im Detail kann die Denkfigur des neutralen Mittlers der Prüfungkaum standhalten. Die Mehrzahl der Bundesländer konserviert bei derAusgestaltung ihrer Infrastrukturverantwortung die SGB XI-inkompatibleBedarfsplanung und Angebotssteuerung. Und selbst da, wo Elementeder Subjektförderung landesrechtlich normiert sind, bleibt diese anKonditionen gebunden, die die Leistungserbringer in der (qualitativen)Ausgestaltung ihrer Leistungen auf staatliche Vorgaben hin orientieren.Die Form der Investitionskostenförderung nach Artikel 52 SGB XIschränkt Wettbewerb in Ostdeutschland in einem bislang unbekanntenAusmaß ein, weil sie die nicht öffentlich geförderten Wettbewerbsteil-nehmer deutlichst benachteiligt und damit vom Pflegemarkt fernzuhal-ten sucht.7

7 Vgl. Roland Schmidt: Das Brandenburger Landespflegegesetz und die Modernisierung der

pflegerischen Versorgungsstruktur. Länderbericht Brandenburg. Beitrag zur Fachtagung �DieUmsetzung der Pflegeversicherung in den Ländern im Vergleich� veranstaltet vom Zentrumfür Sozialpolitik (ZeS) an der Universität Bremen und dem Institut für Gerontologie (IfG) an derUniversität Dortmund am 10. und 11. Dezember 1998 in Köln (Ms.).

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(3) Die Landespflegegesetze weisen eine stark differierende Rege-lungsdichte auf. Es ist zu konstatieren, dass Landesregierungen nur in(selteneren) Fällen pflegepolitische Ambitionen formulieren, die zugleichauch finanziell und förderungstechnisch präzisiert und untersetzt sind.8

Andere bedienen sich primär rhetorischer Ornamente oder präsentierensich als pflegepolitisch schmucklose Investitionsförderungsgesetze. Derpotentielle Mittler geriert sich auf Landesebene � und in dem eindeutigihm obliegenden Verantwortungsbereich � mehrheitlich als begrenzt biskaum engagiert. Dies spiegelt sich u.a. auch im Auseinanderdriftendes Einlösens der verschiedenen Zieldefinitionen, die der Gesetzgebermit der Pflegeversicherung verband: Die Entlastung der Sozialhilfe-träger dominiert die Herauslösung Pflegebedürftiger aus der Sozialhil-feabhängigkeit, wobei zugleich deutlich wird, dass eine weitgehendeinvestive Förderung den nachhaltigsten Effekt mit Blick auf die � mitangestrebte � Herausführung des �alten Bestandes� aus der Sozialhil-feabhängigkeit zeitigen würde (auch stärker als eine begrenzte Leis-tungsausweitung der Pflegeversicherung), (vgl. Rothgang & Vogler,1998).9

(4) Und selbst dort, wo durch Landesregierungen Impulse zur Weiter-entwicklung der Pflegeinfrastruktur gesetzt sind, ist der pflegepolitischeInnovationsversuch i.a.R. konstrastiert von einer primär fiskalisch ge-prägten Grundhaltung der zuständigen Sozialhilfeträger. Dies entbehrtderzeit nicht einer gewissen Systematik: Weiterentwicklungsoffen zei-gen sich vornehmlich jeweils diejenigen staatlichen Ebenen, bei denenkeine finanzielle Zuständigkeit für die Realisierung liegt.10

1.2 Neuer Korporatismus

Mit Inkrafttreten der Pflegeversicherung sinkt die Bedeutung der Länderund Kommunen für die Gestaltung der Pflegelandschaften. Demgegen-über steigt das Gewicht der Spitzenverbände der Kostenträger und

8 So ein Ergebnis der Erörterung der vorliegenden Länderberichte im Rahmen der ZeS/IfG-

Tagung (vgl. Fußnote 8). Vgl. die Zusammenfassung der Fachtagung: Barbara Eifert, KatrinKrämer, Günter Roth, Heinz Rothgang: Die Umsetzung der Pflegeversicherung in den Län-dern im Vergleich. In: Nachrichtendienst des Deutschen Vereins (NDV) 79(1999)8, S. 259-266.

9 Dies zeigt die Studie: Heinz Rothgang, Anke Vogler: Die Auswirkungen der 2. Stufe der Pfle-geversicherung auf die Hilfe zur Pflege in Einrichtungen. Eine empirische Untersuchung imLand Bremen. Regensburg: Transfer Verlag 1998.

10 Exemplarisch z.B. die medienöffentliche, fast zwei Jahre währende Debatte um Strukturver-besserungen in den vollstationären Pflegeeinrichtungen Bayerns. Während Sozialministeriumund Landeshauptstadt München (letztere sogar mit der Bereitschaft, sich im Rahmen derUmlagefinanzierung zu beteiligen) nachhaltig Verbesserungen anmahnten, reagierten diebayerischen Bezirke unisono abwehrend.

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Leistungserbringer auf Bundesebene sowie der genehmigenden Bun-desministerien. Die Steuerungen in der Pflegeversicherung werden vor-rangig in Richtlinien und Rahmenempfehlungen auf Bundesebene aus-buchstabiert. Die Praxis lehrt: Solange solche Vereinbarungen aufBundesebene nicht erzielt werden können, verweigern sich die verant-wortlichen Akteure auf Landesebene, im Vorgriff gestaltend tätig zuwerden. Man wartet ab, bis bundesweit Orientierungsmargen vorgege-ben sind, die Handlungssicherheit gewährleisten.11

Die Verhandlungskulturen haben sich bis zur Unkenntlichkeit verändert.Dies resultiert nicht allein aus dem Umstand, dass mit den Pflegekas-sen neue und mächtige Akteure die Szene betraten, sondern ebensoaus dem gewandelten Selbstverständnis der öffentlichen Kostenträger.Machtasymmetrien und die Politik des Preisdiktates schwächen die Po-sition der Leistungserbringer, die im verschärften Anbieterwettbewerbstehen, zusehends (Dane & Schmidt, 2000). Allerdings sind auch Ge-genläufigkeiten zu registrieren: So enthält die rechtskräftige Entschei-dung des Düsseldorfer Sozialgerichts zum Zustandekommen einesSchiedsstellenentscheids durchaus ein kulturstiftendes Element, dasWillkürlichkeiten in der Entscheidungsfindung rechtlich diskriminiert.12

Den Kommunen fällt im Pflegerecht zunächst eine randständige Positi-on zu. Sie sind summarisch (allein) in § 8 Abs. 2 SGB XI aufgeführt �eine Vorschrift, der man einerseits � in Ermangelung einer Definitionder Letztverantwortung durch den Gesetzgeber � den normativen Ge-halt absprechen kann. Andererseits kann diese Vorschrift auch als eineArt Vorläufer des Partnerschaftsmodells (in der Gesetzlichen Kranken-versicherung, SGB V) gedeutet werden (vgl. Klie & Krahmer, 1998).Dessen ungeachtet: Die skizzierte Interpretationsoffenheit bewirkt der-zeit, dass sich hoch differierende Teilwirklichkeiten in den einzelnenRegionen und Lokalitäten der Republik herausbilden. Eine gewisseEinheitlichkeit ist nur dort und nur mit Blick auf inhaltliche Gegenständeder Pflegepolitik vorzufinden, wo Landesregierungen mittels ökonomi-scher Anreizsysteme kommunale Koordinations- und/oder Arrondie-rungsbestrebungen motivational fördern.13 Dort hingegen, wo dies nicht

11 Um dies nur an einem Beispiel zu explizieren: Im Kontext eines Projektes zu Möglichkeiten

der Qualifizierung der MDK-Empfehlungen zum individuellen Pflegeplan [vgl. informations-dienst altersfragen 26(1999)7/8, S. 4-5] wurde mit der AOK Brandenburg die Berücksichti-gung der Pflegestufen-Pflegeklassen-Dynamik in der Entwicklung einer SGB XI-kompatiblenVergütungssystematik erörtert. Obwohl grundsätzlich die Bedeutung dieser �Öffnungsklausel�nicht kontrovers beurteilt wurde, war die Position doch eindeutig: Ohne Rahmenempfehlungauf der Bundesebene kann und will eine Landes-AOK nicht vorpreschen.

12 So im Falle des rechtskräftigen Urteils des Düsseldorfer Sozialgerichts (AZ.: S 1 P 31/96).13 Das ist noch am eindrücklichsten in Nordrhein-Westfalen zu konstatieren; vgl. z.B. Bernhard

Rosendahl und Peter Zängl: Umsetzung der Pflegeversicherung. Erfahrungsberichte auskommunalen Pflegekonferenzen in Nordrhein-Westfalen. Duisburg: MAGS 1997.

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der Fall ist, differenzieren sich heterogene Niveaus lokalen Engage-ments aus � bei übergreifender Tendenz zur vornehmen Zurückhaltung:zu freiwilligem kommunalen Engagement, wie das Adalbert Everssprachspielerisch formulierte.

Wir haben es aktuell mit der Gemengelage von Standisierungen durchWirkungen der Bundesebene bei gleichzeitiger Differenzierung durchGrade der Verantwortungsübernahme auf der Länder- und kommunalenEbene zu tun: Dies macht es so schwer, die Verhältnisse �einfach� zuüberblicken.

Eine denkbare Mittlerfunktion, die man auf kommunaler Ebene an-siedeln könnte, baut nicht auf dem Fundament einer � überwiegend �aktiven Mitwirkung an der gesamtgesellschaftlichen Aufgabe namens�pflegerische Versorgung� (§ 8 Abs. 1 SGB XI) auf: Der Sicherstel-lungsauftrag der Pflegekassen, auf den Kommunen gerne verweisen,um Nichtzuständigkeit zu reklamieren, ist zu interpretieren vor demHintergrund der Infrastrukturverantwortung der Bundesländer im Rah-men der dualen Finanzierung und der Zuschussfunktion der Sozialver-sicherungsleistung. Beides impliziert, dass eine alleinige Verantwor-tungsverlagerung hin zum primären Kostenträger vom Gesetzgebernicht intendiert war. Die Absentierung der Kommunen aus der Mit-verantwortung ist dominant (vgl. Evers & Rauch, 1999) und produziertLegitimationsprobleme vor allem gegenüber denjenigen Leistungser-bringern, die bis kürzlich Präferenzpositionen innehatten: Fachliche Ni-veaus, die gestern noch Konsens darstellten, stehen heute unverse-hens zur Disposition oder werden negiert. Das heißt, soziale Hilfen impflegeflankierenden Bereich werden nicht länger öffentlich subventio-niert, was die Angebotspalette der klassischen Träger sozialer Arbeitausdünnt und aufs Refinanzierbare orientiert. Andere Träger privat-gewerblicher Provenienz waren in der Vergangenheit niemals in ver-gleichbarer Weise in korporative Geflechte involviert.

Die Auseinandersetzungen um Identität oder Nichtidentität von Pflege-begriff (SGB XI) und Hilfebegriff (BSHG) dokumentierte weiterhin, dassdie Sozialhilfeträger angesichts der allgemein steigenden Sozialhilfebe-lastung Leistungen der Hilfe zur Pflege � bei wenigen Ausnahmen14 �nicht gestaltend-bedarfsorientiert umsetzen, sondern sie in einer re-striktiven Interpretation der rechtlichen Grundlagen ebenso selektiv-

14 Hierzu zählen z.B. in der ambulanten Pflege die zwischen den Sozialhilfeträgern und Leis-

tungserbringer-Verbänden in Hamburg und Berlin geschlossenen zweiseitigen Verträge u.a.mit Blick auf gerontopsychiatrisch Erkrankte oder in der vollstationären Pflege die �Gemein-same Vereinbarung über die besondere stationäre Dementenbetreuung in Hamburg� (Vollmer&Vollmer, 2000).

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ausschließend handhaben, wie das durch Pflegebegriff und Pflegebe-dürftigkeitsrichtlinien im SGB XI angelegt ist.

1.3 Öffentliche Steuerung oder Nachfrageorientierung?

In dieser Ausgangslage sind grundsätzlich zwei Optionen gegeben, diein verschiedene Richtungen weisen.

(1) Zum einen kann man durch Bundesgesetz die Kommunen veranlas-sen, u.a. koordinierend und flankierend tätig zu werden.15 Ob eine sol-che Initiative im Gesetzgebungsverfahren angesichts der finanziellenMehrbelastungen die erforderlichen Mehrheiten finden könnte, bleibtabzuwarten. Auch ist, selbst wenn eine solche Verpflichtung gesetzlichbestünde, nach Umsetzungschancen zu fragen. Denn: Eine Identitätvon Kostenträgerinteressen und moderierenden Funktionen muss nichtper se überzeugen.

(2) Zum anderen liegen Schritte zur Überwindung von Fragmentierun-gen und Selektivität durchaus im ökonomischen Interesse von Träger-organisationen, die leistungsorientiert � und nicht allein budgetorientiert� arbeiten. Die die Lebensqualität der Pflegebedürftigen beeinträchti-genden Folgen einer vielfach beklagten Unabgestimmtheit des gesund-heitlichen, pflegerischen und sozialen Dienstleistungssystems schlagendort auch betriebwirtschaftlich negativ zu Buche, wenn die erbrachten(leicht refinanzierbaren) Leistungen aus Verbrauchersicht Lücken auf-weisen: Wo es also den Betroffenen und ihren Angehörigen nicht odernur eingeschränkt möglich ist, eine Leistung als solche überhaupt wahr-zunehmen. Koordination mit dem Ziel einer nachfrageorientiert vorge-nommenen Arrondierung des Dienstleistungsangebotes liegt durchausim strategischen Interesse derjenigen Trägerorganisationen, die sichlebensweltorientiert im Gemeinwesen zu profilieren suchen. Unter ge-gebenen Rahmenbedingungen ist dies � bei normativen Grenzen � nurim Sinne des Konzepts der Herstellung von �Wohlfahrtsmischung� um-zusetzen. Einem Konzept, in dem die Pflegedienstleistung nur eine Fa-cette neben anderen, mit ihr verbundenen Leistungen darstellt.

Ein Verständnis von Pflege als soziale Handlung, die in Wohlfahrtsmi-schungen erbracht und durch Koproduktion charakterisiert ist, lässt sichaber nur kleinräumig realisieren. Daher ist die Bedeutung des kommu-nalen Raumes als adäquater Problembewältigungsebene für die Wei-

15 Diese Option wird unter dem Stichwort �Altenhilfestrukturgesetz� als Arbeitsvorhaben des

BMFSFJ in einer Pressemitteilung vom 21. Januar 1998 erwogen und knapp skizziert.

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terentwicklung der Pflege konstitutiv � worauf Thomas Klie mehrfachhinwies und zu Recht insistierte. Der kommunale Raum ist allerdingsnicht zwingend gleichzusetzen mit der Kommune als politischer undVerwaltungseinheit.16

1.4 Die Internationalisierung der Pflege

Wir befinden uns in einem Prozess der Konzentration und allmählichenInternationalisierung des Pflegemarktes. Neue Marktteilnehmer ausdem In- und Ausland realisieren andere Strategien als die mittelstän-disch geprägten Träger der freien Wohlfahrtspflege: dies umfasst Un-ternehmensphilosophie und Dienstleistungsproduktion, aber auch Kon-fliktbereitschaft und Umgang mit Recht.17 Kommunen reagieren aufdiese Anbieter durchaus positiv, weil sie sie im Falle von Sanierungs-bedarf (noch) kommunaler Einrichtungen bei Übernahme entlasten oderweil sie bei Bauvorhaben auch ohne kommunale Mitförderungen (in deröffentlichen Mischfinanzierungskonstruktion) tätig werden.18 Je schma-ler öffentliche Investitionsförderung ausfällt, um so nachhaltiger domi-nieren Entwicklungen auf dem internationalen Kapitalmarkt und Rendi-teerwartungen der Investoren die Weiterentwicklung des Feldes.19

Angesichts der Perspektiven öffentlicher Haushalte wird dieser Trendeher als unumkehrbar qualifiziert werden müssen. Es entstehen aufdem Pflegemarkt Konzernstrukturen, die auf die frei-gemeinnützigenTräger zurückwirken und auch dort Fusionsüberlegungen und -bewegungen motivieren. Wie rasch auch immer solche Entwicklungenfortschreiten: Es zeichnet sich ab, dass unternehmerische Entschei-dungen kommunale Interessen in Zukunft nicht zwingend gewichtenmüssen. Unkooperative kommunale Behörden stellen einen Standort-nachteil dar, den man unternehmerisch in seiner Investitionsentschei-dung bedenken wird.

Rückwirkungen des europäischen Rechtes sind zu überall dort zu er-warten, wo Sicherungssysteme traditionelle solidarische Formen mitmodernen marktähnlichen Steuerungen gleichsam durchsetzen. Redu-

16 Diese Differenzierung ist in verschiedenen Diskussionen mit Thomas Klie gereift (vgl. Schmidt

& Klie, 1998).17 Man denke hier nur an die Klage der Gruppe der Marseille-Kliniken gegen das Investitions-

programm Pflege (IVP) des Landes Brandenburg.18 Beispiele hierfür gibt es sowohl im �reichen� Baden-Württemberg als auch in den �armen�

neuen Bundesländern.19 Um es praktisch zuzuspitzen: In Teilmärkten, vor allem dem gehobenen �Wohnen mit Service-

Segment�, sind Banken über Angebotsentwicklungen weitaus besser informiert als die Fach-abteilungen der zuständigen Landesministerien und kommunaler Sozialverwaltung. DerenWissen ist zusehends selektiv und nicht zwingend aktuell.

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ziert sich das Solidarelement der Sozialversicherung, unterliegt sie an-deren Bewertungen. Das ist das Dilemma der Reform der Sozialversi-cherung in Europa: Rationalisierung durch Quasi-Markt-Elemente rücktdie Sozialversicherung an das Wettbewerbsrecht. Solange dies dieübergreifende Logik in der Sozialversicherungsreform der Mitglieds-staaten darstellt, liegt die Prognose auf der Hand: Der Geltungsbereichdes europäischen Wettbewerbsrechts wird vor dem Sektor der Ge-sundheits- und Pflegedienstleistungen nicht grundsätzlich Halt machen.Ein Perspektivwechsel in der Rechtssprechung des Europäischen Ge-richtshofes (EuGH) wurde bereits eingeleitet.20

2 Impulse zur Rationalisierung:Koproduktion, kooperative Qualitätssicherungund Deregulierung

Das SGB XI leistet bekanntlich einen Zuschuss zu den Pflegekosten.Ein �ungedeckter Rest�, den der Pflegebedürftige (oder der Pflegehaus-halt) zu bestreiten hat, ist ebenso vorgesehen, wie auch individuell ge-wünschte Leistungserweiterungen in privater Kostenträgerschaft mög-lich sind. �Gute Pflege� wird daher zum Aushandlungsgeschehen. �GutePflege� ist mehr als die Pflegedienstleistung, die sich gegen Versiche-rungsansprüche und Geld tauscht. Sie ist nicht bereits identisch mitdem pflegefachlich erreichten Stand der Kunst in der Pflege. Sie wirddaher nur in spezifischen Wohlfahrtsmischungen zu erreichen sein, diemehr umfassen. Pflege ist Koproduktion. Oder anders formuliert: Immerdann, wenn solche Koproduktion nur unzureichend stattfindet, wird esPflegebedürftigen kaum möglich sein, die pure Dienstleistung als �gut�wahrzunehmen. �Gute Pflege� folgt nicht dem, was Experten definieren,sondern resultiert aus der Vermittlung fachlich-normativer Explorationenmit lebensweltlich-differenzierter Nachfrage.

Vernetzung von Versorgungssegmenten, die allein anbieter- oder insti-tutionenorientiert konzeptualisiert werden, sind keineswegs davor gefeit,Expertendefinitionen an die Stelle von Kommunikation und Aushand-lung zu setzen. Der Fokuswechsel vom Anbietermarkt zur Nachfrage-orientierung impliziert, dass ein Mehr an Rationalität des Versorgungs- 20 Diese Auffassung wurde aus verfassungsrechtlicher Perspektive im Rahmen der instruktiven

Veranstaltung �Europäische Union und gesetzliche Krankenversicherung� am 26./27. Novem-ber 1998 in Kiel (veranstaltet von der AOK Schleswig-Holstein und dem Institut für Sozialrechtund Sozialpolitik in Europa) argumentiert. Siehe hierzu die in der Zeitschrift für Sozialreform45(1999)8 und 45(1999)9 veröffentlichten Tagungsbeiträge.

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systems nicht losgelöst von Verbraucherinteressen erzielt werden kann� wie immer sich diese Interessen herausbilden mögen.

Leistungserbringer bewegen sich in einem Spannungsfeld: Sie sollensich marktgerecht und nachfrageorientiert verhalten, sind aber zugleicheingebunden in ein Geflecht öffentlich-rechtlicher Regelungen mit star-ker politischer Einflussnahme, schwacher Selbstverwaltung und Macht-asymmetrien in den Verhandlungsstrukturen zu Lasten der Leistungs-erbringer. Das Pflegevertragsrecht dominiert die Gestaltungsoptionenzwischen Pflegeeinrichtung und dem Versicherten selbst dort, wo erKunde im Sinne einer echten Tauschbeziehung ist. Deren Einfluss-nahme ist schwach. Alle pflegevertragsrechtlichen Vereinbarungen zwi-schen Kostenträgern und Leistungserbringern haben sich � dessenungeachtet � in den vertraglichen Vereinbarungen zwischen Leistungs-erbringern und Kunden zu realisieren. Zivilisierung des Wettbewerbsdurch öffentliche Rahmengebung heißt nicht: Nivellierung und Standar-disierung der Pflegelandschaft durch Dominanz des Ausfallbürgens�Sozialhilfeträger�. Soziale Differenzierung in der Pflege, die durch diePflegeversicherung neuen Schub erhalten hat, und Pluralisierung desUmgangs mit Pflege in unterschiedlichen Konstellationen von Pflege-haushalten verlangt Gestaltungsoffenheit und Individualisierung derHilfen. Systemrationalität ist somit nicht allein durch Überwindung vonFragmentierung und Selektivität zu erzielen, sondern unterliegt zudemdem Gebot der lebensweltlichen Passung.

Das SGB XI setzt Marktmechanismen ein, um die Effektivität und Effi-zienz der Leistungserbringung zu erhöhen. Zugleich steigt die Zahl derPflegeanbieter, und es entwickelt sich (allmählich) ein Preiswettbewerb.Der Pflegemarkt internationalisiert sich; neben mittelständisch gepräg-ten, traditionellen Anbieterkreisen werden Pflegekonzerne aktiv, dienicht in den korporativen Geflechten zwischen Verbänden und Kommu-nen oder Verbänden und Ländern eingebunden sind und Loyalität wal-ten lassen. Staatliche Regulierungen werden zusehends unwirksam,weil öffentliche Förderung, die Marktteilnehmer privilegieren oder dis-kriminieren würde, nicht umfangreich genug stattfindet oder bereits ein-gestellt ist (mit der Ausnahme der Sanierung der ostdeutschen Pflege-landschaft gemäß Artikel 52 SGB XI). Je deutlicher Quasi-Markt- undMarktmechanismen im Gesundheits- und Pflegewesen greifen, um soweiter entfernen sie sich von Charakter des Solidarsystems. Letzteresist im Europäischen Recht subsidiär, erstere Beimengungen jedochrücken die Sozialversicherung in den Geltungsbereich des EU-Wirt-schaftsrechts (und seines Beihilfeverbotes). Vernetzung wird unterMarktgesichtspunkten neu zu reflektieren sein. Zentral ist zunächst dieHerstellung von Markttransparenz, die Anbieter und Nachfrager struktu-

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riert informiert mittels Beratung auf Basis eines Informationssystems(�Marktordnung�).21

Es werden sich (weiter) differierende Qualitätssegmente herausbilden.Es gilt, wettbewerbskompatible Steuerungen aufzubauen und Überre-gulierungen zurückzuführen. Das schließt ein: (I) Ein ökonomisches An-reizsystem für die Pflegekassen zu implementieren, sich der Weiterent-wicklung der Pflegelandschaft anzunehmen; dies erfolgt derzeit im SGBXI � im Unterschied zum SGB V � nicht infolge von kassenübergreifen-der Beitragsidentität (§ 55 SGB XI), Leistungsidentität (§ 28 SGB XI) ,Budgetierung (§ 70 SGB XI) und kassenübergreifendem Finanzaus-gleich (§ 66 SGB XI). (II) Mindeststandards � also: Definition eines nichtzu unterschreitenden Levels jedem zustehender Lebensqualität in Ein-richtungen � sind zu formulieren und zu kontrollieren (Menschenrechts-perspektive), auf denen Niveaus der Versorgung nachfrageorientiertaufbauen können. Jenseits dieser staatlichen Supervisionspflicht istOptionalität herzustellen. (III) Die Überwindung der divergierendenSteuerungen zwischen ambulanter und stationärer Versorgung, die dieImplementierung von Zwischenformen und flexibleren Strukturen(Stichwort: �Ambulantisierung der Pflegeheime�) zwar nicht grundsätz-lich verhindern, aber doch deutlich erschweren. Steuerungsdifferenzen,die Trennung und nicht Verknüpfung nahelegen (durch ökonomischeAnreize, durch Nachteile in den Gestaltungsmöglichkeiten, durch For-men indirekter Rationierung) wirken Innovationen in der Versorgungentgegen.22

Es gilt mittelfristig, die Restriktionen des Quasi-Marktes zurückzudrän-gen und Marktelemente zu stärken. Trägerorganisationen müssen sichihrer Verantwortung für die Unternehmenspolitik stellen. Wollen siestärker marktgerecht und nachfrageorientiert agieren, impliziert dasauch, eine Überführung der ausschließlichen Budgetorientierung, dieheute allerdings noch nicht allerorts infolge der Kontinuität �gedeckelter�(alter) Sozialhilfe-Pflegesätze realisiert wurde, in eine Leistungsorientie-rung. Hierin eingeschlossen ist (I) die Überwindung von Leistungslü-cken dort, wo sie aus der Sicht der Pflegebedürftigen bzw. der Pflege-

21 Sehr instruktiv in diesem Zusammenhang ist das vor dem Hintergrund des nordrhein-

westfälischen Landespflegegesetzes entwickelte Informationssystem BISS (�Internet des So-zialen�), das der Pflegeberatung ein informationstechnisches Fundament gibt. Hierzu: KreisWesel/Institut für kommunale Sozialforschung und Sozialpolitik (IKOS): Dokumentation desEntwicklungsprozesses zur Umsetzung des § 4 PfG im Kreis Wesel. Wesel 1997 (c/o. KreisWesel, Der Landrat, Postfach 10 11 60, 46471 Wesel).

22 Das �Konzept des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes für eine Reform des Pflegeversiche-rungsgesetzes� (verabschiedet am 11.12.1998) zielt u.a. durch einheitlich gestaffelte Leis-tungsbeträge bei Pflegesachleistungsbezug (in den Pflegestufen I bis III: 1000 DM, 2000 DMund 3250 DM) in ambulanter wie stationärer Versorgung in Richtung auf eine Aufhebung derSteuerungsdifferenz.

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haushalte das (relative) Wohlbefinden (zusätzlich) beeinträchtigen. Hierkönnen traditionelle frei-gemeinnützige Träger infolge ihrer Gemeinwe-sennähe und der Breite ihrer sozialer Arbeit Vorteilspositionen einneh-men (Verbindung von Ressourcen zur Herstellung von Wohlfahrtsmi-schungen), die andere Anbieter nicht mobilisieren können. Hierunter istweiterhin zu fassen (II) die (auch verbandsübergreifende) Bildung stra-tegischer Partnerschaften zur Arrondierung der Leistungspalette und(III) Fusionierungen von Trägerorganisationen zur Bildung von konkur-renzfähigen wirtschaftlichen Größen, die erforderliche Regieleistungenrefinanzierbar werden lassen. Leistungsorientierung impliziert Kommu-nikation mit Pflegehaushalten und Pflegebedürftigen über deren Wahr-nehmung der erbrachten Leistungen.23 Bedarfsorientierung ist zu über-führen in bewertete Nachfrage.

2.1 Pflege als �geteilte Verantwortung�:Das Beispiel neuer Formen der Versorgung vonDemenzkranken

Vor allem Ansätze in der Demenzversorgung, die mittels Wohn- oderHausgemeinschaften neue Versorgungssettings (vgl. KDA, 1998; Lei-senring, 1998) erproben, eint das Bemühen, die konventionelle undüberholte Trennung von ambulanter und stationärer Betreuung undPflege durch �intelligente Mischungen� zu überwinden und dabei die

• je unterschiedlichen Logiken, die beide Versorgungsformen kenn-zeichnen, zu überbrücken und

• Dienstleistungsperspektive mit Sorgearbeit zu verbinden.

Diese Gegensätzlichkeit dieser Perspektiven in konventionellen Arran-gements macht sich vornehmlich an folgender Diskrepanz fest: Wäh-rend in der ambulanten Versorgung die Hauptpflegeperson in einemfamilialen Netzwerk umfassend Verantwortung trägt, und ambulant zu-geschaltete Dienstleistungen � so sie überhaupt in Anspruch genom-men werden � punktuell auf dieser privaten Basis eingebunden werden,dominiert und �erstickt� im Falle der stationären Versorgungsalternativedie Dienstleistung familiale Sorgearbeit. Angehörige werden auf die Be-sucherrolle reduziert. Der Zwischenraum jedoch, der sich zwischen die-sen Extremen erstreckt, präsentiert sich jenseits innovativer Ansätze als

23 Ich greife hier den Perspektivwechsel von der Kosten- zur Leistungsorientierung auf, der in

der modernen Betriebswirtschaftslehre vollzogen wird. Kernthese ist, dass nachhaltige wirt-schaftliche Zukunft in der Leistung liegt. Drei Bedingungen sind hierfür zentral: (1) Bedienungvon Knappheiten statt Mühen, Opfer und Kosten, (2) Wettbewerb um Leistungs- statt umKostenführerschaft und (3) Konzentration auf Leistungsoptimierung statt auf Kostensenkung.

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�Brachland�. Die Dichotomie �ambulant versus stationär� wird durchneuere Initiativen in der Demenzversorgung modellhaft (und probewei-se) aufgelöst � bei jeweils unterschiedlichen Hürden, die infolge staatli-cher Reglementierungen errichtet sind24. Zwischen häuslicher Belas-tungsverdichtung, die in zahlreichen empirischen Studien zur PflegeDemenzkranker durch Angehörige unisono belegt werden konnte, undtiefgreifender Entpflichtung im Falle eines Umzugs in ein traditionellesPflegeheim wird nunmehr das Angebot positioniert, an der besonderenWohn- und Betreuungssituation in Wohn- oder Hausgemeinschaftenweiterhin aktiv teilzuhaben, aber zugleich nicht länger allein die Belas-tungen der Versorgung tragen zu müssen. Angehörigen wird (potentiell)die Option gegeben, ein Stück weit das Gemeinschaftsleben zu beglei-ten und zu tragen oder auch durch verantwortliche und verlässliche Mit-arbeit die Kosten des Gemeinschaftshaushalts zu senken.

Die Einbindung von Angehörigen in solche Demenzpflegekonzepte prä-sentiert sich mal als erhoffte und erwünschte Möglichkeit, mal hingegenstellt sie eine unabdingbare Voraussetzung dar, ohne die eine Aufnah-me nicht zustande kommt (Cantou-Tradition). Mischungen von Dienst-leistung und Sorgearbeit und von hauswirtschaftlicher Basis und zu-geschalteter Pflege (mit Qualitätssicherungsfunktionen) erweiterngrundsätzlich die in der Vergangenheit eher schmale Optionsbreite inder Betreuung und Pflege demenzkranker alter Menschen. Wohn- undHausgemeinschaften stellen so gesehen einen ersten Ausdruck einersich allmählich pluralisierenden Versorgungslandschaft dar. Sie erset-zen nicht das Pflegeheim klassischer Prägung in toto, sondern berei-chern die Spielräume, die Menschen nutzen können, wenn sie sich umdemenzkranke Angehörige und ihre weitere Betreuung jenseits des pri-vaten Haushalts sorgen.

Dabei impliziert das Konstrukt einer geteilten Verantwortung, die in die-sen Settings praktiziert wird, zugleich auch die (spätere) Grenze derVervielfältigung von Wohn- und Hausgemeinschaften in die Versor-gungsfläche hinein. Dort, wo ein Dienstleistungsverbrauch alternativlosdasteht, weil private Netzwerke nicht existieren, hoch fragil oder le-benslang belastet sind, kann sich die besondere Qualität der Mischungvon Hilfen und Leistungen in der überschaubaren Gemeinschaft nichteinstellen. Wohn- und Hausgemeinschaften setzten sich verständli-cherweise ab von den traditionellen großen Pflegeeinrichtungen. Sieschärfen ihr Konzept durchaus in der Kritik an der Unzulänglichkeit ei-ner Demenzversorgung in der klassischen Tradition großer Pflegehei-

24 Hierbei handelt es sich um Bemühungen, die in verschiedenen Ländern Westeuropas zu re-

gistrieren sind.

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me. Die Situation dort lässt sich vielerorts zum einen als �Integrationohne Integrationskonzept� charakterisieren, in der Demenzkranke �ir-gendwie� (und dann meist störend) mitlaufen (vgl. Schmidt, 1999), zumanderen ist sie dadurch beeinträchtigt, dass sich Pflege nicht an differie-renden Pflegebedarfsgruppen ausrichtet, denen mittels einzuleitenderBinnendifferenzierung fachlich spezifischer zu entsprechen ist, sondernimmer noch als �eine Pflege� realisiert (mit einem einzigen und bislangpauschalen Pflegesatz hierzulande). �Leistungsdifferenzierung� und�Spezifizierung der Betreuungsumwelten� stellen somit die Anknüp-fungspunkte derjenigen dar, die demgegenüber auf die Reformzugäng-lichkeit der klassischen Versorgungsinstanzen setzen.

Beide Positionen weisen Gemeinsamkeiten und Unterscheidungs-merkmale auf. Geteilt wird die fachliche Unzufriedenheit mit dem ge-genwärtigen Niveau des vor-professionellen Status quo. Unterschiedewiederum machen sich fest (a) an der Einschätzung, wie reformfähig(große) Pflegeinstitutionen generell und in der Tiefenwirkung sind und(b) ob sie sich intern auflösen und als kleine überschaubare Bereichemit fördernder Raumgestaltung und normalitätsorientierten Arbeits-abläufen, die nicht vorrangig die Bedürfnisse der Einrichtung und ihrerBeschäftigten akzentuieren, rekonstruieren lassen.25 Sowohl für Ver-fechter neuer Versorgungsformen als auch für die Reformer des Ein-geführten ist verbindend, dass sie den Fokus von der Pflege weg- undzur Gestaltung eines gemeinsamen Alltags einer Gruppe Demenzkran-ker hin verlagern. Fachlich rückt nun ins Zentrum die Nachbildung undRitualisierung eines Lebens und Alltags, der Demenzkranken Sicherheitund Erinnerungsanreize bietet. In diesem Zusammenhang stellt esdurchaus keinen Zufall dar, dass sich solche Bestrebungen am Norma-lisierungsprinzip ausrichten, das ursprünglich keineswegs in derAltenpflege kreiert und aufgestellt wurde, sondern vielmehr aus derEingliederungshilfe stammt und zwischenzeitlich in der Betreuung de-menzkranker alter Menschen mancherorts adaptiert wird. Die Orientie-rung am Alltag, die aktive Einbeziehung der Gemeinschaftsmitgliederund die Überschaubarkeit der �familienählichen� kleinen Gruppe sollendie Förderung der vorhandenen, verbliebenen Potentiale ermöglichen.

25 Für eine sich dergestalt wandelnde Betreuung und Pflege Demenzkranker ist in jedem Fall ein

verändertes professionelles Selbstverständnis unabdingbar. Die medizinisch-pflegerischeAusrichtung und das auf die Defizite Demenzkranker abhebende Agieren von Fach- undHilfskräften � ebenso wie das Berufsgruppenkonzept der Pflegeversicherung � bietet keineadäquate Voraussetzung, um im Rahmen einer dem Normalisierungsprinzip folgendenBetreuung erfolgreich handeln zu können. Zentral ist hier die Bereitschaft, zeitlich befristet miteiner Gruppen demenzkranker Menschen zu leben und ihnen eine krankheitsangemesseneUmwelt zu gestalten.

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Konsequenterweise werden diese Gemeinschaften im Entgeltbereichvorrangig durch hauswirtschaftliches Fachpersonal begleitet und imfreiwilligen/ehrenamtlichen durch Angehörige und sozial Engagierte �also: möglichst lebensweltnahe Personen, die das soziale Klima derGemeinschaften möglichst tiefgreifend prägen. Die professionelle Pfle-ge selbst hingegen wird ambulant erbracht, wobei anzumerken ist, dassdas finale Stadium der Erkrankung wiederum die besondere, verdich-tete pflegerische Zuwendung erfordert.

2.2 Kooperative Qualitätssicherung zur Überwindung derSchnittstellenprobleme zwischen Gesundheits-, Pflege- undSozialwesen

Im Laufe des Jahres 1998 sind zwei Studien erschienen26, die Quali-tätssicherung und -entwicklung vor dem Hintergrund praktischer Bemü-hungen, Kooperations- und Koordinationserfordernissen gerecht zuwerden, erörtern. Eine zentrale Dimension solcher Anstrengungen � diebekannten und vielfach beklagten Abstimmungs- und Passungsproble-me in der gesundheitlichen und pflegerischen Versorgung zu vermeiden� stellt das zielgerichtete Zusammenwirken unterschiedlicher Professi-onen im Pflegeprozess dar.

(1) In Zusammenarbeit des Instituts für Gerontologie an der UniversitätDortmund mit der Kassenärztlichen Vereinigung Westfalen-Lippe wurdein zwei Modellregionen Westfalens ein Projekt �Vernetzung von nieder-gelassenen Ärzten, Krankenhäusern, sozialpflegerischen und therapeu-tischen Berufen in der Versorgung (pflegebedürftiger) älterer Menschenvor dem Hintergrund des Pflegeversicherungsgesetzes� durchgeführt,dessen Auswertung nun vorliegt (Kauss, Kühnert, Naegele, Schmidt &Schnabel, 1999). Grundvoraussetzung jeglicher Kooperation ist einwechselseitiger Informationstransfer zwischen den Beteiligten. Nicht dieNichtinformation ist jedoch kennzeichnend � im Gegenteil, die Praxis inden Modellregionen zeigte, dass es durchaus �immer wieder spontan zuZusammenarbeit� kommt. Es fehlt aber an verbindlichen Regeln fürkontinuierliches Vorgehen in der gesundheitlichen und pflegerischenVersorgung Älterer. Zurückzuführen ist dies vor allem auf den Umstand,dass infolge �unzureichender geriatrischer Grundkenntnisse auf seitender Hausärzte� (Kauss, Kühnert, Naegele, Schmidt & Schnabel, 1999).die Erforderlichkeit von Kooperation von dieser Berufsgruppe nicht ge- 26 Die beiden Studien, die im nachfolgenden präsentiert werden sollen, evaluieren Prozesse der

Entwicklung und Erprobung von Vernetzungsstrategien und -instrumenten in zwei westfäli-schen Modellregionen (Bochum und Märkischer Kreis) und im Kontext innovativer Vorhabendes Bundeslandes Hessen.

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sehen wird; zeitliche Belastung und die besondere Problematik der Ho-norierung solchen Engagements verstärken die Zurückhaltung. Wurdenallerdings positive Kooperationserfahrungen gewonnen, so erhöhte sichdie Bereitschaft, auch zukünftig eng mit Pflegediensten und Therapeu-ten zusammenzuarbeiten. Transferprobleme erschweren die wechsel-seitige Information. Zu Modellbeginn (hier: Bildung von ambulanten Re-habilitationsteams, in denen je ein Arzt, Pflegedienst und Therapeuteinbezogen wurden) war schon das Wissen um den Bedarf an Informa-tion der jeweils anderen Berufsgruppen unklar. Schwierigkeiten der In-formationsgewinnung und -weitergabe gesellten sich hinzu. Kontakteund Arbeitsabsprachen müssen in die jeweiligen regelmäßigen Arbeits-abläufe integriert werden können. Über Instrumente wie Kommunikati-onsblatt, Überleitungsbogen oder Formblatt zur Erstinformation wurdeeine Vereinfachung und Standardisierung der Informationsvermittlungvorgenommen, die auch von den beteiligten Vertretern der Berufsgrup-pen als sinnvoll erachtet wurde. Solche Instrumente ersetzen persönli-che Absprachen nicht, aber sie unterstützen sie. Teamsitzungen, diedurch die wissenschaftliche Begleitung im Projektzeitraum moderiertwurden, zielten nicht auf dauerhafte Institutionalisierung27, sondern aufder modellhaften Erprobung von Kooperationsformen.

(2) Bei der zweiten Studie handelt es sich um die Auswertung einesModellprojekts zur Entwicklung und Erprobung eines bedarfsgerechtenund patientenorientierten Qualitätssicherungskonzeptes, das den Aus-bau �zukunftsweisender gesundheitlicher Versorgungsstrukturen durchinstitutionen- und berufsübergreifende Kooperation� zum Gegenstandhatte. Dieses vom Hessischen Ministerium für Umwelt, Energie, Ju-gend, Familie und Gesundheit 1995 gestartete Projekt wurde vom da-maligen � inzwischen aufgelösten � Agnes Karll Institut des DeutschenBerufsverbandes für Pflegeberufe (DBfK) evaluiert. Dem Forschungsbe-richt (Höhmann, Müller-Mundt & Schulz, 1998) liegt als analytischemKonzept die Krankheitsverlaufskurve28 zugrunde. Krankheitsverlaufs-

27 Von �zentraler Bedeutung� ist nach Auffassung der Autoren, eine �Möglichkeit zur Entlohnung

der Kooperationsaufwendungen im Abrechnungssystem der Gesetzlichen Krankenversiche-rung (GKV) zu implementieren� (ebenda, S. 235). Die Kostentrennung zwischen GKV undPflegeversicherung wirkt sich auf die Kooperation der genannten Berufsgruppen hemmendaus. Leistungen ambulanter geriatrischer Rehabilitation, die zur Verringerung oder Vermei-dung von Pflegebedürftigkeit führen, belasten in bestimmten Umfang das Budget des Haus-arztes; nur eine Herauslösung dieser Kosten aus dem Budget könnte dieses Hemmnis ab-bauen.

28 Damit soll �die Kompetenz und Bedarfsgerechtigkeit therapeutischen Handelns und die Eig-nung gegenwärtiger Strukturen und Angebote hinsichtlich Prävention, Beratung und Bewälti-gung von Krankheitsgeschehen bzw. sich abzeichnender oder bereits entwickelter chroni-scher Verläufe� (Höhmann, Müller-Mundt & Schulz, 1998: Qualität durch Kooperation.Gesundheitsdienste in der Vernetzung. Frankfurt/M.: Mabuse, S. 62) eingehender beleuchtetwerden. Mit diesem Konzept, das insbesondere auf Arbeiten Barney G. Glaser und Anselm L.Strauss zurückgeht, können Problemlagen, Erlebnisweisen und Handlungsmuster der Betrof-

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kurven wurden in neun unterschiedliche �Managementphasen� mit je-weils besonderen Arbeitsanforderungen an die Professionellen einge-teilt. Ein effektiver Umgang mit Chronizität und Multimorbidität benötigteine Zusammenarbeit der Berufsgruppen untereinander und mit demPatienten und Angehörigen. Der Fokus der Aufmerksamkeit hat auchbei kurzzeitigen Aufenthalten in der Klinik oder der Kurzzeitpflege aufdem �Umständen und Bewältigungsvoraussetzungen im eigentlichenLebensmittelpunkt der Betroffenen, dem häuslichen Bereich oder Heim,zu liegen� (Höhmann, Müller-Mundt, & Schulz, 1998). Abstimmung,Stabilisierung und Stützung haben sich hierauf auszurichten und müs-sen auch unter Qualitätsgesichtspunkten stärker als bisher durch dieGesundheitsfachberufe wahrgenommen werden. Dies impliziert eineumfassende Anamnese zu Beginn therapeutischen Handelns und einevorsorgliche Entlassungsplanung.

Aus Sicht der Professionellen, so das Resümee, besteht die Gefahr vonBrüchen auf fünf Ebenen des Versorgungszusammenhangs (der sachli-chen, zeitlichen, personellen, institutionellen und konzeptionellen).29

Durch die Bildung berufsgruppenübergreifender Qualitätsgremien (kli-nikintern durch Qualitätszirkel, einrichtungsübergreifend im Rahmenvon regionalen Qualitätskonferenzen) sollten solche Probleme bewäl-tigbar gemacht werden. Ein erster Schritt war dabei der Abgleich hand-lungsleitender Konzepte der Professionen und die sich daraus ableiten-den Arbeitsroutinen. Über Verbesserung der Kommunikation undAbstimmung sollte weiterhin an den Bedarfslagen der Patienten ausge-

fenen beschrieben werden. Diese prägen auch die Interaktionserfahrungen mit den Professi-onellen, und sie sind in der Arbeits- und Behandlungsorganisation der Gesundheitseinrichtun-gen zu berücksichtigen.

29 Vorrangig sind dabei• zunächst Brüche, die durch Mängel in der Koordination und Information im Rahmen der

Überleitung zwischen Versorgungsinstanzen entstehen (sachlicher und zeitlicher Versor-gungszusammenhang). Vor allem kurzfristige Entlassungsentscheidungen und nichtrechtzeitige Benachrichtigung nachgeschalteter Einrichtungen sowie unzureichendeWeitergabe medizinisch-pflegerischer Informationen für die weitere Betreuung sind hier-unter zu fassen. Handlungsbedarf existiert bei der Verbesserung des schriftlichen Infor-mationstransfers in Übergangssituationen: Neben ärztlichen Überweisungen und Be-handlungsberichten existieren keine regelhaft erfolgenden bereichsübergreifendenInformationen (z.B. Pflegeüberleitungsberichte). Informationsflüsse konzentrieren sichweitgehend auf die eigene Profession.

• Desinteresse der beteiligten Akteure und ein Mangel an Möglichkeiten direktem einrich-tungs- und berufsgruppenübergreifenden Austausches sind zum Teil zu konstatieren.Diese personellen Dimensionen vollziehen sich auf der Folie unzureichender konzeptio-neller Abstimmungsprozesse zwischen den Akteuren und zwischen verschiedenen Ver-sorgungssettings.

• Institutionelle Brüche lassen sich vornehmlich an der unzureichenden Infrastruktur derRehabilitationsberufe im außerklinischen Bereich darstellen.

• Information, Beratung und Unterstützung der Betroffenen im Vorfeld der Überleitung undEinschränkungen bei der Koproduktion mit Angehörigen weisen auf Asymmetrien hin: DieExpertise der Betroffenen und betreuender �Laien� wird nicht angemessen berücksichtigt.

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richtete Arbeitsschritte definiert und der Versuch unternommen werden,gemeinsame Zielorientierungen auszuhandeln und in veränderten Ar-beitsabläufen wirksam werden zu lassen. Die Konfliktträchtigkeit diesesUnterfangens wird dadurch kenntlich, dass die systematische Implantie-rung der von den Qualitätsgremien erarbeiteten Maßnahmen einen Ein-griff in die bisherige Abstimmungspraxis darstellt. Kooperation setztSelbstveränderung voraus � und damit ist die Meßlatte unausweichlichhoch gelegt.

In beiden Modell- und Begleitforschungszusammenhängen wird er-kennbar, dass der Weg zu mehr Kooperation grundsätzlich steinig ist.So ist nicht davon zu abstrahieren, dass der Aufwand enorm ist, umdie Berufsgruppen zum gedeihlichen und geordneten Miteinander zumotivieren und zu befähigen. Trennendes dominiert zunächst, und Ge-meinsamkeit muss gegen diese Hauptströmung in einer Art Daueran-strengung ständig konstruiert werden. Mehr Rationalität in den Versor-gungsabläufen hat neben Systemfragen, die üblicherweise dominieren,also auch (pflege-) kulturelle Implikationen: Eine kritische Reflexion derHandlungsmuster beteiligter Berufsgruppen ist nicht zu umgehen.

2.3 Auflösung von Steuerungsdifferenzen und Deregulierung

Auf dem eingangs bezeichneten Quasi-Markt setzt ein Sozialmarkt auf,der heute noch unter Überregulierungen leidet (vgl. Schmidt, 1998).Mittelfristig jedoch werden sich die Gewichte in seine Richtung � wieauch immer veranlasst � verlagern. Das heißt, die klassische Denkfigurdes Staates als Mittler ist zu transformieren in eine zum Pflegemarktpassungsfähige. Staatliche Supervisionspflichten wie die Beachtungvon Menschenrechten im Heim, die noch viel ernster zu nehmen sind,als in der Vergangenheit geschehen, sind auszubalancieren mit Strate-gien zur Stärkung der Verbraucher und mit unternehmerischen Initiati-ven, Kundenorientierung im Qualitätsmanagement zu entwickeln.30

Es werden sich (weiter) differierende Qualitätssegmente herausbilden.Dies gilt nicht für die pflegerischen Leistungen, weil hier der allgemeinanerkannte Stand der medizinisch-pflegerischen Kenntnisse normativals übergreifender Maßstab definiert ist, von dem nicht nach oben oderunten abgewichen werden kann. Dies gilt aber durchaus für Leistungs- 30 Was das alles impliziert, ist bekannt und wird in zahlreichen �aufgeklärten� Publikation venti-

liert (vgl. Schmidt, Braun, Giercke, K. I. & Kohnert, M. (Hrsg.). (1998) Neue Steuerungen inPflege und Sozialer Altenarbeit. Regensburg. Transfer Verlag). Wir haben zunächst ein Um-setzungsproblem, das in Segmenten erweitert wird zu Problemstellungen, denen sich diekonstituierenden Pflegewissenschaften hierzulande zuwenden (sollten).

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bereiche, die sich um die Kernleistung Pflege gruppieren. Wettbe-werbskompatible Steuerungen sind aufzubauen und o.g. Überregulie-rungen zurückzuführen. Das schließt ein:

(1) Ein ökonomisches Anreizsystem für die Pflegekassen zu imple-mentieren, sich der Weiterentwicklung der Pflegelandschaft anzu-nehmen. Dies erfolgt derzeit im SGB XI � und im Unterschied zumSGB V � nicht infolge der kassenübergreifenden Beitragsidentität(§ 55 SGB XI), der Leistungsidentität (§ 28 SGB XI), der Budgetie-rung (§ 70 SGB XI) und des kassenübergreifendem Finanzaus-gleichs (§ 66 SGB XI)31.

(2) Mindeststandards � also: Definition eines nicht zu unterschreiten-den Levels jedem zustehender Lebensqualität in Einrichtungen �sind zu formulieren und zu kontrollieren (Menschenrechtsperspekti-ve), auf denen Niveaus der Versorgung nachfrageorientiert aufbau-en können. Jenseits dieser staatlichen Supervisionspflicht ist Optio-nalität herzustellen.

(3) Die Überwindung der divergierenden Steuerungen zwischen am-bulanter und stationärer Versorgung, die die Implementierung vonZwischenformen und flexibleren Strukturen (Stichwort: �Ambulanti-sierung der Pflegeheime�) zwar nicht grundsätzlich verhindern, aberdoch deutlich erschweren.

Steuerungsdifferenzen, die Trennung und nicht Verknüpfung nahelegen(durch ökonomische Anreize, durch Nachteile in den Gestaltungsmög-lichkeiten, durch Formen indirekter Rationierung) wirken Innovationen inder Versorgung entgegen.32 Die Restriktionen des Quasi-Marktes sindzurückzudrängen und Marktelemente zu stärken. Trägerorganisationenmüssen sich ihrer Verantwortung für die Unternehmenspolitik stellen.Wollen sie stärker marktgerecht und nachfrageorientiert agieren, impli-ziert das auch, eine Überführung der ausschließlichen Budgetorientie-rung, die heute allerdings noch nicht allerorts infolge der Kontinuität�gedeckelter� (alter) Sozialhilfe-Pflegesätze realisiert wurde, in eineLeistungsorientierung. Hierin eingeschlossen ist (1) die Überwindungvon Leistungslücken dort, wo sie aus der Sicht der Pflegebedürftigenbzw. der Pflegehaushalte das (relative) Wohlbefinden (zusätzlich) be-einträchtigen. Hier können traditionelle frei-gemeinnützige Träger infol-ge ihrer Gemeinwesennähe und der Breite ihrer sozialer Arbeit Vorteils-

31 Dies führt dazu, dass z.B. von Heinz Rothgang (vgl. Fußnote 5) die verschiedenen Pflegekas-

sen auch als �Filialen einer Einheitskasse� bezeichnet werden.32 Das �Konzept des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes für eine Reform des Pflegeversiche-

rungsgesetzes� (verabschiedet am 11.12.1998) zielt u.a. durch einheitlich gestaffelte Leis-tungsbeträge bei Pflegesachleistungsbezug (in den Pflegestufen I bis III: 1000 DM, 2000 DMund 3250 DM) in ambulanter wie stationärer Versorgung in Richtung auf eine Aufhebung derSteuerungsdifferenz.

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positionen einnehmen (Verbindung von Ressourcen zur Herstellung vonWohlfahrtsmischungen), die andere Anbieter nicht mobilisieren können.Hierunter ist weiterhin zu fassen (2) die (auch verbandsübergreifende)Bildung strategischer Partnerschaften zur Arrondierung der Leistungs-palette und (3) Fusionierungen von Trägerorganisationen zur Bildungvon konkurrenzfähigen wirtschaftlichen Größen, die erforderliche Re-gieleistungen refinanzierbar werden lassen (vgl. Eichler, 2000).

3 Impulse des Gesetzgebers zur Entwicklung desPflegevertragsrechts und der Demenzversorgung

Die Impulse des Gesetzgebers33 zielen zum einen auf eine � ange-sichts der Finanzentwicklung der Pflegeversicherung � begrenzte Leis-tungsausweitung für Demenzkranke, zum anderen könnte im Zuge derWeiterentwicklung des Pflegevertragsrechts und der Heimgesetzge-bung eine überfällige Spezifizierung der Pflege und Betreuung einge-leitet werden, die darauf hin wirkt, noch bestehende, gleichwohl �vor-fachliche Arrangements� zu überwinden.

(1) Direkt auf eine Verbesserung der Pflege Demenzkranker im Rah-men des geplanten 5. SGB XI-Änderungsgesetzes zielt das Vorhabendes BMG, diesem Personenkreis in der häuslichen Pflege einmal proWoche einen Tages- oder Nachtpflegeaufenthalt zu gewähren, der nichtmit Geld- oder Sachleistungsbudget verrechnet werden soll. In der Be-wertung dieses Einstiegs in eine Leistungsausweitung sind zudem zweikonfligierende Orientierungen auszumachen: die Stabilisierung der po-tentiell hoch stressgefährdeten häuslichen Pflegesituation (die gebotenist, um Heimübersiedlungen zu vermeiden, die nicht in der Person desPflegebedürftigen begründet sind, sondern in dem überforderten Unter-stützungsnetzwerk) versus krankheitsbedingte Anforderungen an räum-liche und zeitliche Kontinuität sowie an Ritualisierungen des Tagesab-laufs. Gerade aus der Angehörigenarbeit ist hinlänglich bekannt, dassneben dem Problem der Non-Compliance vor allem niedrigschwellige,zugehende Hilfeformen auf gewisse Akzeptanz treffen. Hierbei verbleibtder Demenzkranke in seinem gewohnten Lebensraum und wird dortstundenweise durch Dritte (z.B. Helferinnenkreis, dessen Stundensätzeu.a. über Verhinderungspflege refinanziert werden) mit dem Ziel derzeitweiligen Entlastung der Hauptpflegeperson betreut. Dies gilt z.B.auch für Urlaubsangebote, wo die Hauptpflegeperson mit dem kranken

33 Das Manuskript des Beitrags wurde Mitte Juli 2000 abgeschlossen.

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Angehörigen verreist und letzterer am Urlaubsort durch Kurzzeitpflegeversorgt wird � bei jederzeit möglichem Kontakt zu der vorübergehendnicht in der alleinigen Verantwortung stehenden Hauptpflegeperson.

(2) Indirekt könnten zudem Leistungs- und Qualitätsvereinbarungen(LQV)34, die � geht es nach dem BMG � zwischen Kostenträgern undLeistungserbringern auf Spitzenverbandsebene in korporativer Traditionverhandelt und vereinbart werden sollen, fördernde Impulse in der Ver-sorgungslandschaft setzen. Leistungen und ihre Qualität wären dannmit Blick auf unterschiedliche Pflegebedarfsgruppen differenziert zu de-finieren. Dabei ist zu berücksichtigen, dass �der Qualitätsstandard derPflege normativ festgelegt (wird). Maßstab ist der allgemein anerkannteStand medizinisch-pflegerischer Erkenntnisse (§ 28 III SGB XI) unterBeachtung des Bekenntnisses des SGB XI zur aktivierenden Pflege(§ 2 i.V.m. § 28 IV SGB XI), begrenzt durch das Wirtschaftlichkeitsgebot(§ 29 I SGB XI)� (Udsching, 1999). LQVen � die unabhängig von Preis-verhandlungen vereinbart werden35 � stellen dann gewissermaßen daszwingend erforderliche Fundament dar, um Vergütungsvereinbarungentatsächlich �leistungsgerecht� abschließen zu können, und sie legendifferenziert nach Bedarfsgruppen dasjenige Niveau fest, auf das mittelsPflegeklassen, nach denen die Vergütung festzulegen ist in besonde-ren, dokumentierten und geprüften Fällen nach oben wie unten abgewi-chen werden kann. Pflegestufen hingegen definieren die Höhe des vonder Pflegekasse zu leistenden Zuschusses � so man den Grundlagender Leistungsvergütung nach SGB XI zu folgen geneigt ist und einendilatorischen Umgang mit Recht meidet. Und: LQVen bestimmen dieerwartbare Leistung, auf die � im Falle von Schlechtleistung � mit Re-

34 Zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Beitrages liegen die Referentenentwürfe zum Pflegequa-

litätssicherungsgesetz und zum Heimgesetz vor; evtl. Veränderungen im Zuge des Gesetzge-bungsverfahrens können nicht berücksichtigt werden.

35 Die Stellungnahmen vor allem der Spitzenverbände der Leistungserbringer zu Beginn derparlamentarischen Anhörungen streichen unisono die mit der Ausweitung des Pflegevertrags-rechts einhergehende �Bürokratisierung� der Leistungserbringung heraus. Bei aller Kritik ander Schieflage von Pflegevertragsrecht und Marktorientierung, die im vorliegenden Beitraggeübt wird, ist allerdings hier zu konzedieren, dass Leistungsvereinbarungen, die das Sozial-hilferecht seit der Neufassung des § 93 BSHG bereits kennt, ein bis dato im SGB XI fehlendesGlied der Vertragssystematik darstellen. Ohne solche Vereinbarungen wird es schwerlichmöglich sein zu definieren, was eine �leistungsgerechte Vergütung� darstellen soll, die dasSGB XI fordert. Allerdings steht es nicht im Belieben der Vertragspartner, Leistungen �irgend-wie� zu definieren, da der Referenzpunkt, wie Udsching herausstellt, normativ vorgegeben ist.Problem stellt weniger die �Bürokratie�-Ebene dar � sie ist bei angemessenen Trägergrößenlösbar -; vielmehr wird die Frage nunmehr virulent, wie der �Stand der Kunst in der Pflege� zudefinieren und zu operationalisieren ist. Angesichts des Umstandes, dass hierzulande bislangnur für den Bereich der Dekubitusprophylaxe jüngst ein Expertenstandard entwickelt wurde,wird unmittelbar einsichtig, die Verhandlung möglicher Leistungsstandards, die der Norm ent-sprechen, z.Zt. nur durch letztlich unzureichende Annäherungen realisiert werden kann: Manist in der Bundesrepublik paradoxerweise pflegewissenschaftlich noch nicht so weit fortge-schritten, wie man im SGB XI, das in Ermangelung einer Diagnosenorientierung keine ärztli-che Domäne begründet, rechtlich ernst genommen wird (vgl. Klie & Schmidt, 2000.)

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gressforderungen (rückwirkende Kürzung der Pflegeentgelte durchKostenträger und Rückvergütungsanspruch des Bewohners, der in derNovelle des Heimgesetzes durch das Bundesministerium für Familie,Senioren, Frauen und Jugend, BMFSFJ, vorgesehen ist) reagiert wer-den kann. Abgestufte Sanktionsmöglichkeiten unterhalb der Kündigungdes Versorgungsvertrages lassen erwarten, dass Mängel in der Pflegeunmittelbare Bedeutung für das wirtschaftliche Handeln der Träger er-halten werden. Eine unspezifische, fachlich nicht den Stand der Kunstrepräsentierende Pflege und Betreuung ist zukünftig � werden diesebeabsichtigten Regelungen geltendes Recht � nachhaltiger zu beein-flussen. Mehr Pflegefachlichkeit käme auf indirekte Weise gerade auchder Pflege und Betreuung Demenzkranker in der vollstationären Pflegezugute, deren derzeitiges Niveau im Osten Deutschlands einer �Integ-ration ohne Integrationskonzept� in der Praxis folgt (Schmidt, 1999).

Welche Bedeutung diesen Impulsen des Bundesgesetzgebers im Detailzukommen kann, sollten sie wirksam werden, wird man erst später er-örtern können. An dieser Stelle muss der Hinweis genügen, dass diepotentiell relevanten, indirekten und auf die Pflegefachlichkeit abzielen-den Impulse mehr umschließen als die unmittelbar auf Demenzkrankezielenden.

4 Fazit

Auf dem eingangs bezeichneten Quasi-Markt setzt ein Sozialmarkt auf,der heute noch unter Überregulierungen leidet. Mittelfristig jedoch wer-den sich die Gewichte in seine Richtung � wie auch immer veranlasst �verlagern. Das heißt, die klassische Denkfigur des Staates als Mittler istzu transformieren in ein mit dem Sozialmarkt passungsfähiges Setting.Staatliche Supervisionspflichten (z.B. die Beachtung von Menschen-rechten im Heim) �, die noch viel ernster zu nehmen sind, als in derVergangenheit geschehen � sind auszubalancieren mit Strategien zurStärkung der Verbraucher und mit unternehmerischen Initiativen, Kun-denorientierung im Qualitätsmanagement zu entwickeln. Letzteres istauf der Ebene der Fachrhetorik allgegenwärtig, kennzeichnet jedochnur unzureichend die Dienstleistungsproduktion: wie München, Ham-burg und andere Orte deutlich vor Augen führen. Zentrale Schritte zumehr Verlässlichkeit sind zum einen die Spezifizierung der pflegeri-schen und betreuenden Leistungen und damit die Abkehr vom Ein-heitsprodukt �Pflege� und zum anderen die die Schnittstellenproblematiküberbrückende Form kooperativer Qualitätssicherung. Hier existieren im

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Bereich des SGB V bereits normativ angemessenere Bedingungen(Experimentierklausel, Strukturverträge und Integrierte Versorgung),während das SGB XI unter diesem Gesichtspunkt erst noch zu qualifi-zieren ist36.

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36 Optionen für Arzt-Netze/Integrierte Versorgung (Busch & Stock, 2000)

(1) MODELLVORHABEN (§§63 SGB V) mit Erprobungscharakter, zeitlicher Befristung undwissenschaftlicher Evaluation

(2) STRUKTURVERTRÄGE (§ 73a SGB V), die Bestandteil der Regelversorgung (vernetztePraxen u.a. zwischen Haus- und Fachärzten � sog. �Hausarztmodell�) sind bei Übertra-gung der Verantwortung für die Gewährleistung der Qualität und Wirtschaftlichkeit

(3) INTEGRIERTE VERSORGUNG (§ 140a-h SGB V) als Bestandteil der Regelversorgungmit hoher Regelungsdichte, u.a. Rahmenvereinbarung zwischen den Spitzenverbändender Krankenkassen und der Leistungserbringer zu z.B. Mindeststandards von Versor-gungsaufträgen, Qualitätssicherung und Anforderungen an Teilnahme.

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Wettbewerb in der Altenpflege?

Regulierungstheoretische Anmerkungen vommorphologischen Standpunkt

Frank Schulz-Nieswandt

Universität Köln

Die nachstehenden Ausführungen verstehen sich als großzügig ausho-lender Kommentar zur vorgetragenen Position von Roland Schmidt (indiesem Band; vgl. auch Schmidt 1999; Schmidt (Hrsg.) 2000).

Unter Morphologie eines Politikfeldes versteht der Verfasser die Analy-se der Gestaltqualität, d.h. des inneren Passungsverhältnisses vonSinnsetzung (Zielfunktion) und institutionellem Arrangement: JedeSinnsetzung bedarf demnach sinnadäquate Ausdrucksformen institutio-neller Art. Sozialökonomisch gewendet: Die Wahl einer institutionellenVerfasstheit (hier des SGB XI-Feldes) hängt von den gesellschaftlichenGrundentscheidungen über die gewollten Ergebnisse der Wohlfahrts-produktion in diesem Leistungsfeld mittels dieser institutionellen Ver-fasstheit ab. Ob Wettbewerb und Marktsteuerungselemente adäquatsind, ist eine empirische Frage mit Blick auf das eben Gewollte (Schulz-Nieswandt 1995b).

Wenn man Wettbewerb und Markt nicht naturrechtlich begründet, wiees noch in Teilen des ORDO-Liberalismus vergeblich, weil aporetischversucht worden ist (Riese 1972), dann kann Wettbewerb � und es darfzunächst noch dahingestellt bleiben, was unter Wettbewerb in konzep-tioneller Konkretheit gemeint ist � nur instrumenteller Natur sein. MitBlick auf das bundesdeutsche Gesundheitswesen hat klassisch schonThiemeyer (zu Thiemeyers Ansatz vgl. Schulz-Nieswandt 1992; 1995)in diesem Zusammenhang von einem Implantationsansatz gesprochen(Thiemeyer 1984). Demnach kann man Wettbewerb in ein ansonstenNicht-Markt-System der Gesundheitsversorgung implantieren, wennund insoweit dieses Instrument (in Anlehnung an die moderne �compa-rative institutional economics� müsste man sagen: im Vergleich zu an-deren institutionellen Arrangements: Thiemeyer 1984a; 1984b; 1986;Schulz-Nieswandt 1998) dabei hilft, die originären Politikfeldziele, hieralso die pflegepolitischen bzw. (weiter gefasst) die gesundheits- und(sofern man in wissenschaftssystematischer Sicht (vgl. Schulz-Nieswandt 1991; 1998d) das ganze Gebiet der Sozialpolitik als Teilge-

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biet leitbildorientierter Gesellschaftspolitik versteht) gesellschaftspoliti-schen Ziele (Thiemeyer 1987; 1988) besser zu erreichen. Dann, undnur dann: Auf die Wirkungen kommt es an.

Versteht man unter Wettbewerb also nur ein Transplantat, so handelt essich allein um ein Steuerungselement in einem ansonsten komplexenSystem der Vielfachsteuerung (für den SGB V-Bereich vgl. etwa Dalhoff1997). Das System bleibt somit dominant öffentlich-rechtlich überformt.Für diesen öffentlich-rechtlichen Grundcharakter gibt es gute Gründe.Es wird darauf noch einzugehen sein. Zunächst einmal muss aber mehrdarüber nachgedacht werden, was mit Wettbewerb eigentlich gemeintist.

1 Wettbewerb und Markt

Zunächst sind Wettbewerb und Markt auseinander zu halten. Wettbe-werbselemente in einem ansonsten öffentlich-rechtlich geprägten Nicht-Markt-Steuerungsgeschehen zu implementieren, bedeutet keineswegs,Marktmechanismen zentral einzuführen. Erst wenn der Wettbewerbauch dazu dienen soll, die Konsumentenpräferenzen � wenn schonnicht als Konsumentensouveränität, so doch im Sinne der Konsumfrei-heit � zum Allokationskriterium zu machen, kommen Wettbewerb als In-strument und Markt als Ordnungsnorm zusammen. Der Implantations-ansatz reicht jedoch zunächst einmal nur soweit, dass durchDirektverträge zwischen den einzelnen Kassen (als Körperschaften desöffentlichen Rechts in Selbstverwaltung, u.a. gemäß § 29 (1) SGB IV)und der im Wettbewerb stehenden einzelnen Leistungsanbietern, dievon den �Kunden� frei gewählt werden können, Versorgungsverträgeabgeschlossen werden, so dass die Kassen Benchmarker anführenkönnen, an deren Kostenfunktion sich die Mitbewerber bei der Ver-tragsbildung orientieren müssen. Diese Diskussion ist aus der Reform-debatte der dualen Krankenhausfinanzierung (Goedereis 1999; vgl. ins-gesamt Simon 2000) mit Blick auf die von den Kassen gewünschteVerschärfung der Kündigungsrechte der Krankenkassen im Rahmen ei-ner Finanzierungsmonistik bei gleichzeitiger Übernahme der Kapazi-tätssteuerung bekannt. (Und � wie noch zu sehen sein wird � auch dieEinwände aus der Sicht einer infrastrukturtheoretisch begründeten Da-seinsvorsorgefunktion der öffentliche Hände sind analoger Natur.) DieBenchmarking-Strategie dient aber im Rahmen eines ansonsten öffent-lich-rechtlich geprägten Leistungsrechts- und Vertragsgeschehens derErzielung von Wirtschaftlichkeit im Sinne betrieblicher Effizienz. Alloka-

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tive Effizienz ist demnach nicht zugleich mitgedacht, da hierzu die�Kunden� zwischen den Leistungsanbietern nicht nur frei wählen kön-nen müssen, sondern mit diesen auch die Versorgungsverträge ab-schließen müssten, also Steuerungskompetenz erhalten. Dazu im Kon-trast: Das Versorgungsvertragsgeschehen mit den Kassen soll aber deninstitutionellen Rahmen abgeben, um Regulierungsstandards zu imple-mentieren. Angesichts der zur Lehrbuchweisheit zählenden �Gutsbe-sonderheiten� von personenbezogenen, kommunikationsgetragenenDienstleitungen an Körper und Seele (Badelt 1996) ist in einer �realisti-schen� (dazu Schulz-Nieswandt 1998) Markttheorie nicht das �Ob�,sondern nur das Ausmaß und das Instrumentarium der öffentlichen(oder verbandlichen Selbst-)Regulierung kontrovers. Ein großer Teildieser Regulierungsdebatte läuft unter der Rubrik Qualitätssicherung(vgl. nun auch in gesetzgeberischer Hinsicht: Moldenhauer 2000). Da-bei � auch das zeigt die Forschung (Schulz-Nieswandt 1996) � ist dieTrägerfrage relativ unbedeutend. Öffentliche oder private Trägerschaft,auch die Rechtsform (als äußeres morphologisches (Thiemeyer 1972;1981) Kriterium des Betriebs), sind relativ bedeutungslos für Qualitäts-sicherungsziele. Auf die Regulierung kommt es an. Aber das alles ist �darauf wird noch zurückzukommen sein � noch zu eng gedacht. Esgeht vielmehr um optimale Versorgungssicherstellung (vgl. auchSchulz-Nieswandt 1999a) im sozialen Raum.

Damit der Altenpflegesektor zum Markt werden kann, müssten grundle-gende Feldeigenschaften vorliegen. Dazu zählt insbesondere die Ent-wicklung von Informationssituationen, die Transparenz schaffen undasymmetrische Informationsverteilung überwinden helfen. Es ist nunkeineswegs so, dass hier gar nichts möglich ist. Aber die Marktseite derNachfrager ist doch recht heterogen. So sind die Befunde der differen-tiellen Gerontologie anzuführen (Schulz-Nieswandt 1999; Schulz-Nieswandt 2000a: Kapitel 3). Der ökonomische, d.h. eigentlich: juristi-sche, nämlich zur optimalen Vertragsbildung befähigende Souveräni-tätsgrad ist angesichts der epidemiologischen Befunde zur Gesund-heits- und Kompetenzsituation der Population der älteren und altenMenschen, insbesondere der �alten Alten� oder sogar �Hochbetagten�äußerst differenziert. Ohne hier die Befundelandschaft detalliert darle-gen zu können (es sei auf den Dritten Altenbericht der Bundesregierungverwiesen: BMFSFJ 2001), dürfen die bekannten Problemdimensionder Demenz und weiterer gerontopsychiatrischer Problemlagen ange-führt werden. Damit eng zusammenhängend ist die soziale Tatsache inErinnerung zu rufen, dass es sich im Fall von Pflegebedürftigkeit nichtum Entscheidungsbedarf isoliert-einzelner Personen (hier der pflegebe-dürftigen älteren bzw. alten Menschen), sondern um soziale Kontexteinter-personeller Handlungssituationen handelt (Schulz-Nieswandt 1995a;

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1999d; 1992a). Dies gilt bekanntlich nicht nur für die Frage der Übernahmevon Pflegerollen im häuslichen Kontext, sondern auch hinsichtlich derInstitutionalisierungsprozesse sowie hinsichtlich der sich im stationärenSektor abzeichnenden wachsenden Bedeutung von Betreuungsverhält-nissen nach dem BGB (Reddig 1999). Diesbezüglich steht bekanntlichsozialpflegerischer Novellierungsbedarf an. Gerade der soziale Weltdes Pflegeheims wird (in ethnographischer Perspektive hinsichtlich desbinären Code der �Normalität der Außenwelt� und des �Anderen� derHeiminnenwelt) immer schwieriger. Der sich in der Heimrisikoforschungabzeichnende Befund ansteigender Eintrittsalter (vgl. dazu auch inSchulz-Nieswandt 2000) verändert die epidemiologische Lage der In-nenwelt der Heime, und angesichts der mit steigendem Alter ebenfallsanwachsenden Risiken der Netzwerkdefizite auch die Außenverflech-tungen der Heimbewohnerschaft. Einzelne Segmente der Nachfrager-seite � kompetente Hilfe- und Pflegebedürftige vor allem im ambulantenVersorgungsbereich � können Erfahrungsgütereigenschaften der rele-vanten Dienstleistungsangebotslandschaften realisieren: Dort sind Wie-derholungskäufermechanismen möglich, die Wettbewerb auslösen. A-ber schon angesichts der (nicht nur psychologischen) Problememehrfacher Heimverlegung oder des Heimplatzwechsels dominieren imstationären Sektor Eigenschaften von Glaubens- und Vertrauensgütern.Bei sozialer Isoliertheit und/oder starker kognitiver Beeinträchtigungenprägen ohnehin Fremdbestimmtheiten der Entscheidungsfindung, zu-mal die Entscheidungen bei eintretender Pflegebedürftigkeit oftmalsunter außerordentlichem Zeitdruck (etwa im Kontext des Entlassungs-managements im Akutkrankenhausbereich: Schulz-Nieswandt 1999b)ablaufen und � wie die empirische Forschung zeigt � keineswegs früh-zeitige Klärungen auf der Grundlage von Aushandlungen im Lichte fa-milien- und individualbiographischer Vorgaben darstellen.

2 Versorgungssicherstellung

Soll Wettbewerb zwischen den Anbietern verstärkt werden und zu die-sem Zwecke Direktverträge zwischen einzelnen Kassen und einzelnenAnbietern realisiert werden, so sind aus der Literatur die sich eng an-schließenden Fragen nach den Gefahren des Qualitätsdumpings undder Risikoselektion (Schulz-Nieswandt 1998a) gegeben. Die Parallel-diskussion zeichnet sich bezüglich des § 140a-h SGB V ab (Schulz-Nieswandt 2000b; zum Kollektivvertragsrecht im SGB V vgl. auchFlüchter 2000). Sind diese Gefahren auf der Grundlage fallbezogenerVergütungsformen (etwa Pauschalen) evident � daher auch die Ängste

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hinsichtlich der Versorgungspfade schlechter Risiken angesichts einerVerweildauerabsenkung infolge der Einführung von DRGs (vgl. auchSimon 2000a) -, so stellen sich diese Fragen der Qualitätssicherungund der Vermeidung von �Rosinenpickerei� der Leistungsanbieter auchim Kontext von Benchmarking-induziertem Kostensenkungsdruck. Die-ses Problem zeichnete sich ja bereits bei Einführung des SGB XI alsThese vom �trade-off� zwischen Qualität und (Zeit)Menge der Pflegeinfolge der plafondierten Grundsicherung ab. Zumal den Kommunennach Einführung des SGB XI und der Implementation der Landespfle-gesätze in der Literatur wiederholt nachgesagt wird, sie würden die �neue � Form der Mischfinanzierung (bewusst falsch verstehend) zumAnlass nehmen, sich aus Alten(pflege)politikverantwortlichkeiten zu-rückzuziehen. Die Sozialhilfeträger (sofern nicht die Länder oder andere� nicht-kommunale � überörtliche Sozialhilfeträger wirksam sind: Roth1998) sind ja im Rahmen einer nunmehr �tripartistischen� Mischfinanzie-rung (SGB XI-Leistungen; privates Einkommen und Vermögen der Pfle-gebedürftigen sowie BSHG-Leistungen gegenüber der älteren �dualen�Finanzierung: eigenes Einkommen und Vermögen sowie BSHG-Leistungen) eben nicht aus einer Finanzierungsverantwortung entlas-sen. Im Rahmen der Pflegesatzverhandlungen gemäß § 75 (1) SGB XI� so die Vorwürfe in der Literatur � spielen die Sozialhilfeträger aberschlicht nur die Rolle des Kostenniveaudrückers, nicht des pflegepoliti-schen Landschaftsgestalters (gemäß § 8 (2) SGB XI). Insofern kommtin diesem Politikfeld die gleiche Logik der Induzierung von Wirtschaft-lichkeitsreserven zur Wirkung wie im Gesundheitswesen (einschließlichder gesamten Rationierungsdebatten, u.a. infolge der sektoralen Bud-getierung: Schulz-Nieswandt 1999c und 1999d). Insofern ist hierSchmidt (1999: 11) zuzustimmen: �Der Sicherstellungsauftrag der Pfle-gekassen, auf den Kommunen gerne verweisen, um Nichtzuständigkeitzu reklamieren, ist zu interpretieren vor dem Hintergrund der Infra-strukturverantwortung der Bundesländer im Rahmen der dualen Finan-zierung (hier sind einige Differenzierungen angebracht: Schulz-Nieswandt 1998b: 67 ff. � F.S.-N.) und der Zuschussfunktion der Sozi-alversicherungsleistung. Beides impliziert, dass eine alleinige Verant-wortungsverlagerung hin zum primären Kostenträger (gemeint ist diePflegekasse nach SGB XI � F.S.-N.) vom Gesetzgeber nicht intendiertwar.�

�Mehr Wettbewerb� im SGB XI-Feld (im Vergleich zum Gesundheitswe-sen) � weit über die Frage der Gleichstellung privater und freigemein-wirtschaftlicher Träger hinausreichend � wird daher als geringerer Gradder öffentlich-rechtlichen Überformung des Leistungs- und Vertragsge-schehens (wiederum im Vergleich zum Gesundheitswesen) ausgelegt.Mit Beginn der Einführung des SGB XI wurden daher in der Literatur die

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Strukturtypunterschiede zwischen SGB XI und SGB V (einschließlichKHG etc.) betont. Und die Angebotsdynamik im ambulanten Sektorwurde � sicherlich in Grenzen berechtigt � als Erfolgsindikator der neu-en Wettbewerbspolitik angeführt. Jedenfalls wurde das gesetzgeberi-sche Absehen von einer Bedarfsplanung und Angebotssteuerung imSGB XI betont. Sieht man von der Sicherstellungspflicht der Kassen imEinzelfall gemäß § 12 (1) SGB XI ab, so kennt das SGB XI nur �lockere�Formen der korporatistischen Versorgungssicherstellung (Roth 1999).Hier ist auf den § 8 SGB XI (Gemeinsame Verantwortung der Gesamt-gesellschaft) zu verweisen. In Absatz 2 heißt es: �Die Länder, dieKommunen, die Pflegeeinrichtungen und die Pflegekassen wirken unterBeteiligung des Medizinischen Dienstes eng zusammen, um eine leis-tungsfähige, regional gegliederte, ortsnahe und aufeinander abge-stimmte ambulante und stationäre pflegerische Versorgung der Bevöl-kerung zu gewährleisten.� Die Realisierung ist von diesem Leitbild nochweit entfernt (vgl. dazu auch in BMFSFJ 2001). Hinzu kommen nochnach § 9 SGB XI die Aufgaben der Länder (denen die Länder in sehrunterschiedlicher Art und Weise und nur in unterschiedlichem Ausmaßnachkommen). Diese Akteure sollen gemäß § 8 (2) SGB XI �zur Wei-terentwicklung der notwendigen pflegerischen Versorgungsstrukturen(beitragen)�. Hier kristallisiert sich ein strukturpolitischer Sicherstel-lungsauftrag, der doch wiederum öffentlich-rechtliche Rahmensetzun-gen einführt und an die infrastrukturorientierte Daseinsvorsorgepolitikanknüpft. Nur ist diese Versorgungssicherstellung institutionell derart�locker� installiert, dass angesichts der mit der impliziten vertikalen wiehorizontalen Politikverflechtung verbundenen Konstellationskomplexitätder Akteure die Transaktionskosten so hoch sind, dass die Effizienz undEffektivität etwa von regionalen Pflegekonferenzen recht bescheidenausfallen (Rosendahl 1999).

Die bleibende Bedeutung eines öffentlichen Sicherstellungsauftrageslässt sich infrastrukturtheoretisch fundieren: Es geht um Erreichbarkeit,Zugänglichkeit, Verfügbarkeit und Akzeptierbarkeit (Schulz-Nieswandt1992a: 123; Schulz-Nieswandt 1999d) sozialer Infrastruktur im sozialenRaum (vgl. am Beispiel ländlicher Räume: Schulz-Nieswandt 2000c).Diese räumliche Allokationsfunktion leisten Märkte politikfrei, d.h. unre-guliert aller Erfahrung nach nicht. Diese Frage der Allokation im Raumbestimmt aber den Kern der Daseinsvorsorgefunktion öffentlicher Hän-de. Insofern seien noch einige abschließende rechtsphilosophischeFragen einer Sozialpolitik angesprochen.

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3 Rechtsphilosophie und Sozialpolitik

Märkte sind zu regulieren aus der normsetzenden Sicht sozialpolitischerRichtlinien, die (in der Wissenschaft, nicht unbedingt auch in der Politik-praxis) rechtsphilosophisch gewonnen werden und als gestaltende ge-sellschaftspolitische Reaktion auf soziologische Befunde über die Le-benslagenverteilung zu verstehen sind (so schon die Position vonLorenz von Stein: Schulz (-Nieswandt) 1988; Schulz-Nieswandt 1992b).Die Frage des Marktversagens wird somit zu einer Frage der politischenTheorie, nicht einer (angeblich wertfreien) �oeconomica pura� (Schulz-Nieswandt 1992; 1995: 1998). Daseinsvorsorge bezeichnet ein Grund-prinzip sozialstaatlich verfasster Wirtschaft und Gesellschaft mit Blickauf die (soziale) Infrastruktur als Voraussetzung der personalen Exis-tenz, also der Entfaltungschancen personaler Freiheit (vgl. dazu Schulz-Nieswandt 1986a; 1997: 109 ff.; 1997a: 127 ff.; schließlich auch 1997c).Ein vernünftiger Begriff des Staates (Schulz(-Nieswandt) 1987: 39)macht sich an dieser Funktion fest (gerontologisch konkretisiert: Schulz-Nieswandt 2000f: I/53; 1998c: 65 ff.). Märkte dienen ebenfalls dieserpersonalen Entfaltungsfreiheit, aber immer nur im Rahmen komplexer,von Konflikten und daher Güterabwägungen nicht freier Gestaltungs-zielbündel. Wirtschaft ist und bleibt ein Subsystem der Gesellschaft.Das politische System dient dabei der Wahrung dieser Unterordnungder Wirtschaft unter die Gesellschaftlichkeit. In zentralen sozialstaatlichverfassten Dienstleistungsbereichen (SGB V; SGB XI) dient das Systemder öffentlich-rechtlichen Körperschaften in Selbstverwaltung auf demVerhandlungs- und Vereinbarungswege mit den Verbänden der Leis-tungsanbieter � insgesamt als staatsmittelbarer Sektor (deren Ge-schichte hier nicht Thema sein kann: Schulz-Nieswandt 2000d und2000e) zu verstehen � als Mechanismus, effiziente ökonomische Res-sourcenallokation mit politischer Zielerreichung zu vereinbaren. Die Ef-fektivität der (gemeinsamen) Selbstverwaltung des staatsmittelbarenSektors ist (auch international gesehen) relativ. Aber das ist trivial.Denn in unvollkommenen Welten muss man immer unvollkommene in-stitutionelle Arrangements mit alternativen unvollkommenen institutio-nellen Arrangements vergleichen (nochmals Schulz-Nieswandt 1998).Es gehört zu den Grundeinsichten einer morphologischen Theorie derPolitik als Gestaltung (Schulz-Nieswandt 1995; 1995b), dass man dieZiele politisch erst diskursiv klären und gesellschaftlich setzen, d.h. po-litisch entscheiden muss, bevor man die Wahl optimaler institutionellerArrangements mit Blick auf die effiziente Ressourcenallokation zur Um-setzung dieser Ziele treffen kann. Jede Nicht-Markt-Steuerung hat ihren�Preis�; Marktsteuerung wirft aber ebenfalls erhebliche Zielverletzungenauf. Ihre größten Probleme im vorliegenden thematischen Rahmen sind

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die personenbezogene Risikoselektion sowie ihre räumlichen Verwer-fungen (eine Art von raumbezogener Risikoselektion). Die �Leistungender Versicherung als Geldleistung zum Sachleistungseinkauf auszu-gestalten� (Schmidt 1999: 11) ist technisch (Marktentwicklung) wederso einfach möglich, noch so voreilig politisch (Ordnungsentwicklung)wünschenswert. Als gäbe es keine Probleme der Qualitätssicherstel-lung in geldleistungsfinanzierten Pflegewelten. Steuerungsmöglichkei-ten knüpfen sich unabdingbar an das Sachleistungsprinzip. Wettbewerbmit Flankierung durch Verbraucherschutz allein reicht nicht aus, um ge-sellschaftspolitisch wünschbare Marktergebnisse zu erzielen. Die Dich-totomie �Öffentliche Steuerung oder Nachfrageorientierung?� (Schmidt1999: 11) ist theoretisch fragwürdig, da die implizite Bi-Polarisierungdas sozialpolitisch notwendige Zusammenspiel kategorial nicht zu er-fassen vermag. Die Argumentation von Schmidt tut so, als ob es einefeldbezogen anwendungsfähige Theorie des Wettbewerbs gibt, die so-zialpolitisch akzeptable Ergebnisse verbürgt. Vielleicht würde es denordnungspolitischen Diskurs wieder bereichern, wenn Thiemeyers Satz�Mehr Wirtschaftlichkeit durch weniger Marktsteuerung� (Thiemeyer1985) theoretisch ernst genommen werden würde. Nimmt man z.B. dasProblem der brüchigen Versorgungsketten (Schulz-Nieswandt 1997b) inBetracht: Der Satz von Schmidt (1999: 12): �Schritte zur Überwindungvon Fragmentierungen und Selektivität (liegen) durchaus im ökonomi-schen Interesse von strategisch denkenden Trägerorganisationen� istempirisch nicht evident. Und theoretisch ist nicht einzusehen, warum esin der Praxis nicht gerade strategisch sinnvoll sein soll, Risikoselektionzu betreiben. Es sind Strategiekalküle denkbar, in denen unternehmeri-sche Zielfunktionen gegeben sind, die Externalisierung schlechter Risi-ken zu vermeiden beabsichtigen. Aber dann sind wir bereits wieder imunternehmenskulturellen (Szabo 1998: 1 ff.) Kontext widmungswirt-schaftlichen Handelns freigemeinwirtschaftlicher Akteure (dazu vgl. En-gelhardt 2000). Dass die Kassen nicht a priori die besten Treuhänderder Versicherteninteressen sind, sei zugestanden. Die Alternative wärenaiv. Oder sachlich: institutionenökonomisch nicht ohne weiteres halt-bar. Auch Körperschaften des öffentlichen Rechts in Selbstverwaltungbedürfen der gesellschaftlichen Kontrolle. Das öffentlich-rechtlich über-formte Leistungsgeschehen und Vertragsrecht hat nicht ausgedient.Aber ihre konkrete institutionelle Weiterentwicklung ist eine permanenteAufgabe. Die Grundsatzentscheidung zugunsten einer Nicht-Markt-Steuerung schließt die Verantwortung für die Optimierung dieses insti-tutionellen Settings nicht aus, im Gegenteil. Insofern ist Schmidt imRecht: �Wir haben es im Kern also keineswegs mit einer marktförmigenAusgestaltung der Pflegeabsicherung zu tun, sondern mit einer klas-sisch sozialstaatlichen, die aus Gründen der Steigerung der Effizienzund Effektivität zeitgemäße marktähnliche Steuerungsmechanismen

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implantiert hat� (Schmidt 1999: 11). Ja, aber wo soll das Problem lie-gen? Oder: �Der vermeintliche Pflegemarkt ist ein Quasi-Markt, in demunechte Tauschbeziehungen das Grundverhältnis zwischen den Betei-ligten bestimmen.� (Schmidt 1999: 11) Auch richtig. Nur, was soll dasProblem sein? Zumal die Redeweise vom �echten� Markt gegenüberdem dann wohl �falschen� im Sinne eines regulierten Vertrags- undAustauschsystems essentialistisch ist. Den �wahren� Markt � hier offen-sichtlich als �freier� Markt definiert � gibt es nicht. Anthropologisch ge-sehen geht das Tauschprinzip auf archetypischen Reziprozitätsbezie-hungen zurück, die Risikovergemeinschaftungen und Hilfeformendarstell(t)en (Schulz-Nieswandt 2000a; 2000d; 2000e). Die ausbalan-cierte Reziprozität stellt nur einen Untertyp dar. Und der utilitätsorien-tierte Markttausch im Sinn eigennutzgeregelter Vertragsbeziehungenrationaler Art bleibt letztendlich � soll er durch Vertrauenskapitalbildung(als Sozialkapital) funktionieren � an nicht-kontraktuelle Vorausetzun-gen normativer Art gebunden. Der politische Typ der Marktregulierungstellt insofern � klassifikatorisch-systematisch gesehen � ebenfalls nureine (Sub-)Variante sinnhaft-normativer Einbindung von Marktbezie-hungen (�embeddedness�-Theorem: Schulz-Nieswandt 1995; 1995b;1998) dar.

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Makro- und Mikropolitik des Alters

Peter Zeman

Deutsches Zentrum für Altersfragen, Berlin

1 Altenpolitik und gesellschaftlicher Wandel

Die Errungenschaften des Sozialstaats haben, zusammen mit dem me-dizinischen Fortschritt, das Alter zu einer Lebensphase werden lassen,die nicht nur eine neue Qualität der �Biographisierung� des eigenen Le-bens erfordert, sondern die Menschen auch mit der sozialen Erwartungkonfrontiert, (1) die gegebenen Optionen einer sinnvollen Altersgestal-tung bewusst und aktiv zu nutzen und (2) Altersbeeinträchtigungen miteinem Höchstmaß an Selbstständigkeit und Selbstverantwortung prä-ventiv zu reduzieren und aktuell zu meistern. Durch verbesserte Rah-menbedingungen für die Lebensqualität im Alter und größere Freiheitengegenüber der Norm eines � zwischen Selbstbezogenheit und Selbst-beschränkung auszurichtenden � �altersgemäßen� Verhaltens sind so-wohl individuelle Gestaltungsspielräume wie Gestaltungszwänge größergeworden.

Die mit dem Alter(n) verbundenen Ambivalenzen haben sich dadurchkeineswegs verringert. Objektive Zwiespältigkeiten der Lebensphasenach dem endgültigen Ende des Erwerbslebens verbinden sich, auchschon vor der Erfahrung gesundheitlicher, dem Alter zugeschriebenerBeeinträchtigungen, mit negativen und positiven Erlebnisqualitäten:

Negativ erlebt werden, gerade wenn man sich noch �jung� fühlt, dieRollen- und Sinnverluste, die sich in einer auf Erwerbsarbeit zentriertenGesellschaft mit dem Alter verbinden. Negativ wirken vor allem Diskri-minierungen und mehr oder minder offene Vorwürfe: Nutzlosigkeit! Al-tenlast der Gesellschaft! Rentnerschwemme! Die Alten leben auf Kos-ten der Jungen! Die Alten verbrauchen die Zukunftsperspektiven derJungen! Die Alten ruinieren mit ihren Ansprüchen den Generationen-vertrag!

Positiv erlebt wird der sich öffnende neue Möglichkeitsraum der Le-bensphase �Alter� aus drei Perspektiven:

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(1) aus einer individuellen Perspektive der sog. �Selbstverwirklichung�,Stichwort: �Die späte Freiheit leben können�,

(2) aus einer Perspektive der privaten Verbundenheit mit den jüngerenGenerationen (der Kinder-, Enkel- und zunehmend auch der Urenkel-Generationen), Stichwort: �Für die Jungen da sein können, mit Zeit,Zuwendung, auch mit Bargeld, ganz im Sinne des sogen. �kleinen Ge-nerationenvertrags��

(3) aus einer Perspektive des gesellschaftlich-bürgerschaftlichen Enga-gements, Stichwort: �Humankapital einsetzen�, d.h. seine Ressourcen,Fähigkeiten und Fertigkeiten so einbringen, dass das Leben für andereund damit � dies ist die Rendite � auch für einen selbst ein wenig schö-ner, gerechter und gesünder wird.

Altenpolitische Bemühungen richten sich darauf, die Gewinne der sozi-alstaatlich gesicherten Altersphase hevorzuheben. Aber die propagier-ten neuen � nicht an Defiziten, sondern an Kompetenzen und Ressour-cen orientierten � Altersbilder treten nicht selten in Diskrepanz zufaktischen Belastungen, altersbezogenen Befürchtungen und einer tra-dierten Skepsis in der Lebenswelt der älterwerdenden Menschen. Auchin den öffentlichen Diskursen haben, trotz vieler altenpolitischer Verwei-se auf das Alter als gesellschaftliches Potential, die Vorhersagen einerdemographischen Überlastung der sozialstaatlichen Ressourcen undwachsender Verteilungskonflikte zwischen den Generationen zuge-nommen und sie werden zur Zeit mit immer schärferem Zungenschlagartikuliert.

In der veröffentlichten Meinung wird dabei fast ausschließlich mit einem,durch den Altenquotienten verdeutlichten, zahlenmäßigen Ungleichge-wicht zwischen den Generationen argumentiert. Dies erscheint untergerontologischen und altenpolitischen Aspekten als eine allzu grobeReduktion, denn die intergenerationelle Integration wird nicht alleindurch die quantitative Relation bestimmt, sondern wesentlich aus derQualität der faktisch erlebten Generationen-Beziehungen. Die familialeZuwendung vieler Älterer zu wenigen Jüngeren muss der Beziehungs-qualität ja keineswegs abträglich sein.

Überdies ist der Altersstrukturwandel lediglich eine unter anderen Rah-menbedingungen, welche die Lebenslagen im Alter mitbestimmen. Inihren aktuellen Auswirkungen und in ihren Fernwirkungen auf Alterssi-tuationen vielleicht noch wichtiger sind: der rasante Strukturwandel derArbeitsgesellschaft, die soziokulturellen und strukturellen Veränderun-gen in der Komposition und Verbindlichkeit sozialer Netzwerke und dieDestandardisierung traditioneller Biographiemuster. Einerseits gerät �

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bei immer abstrakter werdenden Generationenverhältnissen1 � der so-zialstaatliche �Generationenvertrag� im Sinne eines Transfers von derjeweils jüngeren zur jeweils älteren Generation unter Beschuss, ande-rerseits bleiben die Erwartungen aller Generationen an eine sozialstaat-liche Sicherung von Lebensqualität im Alter durchaus bestehen.

Vor diesem Hintergrund bemüht sich Altenpolitik um die Entwicklungund politische Durchsetzung von Planungs- und Handlungsstrategien,mit denen Staat und Gesellschaft dem veränderten Stellenwert des Al-ters gerecht werden können. Grundsätzliches Anliegen bleibt die Siche-rung von Optionen für die Gestaltung einer humanen, subjektiv und ob-jektiv zufriedenstellenden und sinnvollen Gestaltung der Altersphasenach Kriterien sozialer Gerechtigkeit. Damit verbindet sich fachpolitischvor allem die Aufgabe, durch die Bereitstellung von Versorgungsstruktu-ren und Beteiligungsmöglichkeiten jenen Beitrag zum Erhalt der Le-bensqualität im Alter zu leisten, der aus privaten Ressourcen allein nichterbracht werden könnte. Gesellschaftspolitisch wird Altenpolitik aktiv,indem sie einerseits bei Verteilungskämpfen soziale und kulturelle Be-dürfnisse der alten und älterwerdenden Menschen vertritt, die in einertrotz der demographischen Alterung paradoxerweise auf �Jugendwerte�zentrierten alternden Gesellschaft an den Rand gedrängt werden, ande-rerseits aber auch die sozialen und kulturellen Potentiale der Älterenselbst als gesellschaftliche Ressource sichtbar macht und fördert.

Allerdings ist kaum zu bestreiten, dass Altenpolitik im Wirkungszusam-menhang der gesellschaftlichen Einflüsse, die den gesellschaftlichenWandel dominieren, selbst eine vergleichsweise marginale Rolle spielt.Wachsende gesellschaftliche Aufmerksamkeit für eine spezifizierte Al-ten-Politik folgt aus der zunehmenden Thematisierung des Alters bis-lang nicht. Auch � oder gerade? � in einer alternden Gesellschaft mussAltenpolitik ihre Ziele offensichtlich als einen Beitrag zu gesamtgesell-schaftlichen Integration des Alters legitimieren, der für alle Generatio-nen von Nutzen ist.

Altenpolitik hat sich damit auseinanderzusetzen, dass das Alter zuneh-mend als Bedrohung der Leistungsfähigkeit des Wohlfahrtsstaats dar-gestellt wird. In der, immer mehr auch die gesellschaftliche Öffentlich-keit bewegenden, Debatte um die �Grenzen des Sozialstaats� und

1 In der Unterscheidung von Kaufmann bezieht sich der Begriff Generationenverhältnisse auf

die makrostrukturelle Perspektive und bezeichnet die durch die �Institutionen des Sozialstaatsvermittelten Zusammenhänge zwischen den Lebenslagen und kollektiven Schicksalen unter-schiedlicher Altersgruppen� während mit �Generationenbeziehungen� die �beobachtbaren Fol-gen sozialer Interaktionen zwischen Angehörigen verschiedener, in der Regel familial defi-nierter Generationen� gemeint sind (Kaufmann 1997, 21 ff.).

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seinen als notwendig postulierten Wandel greift die Auffassung um sich,der Sozialstaat sei heute �alterslastig und kindheitsblind�. Es gingeüberproportional mehr Geld an die Alten als an die Jungen und gesell-schaftliche Alterssorge übersteige in leichtfertiger Weise die gesell-schaftliche Zukunftssicherung (so Stephan Leibfried in einem Interview,Der Tagesspiegel, 17.3.1998, S. 27).

Zweifellos berührt die Gestaltung des Alterssicherungssystems immerauch Fragen der Gerechtigkeit zwischen den Generationen, da ja dieLeistungen zur Alterssicherung von der jeweils erwerbstätigen Bevölke-rung getragen werden müssen und dabei nicht nur mit den aktuellenKonsumwünschen der Erwerbstätigen, sondern auch mit den Aufwen-dungen für die nachwachsenden Generationen konkurrieren (vgl. Deut-scher Bundestag 1998, 176).

In den Medien wird dies zu einem �Krieg der Generationen� stilisiert.Meinungsumfragen bei Jungen wie Alten zeigen, dass der Kriegszu-stand keineswegs ausgerufen ist, sondern die Beziehungen eher vonSolidarität geprägt sind. Im übrigen wird der gesellschaftliche Generati-onenvertrag durch einen informellen �kleinen Generationenvertrag� ge-stützt, bei dem ein beachtlicher Teil der öffentlichen Transferleistungenan die Älteren innerfamilial zu den Jüngeren zurückfließt (siehe dazu:Szydlik 2000). In der öffentlichen Generationendebatte hat sich den-noch ein Mythos der �gierigen Greise� verfestigt und dem Vorwurf, sieblockierten die Entwicklungschancen der Jungen wird kaum mehr wi-dersprochen. Altenpolitik muss hier an einer Front Stellung beziehen,deren weitgehend virtuelle Realität zur altenpolitischen Rahmenbedin-gung eigener Art zu werden droht. So sehr die Schärfe des Konfliktsüberspitzt und herbeigeredet ist � die Kriegsmetapher signalisiert, dassin diesem Diskurs Fragen von existenzieller gesellschaftlicher Bedeu-tung angeschnitten werden: soziale Sicherheit und Chancengerechtig-keit.

Auch im sogenannten �weichen Bereich� der Altersfragen, wo es nichtum soziale Sicherung, sondern um die Integrations- und Sinnproblemedes Alters und des Älterwerdens geht, hat die Altenpolitik kein Heim-spiel. Sie muss sich z.B. gegen eine primär kostenbedingte Reduktionauf traditionelle Betreuungs- und Versorgungsfunktionen für sozial be-dürftige Ältere wehren, zugleich aber den Vorwurf desintegrierenderund diskriminierender Effekte einer spezifischen Zielgruppenpolitik ent-kräften. Dieser widersprüchliche Legitimationsdruck erzwingt konzepti-onelle Anpassungen. Es wird kaum reflektiert, dass er zumindest teil-weise auch als ein Resultat altenpolitischer Erfolge bei der sozialenSicherung und Integration des Alters gesehen werden kann. Wie jede

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praktische Sozialpolitik ist auch Altenpolitik abhängig von dem sozialenWandel, den sie selbst mit beeinflusst und je wirksamer Altenpolitik ist,desto mehr trägt sie dazu bei, dass sich ihre Adressatengruppen verän-dern. Veränderte Adressatengruppen aber bedeuten, dass Ziele neudefiniert werden müssen und die Effektivität gewohnter Instrumente zuprüfen ist. Altenpolitik, die Veränderungen bewirkt, setzt sich damitselbst unter Veränderungsdruck.

Von ihrer klassische Schutzfunktion zur Abwendung oder mindestensMilderung sozialer Risiken in den Lebenslagen des Alters ist die Alten-politik dennoch nicht entbunden, kompensatorische Maßnahmen ange-sichts akuter Gefährdungen sind zielgruppenbezogen erforderlichgeblieben, präventive Strategien ganz allgemein zu verbessern. Dassoziale Risiko �verschämter Altersarmut� existiert nach wie vor, und esist um so schwieriger zu bekämpfen, je mehr sich die Überzeugung fes-tigt, Altersarmut sei kein gesellschaftliches, sondern ein individuellesProblem. Dabei sind die künftigen Altersarmen � am Ende brüchigerErwerbsbiographien, prekärer Versicherungsverläufe und mangelnderprivater Vorsorgemöglichkeiten � heute schon bekannt. Andere Risiko-gruppen ebenso: altgewordene Migranten mit ihren spezifischen mate-riellen, gesundheitlichen und psychosozialen Problemen und hochaltri-ge Menschen, deren zunehmende Hilfs- und Pflegebedürftigkeit nichtmehr von primären sozialen Netzwerken aufgefangen wird.

Daneben aber strebt die Altenpolitik nach größerer Effektivität ihrer ge-sellschaftsgestaltenden Funktion. In diesem Zusammenhang ist dieWirksamkeit von Maßnahmen zu evaluieren, die sich auf die Förderunggrößerer Chancengerechtigkeit bei der Realisierung von Lebensqualitätim Alter richten. Zu prüfen sind auch die altenpolitischen Instrumentezur Verbesserung der gesellschaftlichen Partizipation der Älteren undmehr noch: die Möglichkeiten, sie als Akteure in eine volkswirtschaftlichkostensparende und nachhaltige Strategie zur Humanisierung des Ge-meinwesens zu integrieren.2

Natürlich orientiert sich praktische Altenpolitik weder primär an solchenauf gesellschaftliche Gestaltung zielenden Entwürfen, noch folgt sie

2 Zur Diskussion allgemeiner Funktionsbestimmungen von Sozialpolitik vergl. Naegele/Tews

1993; eine abstrahierende Definition praktischer Sozialpolitik, (die zeigt, wie sehr die gesell-schaftsgestaltende Altenpolitik heute über traditionelle Sozialpolitik hinausgeht), schlägt Lam-pert (1998, S. 4) vor. Praktische Sozialpolitik sei jenes politische Handeln, das darauf abzielt,erstens die wirtschaftliche und soziale Stellung von wirtschaftlich und/oder sozial absolut oderrelativ schwachen Personenmehrheiten durch den Einsatz geeignet erscheinender Mittel imSinne der in einer Gesellschaft verfolgten gesellschaftlichen und sozialen Grundziele zuverbessern und zweitens den Eintritt wirtschaftlicher und/oder sozialer Schwäche im Zusam-menhang mit dem Auftreten existenzgefährdender Risiken zu verhindern.

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ausschließlich einem objektiven Druck existentieller Altersprobleme. Fi-nanzierungsmöglichkeiten, systemimmanente �Pfadabhängigkeiten� desPolitikfelds Alter, aber auch die �soziale Konstruktion des Alters� selbst,(die Ruhestandsgrenze wird gegenwärtig wieder einmal heftig disku-tiert) � all das bestimmt die altenpolitischen Programme und Maßnah-men entscheidend mit.

2 Ausweitung und Differenzierung des Politikfelds�Alter�

Sozialpolitik für ältere Menschen findet als eigenständiges Politikfeldstatt � eben als Altenpolitik: genauer zu differenzieren nach Altenhilfe-politik in der expliziten Definition des BSHG und Seniorenpolitik in ei-nem gesellschaftsorientierten Sinn (idealerweise als Politik nicht nur fürältere Menschen, sondern auch mit ihnen) � aber auch in vielen ande-ren Feldern der Sozialpolitik.

Allein durch die quantitativ wachsende Bedeutung des Alters sind neueSchnittflächen zwischen Altenpolitik und anderen Politikfeldern entstan-den. Altenpolitische Konzepte lassen sich häufig nicht mehr sinnvoll auftraditionelle Ressortabgrenzungen innerhalb des sozialen Sektors be-schränken.

Weit über die Definitionen des Sozialgesetzbuchs hinaus und auch oh-ne eine speziell altersbezogene Etikettierung � häufig sogar unter be-wusster Vermeidung einer solchen Etikettierung � sind das Alter(n) unddie Älteren längst zu einem wichtigen Objekt und zur Zielgruppe für eineFülle von Institutionen, Akteuren und Aktivitäten nicht nur des sozialenSektors geworden. Altersfragen und Altersprobleme, altersbezogeneZielgruppendefinitionen und Marketingstrategien tauchen in immer mehrgesellschaftlichen Aktionsbereichen auf � und damit auch in den daraufbezogenen Politikfeldern.

Während das Politikfeld �Alter� in der alternden Gesellschaft faktisch al-so immer diffuser wird, � synchron mit der Ausweitung und Differenzie-rung der sozialstaatlich konstruierten Lebensphase �Alter� �, muss diespezifische Altenpolitik ihre Bedeutung immer wieder gegen gesell-schaftlichen Zweifel verteidigen und ihre sozial- und gesellschaftspoliti-sche Positionierung zu verbessern suchen. Die damit verbundenenmakropolitischen Aushandlungsprozesse setzen sich auf anderer Ebe-ne, im Innern des Politikfelds, fort. Auch hier � unter dem Vorzeichen

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grundsätzlich gesicherter Akzeptanz für eine spezifisch auf das Alterbezogene Politik � , sind die Ziele keineswegs in einem, Institutionenund Akteure übergreifend vereinenden, Konsens strukturiert. Altenpolitikist in ihrer �horizontalen� und �vertikalen� Fragmentierung auch internein Ort ständiger Aushandlung: von Zuständigkeiten und Tätigkeitsfel-dern, von Zielsetzungen und Interessen, von Trägern und Professionen.Dies kann zu Lasten der Betroffenen gehen, zumal wenn die Verteilungknapper werdenden Ressourcen zur (heimlichen) Konkurrenz bei derErschließung von attraktiven oder der Abwehr unattraktiver Zielgruppenführt (solcher, die mehr Geld kosten, als refinanzierbar erscheint, diewenig öffentliche Reputation vermitteln können und nur zu einer schwa-chen Interessenartikulation fähig sind).

Einen wahren Schub politikfeld-internen politischen Agierens hat dieImplementation des Pflegeversicherungsgesetzes ausgelöst, das diegesamte Pflegelandschaft und die angrenzenden Altenhilfebereichestrukturell stark beeinflusst hat. Dies vor allem durch den Akzentwech-sel von Hilfe, die in der Fürsorgetradition des BSHG stand, hin zu einersozialversicherungsrechtlichen Lösung, und mehr noch durch diegleichzeitig verfolgten Intentionen zur Öffnung eines sozialen Marktes,mit Anbieterkonkurrenz und � zumindest dem Anspruch nach � einerUmdefinition der Klienten/Patienten zu Kunden.

Bei ihrer Suche nach einer deutlicheren Kontur steht die Altenpolitik al-so vor der schwierigen Aufgabe, das auseinanderstrebende Politikfeld�Alter� in einen gleichermaßen zielgruppenbezogenen wie die interge-nerative Integration fördernden Gesamtzusammenhang zu bringen.Damit beansprucht sie eine Querschnittsfunktion. In der Praxis altenpo-litischen Handelns bedeutet das, Aufgabenstellungen wie Ressourcen �quer zu den Ressorts � zu vernetzen. Dies gelingt nur in Ansätzen undam ehesten auf der Ebene von Modellprogrammen. Konsistente Alten-pläne mit einer solchen Intention sind bislang kaum in Angriff genom-men worden. Zu eng ist deren strukturelle Bindung an den traditionellenKernbereich der Altenhilfe im Sinne des BSHG und zu reduktionistischwird � vor allem aus Finanzierungsgründen � eine Reorientierung aufrein kompensatorische Funktionen der Altenpolitik bei akuten und exis-tentiellen Altersrisiken betrieben.

Finanzierungsprobleme bremsen die Realisierung neuer altenpolitischerKonzepte. Aber sie motivieren auch die Suche nach Neuorientierungen,in denen sich ein schonender Umgang mit öffentlichen Mitteln und al-tenpolitische Gesellschaftsgestaltung verbinden lassen.

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3 Neuere altenpolitische Konzepte

Es entspricht heute den Standards gerontologischer Aufklärung, ältereMenschen nicht ausschließlich unter Aspekten einer defizitären Le-benslage zur Zielgruppe altenpolitischer Maßnahmen zu machen, son-dern auch ihre Kompetenzen und Ressourcen einzubeziehen. Diessteht auch in Einklang mit neueren Sozialpolitikkonzepten, die sich aufdie Stärkung lebensweltlicher Ressourcen und auf die Förderung derBereitschaft und Fähigkeit zu Selbsthilfe, Engagement und Mitgestal-tung der sozialen Wohlfahrt richten.

Im Zuge sozialpolitischer Bemühungen um eine Vitalisierung sozialerVerantwortung für das Gemeinwesen und um die Mobilisierung derBürger als Koproduzenten sozialer Wohlfahrt, Stichworte: �mixed eco-nomy of welfare� und �aktivierende Sozialpolitik�, bekommt Altenpolitikneue Bedeutung, denn verbesserte lebenslange Bildungsvoraussetzun-gen und eine verbesserte gesundheitliche und materielle Versorgungdes Alters haben jenseits der Ruhestandsgrenze ein großes Potentialvon Menschen entstehen lassen, deren Produktivität und Engagementfür das Gemeinwohl gewonnen werden sollen.

Versuche der Älteren, ihre Optionen für die Altersgestaltung selbstorga-nisiert zu verbessern, werden zum Anknüpfungspunkt von Altenpolitik,denn hier werden Potentiale für die stärkere Selbstbeteiligung der Ziel-gruppen an einer gesellschaftsgestaltenden Altenpolitik vermutet. Meistwird in der Praxis jedoch mehr die Multiplikatorenfunktion der Älterennachgefragt als ihre Expertise bei altenpolitischen Planungs- und Ent-scheidungsprozessen.

Sowohl in dieser Multiplikatorenfunktion wie in einer Funktion als alten-politisch prämierte Beispiele einer �best practice� des sozialengagiertenAlters sind neue Altersrollen entstanden, in denen eine � wenn auchbegrenzte Zahl von Älteren � zu Koproduzenten der sozialen Wohlfahrtauch für andere, nicht in gleicher Weise zur Selbsthilfe fähige oder so-zial aktivierbare Ältere werden.

Das altenpolitische Konzept einer sozialstaatlichen Einbindung von Al-tersressourcen lässt sich im strategischen Zusammenhang der besse-ren Verknüpfung von Ressourcen des sozialen Sektors mit sozialenRessourcen der Lebenswelt interpretieren. Beide Garanten der sozialenWohlfahrt sind im Zuge des sozialen Wandels unter Druck geraten undihre wechselseitige Stärkung durch verbesserte Kooperation erscheintnicht nur naheliegend, sondern dringend angeraten. Eine solche �mixed

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economy of welfare� allerdings lässt sich alltagspraktisch nur verwirkli-chen, wenn gleichzeitig die wachsende lebensweltliche Anspruchsdiffe-renzierung gegenüber dem Sozialstaat in Rechnung gestellt wird. Auchzeigt sich, dass die zugrundeliegende Neuentdeckung der sozialpoliti-schen Bedeutung von Haushaltsproduktion und Selbsthilfe durch denSozialstaat, weniger zu dem erhofften kostengünstigen Ersatz für hoch-organisierte Dienstleistungen führt, als zu einer weiteren Differenzie-rung der professionellen Qualifikations- und Anforderungsprofile (vgl.Kaufmann 1997, 108; sowie Badura & v.Ferber 1981; Kaufmann 1984;Heinze 1986; Dettling 1995).

4 Fokuswechsel: Von der Makro- zur Mikropolitikdes Alters

Um das angestrebte Zusammenwirken lebensweltlicher und sozial-staatlicher Ressourcen für das Alter zu befördern und die formellen undinformellen Strukturen trotz ihrer Unterschiedlichkeit miteinander zukoppeln, reichen die makropolitischen Steuerungsinstrumente Rechtund Geld nicht aus. Durch die Gestaltung von Rahmenbedingungen al-lein lässt sich die erforderliche Bereitschaft, trotz großer Differenzen einPassungsverhältnis herzustellen, nicht wecken. Zusätzlich werden da-her stimulierende Interventionen ins Innere der Lebenswelt versucht.

Nicht mehr Umverteilungen und Transfers zur Sicherung materiellerRahmenbedingungen der Lebenslagen im Alter sind dabei das adae-quate Instrument, sondern vor allem Strategien zur Anregung einerselbstreflexiven Kooperation zwischen professionellen Akteuren ausdem sozialen Sektor und Betroffenen. In einer gemeinsamen Anstren-gung und mit abgestimmtem Einsatz lebensweltlicher wie professionel-ler Kompetenzen kann die Gestaltung selbständiger und solidarischerLebenssituationen im Alter auch unter wachsenden Belastungen ge-währleistet werden. Soweit das Konzept.

In der Umsetzung der Programmatik zeigt sich allerdings, wie sehr dieRealisation der angestrebten Wohlfahrtseffekte von den Eigendynami-ken des sozialen Nahbereichs abhängig ist und dass sie � zumal beialten Menschen � einer hochgradigen biographischen Prägung unter-liegt. Nicht das sozialstaatliche Kalkül regiert hier, sondern eine eigen-ständige Logik der Lebenswelt.

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Aus einer makropolitischen Perspektive bleibt die Lebenswelt des Altersimmer eine Art �black-box�, die vor allem zur Kenntnis genommen wird,weil meist etwas anderes herauskommt, als bei der Implementation al-tenpolitischer Maßnahmen als out-put erwartet wurde. Traditionelle Be-darfsplanung scheitert daran. Sie hat keine Instrumente, mit denen siedie Annahme, Zurückweisung oder Umformung altenpolitischer Gestal-tungsversuche nachvollziehbar machen könnte. Dennoch ist all dasweder von reinem Zufall noch durch ein deterministisches Durchschla-gen der sog. objektiven Rahmenbedingungen bestimmt.

Aus einer Nahperspektive erst wird sichtbar, dass die Älteren häufig ei-ne eigenständige �Mikropolitik des Alters� verfolgen. Sie versuchen, ihreAlterssituation selbstdefiniert und �eigensinnig� zu gestalten, auf Basisder Möglichkeiten, die ihnen der Sozialstaat bietet, primär aber in Ori-entierung an lebensweltlichen Bezügen und Bindungen � unter Zuhilfe-nahme, manchmal auch entschiedener Zurückweisung der altenpoliti-schen Unterstützungs- und Animationsversuche.

5 Felder einer Mikropolitik des Alters

In der mikropolitischen Perspektive sind altenpolitische InterventionenVersuche, mit öffentlich legitimierten Konzepten, Regelungen und Pro-grammen auf die privaten Strategien der Menschen bei ihrer Suchenach Altersperspektive, nach spezifischen Möglichkeiten der Nutzungvon Altersressourcen und der Meisterung von Altersrestriktionen einzu-wirken.

Die Ambivalenz der Betroffenen ist nachvollziehbar: Es geht ihnen dar-um, Einmischung und Bevormundung zurückzuweisen, die Unterstüt-zung der eigenen Ziele aber zu nutzen. Ihre Mikropolitik richtet sich aufeine selektive Inanspruchnahme. Zum Beispiel werden als Anreiz fürein altenpolitisch gewünschtes Verhalten gedachte Zuwendungen ent-gegengenommen, ohne das dahinterstehende altenpolitische Pro-grammziel jedoch nachzuvollziehen. Eine beliebte mikropolitischeStrategie ist die Uminterpretation von Aktivitäten zu einem altenpolitischgewünschten Verhalten.

Das Interesse an der Mobilisierung des Humankapitals der Älteren istvor allem auf Zielgruppen der �jungen Alten� gerichtet, folglich lässt sicham Übergang in den Ruhestand und kurz danach eine Konzentrationvon altenpolitischen Programmen und korrespondierender Mikropolitik

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des Alters feststellen. Die jungen Alten, die sich häufig selbst nicht sobezeichnen würden, prüfen sehr genau, ob sie nicht durch bestimmteAktivitäten zusätzlich auf den Altersstatus festgelegt werden. Davonz.B. hängt ab, welche Aktivierungsangebote ihnen akzeptabel erschei-nen, was verworfen oder in selbstdefinierten Teilaspekten realisiertwird. Der Altersbezug wird bewusst diffus gehalten � einerseits lassensich damit sozialstaatliche Zuwendungen erschließen, deren Verteilungressortgebunden ist, andererseits entspricht er nicht dem Selbstbild derBeteiligten, die sich dem Altersetikett eben (noch?) nicht zuordnen wol-len.

Zahlreiche Beispiele einer Mikropolitik des Alters gibt es im Bereich deraltenpolitisch geförderten Altenselbsthilfe, deren Wurzeln ja auf eineAnspruchsdifferenzierung gegenüber dem Sozialstaat in den 80er Jah-ren zurückreichen, die als die �neue Selbsthilfebewegung� bezeichnetwurde. Neu war, dass es nicht mehr um die Abwendung existientiellerNot durch den Sozialstaat ging, sondern um den sozialstaatlich zu si-chernden Raum für alternative Entwürfe eines solidarischen Zusam-menlebens und um die darin zu verankernde Realisation psychosozialerBedürfnisse auch im Alter. Die hier bereits deutliche Differenzierung derKriterien von Lebensqualität im Alter hat angesichts einer gewachsenenVielfalt möglicher Altersformen weiter zugenommen. Sie findet einemehr oder weniger autonome soziale Bestätigung in unterschiedlichenFormen der Selbstorganisation und Interessenvertretung und beginntsich � noch immer zögernd � auch nach außen Geltung zu verschaffen(vgl. Zeman 2000a, 169). Basis dieser Entwicklung bleibt aber die sozi-alstaatlich ausgebaute Sicherung der Rahmenbedingungen des Alters.

Altenpolitische Versuche, mit denen die von der neuen Selbsthilfebe-wegung einst artikulierte Dialektik von Selbstveränderung und Sozial-veränderung, von Eigensinn und Gemeinsinn heute von außen in neueGesellungsformen des Alters implementiert werden soll, eröffnen einFeld mikropolitischen Aushandelns, in dem sehr unterschiedliche Defi-nitionen und Interessen aufeinandertreffen können. Dies liegt nicht sel-ten daran, dass die intendierte Ganzheitlichkeit mit administrativen Or-ganisationsprinzipien kaum kompatibel ist. Die verwaltungsmäßigen�Selbsthilfe-Etikettierungen� entsprechen in ihrer Problemfragmentie-rung selten dem Selbstverständnis der Betroffenen. Bereits die etab-lierte Bezeichnung �Alten-Selbsthilfe� impliziert eine Komplementaritätzur �Altenhilfe� und eine ressortmäßige Zuordnung, die nicht den Be-dürfnissen entspricht. Wenn die Etiketten formal dennoch übernommenwerden, dann vor allem, um � mikropolitisch � das Passungsverhältniszu Förderstrukturen zu sichern.

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Mikropolitik mit entgegengesetzter Zielrichtung ist ebenfalls zu beo-bachten: Selbsthilfegruppen, die als Multiplikatoren sozialen Engage-ments altenpolitisch gefördert werden, stellen ihre selektiven Gesellig-keitsformen mitunter als Modelle eines ganzheitlichen �neuen Alters�dar, wobei sie von Profis unterstützt werden, die zur Legitimation desMitteleinsatzes das soziale Engagement auch dann hervorheben, wennes faktisch hinter selbstbezogenen Gruppen- und Individualinteressenweit zurückgetreten ist.

In Kontexten, die eindeutig der offenen Altenhilfe zugeordnet werdenkönnen, werden die sozialstaatlichen Angebote häufig ebenfalls unterder Hand in ihren Zielsetzungen relativiert, umdefiniert oder �subversiv�in Anspruch genommen. Ein Beispiel ist die Art, in der sich in Altenta-gesstätten das altenpolitische Leitziel der �Integration� umsetzt. Inklusi-on in Tischgemeinschaften sichert hier soziale Nähe und Verbindlichkeitder Beziehungen, führt jedoch fast immer zur Exklusion neuer Besu-cher. Durch die so genannte Cliquenbildung wird das altenpolitischeIntegrationsziel der Institution unterlaufen, aber auf einer anderen Ebe-ne wird Integration mikropolitisch realisiert.

Auch in der heute manchmal als �4. Lebensalter� bezeichneten Alters-phase rufen sozialstaatliche Interventionen mikropolitische Reaktionenhervor. Hier geht es der Altenpolitik um eine Optimierung der Balancevon Hilfebedürftigkeit und Autonomie, von der ja � angesichts der de-mographischen Prognosen � ein großer Teil der zukünftigen Hand-lungsfähigkeit des Sozialstaats abhängen könnte. Das Pflegeversiche-rungsgesetz stellt einen mikropolitisch folgenschweren Versuch dar,nicht nur zur materiellen Stützung, sondern auch zu einem Anreiz der�moralischen Ökonomie�3 in lebensweltlichen Pflegearrangements bei-zutragen.

Mit �moralischer Ökonomie� ist gemeint, dass Steuerungen und Ratio-nalitäten am Werk sind, die, wie Kaufmann (1997, 106 ff.) feststellt,nicht auf isolierbaren Tauschprozessen, sondern auf dem wesentlichdiffuser wirksamen Prinzip der Gegenseitigkeit (Reziprozität) beruhen.�Sympathie und Solidarität erweisen sich hier als wichtige Motive, sozi-ale Anerkennung und Missbilligung als wichtigste Sanktionen, um diese

3 Kaufmann (1997, 107) verweist in diesem Zusammenhang auf die Möglichkeit, diesen Begriff

unterschiedlich breit zu fassen: Kohli (1989) beispielsweise beschränkt sich auf die morali-schen Aspekte der Arbeitsverteilung und des Rentensystems, während in der von Kaufmannvertretenen (und auch für meine Argumentation wichtigen) Perspektive vor allem auch dieHaushalts- und Netzwerkproduktion einbezogen ist. In diesem Sinne auch: Elwert 1987. Siehedazu auch neuere Überlegungen zur �Moralökonomie der Pflege� (v.Kondratowitz 1999, 55 ff.)und zur Bedeutung der moralischen Verpflichtung und Moralökonomie in verwandtschaftlichenBeziehungen (Dallinger 1997).

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Prozesse der Wohlfahrtsproduktion in Gang zu halten. Sie zeichnensich durch wesentlich geringere Transaktionskosten als diejenigen desMarktes und erst recht der staatlich induzierten Wohlfahrtsproduktionaus und lösen positive Effekte im Sinne von Wohlbefinden, Stärkungdes Selbstwertgefühls usw. aus.� (Kaufmann a.a.O., 107 f.)

Das Ungleichgewicht der Inanspruchnahme von Pflegegeld- und Sach-leistungen aus der Pflegeversicherung zeigt, dass sozialstaatliche, pfle-gefachliche und lebensweltliche Rationalität keineswegs übereinstim-men müssen. Erst in letzter Zeit gibt es Untersuchungen über denZusammenhang von pflegekulturellen Orientierungen und sozialen Mi-lieus (vgl. Blinkert/Klie in diesem Band). Es fehlt jedoch an empirischenBeobachtungen größeren Umfangs, welche mikropolitischen Prozessees sind, die das lebensweltliche Pflegeverhalten strukturieren und/oderdie Inanspruchnahme öffentlicher Leistungen auslösen und in ihrer Re-alisation zu steuern versuchen. Wie wird Interessen und BedürfnisseGeltung verschafft, die dann z.B. den Ausschlag geben, ob Geld-,Sachleistungen oder Kombinationsleistungen beansprucht werden? Wieverlaufen Aushandlungsprozesse und Interaktionen in denen der Buch-stabe des Gesetzes in praktische Pflegeleistung umgesetzt wird? Wor-an liegt es, ob die Kooperation informeller und formeller Helfer glücktoder scheitert?

Die Komplexität und Intransparenz vieler Pflegesituationen verlangt,damit Handeln überhaupt möglich bleibt, einerseits Strategien zur Re-duktion von Entscheidungsalternativen, zur Konzentration auf ein primä-res Ziel und einen dahin führenden Weg bei Ausblendung anderer Mög-lichkeiten. Die damit eingeleitete Bildung von Gewohnheiten und dieTypisierung von Situationen, in denen dann routinisierten Handlungs-abläufen (skripts) gefolgt werden kann, schafft eine gewisse Hand-lungserleichterung. Wenn Soziale Dienste versuchen, pflegerisch ratio-nalere Verfahren durchzusetzen, ohne die entlastende Wirkung solcherRoutinen zu erkennen und gegebenenfalls zu kompensieren, werdensie zu einem weiteren Störfaktor der durch die Pflegesituation irritiertenlebensweltlichen Normalität und sehen sich mikropolitischen Abwehr-strategien ausgesetzt.

Ohnehin nehmen Komplexität und Abstimmungsbedarf zu, wenn exter-ne professionelle Helfer in Anspruch genommen werden und sich ein�gemischtes Pflegearrangement� konstituiert. Gerade im �alltäglichenWohlfahrtsmix� von informellen und formellen Helfern bekommt die Mik-ropolitik der Pflege (Zeman 2000b, 161 ff.) Gewicht, da ja unterschiedli-che �Handlungslogiken� und Loyalitäten aufeinander treffen, fachlicheund personale Identitäten abzugrenzen sind, unterschiedliche Steue-

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rungs-, Sanktions- und Gratifikationsquellen kompatibel gemacht wer-den müssen und wechselseitige Erwartungen und Ansprüche einer Klä-rung bedürfen.

Hier, im Anwendungsbereich des Pflegeversicherungsgesetzes zeigtsich sehr deutlich, wie auch die sozialstaatliche Verrechtlichung zumAuslöser von Mikropolitik wird. Verrechtlichung schafft ja einerseits Si-cherheit und Chancengleichheit, andererseits macht sie Kontrolle erfor-derlich und leistet damit der Bürokratisierung Vorschub. Die normiertenVorgaben des SGB XI können jedoch in der Praxis nur mikropolitischdurchgesetzt werden: Interpretationen sind auszuhandeln, Standardisie-rungen müssen legitimiert, eingefordert und manchmal umgangen wer-den, um spezifische Problemlösungen zu ermöglichen.

Die Hoffnung, durch eine immer feinere Detaillierung von Anwendungs-und Ausführungsvorschriften, extern gesetzte übergeordnete Normenmit den in der Lebenswelt erwarteten spezifischen Problemlösungen ir-gendwann zur Deckung bringen zu können, erweist sich als sozialtech-nokratische Illusion. Eine folgenschwere zumal, da sie die erforderli-chen situativen Problemlösungskompetenzen der unmittelbar beteiligtenAkteure immer mehr einengt und ihre Kooperation in eine falscheRichtung lenkt: nämlich gemeinsam die Regelungen zu unterlaufen, umdie Probleme so zu lösen, wie man sie in der konkreten Situation selbstaushandelt und definiert.

6 Mikropolitik des Alters als Strukturierungs-leistung vor Ort

Das Beispiel professionell-lebensweltlich gemischter Pflegearrange-ments zeigt, wie schwierig die Konkretion makropolitisch definierterLeitziele im praktischen Handlungsvollzug ist. Mikropolitik ist hier unver-zichtbar, um dem angestrebten Zusammenwirken von Lebenswelt undSozialstaat eine Struktur zu geben, die gemeinsames Handeln erst er-möglicht. Voraussetzung ist es z.B., zunächst einen �Arbeitskonsens�auszuhandeln, in dem die lebensweltlichen und professionellen Erwar-tungen einander genähert, wechselseitig verständlich gemacht unddann zu einer ganzheitlichen Meisterung der Situation verknüpft werdenkönnen. Dieser �prozesshafte Arbeitskonsens� muss zumindest vierPunkte umfassen:

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(1) Eine gemeinsame Grunddefinition des Pflegeziels, die � verlaufsfle-xibel � dem Pflegeproblem und seinen Veränderungen im Pflegepro-zess immer wieder anzupassen ist,

(2) eine Verständigung über die erforderlichen Ressourcen und Kom-petenzen und den sich verändernden Bedarf,

(3) einen Austausch von Informationen darüber, wie diese Ressourcenlebensweltlich, professionell und institutionell verteilt sind, wo sie ver-fügbar gemacht, erneuert und ergänzt werden können, und

(4) Verfahrensregeln der Abstimmung, wie das alles (immer aufs Neue)optimal in ein gemeinsames Pflegearrangement eingebracht werdenkann.

Ein solcher Arbeitskonsens kann nur ein Kompromiss aus unterschied-lichen Interessen sein. Auch wenn sich beide Welten vielfach durch-dringen und wechselseitig beeinflussen: Zwischen der Lebenswelt vonBetroffenen und den Akteuren des öffentlichen Versorgungssystemslassen sich Unterschiede in der Beurteilung der Situation und der Prio-rität der erforderlichen Maßnahmen kaum vermeiden und sie sind dannnur in der Anstrengung eines Dialogs zu überbrücken. Dies aber setztDialogbereitschaft und Dialogfähigkeit voraus und beide sind in derPflegesituation nicht nur ungleich verteilt sondern strukturell behindert.Die Ursachen dafür können primär situativ sein, sie mögen in sozialenund kommunikativen Defiziten der beteiligten Personen liegen, aber sieentspringen auch der besonderen Schwierigkeit, divergierende Interes-sen, relevante Beziehungs- und Gefühlsdimensionen im rationalen Di-kurs zu kommunizieren. Nicht zuletzt wirken sich unterschiedlicheDeutungs- und Steuerungsmuster von Lebenswelt und Versorgungs-system kommunikationserschwerend aus. Die Suche nach Konsensverlangt konstruktive Auseinandersetzung, aber dies bedeutet zunächstdie Korrektur situativ abgehobener professioneller Rationalitätserwar-tungen an die Lebenswelt und eine größere Akzeptanz des �Eigen-sinns� häuslicher Altenpflegearrangements.

Zweifelsfrei stellen auch strukturelle Rahmenbedingungen des sozial-staatlichen Leistungsangebots die Weichen, ob Kooperation vor Ortentstehen kann und wirken bis in den Kern von Pflegearrangementshinein. Juristische und betriebswirtschaftliche Normierungen prägen dasVerhältnis der Helfer und Hilfeempfänger mit. Aber alle strukturellenVorgaben brechen sich auf der Ebene der durch konkrete Personenvollzogenen Mikropolitik der Pflege, ihres interaktiven Austauschs, ihrersozialen Wahrnehmungen und Interpretationen. Konkrete Bemühungenum bessere Kooperation müssen insofern immer die Klärung der Iden-

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titäten der beteiligten Akteure und die (selbst-)bewusste Wahrnehmungder Unterschiede und Gemeinsamkeiten ihrer pflegerischen Tätigkeits-profile einschließen.

Die wechselseitigen Erwartungen werden realistischer, wenn reflektiertwird, dass Pflege in der Lebenswelt keineswegs nur aus sichtbaren(und in Tagesablaufstrukturen und Zeitbudgets messbaren) Aktivitätenbesteht, sondern gleichzeitig eine unsichtbare, intersubjektiv kon-struierte und interdependente Welt der Bedeutungen darstellt, derenMaßstäbe durch Sozialisation erworben sind, aber auch in Interaktionenimmer wieder bekräftigt und modifiziert werden. Alle sozial unterstüt-zenden Tätigkeiten, die hier stattfinden � von der rein instrumentellenHilfe, über die kognitive Orientierung bis zur emotionalen Unterstützung� sind gleichzeitig auch immer Versuche der lebensweltlichen Pflege-personen, die gemeinsame Lebenssituation in ihrer Ganzheitlichkeitpraktisch und symbolisch zu bearbeiten. Dabei folgen sie nicht nur demobjektivierbaren Handlungsdruck, sondern auch der inneren Stringenzvon Biographien und Beziehungen, und nicht zuletzt familialen Orientie-rungs- und Steuerungsmustern.

Bei Interventionen von außen muss also ein mitunter weit über das un-mittelbare Pflegeziel hinausweisender sozialer Sinn des pflegerischenHandelns in Rechnung gestellt werden. Er ist abhängig von psychoso-zialen Verbindlichkeiten, welche die Qualität der lebensweltlichen Pfle-ge beeinflussen, von der Reziprozität von Geben und Nehmen � in derBeziehung zum Pflegebedürftigen oder anderen relevanten Bezugsper-sonen -, von den Erwartungen aus der sozialen Umwelt, den familialenSelbstbildern, Normen und Werten. Bei aller Brisanz, die das unmittel-bare Pflegeproblem entfalten kann: Pflege in häuslichen Pflegearran-gements bleibt immer Teil der Lebenswelt und damit ist sie Teil dersymbolischen und praktischen Gestaltung des sozialen und sozialräum-lichen Alltags. Die mikropolitischen Strukturierungsbemühungen, in wel-che die Unterstützungsleistungen der primären Netzwerke eingebettetsind, unterscheiden sich gewiss von Pflegekontext zu Pflegekontext, vorallem aber sind sie nicht identisch mit denen der Institutionen des Ver-sorgungssystems und ihrer professionellen Akteure. Vernetzungsstra-tegien, die auf die Einebnung der Unterschiede zwischen lebensweltli-cher und professioneller Pflege zielen, sind im Sinne des Leitziels einergemischten Wohlfahrt unproduktiv, denn gerade die Unterschiede ma-chen Kooperation sinnvoll. Vor allem durch den gemeinsamen Einsatzunterschiedlicher und einander ergänzender Ressourcen lässt sich eineinsgesamt bessere Bewältigung der Pflegesituation erwarten.

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In vier Dimensionen zeigen sich Unterschiede zwischen lebensweltli-cher und professioneller Pflege und sie alle können zum Auslöser undGegenstand von Mikropolitik im gemischten Pflegearrangement wer-den:

(1) Die Konzentration auf die pflegerische Aufgabe:

Lebensweltliche Pflege und Selbstpflege ist immer Teil der Totalität derAlltagssituation und muss darin mit anderen Handlungen konkurrieren,die ebenfalls zur Bewältigung des Alltags erforderlich sind. Eine aus-schließliche Fokussierung auf die Pflege geht zu Lasten der Gesamtsi-tuation und der Individuen und sie beschwört Probleme des �burningout� herauf. Andere Dimensionen der Lebenssituation dürfen nicht ver-nachlässigt werden, aber nicht nur weil sie ebenfalls alltagskompetentzu meistern sind, sondern auch weil der Fokuswechsel selbst ein Ent-lastungsmoment darstellt. Dem Bruch der lebensweltlichen Normalität,den der Eintritt von Pflegebedürftigkeit mit sich bringt, wird in der Le-benswelt durch Strategien einer erneuten Normalisierung begegnet, beidenen der Erhalt der gesamten Lebenssituation das Ziel ist, und nichtausschließlich die optimale Erfüllung der Pflegeaufgabe. ProfessionellePflege hingegen ist durch ihre Spezialisierung freigestellt, sich primärauf die Pflegeaufgabe zu konzentrieren und deren optimale Lösung �notfalls auch zu Lasten anderer Aspekte der Situation � hat Priorität.

(2) Die Gewichtung von spezifisch aufgabenbezogener und unspezifi-scher Zuwendung, sowie von instrumentellen und emotionalen Aspek-ten der Pflege (�caring for� und �caring about�).

Lebensweltliche Pflege ist eine Form der alltagsorientierten Sorgearbeit(�caring about�)4, die als ein besonderer �Handlungsrahmen� (�framing�bei Goffman, 1974) von den Pflegepersonen (inter-)aktiv hergestelltwird. Dies geschieht in einer Balance von Anforderungen, welche dieBewältigung des (normalen) Alltagslebens mit sich bringt, mit den zu-sätzlichen Leistungen, welche die Pflege erfordert und den Bedürfnis-sen nach Sicherung einer persönlichen (Rest-) Autonomie als Person,um weder in der Hausarbeits- noch in der Pflegerolle unterzugehen.Diese Balance wird vor allem durch die Reziprozität der familialen Un-terstützung und affektive Solidarität beeinflusst. Eine andere Art derBalance erfordern die Handlungsorientierungen und -zwänge in derberuflichen Pflegearbeit, als einer Erwerbsarbeit gegen Entgelt, diegleichzeitig deutlich mit moralischen Erwartungen der Lebenswelt undfachlich-berufsethischen Selbstansprüchen besetzt ist. Der voll profes- 4 Jansen weist darauf hin, dass eine alltagsorientierte Sichtweise, in der begriffliche Differenzie-

rungen dieser Art vorgenommen werden, in der bundesdeutschen Fachdiskussion weitgehendfehlt (Jansen 1997, 30)

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sionalisierte Pfleger hat fachliches Wissen und Können und Berufsethosmit den Anforderungen der institutionell vorgegebenen Rahmenbedin-gungen in Einklang zu bringen und muss deutlich machen können, dasser trotz seiner Zugehörigkeit zu einer Institution über eigenständigeprofessionelle Orientierungen verfügt. Dennoch bleibt er gebunden anProbleme betriebswirtschaftlicher Bestandserhaltung und individuellerArbeitsplatzsicherung, an rechtliche und finanzielle Vorgaben, zugewie-sene Zeitstrukturen und Verpflichtungen kollegialer Wechselseitigkeit.

(3) Die Balance von Arbeits- und Beziehungsorientierung:

Lebensweltliche Pflege ist primär durch Beziehungsaspekte geprägt,(etwa durch die Qualität der Bindung an die Person, wegen der es zumpflegerischen Engagement kommt, aber auch mit Blick auf die Erwar-tungen anderer Mitglieder des sozialen Umfeldes). Das pflegerischeHandeln wird dabei in seiner Bedeutung durch biographische Bezügeaufgeladen, manchmal überladen (z.B. durch Interpretationen der Be-ziehungsgeschichte und die Reflexion von Zukunftsperspektiven): derKranke als Person steht im Mittelpunkt. Natürlich geht auch der profes-sionelle Pfleger eine Beziehung ein, aber der Arbeitsaspekt seines Tunsbleibt immer im Vordergrund. Berufliches Pflegeverhalten definiert dieBeziehungsdimension nicht primär persönlich. Sein Gegenüber ist diePerson als Kranker, und der zentrale Teil der pflegerischen Aufmerk-samkeit richtet sich auf Aspekte der Wiederherstellung, Flankierung undKontrolle körperlich-organischer Funktionen. Andere Facetten der Iden-tität dieses Menschen und die Frage nach seinem psycho-sozialenWohlbefinden werden nur dann Thema, wenn sie in erkennbarem Wir-kungszusammenhang damit stehen und soweit solche Zusammenhän-ge im Pflegekontakt überhaupt zugänglich sind. Diese Akzentuierungdes Kontakts bleibt grundsätzlich auch dann bestehen, wenn es in derAltenpflege weniger um die Wiederherstellung von Gesundheit als umdie Vermeidung von Pflegeabhängigkeit und die Erhaltung größtmögli-cher Selbständigkeit bis zum Tod geht (Entzian, 1998, 175).

(4) Die unterschiedlichen Wissens- und Kompetenzprofile:

Diese Differenz wird um so deutlicher, je größer einerseits der notwen-dige Grad fachlicher Spezialisierung und Qualifizierung ist und anderer-seits die lebensweltliche Besonderheit der konkreten Pflegesituation.Mit dem Grad der Professionalisierung wächst auch die Verwendungeiner eigenen Fachsprache, die in der Lebenswelt dann häufig nichtmehr verstanden wird. Hohe Arbeitsteiligkeit schafft Kommunikations-probleme, ist aber andererseits die Basis einer � nicht durch Hand-lungsüberschneidungen und Konkurrenzen getrübten � Akzeptanz, die

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sich mit eindeutigen wechselseitigen Erwartungen verbindet und geradedadurch Kooperation ermöglicht.

7 Perspektiven

Ganz generell findet Mikropolitik des Alters überall dort statt, wo sichselbstdefinierte Altersgestaltung gegenüber fremddefinierten Verhal-tensaufforderungen durchzusetzen versucht. Je mehr also Altenpolitikmit ihren Strategien in die Lebenswelt des Alters zu intervenieren ver-sucht, desto mehr wird sie zum Auslöser mikropolitischer Prozesse.Mikropolitik des Alters ist jedoch nicht etwa nur als ein Kampf um dieDurchsetzung oder Abwehr solcher Interventionen zu verstehen, viel-mehr stellt sie eine notwendige Strukturierungsleistung dar, geradedann, wenn unterschiedlichen Potentiale des Sozialstaats und der Le-benswelt in einen kooperativen Zusammenhang gebracht werden sol-len, in dem auch differierende Interessen kompatibel gemacht werdenmüssen. Bei einer auf diese Art der Vernetzung gerichteten, neuen Al-tenpolitik müssen folglich die entsprechenden Freiräume für mikropoliti-sche Aushandlungsprozesse von vornherein mit eingeplant werden.Den erforderlichen kommunikativen Kompetenzen der Akteure vor Ortist ein eigenständiger Wert beizumessen.

Dies bringt auch neue Aufgabenstellen für die angewandte sozialge-rontologische Forschung mit sich, bei denen sie weder auf makroso-ziologische noch auf rein individualpsychologische Forschungsperspek-tiven zurückgreifen kann. Schließlich geht es in der Mikropolitik desAlters ja primär um Intersubjektivität und Interdependenzen des sozia-len Handelns älterer Menschen und ihrer primären Netzwerke in Ausei-nandersetzung mit altenpolitischen Vorgaben und Interventionen. Zuklären sind also Strukturen, die einerseits das Handeln konkreter Akteu-re bestimmen, andererseits nur durch eben dieses Handeln immer wie-der aufs Neue erzeugt, bestätigt und außer Kraft gesetzt werden. Zuklären sind auch die Prozesse, in denen diese Strukturen interaktiv pro-duziert werden.

Die Aufmerksamkeit für die Mikropolitik des Alters wird vermutlich zu-nehmen, je öfter sozialstaatliche Akteure einen Rollenwechsel von di-rekten Leistungserbringern zu Moderatoren vollziehen. Sie tun dies vordem Hintergrund einer Entwicklung, in der die Altenpolitik insgesamtzum Moderator zwischen gesellschaftlichen Alterslasten und einem so-zialstaatlich zu mobilisierenden Alterspotential wird. Altenpolitik findet

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dabei eine neue Aufgabe, in der sie zur Transparenz widersprüchlicherErwartungen und zur Verarbeitung von Ambivalenzen des Alter(n)s inder alternden Gesellschaft beitragen kann.

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Pflegekulturelle OrientierungenEmpirische Grundlagen für einen mikropolitischen Diskurs

Thomas Klie und Baldo Blinkert

Ev. Fachhochschule Freiburg, Universität Freiburg

Der von Peter Zeman (2000) entwickelte Ansatz der Mikropolitik in derPflege fragt u. a. nach Transformation und Integration von sozialpoliti-schen Rahmenbedingungen und rechtlich vorgesehenen Sozialleistun-gen sowie professionellen Interventionen in die jeweilige Lebensweltund das jeweilige Arrangement Pflegebedürftiger. Dieser Ansatz ist inhohem Maße bedeutsam und angemessen, um die Vielfalt kulturellerEigenständigkeit, aber auch Eigensinnigkeit der jeweiligen Pflegeweltenzu erkennen und damit zu würdigen. Der mikropolitische Ansatz ist dar-über hinaus in der Lage, die Diskussion um die Zielgenauigkeit und An-gemessenheit zentraler Steuerungsansätze und stark determinierendersozialrechtlicher Leistungsvorgaben im Feld der Pflege neu zu reflektie-ren. Insgesamt vermittelt er interessante, sozialpolitisch relevante undpflegekulturell bedeutsame Einsichten. Die Arbeiten von Zeman sindqualitativ angelegt und so auch offen für einen differenzierten und diffe-renzierenden Blick, für das Überraschende und auch Fremde in derdurch das Thema �Pflege� geprägten oder mit ihm konfrontierten Le-benswelt. Unsere Untersuchung pflegekultureller Orientierungen undsozialer Milieus könnte in der Lage sein, den mikropolitischen Diskursquantitativ-empirisch zu flankieren und vor allem für eine zukunftssi-chernde Pflegepolitik nutzbar machen. Dabei richtet sich der Blick unse-rer Untersuchung nicht auf vorfindliche Pflegeverhältnisse, sondern aufdie Mentalitäten der künftigen Pflegegenerationen für eine Gestaltungvon Pflegearrangements und die Bewältigung von Pflegeaufgaben. Er-kenntnisse über die Einstellungen, Erwartungen und Mentalitäten jünge-rer Generationen zur Frage der Sicherung der Pflege sowohl bezogenauf sie als potentiell Pflegende als auch in der Rolle als Gepflegte lie-gen bisher nicht vor. Erkenntnisse über die für die Zukunft zu erwarten-den �pflegekulturellen Orientierungen� sind aber in mehrerlei Hinsichtvon hoher Bedeutung für Fragen, wie die folgenden:

• Kann die Sicherung der Pflege in der Zukunft auch auf Hilfe aus deminformellen Sektor rechnen?

• Welche Personengruppen zeigen unter welchen Bedingungen amehesten Pflegebereitschaft?

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• Wie hat sich der Anteil dieser Gruppen verändert und mit welchenweiteren Veränderungen muss gerechnet werden?

• Welche Rahmenbedingungen müssen für die Pflege in der Zukunftrechtlich, ökonomisch und infrastrukturell gegeben sein?

• Wie könnte eine gestaltende kommunale Altenpolitik und -planungaussehen, die lokal angepasst Planungsaktivitäten sowohl in infra-struktureller als auch in kultureller Hinsicht entfaltet, um so die Siche-rung der Pflege auch in der Zukunft (mit) zu gewährleisten?

Diese anwendungsbezogenen Fragen im Rahmen des Projektes�Grundlagen und Methoden kommunaler Altenplanung� (vgl. Blaumeiseret al. 2001) führten zu den von uns durchgeführten Untersuchungenüber pflegekulturelle Orientierungen, die aber ebenso in den Kontextsoziologischer Grundlagenforschung gehören und wichtige Beiträgeliefern können.

Die Untersuchung wurde als persönlich-mündliches Interview in einerschwäbischen Kleinstadt bei ca. 400 Personen in der Altersgruppe der40- bis 60jährigen durchgeführt.1 Diese Altersgruppe ist aus verschie-denen Gründen besonders wichtig: Es ist die Gruppe, die in absehbarerZukunft mit der Versorgung von pflegebedürftigen Angehörigen zu tunhaben wird. Wenn wir wissen wollen, welche Bereitschaften zu Unter-stützungsleistungen durch das informelle soziale Netz in absehbarerZukunft vorhanden sind, ist es besonders wichtig, die Orientierungen indieser Altersgruppe zu erforschen. Das ist um so dringender, als eskeine verlässlichen empirischen Untersuchungen zu dieser Frage gibt.

Im Zentrum der Untersuchung steht die Frage, in welcher Weise undwie deutlich �pflegekulturelle Orientierungen� in der Sozialstruktur ver-ankert sind. Über das Konzept des �sozialen Milieus� können wir zei-gen, dass Formen der sozialen Solidarität in starkem Maße von derStellung in einem sozialen Raum abhängig sind, der einerseits durcheine �strukturelle Achse� (positionale Ungleichheit) und andererseitsdurch eine �symbolische Achse� (Teilhabe am �legitimen Diskurs�) kon-

1 Die Wahl fiel auf Munderkingen als Kommune, die in das binationale Forschungsprojekt �Fürs

Alter sorgen. Grundlagen und Methoden kommunaler Altenplanung� Aufnahme gefundenhatte, gemeinsam mit den Kommunen Lobenstein (Thüringen) und Kuchl (Salzburger Land),gefördert durch das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, durchge-führt durch die Kontaktstelle für praxisorientierte Forschung e. V. an der Evang. Fachhoch-schule Freiburg. Die Untersuchung wurde in Kooperation zwischen der Evang. Fachhoch-schule Freiburg und dem Institut für Soziologie der Universität Freiburg durchgeführt.Besonderen Dank schulden wir den Teilnehmern eines von beiden Institutionen veranstaltetenProjektseminars und den Mitarbeitern des Freiburger Instituts für angewandte Sozialwissen-schaft, Herrn Peter Höfflin und Herrn Jürgen Spiegel, sowie Herrn Thomas Pfundstein, Mitar-beiter der Kontaktstelle für praxisorientierte Forschung.

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stituiert wird. Es lässt sich auch zeigen, wie die Bedeutung der durchdiese Achsen beschreibbaren Milieus sich im Verlauf des sozialenWandels geändert hat und wie sich diese Änderungen auf die Vertei-lung von Pflegebereitschaften ausgewirkt haben.

Diese Fragen eröffnen auch Perspektiven für die Praxis der Altenhilfe-planung. Die hier entwickelten Instrumentarien zur Ermittlung von �pfle-gekulturellen Orientierungen� und zur Beschreibung von sozialen Milie-us sind so beschaffen, dass sie sich in der Altenhilfeplanung vor Ort,also in den Kommunen, bzw. in Kreisen, einsetzen lassen. Das setztMethoden voraus, die anwendbar sind. Den lokalen Altenhilfeplanern istnicht zuzumuten, eine gerontologische oder soziologische Grundla-genforschung durchzuführen. Die Methoden müssen also � mit einemWort � einfach und effektiv sein.2

1 Pflegekulturelle Orientierungen

Unter �pflegekulturellen Orientierungen� verstehen wir Einstellungenbzw. Dispositionen über das eigene Verhalten gegenüber pflegebedürf-tigen Angehörigen: Soll die Pflege zu Hause durch eigene Leistungenerfolgen? Sollen professionelle Helfer bzw. Organisationen daran betei-ligt werden? Soll die Versorgung durch ein Pflegeheim übernommenwerden? �Pflegekulturelle Orientierungen� beziehen sich aber auch aufdie �Hintergründe� für die vorhandenen oder fehlenden Pflegebereit-schaften: Wie wird die Präferenz für eine bestimmte Art der Versorgungvon pflegebedürftigen Angehörigen begründet? Spielen dabei morali-sche Erwägungen eine Rolle? Werden Kostengesichtspunkte bei einerEntscheidung berücksichtigt? Was für Kosten sind das?

Wer soll pflegen? Wo soll gepflegt werden?

Wenn es darum geht, Pflegebereitschaften zu ermitteln, dann sind die-se Fragen sicher von grundlegender Bedeutung: Welche Vorstellungenbestehen darüber, wo und wie die pflegerische Versorgung durchge-

2 Es ist möglich, über die Kontaktstelle für praxisorientierte Forschung an der Evang. Fach-

hochschule e. V., Bugginger Str. 38, 79114 Freiburg und das Freiburger Institut für ange-wandte Sozialforschung, Wannerstr. 33, 79106 Freiburg, eine der �Munderkingen-Studie� ent-sprechende Befragung durchzuführen und eine am Planungsbedarf orientierte Expertiseanfertigen zu lassen.

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führt werden soll? Besteht eher eine Präferenz für ambulante und sel-ber geleistete Pflege oder für die Versorgung in einem Heim.

Im Interview wurde gefragt, was jemand tun würde, wenn eine naheste-hende Person pflegebedürftig wird. Es wurden u.a. die folgenden zweiMöglichkeiten vorgegeben:

• Den Verwandten alleine und ohne fremde Hilfe zu Hause pflegen.• Für den Verwandten einen Platz in einem gut geführten Pflegeheim

in der Nachbarschaft suchen.

Die beiden Alternativen konnten in der folgenden Weise bewertet wer-den: �käme auf jeden Fall in Frage�, �käme eventuell in Frage� und �kä-me auf keinen Fall in Frage�.

Aus diesen Vorgaben wurde die folgende Typologie entwickelt:

Abbildung 1: Typologie �Pflegekulturelle Orientierungen�

alleine zu Hause pflegen (�Selberpflegen�)in einem Pflege-heim pflegen(�Heimpflege�) auf keinen Fall eventuell auf jeden Fall

auf keinen Fall R

�ratlos�

ESP

�eher selberpflegen�

SP

�selber pflegen�

eventuell EHP

�eher Heim-pflege�

U

�unentschlossen�

ESP

�eher selberpflegen�

auf jeden Fall HP

�Heimpflege�

EHP

�eher Heim-pflege�

E

�erratisch�

Diese Orientierungen sind in der folgenden Weise verteilt: Eine �unbe-dingte Bereitschaft zum Selberpflegen� bei strikter Ablehnung der Pfle-ge durch ein Heim (Typ SP) wird nur von einer Minderheit von 13 Pro-zent der Befragten in Erwägung gezogen. �Eher� zum Selberpflegen alszur Heimpflege (ESP) sind 18 Prozent bereit. Beide zusammen ergebenbei den 40- bis 60jährigen einen Anteil von rund 30 Prozent, die eineBereitschaft zum selber pflegen erkennen lassen.

Eine �unbedingte Befürwortung der Heimpflege� bei strikter Ablehnungder selber durchgeführten häuslichen Pflege (Typ HP) bringen 15 Pro-

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zent der Befragten zum Ausdruck. �Eher� an Heimpflege denken 23Prozent der Befragten, d.h. für sie kommt das Heim �auf jeden Fall� inFrage, aber eventuell sind sie auch zum Selberpflegen bereit oder siewollen �auf keinen Fall� selberpflegen, ziehen aber eventuell das Heimin Erwägung (Typ EHP). Diese beiden Typen zusammen haben einenAnteil von rund 40 Prozent und bringen zum Ausdruck, wie hoch dasPotential für die Bereitschaft zu einer stationären Versorgung bei den40- bis 60jährigen einzuschätzen ist.

Als �unentschlossen� bzw. �abwägend� gelten diejenigen, für die sowohldas Selberpflegen wie auch die Heimpflege �eventuell� in Frage kom-men (Typ U). Rund ein Drittel der Befragten entsprechen diesem Typ.Dann gibt es noch die relativ kleine Gruppe der �Ratlosen�, für die so-wohl die Heimpflege wie auch Selberpflegen �auf keinen Fall� in Fragekommt (Typ R: 6 Prozent) und die Gruppe der �Erratischen�, die (auswelchen Gründen auch immer) sowohl selber pflegen wie auch Heim-pflege �auf jeden Fall� in Betracht ziehen.

�Pflegemix� und pflegekulturelle Orientierungen: häusliche Pflege ohneund mit professioneller Unterstützung

Für diejenigen, die eine Bereitschaft zur selbst geleisteten häuslichenPflege zum Ausdruck bringen (Typ SP und ESP), kann gefragt werden,ob sie daran denken, dabei auch beruflich geleistete Hilfen in Anspruchzu nehmen. Das ist bei nahezu allen der Fall und gilt ganz besondersfür die �Unentschlossenen� bzw. �Abwägenden� (Typ U), für die eineEntscheidung zur eigenen häuslichen Pflege erst dann in Frage kommt,wenn sie mit beruflichen Helfern rechnen können. Auch von denen, die�eher die Heimpflege� befürworten, für die also eine ambulante Versor-gung von Pflegebedürftigen nicht ganz ausgeschlossen ist, zeigen im-merhin 27 Prozent ein Interesse an einem �Pflegemix�.

Wie verteilen sich nun diese Orientierungen auf �soziale Milieus�? Gibtes milieuspezifische Formen der Solidarität mit pflegebedürftigen Ange-hörigen und wenn das der Fall ist, wie kommt es dazu?

2 Soziale Milieus

Konzepte wie �soziale Milieus� und verwandte Begriffe wie �Lebensstil-gruppen� haben in der soziologischen Diskussion derzeit Hochkon-

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junktur (vgl. Heitmeyer u.a 1998; Hradil 1987. Sinus-Institut 1992;Ueltzhöffer, Flaig 1993; Vester, von Oertzen, Geiling u.a.1993). Sie fin-den nicht nur in der Grundlagenforschung über soziale UngleichheitBeachtung, sondern haben sich auch in der kommerziellen Forschungetabliert. Nicht immer wird aber deutlich, worum es dabei eigentlich gehtund auch, wie die Milieuklassifikationen zustande kommen, ist nichtimmer reproduzierbar.3 Gleichwohl steht hinter diesen Konzepten einewichtige Grundidee: Präferenzen, Verhaltensdispositionen oder Werte-orientierungen lassen sich nicht mehr in einer befriedigenden Weisedurch Klassen, Stände oder Schichten erklären. Alle Milieuklassifikatio-nen berücksichtigen deshalb neben Merkmalen, die sich zur Beschrei-bung strukturell-positionaler Ungleichheiten eignen (Einkommen, Beruf,Bildung) auch �subjektive Wirklichkeiten�, also Orientierungen oderPräferenzen, von denen man annimmt, dass sie eine gewisse gesell-schaftliche Verbreitung besitzen, z.B. Werteorientierungen oder ge-schmackliche Vorlieben. Dabei ergeben sich allerdings Probleme, aufdie wir hier nur kurz eingehen möchten: (1) Es wird eine �weitgehende�Entkoppelung von strukturell-positionaler Ungleichheit und �subjektivenWirklichkeiten� angenommen. (2) Es wird unterstellt, dass die als �sub-jektive Wirklichkeiten� berücksichtigten Aspekte keine Bedeutung unterUngleichheitsgesichtspunkten besitzen. Beide Annahmen sind fraglich:Es lässt sich zeigen, dass es zwar einerseits eine gewisse Entkoppe-lung zwischen positional-struktureller Ungleichheit und Werteorientie-rungen, Präferenzen etc. gibt, die auch keineswegs gänzlich neu ist,dass andererseits aber diese strukturellen Merkmale nach wie vor nochimmer sehr gute, für bestimmte Dispositionen sogar die besten Prädik-toren sind (vgl Herkommer 1997). Auch die zweite Annahme ist höchstproblematisch. Das zeigen u.a. die Untersuchungen von Pierre Bour-dieu, die deutlich machen, dass �symbolisches Kapital� (u.a. ästhetischePräferenzen) stratifiziert ist und stratifizierend wirkt: Es gibt einen �legi-timen Geschmack�, der durch Strukturen �produziert� wird, den Habitusprägt und über die Praktiken der Individuen zur Reproduktion vonStrukturen beiträgt (vgl. Bourdieu 1989). Auf diese Einwände werdenwir bei der Interpretation unserer Ergebnisse zurückkommen.

Das von uns entwickelte Milieukonzept unterscheidet sich nicht grund-legend von anderen. Es wurden Merkmale, mit denen sich positionaleUngleichheiten beschreiben lassen, mit Indikatoren verknüpft, die eineEinschätzung von grundlegenden Orientierungen ermöglichen. Dabei

3 Das gilt vor allem für die hochgeschätzten SINUS-Milieus, also für die in ein Koordinatensys-

tem eingezeichneten �Milieu-Würste�, die einerseits gewiß einen hohen assoziativen Wert ha-ben, bei denen andererseits aber die Frage unbeantwortet bleibt, ob und wie diese wurstför-migen Grenzen zu reproduzierbaren Klassifikationen führen.

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wurden nur solche Merkmale berücksichtigt, die einerseits unter denhier als wichtig betrachteten Gesichtspunkten gültige Einstufungen er-möglichen, die andererseits aber auch in genau der gleichen Weisewiederholt � von 1982 bis 1996 � in den repräsentativen ALLBUS-Studien erhoben wurden. Die Indikatoren wurden auf der Grundlage derALLBUS-Daten (1996) über Faktorenanalysen zu zwei Skalen zusam-mengefasst und mit den �ALLBUS-Gewichten� zur Klassifikation derBefragten in der Munderkingen-Stichprobe verwendet. Wir haben alsofür die Erhebung nichts Neues konstruiert, sondern schon vorhandeneMethoden eingesetzt und nur in einer neuen Weise aufbereitet und zuaussagekräftigen Kennziffern umgearbeitet. Der Rückgriff auf die beiALLBUS verwendeten Erhebungsmerkmale hat den großen Vorteil,dass sich der Stellenwert der Munderkingen-Ergebnisse vor dem Hin-tergrund einer repräsentativen Stichprobe bestimmen lässt. Und einVergleich zwischen ALLBUS-Erhebungen zu verschiedenen Zeitpunk-ten lässt erkennen, wie die von uns als zentral erachtete Erklärvariablefür pflegekulturelle Orientierungen � die Zugehörigkeit zu sozialen Mi-lieus � sich im Zeitverlauf verändert hat.

Die Milieuklassifikationen ergeben sich durch zwei Achsen oder Dimen-sionen. Die eine beschreibt die Verfügbarkeit über sozialstrukturell ver-ankerte Ressourcen: ökonomisches Kapital in Form von Einkommenund kulturelles Kapital in Form von Titeln bzw. Schulabschlüssen. DerKürze halber nennen wir diese Milieuachse �strukturelles Kapital�. Dieandere Dimension beschreibt die Verfügbarkeit über symbolische Res-sourcen: den Besitz von Überzeugungen, die von zentraler und weitge-hend anerkannter Bedeutung für die Vorstellung von einem den moder-nen Bedingungen optimal angepassten Lebensentwurf sind. DieseDimension beschreibt gewissermaßen das Ausmaß der Teilhabe am�legitimen Modernitätsdiskurs�. Der Kürze halber nennen wir sie �sym-bolisches Kapital�. Diese Terminologie unterstellt (wir glauben zu Recht,wollen das hier aber nicht ausführen), dass auch das symbolische Ka-pital stratifiziert ist und stratifizierend wirkt. Für hohe (also in Diskursenweitgehend anerkannte und nicht besonders begründungsbedürftige)Positionen ist die Ablehnung �materialistischer Werte� (Ordnung, Si-cherheit, Disziplin, Konsum ...) charakteristisch und die Zustimmung zu�postmaterialistischen Werten� (Selbstverwirklichung, Partizipation,Emanzipation, Umweltschutz...); ebenso aber auch die Ablehnung eineskonservativen, auf die Familie zentrierten Frauenbildes und die Befür-wortung einer über Erwerbstätigkeit und beruflichen Erfolg definiertenFrauenrolle.

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Der Tendenz nach lässt sich ein �vormoderner Lebensentwurf�, also ei-ne �geringe Teilhabe am legitimen Diskurs� sehr viel häufiger bei niedri-gem strukturellem Kapital beobachten und vice versa: ein �modernerLebensentwurf� korrespondiert deutlich mit einer hohen Position beimstrukturellen Kapital. Da die beiden Dimensionen relativ deutlich korre-lieren, ist die Annahme einer völligen Entkoppelung von strukturell be-schreibbarer Ungleichheit und Orientierungen zurückzuweisen. Ande-rerseits aber ist die Korrelation weit davon entfernt, perfekt zu sein4 undes ist deshalb durchaus sinnvoll, von einer relativ weitgehenden Ent-koppelung zu sprechen und die beiden Achsen zur Grundlage von Mi-lieuklassifikationen zu berücksichtigen. Das haben wir in der folgendenWeise getan (vgl. Abbildung 2):

Abbildung 2:

hoch

konservatives Mittelschicht-

Milieu: 9% ( 5%)

liberales Mittelschicht-

Milieu: 9% (14%)

nied

rig

vormodern Modern

Prozentanteile in der Munderkingen-Stichprobe; (...) Anteile Allbus 1996, alte Bundesländer, 40 bis 60-jährige

Symbolisches Kapital ( Lebensentwurf, Wertorientierungen, Frauenbild)

Stru

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)

gesellschaftliche Mitte: 18% (21%)

traditionelles Unterschicht-Milieu: 18% (24%)

neues, liberales Unterschicht-Milieu: 12% (19%)

konservatives bürgerliches Milieu: 8% (7%)

liberales bürgerliches Milieu: 19% (18%)

Natürlich sind die Grenzen auf den Achsen �willkürlich� in dem Sinne,dass sie formal sind und es keinen vernünftigen Grund dafür gibt, z.B.statt der Standardabweichungen nicht lieber den Quartilsabstand zuwählen. Deshalb sind die in der Abbildung berichteten Prozentangabenauch nicht besonders interessant. Die Milieueinteilungen ergeben erst

4 In der ALLBUS-Studie 1996 mit r=0,34 für 1996 für die alten Bundesländer.

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dann sinnvolle und interpretierbare Ergebnisse, wenn sie für Vergleicheverwendet werden: In welche Richtung hat sich die Bedeutung von Mi-lieus verändert? Wie unterscheiden sich die Milieus im Hinblick auf�pflegekulturelle Orientierungen�? Auf diese Fragen lassen sich auchbei den hier vorgenommenen �willkürlichen� Einteilungen durchaussinnvolle Antworten geben.

3 Pflegekulturelle Orientierungen und sozialeMilieus

Die folgenden Ergebnisse zeigen, dass sich pflegekulturelle Orientie-rungen in einer nicht zufälligen Weise auf soziale Milieus verteilen.

Abbildung 3: Pflegekulturelle Orientierungen und soziale Milieus

Die geringste Bereitschaft zum entschiedenen Selberpflegen lässt sichim �liberalen bürgerlichen Milieu� beobachten: also bei der Kombinationvon relativ hohem sozialen Status mit einem modernen Lebensentwurf.Nur noch zwei Prozent würden bei dieser Konstellation einen pflegebe-dürftigen Angehörigen �unbedingt� selber versorgen wollen und nimmtman diejenigen hinzu, die das �eventuell� tun würden, ergibt sich einAnteil von 14 Prozent. Die größte Bereitschaft zum Selberpflegen be-steht in den beiden Unterschicht-Milieus: im �traditionellen Unterschicht-Milieu� würden 23 Prozent �unbedingt� selber pflegen und 21 Prozentwären �eventuell� dazu bereit. Im �neuen/liberalen Unterschicht-Milieu�

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sind die Pflegebereitschaften nicht sehr viel anders: 26 Prozent würdenunbedingt selber pflegen und 15 Prozent würden das eventuell tun. EineBereitschaft zum Selberpflegen im engeren und erweiterten Sinne be-steht also bei rund 40 Prozent der Angehörigen dieser beiden Milieus.

Für die Heimpflege lässt sich in den beiden Unterschicht-Milieus dage-gen nur eine sehr geringe Akzeptanz beobachten: Nur 18 Prozent bzw.23 Prozent sind �unbedingt� oder �eventuell� für eine Heimunterbrin-gung. Das größte Interesse an einer Versorgung von pflegebedürftigenAngehörigen durch ein Pflegeheim ist eindeutig in den bürgerlichen Mi-lieus beobachtbar, also bei Befragten mit relativ hohem Einkommen undhohen Bildungsabschlüssen. Ist der hohe Status mit einem modernenLebensentwurf kombiniert, würden sich 22 Prozent unbedingt für eineHeimunterbringung entscheiden und 36 Prozent würden das eventuellin Erwägung ziehen. Im �konservativ-bürgerlichen Milieu� ist die ent-schiedene Befürwortung der Heimpflege mit 10 Prozent niedriger, aberdie Mehrheit (52 Prozent) würde der Heimpflege eventuell den Vorzuggeben. Insgesamt � im engeren und weiteren Sinne � würden also rund60 Prozent der Befragten aus den bürgerlichen Milieus einen Angehöri-gen �unbedingt� oder �eventuell� im Heim versorgen lassen.

Die mittleren Milieus liegen mit den Anteilen für Selberpflegen undHeimpflege dazwischen. Im �konservativen Mittelschicht-Milieu� würden33 Prozent selber pflegen und 40 Prozent wären für das Heim. Im �libe-ralen Mittelschicht-Milieu� beträgt der Anteil derjenigen, die selber pfle-gen würden, nur noch 22 Prozent und die Quote der Heimbefürworterbeträgt 53 Prozent.

4 Die Produktion von pflegekulturellenOrientierungen durch die Sozialstruktur

Diese Anteile für verschiedene Präferenzen im Hinblick auf die Versor-gung pflegebedürftiger Angehöriger lassen Regelmäßigkeiten erken-nen, die zu ersten Vermutungen über die Gründe für diese starke Asso-ziation von pflegekulturellen Orientierungen mit den Milieus Anlassgeben. Es ist deutlich erkennbar, dass mit steigender Verfügbarkeitüber �strukturelles Kapital� � Einkommen und Titel � sich der Anteilderjenigen verringert, die im �harten� oder �weichen� Sinne, zum Sel-berpflegen bereit sind und das Interesse an der Versorgung eines An-gehörigen durch ein Pflegeheim nimmt deutlich zu. Und ein zusätzlicher

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Effekt scheint von der �Verfügbarkeit über symbolisches Kapital� auszu-gehen, d.h. davon, in welchem Umfang wesentliche Aspekte des �legi-timen Modernitätsdiskurses� inkorporiert sind. In dem Maße, in demBefragte zu einem modernen Deutungsschema tendieren, sind sie we-niger zum Selberpflegen bereit und stärker daran interessiert, einenpflegebedürftigen Angehörigen durch ein Heim versorgen zu lassen.

Zusammenfassend ist festzustellen: Solidarität in der Form einer Bereit-schaft zur Pflege von Angehörigen lässt sich am ehesten in Gruppenbeobachten, die man zu den Verlierern von Modernisierungsprozessenrechnen kann � in Gruppen mit niedrigem strukturellem Kapital und beidenen, die in ihrem Weltbild an den Modernisierungsprozess wenigergut angepasst sind. Der Gegenpol dazu sind die gut Angepassten, alsoLeute mit höherem Einkommen, hohen Bildungsabschlüssen und einerauf moderne Lebensbedingungen zugeschnittenen Sicht der Dinge. DieVersorgung von pflegebedürftigen Angehörigen durch Eigentätigkeit istfür die meisten von ihnen kein Thema. Man vertraut sehr viel mehr aufdie beruflich geleistete Hilfe in Heimen.

Die Frage ist nun, warum in den �Verlierermilieus� die Bereitschaft zumSelberpflegen so viel stärker ausgeprägt ist als bei den �Gewinnern�?Von welchen Gründen oder Motiven muss man ausgehen, um diesenZusammenhang auch in Kategorien von sinnhaften Orientierungen derAkteure zu verstehen. Unsere Antworten auf diese Fragen mögen viel-leicht ein bisschen spekulativ sein, aber sie beruhen auf Indizien:

(1) Eine genauere Betrachtung der Beziehung zwischen den Milieusund den pflegekulturellen Orientierungen zeigt, dass die Positionenauf der Achse des symbolischen Kapital zwar einen gewissen Bei-trag zur Erklärung unterschiedlicher Orientierungen leisten, dassder Haupteffekt aber ganz eindeutig auf den Besitz an strukturellemKapital, also Einkommen und Bildungsabschluss zurückzuführenist.5 Bei der Suche nach Motiven müssen wir uns also auf Gründekonzentrieren, die etwas mit positionaler Ungleichheit zu tun haben.

(2) Ein weiterer Hinweis ergibt sich aus den Antworten der von uns imInterview vorgelegten �Dilemma-Frage�.

5 Das ist auch das Ergebnis einer multivariaten logistischen Regression: Berücksichtigt man

strukturelles und symbolisches Kapital jeweils einzeln als Prädikatoren, so erweisen sich bei-de als signifikant für die Schätzung von Wahrscheinlichkeiten zum Selberpflegen bzw. zurHeimpflege. Werden jedoch beide in einer multivariaten logistischen Regression berücksich-tigt, lassen sich Schätzwerte für diese Wahrscheinlichkeiten in einer signifikanten Weise nurüber die strukturelle Achse ermitteln. Die Verfügbarkeit über symbolisches Kapital leistet dannkeinen zusätzlichen �Nettobeitrag�.

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Ich schildere Ihnen jetzt einmal eine Situation und möchte dann einigeFragen dazu stellen:Eine ältere Dame wird in der nächsten Zeit aus dem Krankenhaus entlas-sen. Sie erlitt vor einigen Wochen einen Schlaganfall und ist seitdem dau-erhaft pflegebedürftig. Sie kann auch nur wenige Stunden am Tag alleingelassen werden.Ihr Wunsch ist es, im Hause ihrer einzigen Tochter gepflegt zu werden. Ih-re Tochter ist verheiratet, hat zwei Kinder, die zur Schule gehen und isthalbtags berufstätig. Für die Pflege der Mutter müsste sie ihre Berufstätig-keit aufgeben. Die Tochter entscheidet sich gegen den Wunsch der Mutterund bemüht sich um einen Platz in einem gut geführten Pflegeheim.

Halten Sie die Entscheidung der Tochter für eher falsch oder richtig? Wowürden Sie auf dieser Skala (Liste 2 vorlegen) Ihre Einschätzung ma-chen?

Verhalten Verhaltender Tochter der Tochterist eher falsch ist eher richtig

- 3- 2 -1 +1 +2 + 3

Wie würden Sie Ihre Einschätzung begründen? Welche Gesichtspunktewaren dabei für Sie wichtig?(Stichworte notieren � später ausführliches Gedächtnisprotokoll im An-hang)

Bei dieser Frage ist von besonderem Interesse, wie die Ablehnung oderBefürwortung der vorgegebenen Dilemma-Entscheidung begründetwird. Unsere Vermutung bei der Aufnahme dieses Fragetyps in das In-terview war, dass die Versorgung pflegebedürftiger Angehöriger über-wiegend als eine �moralische Verpflichtung� erlebt wird. Da sich der Typder Dilemma-Frage in Untersuchungen über moralisches Bewusstseinmethodisch bewährt hat, wollten wir damit verschiedene Typen des mo-ralischen Abwägens in Bezug auf Pflegeverpflichtungen ermitteln. Wirerwarteten Begründungen, die sich z.B. im Sinne der Kohlberg-Typenals �präkonventionelle�, �konventionelle� oder �postkonventionelle� Er-wägungen klassifizieren lassen (vgl. Kohlberg 1984; Lind 1978). UnsereÜberraschung war jedoch groß, dass moralische Argumente in denKommentaren zur Dilemma-Entscheidung nur eine untergeordneteRolle gespielt haben. Nur rund ein Viertel der 40- bis 60jährigen haben

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ihre Stellungnahme zu der fiktiven Entscheidung durch moralische Ar-gumente begründet, die sich ungefähr zwei gleich starken Gruppen zu-ordnen lassen: einer Art �konventioneller Moral� (�das gehört sich so�,�das war immer so�, �es gehört sich einfach�) und einer vielleicht eher�postkonventionellen Begründung� durch die Erwähnung von Rezipro-zitätsverpflichtungen (�als Kind wurde ich auch versorgt, deshalb ist esnicht richtig ...�).

Erstaunlich ist aber der geringe Anteil an moralischen Erwägungen undder sehr hohe Anteil an Erwägungen, in denen irgendwelche Kosten be-rücksichtigt werden. Rund 60 Prozent bewerten die Dilemmasituationunter Kostengesichtspunkten, die mit den Alternativen Selberpflegenund Heimpflege in Verbindung gebracht werden. Dieses Ergebnis führteuns zu der Vermutung, dass die Versorgung pflegebedürftiger Angehö-riger in der Generation der 40- bis 60jährigen weniger unter morali-schen Gesichtspunkten erlebt wird, sondern eher als eine Verpflichtungmit Konsequenzen für die individuelle Kosten-Nutzen-Bilanz.

In dieser Richtung erscheint es uns auch sinnvoll, nach Motiven zu su-chen, die hinter dem beobachteten Zusammenhang von Milieu undpflegekulturellen Orientierungen stehen könnten. Die Frage lautet also,was für Kosten in den verschiedenen Milieus welche Rolle spielen.

Kosten lassen sich unterscheiden in direkte ökonomische Kosten und inOpportunitätskosten. Direkte Kosten sind die Ausgaben, die im Zu-sammenhang mit der Übernahme von Pflegeverpflichtungen entstehen:Bezahlung von beruflichen Helfern und die Kosten einer Heimunterbrin-gung. Opportunitätskosten sind entgangene Chancen � das, woraufman verzichten muss, wenn man sich zu einer bestimmten Tätigkeitentschieden hat � z.B. zum Selberpflegen. Diese beiden Kostenartensind in den Milieus sehr unterschiedlich und es sind genau diese Unter-schiede, die auch zu den Unterschieden in den pflegekulturellen Orien-tierungen führen. Mit steigendem strukturellen Kapital verringert sichdie Bedeutung der mit einer Heimunterbringung verbunden ökonomi-schen Kosten und es steigen die mit Selberpflegen verbundenen Op-portunitätskosten. Mit sinkendem strukturellem Kapital steigt dagegendie relative Bedeutung der mit einer Heimpflege verbundenen wirt-schaftlichen Kosten und es sinken die mit Selberpflegen verbundenenOpportunitätskosten. Schematisch lassen sich diese Unterschiede inder relativen Bedeutung von Kosten so darstellen:

In den unteren Milieus gilt die Heimpflege im Verhältnis zur Einkom-menssituation als teuer und von vielen wird sie � trotz Pflegeversiche-

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rung � als nicht bezahlbar eingeschätzt. Selberpflegen ist dagegen re-lativ preisgünstig, vor allem, wenn die pflegende Tätigkeit über die Wahlvon Geldleistungen (in bescheidenem Umfang) honoriert wird und sichso das Haushaltsbudget aufbessern lässt. Die mit Selberpflegen ver-bundenen Opportunitätskosten sind dagegen relativ niedrig. Aufgrunddes niedrigen Schulabschlusses und der wenig aussichtsreichen beruf-lichen Situation � besonders bei Frauen, die ja ganz überwiegend dieVersorgung von Pflegebedürftigen übernehmen � spielt die Frage nachentgangenen Chancen allenfalls eine sehr geringe Rolle. Das heißt na-türlich nicht, dass Selberpflegen nicht auch in unteren Milieus mit Ent-behrungen und Einschränkungen verbunden ist. Diese werden abernicht zusätzlich noch überlagert durch hohe Opportunitätskosten, alsodurch den Verzicht auf aussichtsreiche berufliche Möglichkeiten oderdie Aufgabe von sozialen und kulturellen Ambitionen. Die aus dieserstrukturellen Konstellation sich ergebende Selbstverpflichtung zur Pfle-ge beruht also einmal auf Zwängen (niedriges Einkommen) und zumanderen auf dem Fehlen von größeren Chancen, auf die man bei derselbst geleisteten Versorgung eines pflegebedürftigen Angehörigenverzichten müsste.

In den mittleren und höheren Milieus sind die Kosten einer Heimunter-bringung natürlich auch spürbar, aber sie haben doch aufgrund der sehrviel besseren Einkommenssituation eine deutlich geringere Bedeutung.Hier ist sicher der Effekt der Pflegeversicherung nicht zu unterschätzen.In der Vergangenheit konnten Bezieher höherer Einkommen nicht damitrechnen, dass Heimkosten für einen Angehörigen durch die Sozialhilfegetragen werden. Die Pflegeversicherung übernimmt nun zumindest ei-nen Teil davon und verringert damit deutlich den inhibierenden Effektder Heimkosten. Dieser Effekt ist vermutlich besonders in den mittlerenbis �gehobenen� Einkommensgruppen wirksam, also da, wo in der Ver-gangenheit die Sozialhilfeberechtigungsschwelle gerade überschrittenwurde. In den höheren Milieus sind dagegen die Opportunitätskostendes Selberpflegens relativ hoch. Eine höhere Schulbildung und Be-rufsausbildung sind sowohl mit sozialen und kulturellen Ambitionen ver-bunden, wie aber auch mit der Vorstellung von beruflichen und ökono-mischen Chancen, die man beim Selberpflegen aufgeben müsste. Dieaus dieser strukturellen Konstellation sich ergebende Präferenz für dieHeimpflege beruht also einmal auf dem Fehlen von Zwängen (höheresEinkommen) und zum anderen auf den durch Bildungs- und Berufsab-schluss erzeugten Vorstellungen von Chancen, auf die man bei derselbst geleisteten Versorgung eines pflegebedürftigen Angehörigenverzichten müsste. Dieser Effekt wird in den mittleren und höherenStrukturgruppen noch einmal verstärkt, wenn auch die Verfügbarkeit

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über die zentralen Momente des Modernitätsdiskurses (symbolischesKapital) hoch ist � wenn der Anspruch auf Selbstverwirklichung, Eman-zipation und berufliche Chancen auch zu einem wesentlichen Aspektdes subjektiven Bezugsschemas geworden ist.

Diese strukturelle Produktion von Pflegebereitschaften wird auch deut-lich, wenn Gender-Aspekte berücksichtigt werden. Zwischen erwerbs-tätigen Männern und Frauen sind keine wesentlichen Unterschiede imHinblick auf ihre Pflegebereitschaften zu beobachten. Nur die nicht er-werbstätigen Frauen weichen in allen Milieus deutlich von dem allge-meinen Trend ab: Der Anteil derjenigen, die einen pflegebedürftigenAngehörigen selber versorgen wollen ist mit 50 % deutlich höher als imDurchschnitt (31 %) und das Heim wird spürbar seltener in Erwägunggezogen (23 % vs. 38 % im Durchschnitt). Für erwerbstätige Frauen istdie Übernahme von Pflegeverpflichtungen eine riskante und kostspieli-ge Entscheidung, die nicht nur mit Einkommensverlusten, sondern auchmit der Aufgabe von sozialen Ansprüchen im Hinblick auf Emanzipationund Selbstverwirklichung verbunden ist.

5 Wie haben sich die für pflegekulturelle Orientie-rungen relevanten sozialen Milieus verändert?

Diese Frage lässt sich auf der Grundlage der ALLBUS-Erhebungen be-antworten. Ein Vergleich ist möglich zwischen den Jahren 1982 und1996, allerdings nur für die alten Bundesländer. In diesen Jahren wur-den die für unsere Klassifikation wichtigen Merkmale erhoben. Beson-ders wichtig sind Vergleiche für die Altersgruppen der 40- bis60jährigen.6

Folgendes lässt sich beobachten:

(1) Die Verteilung auf der Achse �strukturelles Kapital� hat sich von1982 bis 1996 nicht dramatisch geändert: Der Anteil �hoher Status�ist lediglich um 9 Prozent gestiegen und die Kategorie niedrigerStatus hat sich um 12 Prozent verringert.

6 Ganz exakte Vergleiche sind natürlich nicht möglich. Die Fragen in den Interviews wurden

zwar in der gleichen Weise gestellt, aber ihre Position im Fragebogen ist nicht die gleiche.Auch das für die Messung des sozioökonomischen Status wichtige Merkmal Einkommen kannnur als Schätzwert für 1982 berücksichtigt werden, bei dem gegenüber 1996 eine jährlichedurchschnittliche Einkommens- bzw. Preissteigerung von zwei Prozent angenommen wurde.

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(2) Sehr viel deutlichere Veränderungen gibt es für die Achse �symboli-sches Kapital�: Der Typ �vormoderner Lebensentwurf� hat sehrstark an Bedeutung verloren � um 36 Prozent � und ist von 66Prozent auf nur noch 30 Prozent gesunken. Und der Anteil von Per-sonen mit einem �modernen Lebensentwurf� ist von 8 Prozent auf28 Prozent gestiegen. In diesem Ergebnis kommt der Wandel vonWerteorientierungen und Präferenzen in Richtung einer zunehmen-den Ausbreitung des legitimen Modernitätsdiskurses sehr deutlichzum Ausdruck: die Abkehr von Werten, die sich auf Ordnung, Si-cherheit und materielle Lebensbedingungen beziehen und eine ver-stärkte Hinwendung zu Präferenzen, in denen Selbstverwirklichungund Emanzipation eine große Rolle spielen.

(3) Nimmt man diese Änderungen auf den beiden Achsen zusammen,um zu den von uns definierten Milieus zu kommen, wird der Wandeldeutlich: Der Anteil des Milieus, in dem am häufigsten eine Bereit-schaft zum Selberpflegen beobachtet werden konnte � niedrigesstrukturelles Kapital und geringe Teilhabe am Modernitätsdiskurs �hat sich in der Zeit von 1982 bis 1996 halbiert und ist von rund 40Prozent auf nur noch 20 Prozent gesunken. Zugenommen habendagegen die Anteile von Milieus, in denen in stärkerem Umfang dieHeimpflege befürwortet wird, also die Kombination von mittlerenund höheren Positionen beim strukturellen Kapital mit einem denmodernem Lebensbedingungen angepassten Weltbild.

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Abbildung 4: Soziale Milieus in den Jahren 1982 und 1996 bei 40bis 60jährigen in den alten Bundesländern

6 Schlussfolgerungen und Perspektiven

Die Ergebnisse unserer Untersuchungen stellen in eindrücklicher Weisein Frage, dass die Voraussetzungen, von denen die Pflegeversicherungausgeht und auf die sie baut, in der Zukunft auch nur annähernd er-wartet werden können. Dass künftige Generationen nicht in vergleich-barer Weise an Pflegeaufgaben im häuslichen Bereich beteiligt seinwerden, ist keine neue Erkenntnis. In diese Richtung wirkt auch derdemographische Faktor und die Veränderung in den Haushaltsgrößen.Unsere Studie schärft aber den Blick für die Bedeutung von sozialenMilieus und ist deshalb in der Lage, die Änderungen in den pflegekultu-rellen Orientierungen sozial zu verorten und zu quantifizieren. Dabeiwird deutlich, dass die Pflegeversicherung als auf die Zukunft gerichtetesoziale Sicherung sich in ihrer Konzeption weitgehend an den zahlen-mäßig stark zurückgehenden Milieus und ihren Mentalitäten orientiert:Sie baut auf eine eher traditional vermittelte Pflegebereitschaft in Fami-lien und Partnerschaften, sie fördert in den zahlenmäßig zunehmenden

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sozialen Milieus eher eine Abkehr vom Selberpflegen und eine höhereAkzeptanz gegenüber der Heimpflege.

Damit wird aber in Frage gestellt, dass die Pflegeversicherung ihre so-zialpolitischen Zielsetzungen erreicht, gerade mit Blick auf die Zukunft,Pflegebereitschaften in der �modernen Gesellschaft� zu fördern und zustabilisieren. Sollte sich die von uns beschriebene Verteilung von pfle-gekulturellen Orientierungen auch in entsprechende Entscheidungenumsetzen, dürfte überdies das finanzpolitische Konzept der Pflegever-sicherung in Frage gestellt werden, das auf einem recht hohen Anteilvon Pflegegeldbeziehern und damit selbst pflegenden Angehörigen ba-siert.

Die Ergebnisse der Studie dürfen aber nicht als vollständige und mora-lisch fragwürdige Entsolidarisierung und Individualisierung interpretiertwerden. Andere Ergebnisse unserer Untersuchung lassen durchaus er-kennen, dass sich ein unerwartet hoher Anteil von rund 50 % in derGruppe der 40- bis 60jährigen innerhalb der Familie bereits mit Pflege-verpflichtungen auseinander gesetzt hat und immerhin zwei Drittel vondiesen �Pflegeerfahrenen� waren mit oder ohne berufliche Hilfen fürkürzere oder längere Zeit an der häuslichen Versorgung ihrer Angehöri-gen beteiligt. Überraschend ist auch, dass eine recht differenzierte Aus-einandersetzung mit dem Thema �Pflegebedürftigkeit� erfolgt. Das giltbesonders für die Vorsorgeüberlegungen der Befragten, die sich nichtnur auf monetäre Vorsorgeformen beschränken, sondern in einemzahlenmäßig erheblichen Umfang auch auf Formen solidarischerSelbstorganisation. Gleichwohl macht die Studie deutlich, dass inwachsendem Umfang die Übernahme von Pflegeaufgaben nicht mehrals selbstverständlich erscheint und individuelle Gestaltungsoptionendes eigenen Lebens auch bei der Konfrontation mit Pflegeaufgaben in-nerhalb der Familie in hohem Maße relevant bleiben. Es sollte aller-dings berücksichtigt werden, dass die in der Studie zum Ausdruckkommenden Einstellungen und Abwägungen in der konkreten Situation,in der es um die Übernahme von Pflegeaufgaben geht, nicht allein ent-scheidungsrelevant werden. Sowohl finanzielle als auch soziale Re-striktionen im Zusammenhang mit der konkreten Situation könnendurchaus zu Entscheidungen gegen die eigenen Präferenzen führen(vgl. Runde, Giese. 1999). Die begrenzten Leistungen der Pflegeversi-cherung im ambulanten Bereich und die weiterhin auch Angehörige unddas Erbe stark belastenden Zuzahlungen im stationären Bereich oderzu erwartende Rückzahlungsforderungen bei Sozialhilfebezug begren-zen auf ökonomischer Ebene die Freiheit der Entscheidungen und kön-nen auch in den mittleren Statuslagen einen Zwang zur Selbstpflege

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entstehen lassen, der unter strukturellen Gesichtspunkten eher für dieunteren Milieus charakteristisch ist.

Will man sozial- und pflegepolitisch die Beteiligung von Angehörigenauch in der Zukunft sichern, so scheinen (auch) neue Mischformen vonprivater Solidarität und professioneller Dienstleistungen innerhalb undaußerhalb von Institutionen gefragt, so wie sie von Zeman mit seinermikropolitischen Perspektive herausgearbeitet und analysiert wurden.Die Erfahrungen mit Tagespflegeeinrichtungen in der Bundesrepublikzeigen, dass derartige Mischformen kulturell bisher nicht selbstver-ständlich vermittelbar, und schon gar nicht verankert sind (vgl. Steiner-Hummel 1996). Auf eine entsprechende Weiterentwicklung pflegekultu-reller Orientierungen und lokaler Hilfekulturen setzt aber gerade diePflegeversicherung. Hierin ist ein sowohl kommunalsozialpolitischer alsauch ein pflegepolitischer Gestaltungsauftrag zu sehen, für den esgünstige Anknüpfungspunkte insoweit zu geben scheint, als zumindestPflegeerfahrungen und Vorsorgebereitschaften in einem höheren Maßein der Bevölkerung vorhanden sind als landläufig erwartet wird.

Die Daten und Ergebnisse unserer Studie irritieren:

(1) individuell, indem sie bewusst machen, dass die Vorsorge für einepotentielle eigene Pflegebedürftigkeit zumindest nicht selbstver-ständlich innerhalb der Familien gelingt, aber auch, dass die indivi-duellen pflegekulturellen Orientierungen nicht unbedingt ihre Ent-sprechung in der Infrastruktur der Pflegeeinrichtungen finden,

(2) lokal, indem Mythen der Familienpflege, als die auch zukünftige Ba-sis pflegerischer Versorgung, in der Kommune in Frage gestelltwerden,

(3) sozialpolitisch, indem der Vorrang �ambulant vor stationär� sich alseine durchaus problembehaftete ideologische Zielformulierung dar-stellt, für die sich im �liberalen bürgerlichen Milieu�, das gemeinhinals diskursprägend wirkt, keine Basis findet.

Diese Irritationen können, produktiv gewendet, zu einer angemessenenAuseinandersetzung und zu konstruktiven lokalen und sozialpolitischenDiskursen beitragen bzw. hierzu entsprechende Impulse geben. In ei-nem modernen Verständnis von Sozialplanung haben derartige öffentli-che Diskurse einen zentralen Platz und eröffnen Wege zu einer integ-rierten Infrastruktur- und Kulturentwicklung, die notwendigerweise lokaleRessourcen und Spezifika berücksichtigt (vgl. Blaumeiser u.a. 2001).Es ist auch zu vermuten, dass in unsere Studie Besonderheiten ausMunderkingen ihren Niederschlag in den Daten gefunden haben, insbe-sondere hinsichtlich der vergleichsweise positiven Einstellung zum

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Pflegeheim, das in Munderkingen einen recht guten Ruf genießt. Auchdie ausgeprägte Vereinsstruktur und speziell das Vorhandensein einesauf Vorsorge hin angelegten Krankenpflegevereins mag seinen Nieder-schlag in Teilaspekten der Ergebnisse gefunden haben. Die Perspekti-ve pflegekultureller Orientierungen schärft den Blick für die Mikropolitikder Pflege und bietet gleichsam eine Basis für mikropolitische Diskurse(vgl. Zeman 2000). Wie werden jetzt und künftig Sozialleistungen undprofessionelle Interventionen transformiert und in Pflegearrangementsintegriert? Was unterstützt und was hindert die Verantwortungsüber-nahme für Pflegeaufgaben?

Der mikropolitische Ansatz von Zeman und unsere Studie zu den pfle-gekulturellen Orientierungen provozieren fast und legen nahe individu-elle Pflegebudgets vorzusehen, die den pflegenden Angehörigen undPflegebedürftigen � ggf. supervidiert durch einen Case Manager � we-sentlich offenere und vielgestaltigere Gestaltungsoptionen für ihre Pfle-gearrangements geben könnten. Ein solcher, zunächst experimentelleingeführter und künftig ggf. zumindest als Gestaltungsoption von Sozi-alleistungen zugelassener Steuerungsansatz, könnte sich dem bisheri-gen Konzept der Pflegeversicherung als überlegen erweisen. Hierin lä-ge eine in hohem Maße interessante sozialpolitische Folgerung aus denhier zusammengeführten Diskursen.

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Determinanten und Dynamiken derVerwendung sozialgerontologischen Wissens

Hans-Joachim von Kondratowitz

Deutsche Zentrum für Altersfragen, Berlin

1 Zur gegenwärtigen Dynamik in der Entwicklungder Gerontologie

Dass sich die gesellschaftlichen Parameter für die Gestaltung und Aus-richtung der gerontologischen Forschung heute nachhaltig verändern,ist für aufmerksame Beobachter bereits seit geraumer Zeit sichtbar.Dabei sind diese Veränderungen weniger wissenschaftsinternen bzw.tiefgreifenden konzeptionellen Entwicklungen geschuldet als vielmehreinem zentralen Wandel in den forschungsbestimmenden gesell-schaftspolitischen Determinanten der Sozialpolitik des Alters, die dieseForschungsstrategien wiederum einfasst und zu integrieren unternimmt.

Gemeint ist hier vor allem die ganz offensichtliche Multiplizierung po-tentiell forschungswilliger sozialpolitischer Akteure im sozialpolitischenGestaltungsfeld für das höhere Lebensalter. Und in der Tat: Wo derRückzug, die Befristung oder die Deckelung kollektiv definierter Leis-tungsspektren (wie z.B. im SGB XI) die politikstrategischen Kalkulatio-nen solcher öffentlichen Akteure bestimmt, werden zwangsläufig bishernichtrealisierte Handlungsoptionen von neu sich konstituierenden Ak-teuren im Markt bzw. von qualitativ neuen Vergemeinschaftungsformenim informellen Sektor gestiftet oder bieten sich zumindestens als Kom-pensation, wenn nicht als deutlich bereichernder Zuwachs der verblie-benen öffentlichen Handlungsfelder an. Mit einer solchen effektiven Er-weiterung des Handlungsspektrums werden aber zwangsläufig auchStrategien für eine sachadäquate Informationsgewinnung und Bewer-tungsorganisation von seiten dieser Akteure freigesetzt, die eine breiteVielfalt von unterschiedlichen Aktivitäten zur offensiven Umweltaneig-nung und Umweltbeeinflussung zum Ergebnis haben.

Was diese unübersehbare Veränderung der Rahmenbedingungen fürdie neu auf den Plan tretenden Institutionen, aber auch für die bereitserfahrenen, nun zur produktiven Anpassung gezwungenen Akteure

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praktisch bedeutet, ist allerdings damit nicht unbedingt ausgemacht.Denn dieser Perspektivenwandel braucht nun keinesfalls zu bedeuten,dass von diesen, jetzt sozialpolitisch freigesetzten Handlungseinheiteneine wirklich eigenständige und bewusst entworfene Forschungsper-spektive dauerhaft verfolgt und mobilisiert werden müsste. Vielmehrbieten sich eine ganze Reihe von unterschiedlichen Aktivitäten im Vor-feld einer selbständigen Forschungsmobilisierung an, die für sich ge-nommen bereits hinreichend sein können zur Informationsabklärung ineiner hochgradig steuerungsbedürftigen Situation.

Eine reiche Auswahl von strategischen Optionen bietet sich in diesemVorfeld an. Neben der eingespielten Nutzung und Partizipation in dersozialwissenschaftlichen Großforschung dürften erst einmal die bereitsbewährten Wege einer Wissenssteuerung durch gezielte Informations-nutzung, Vernetzung, Absprachen, Koalitionsbildungen u.ä. wenigstensfür die erfahrenen Akteure des Wohlfahrtspluralismus ihre politikgestal-terische und informationssichernde Überzeugungskraft behalten. Mankann es als neuer Akteur also eine ganze Weile ohne eigenständigeForschung aushalten. Und selbst dann, wenn wirklich eine selbstbe-stimmte Forschungsorientierung erfolgreich und dauerhaft (also nichtnur punktuell) durchgesetzt würde, wäre dies niemals ein exklusiverWeg dieser Akteure, die Vieldeutigkeit und Unberechenbarkeit ihrerUmwelt zu reduzieren und feste Konturen ihrer kontinuierlichen intelli-genten Erfassung aufzubauen. Denn zusätzlich zu den konventionellenexternen Wissenssicherungen würden erst einmal intern mobilisierbareInformationsquellen und Materialaufbereitungen treten, die für ein intel-ligentes Planungsgeschehen einer Institution relevant sein können unddaher vorrangig konsultiert würden. Und ob sich letztendlich Strategieneiner eigenständigen Forschungspolitik dieser vielfältiger gewordenensozialpolitischen Akteure überhaupt dauerhaft durchsetzen, dürfte si-cherlich auch von der Position und dem sozialpolitischen Rang der je-weiligen Einheit im Gesamtfeld der Sozial- und Gesundheitspolitik ab-hängen. Insoweit sollte man die Bedeutung einer solchen neuenEntwicklung für die Zukunft der Gerontologie auch nicht extrem überak-zentuieren, sondern diese neuen Strategien der Wissensakquisition ersteinmal als Erweiterung und Bereicherung der gerontologischen For-schungslandschaft begreifen, aber als eine Entwicklung mit ungewis-sem Ausgang, was die Konsequenzen für die konkreten Institutio-nenstrategien angeht.

Trotzdem, wie vielgestaltig die Optionen der neuen Akteure bzw. derneuverorteten Institutionen auch sein mögen, eines scheint mir sicher:man wird in Zukunft mit einer stärker dezentral lokalisierten und sich als

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eigenständig und eindeutig organisationsgebunden verstehenden For-schungspolitik, in welchem Umfang und entsprechend welcher Orientie-rung auch immer, rechnen müssen. Und es wird gerade dieser Tatbe-stand der Diversifikation eigenständig definierter Forschungsaktivitätenzu einem charakteristischen Merkmal der sich multiplizierenden Institu-tionen, Dienste und weiteren organisierten Akteure im Feld der Alters-politik werden. Oder konkreter mit Blick auf einzelne Organisationengesagt: nicht nur Einrichtungen, konkurrierende Marktteilnehmer imPflegebereich werden Forschung organisieren, sondern auch einfluss-reiche Seniorenvertretungen, Interessenverbände und andere partizipa-tive Vergemeinschaftungen des Alters dürften als genuin forschungs-stiftende Einheiten viel offensiver auf den Plan treten als sie diesübrigens auch in der Vergangenheit schon, wenn auch nur in begrenz-tem Umfang, getan haben. Ein solch neuer Aktivitätsspielraum, wie ge-sagt, ersetzt aber natürlich nicht bereits strukturierte öffentliche For-schungsbereiche, sondern fügt sich vielmehr als zusätzlicher, wennauch zunehmend relevanter Bereich ein mit der Konsequenz einerwechselseitigen Überlagerung dieser unterschiedlich zugeschnittenenund dimensionierten Forschungsfelder. Die Abstimmung, Mischung undKoordination der daraus entstehenden Forschungsdynamik, soferndenn eine solche Verknüpfung überhaupt noch übergreifend möglichsein wird, ist damit aber von einem Nebenschauplatz in das Zentrumzukünftiger Gerontologieentwicklung gerückt. Auch aus diesem Grundedürfte es für die deutsche Gerontologie wieder interessant werden, ge-nauer in die angloamerikanischen Länder zu schauen, wo eine solcheMultiplizierung der Forschungszugänge schon seit langem gang undgäbe ist und daher Erfahrungen vorliegen, die man konsultieren sollte,ohne dabei bestehende Unterschiede zwischen den Wissenschaftskul-turen zu ignorieren.

2 Bedeutungsgewinn einer reflexiven�Praxisforschung�?

Neben der Leistung, Forschungsperspektiven zukünftig in Strategien zuübersetzen und dauerhafter zu organisieren, wird diese Veränderungaber auch inhaltliche Probleme aufwerfen, weil ebenso der Charakterdieser Forschung selbst sich ändern wird. Denn es scheint mir offen-sichtlich, dass die von solchen neuen Akteuren betriebenen For-schungsstrategien sich in charakteristischer Weise auszeichnen wer-den: es dürften vor allem Forschungsarbeiten mit sehr dezidierter, an

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einer sachlich eingegrenzten Problemstellung orientierten Aufgabe sein,sie werden (und dies sicher auch aus Kostengründen) zeitlich eher be-grenzt angelegt sein und sie dürften mehrheitlich äußerst handlungsori-entiert, also weniger diskursiv auf die Wissenschaftsgemeinschaft aus-gerichtet sein. Dabei kann das damit jeweils implizierte Handlungsfeldaber durchaus stark variieren. Und eben so wenig darf aus dieser neu-en Auftragssituation vorschnell ein erzwungenes inhaltliches Verengenund Vereinseitigen der Fragestellungen allein auf die Organisations-zwecke hin und damit auf eine intensivere inhaltliche Kontrolle der For-schungsdynamik selbst gefolgert werden. Die Frage, ob solche neuenForschungsstrategien womöglich weitaus großzügigere Zuschnitte er-lauben könnten als eine von unmittelbarem Legitimationsdruck der poli-tischen Öffentlichkeit geprägte Forschung in öffentlichem Finanzie-rungsrahmen, ist keineswegs absurd. Erfahrungsberichte aus demangloamerikanischen Raum heben zumindest genau auf diesen, diedortigen Beobachter selbst überraschenden Zugewinn an Selbstbe-stimmung in der privat organisierten Forschung ab.

Allerdings gilt es auch, den Maßstab für diese neukonzipierten For-schungsstrategien im Blick zu behalten. Denn das Auftauchen dieserneuen Forschungsaktivitäten bedeutet nämlich durchaus nicht diegrundsätzliche Ablösung weniger zeiträumlich beschränkter und damitumfassender angelegter empirischer Großforschungsaufträge. Vielmehrwerden beide Formen der empirischen gerontologischen Forschungggf. aber auch neue Mischformen zwischen beiden nebeneinander undin Wechselwirkung miteinander existieren. Aber die Wahl, welche Stra-tegie der Forschung bevorzugt wird, dürfte nun vornehmlich nach klarenund eher punktgenauen Zweckmäßigkeitserwägungen der Institution,der Einrichtung o.ä. selbst getroffen werden. Solche neuen For-schungsmixe werden m.E. aber auch das so oft in der Gerontologie mitwahrer Verzweiflung diskutierte Thema der gelungenen (oder oft wiedereinmal erneut verfehlten) Interdisziplinarität, aber nun unter dem Blickdes pragmatisch Machbaren in den Mittelpunkt rücken.

Der stille Druck auf die akademische sozialwissenschaftliche Geronto-logie, sich unter dem Druck gesellschaftlicher Anforderungen (wieder)mehr und mehr als �angewandt� zu definieren und dessen Folgewirkun-gen in der Forschungsentwicklung ja schon seit Jahren zu beobachtensind, dürfte sich damit noch einmal intensivieren. Wird dies in der�scientific community� der sozialwissenschaftlichen Gerontologen denProzess einer womöglich schärferen Abgrenzung zu �praxisorientierten�Forschungsstrategien und eines deutlicheren Insistierens auf �wissen-schaftsinternen� Bewertungskriterien zu Folge haben? Oder könnte die-

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se �extern� induzierte Vervielfältigung der Forschungszugänge womög-lich zu einer diskursiven Öffnung der Gerontologenzunft für eine theore-tisch reflektierte Neubewertung der gesamten Verwendungsproblematikgerontologischen Wissens und damit aber auch zu einer qualitativenNeukonzeptionierung des Begriffs der �Anwendung� führen? Es sinddies bisher offene Fragen, aber ich will keinerlei Zweifel daran bestehenlassen, dass für mich die zweite Option nicht nur die erwünschte Mög-lichkeit, sondern auch die langfristig am ehesten Erfolg versprechende ,wenn auch nicht ganz unproblematische Lösung darstellt. In jedemFalle ist es meine These, dass mit diesem Perspektivwandel der ge-rontologischen Forschungslandschaft erneut die große Stunde der�Praxisforschung� schlagen könnte.

Weniger dramatisch ausgedrückt: die eben beschriebene Zukunftsvisi-on dürfte wieder das Problem der �Praxisforschung� und ihrer Dimensi-onen und Kapazitäten in das Zentrum der Diskussion führen. Deshalbgilt es sich zuerst einmal an einige unangenehme Wahrheiten zu erin-nern. Nicht nur in der gerontologischen, sondern auch in der weiterensozialwissenschaftlichen Diskurslandschaft hat �Praxisforschung�, wieman offen zugeben muss, niemals einen wirklich überzeugenden undgesicherten Status gewinnen können. (vgl. Moser 1995; Moser 1997)Aus der Sicht einer am Wertekanon der �reinen Wissenschaft� orien-tierten Forschergemeinde waren (und sind leider weiterhin) solche For-schungskontexte mit einem Negativ-Image verbunden, dem einer �Wis-senschaft aus zweiter Hand�, einer �Sozialarbeiterforschung� oderähnlichen, in jedem Fall abwertend gebrauchten Charakterisierungen,die deren Zweitrangigkeit betonen. Diesen Hinweis zu geben, bedeuteteben auch auf das immer noch wissenschaftlich Prekäre einer Praxis-forschung aufmerksam zu machen, auf das letztlich Ungesicherte undweiterhin Durchsetzungsbedürftige einer solchen Arbeitsperspektive imAlltag der sozialwissenschaftlichen Forschung. Diejenigen, die sich ei-ner solchen Diskussion stellen, sollten sich also der eigenen Randstän-digkeit in den Sozialwissenschaften bewusst bleiben, um nicht in denFehler zu verfallen, die Wirkungsmacht der propagierten Strategien derPraxisforschung in das Wissenschaftlerfeld hinein zu überschätzen unddamit zu vergessen, welche langfristige Überzeugungsarbeit vom Sinneiner solchen Perspektive hier noch geleistet werden muss.

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3 Der Herstellungsprozess der �Praxisforschung�

Diese Aktualität des Themas �Praxisforschung�, so schwer sich auchdie Wissenschaftlergemeinde immer noch damit tun mag, sollte aller-dings nicht nur als Resultat einer gegenwärtigen Zuspitzung der For-schungsdynamik gedeutet werden. Denn diese Vordergründigkeit wür-de den Umstand allzu sehr in den Hintergrund treten lassen, dass diekontinuierliche Präsenz dieser Forschungsstrategie seit den spätensechziger Jahren auf ein tieferliegendes Spannungsverhältnis zwischenWissenschaft und Wirklichkeit oder besser: zwischen Wissenschaftsori-entierung und praktischer Handlungsorientierung hinweist. Der Hinweisauf den Kontrast dieser zwei Orientierungen verdeutlicht, dass dasThematisieren der Praxisforschung auf eine durchaus eigenständigeGeschichte in der Bundesrepublik zurückblicken kann. In gewissemSinne kann man sogar sagen, dass die Kategorie selbst bereits dasResultat eines langjährigen Diskurses darstellt und sich ihre Existenzalso einem besonderen Herstellungsprozess verdankt.

Ausgangspunkt der klassischen Verwendungsdiskussion war zweifellosdie Auseinandersetzung mit dem naiven Modell einer �Anwendung von(sozialwissenschaftlichem) Wissen�, wie es noch bis in die siebzigerJahre in den Ministerialbürokratien, Landesbehörden, örtlichen Ämtern,Verbänden usw. als Alltagswahrnehmung präsent gewesen ist. Öffent-lich sichtbar wurde die unausgesprochene, aber wirkungsmächtigeBindung an das Modell vor allem ex negativo: in der Klage über diemangelhafte sozialwissenschaftliche Fundierung administrativer Ent-scheidungsprozesse und in der ständigen Forderung, sozialwissen-schaftliche Forschungsergebnisse direkt und kontinuierlich in den admi-nistrativen Handlungs- und Entscheidungsprozess einspeisen zulassen, dadurch diesen selbst dauerhaft zu qualifizieren und damit einkrisensensibles Instrumentarium für eine sozialwissenschaftlich ange-reicherte gesellschaftliche Dauerbeobachtung zu gewinnen, auf dasmoderne Gesellschaften immer weniger verzichten könnten. Dort, wodie administrative Bearbeitung aktuell dringlicher Problemsituationen imZentrum stand, schien es für deren Vertreter im Grunde nur darauf an-zukommen, dass das geeignete Wissen an die richtigen Verwendungs-stellen kam, damit es dann dort seine segensreichen Potenzen voll undungehindert entfalten könnte. Im Zentrum stand hier also eigentlich nurdas effektivere Arrangement der Transportkanäle von sozialwissen-schaftlichem Wissen, nicht aber die transformierende Wirkung des In-puts von neuen Wissenbeständen auch für die Verwaltung und derenVermittlungsinstitutionen selber. Die Frage, ob nicht die Qualität und der

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Gehalt der Wissenstransfers auch tiefgreifende Veränderungen in denTransportmedien des Wissens selbst zur Folge haben müssten, bliebdamit ausgespart und fiel nicht in die Zuständigkeit eines solchen Ver-ständnisses von Wissensmanagement.

Jedoch war dieses �naive� Verwendungsmodell damals durchaus nichtdie einzige Option innerhalb des Spektrums, die Verwendungsproble-matik zum Thema zu machen. Gleichzeitig entwickelte sich aus den in-tellektuellen Umwälzungen der Sechziger heraus eine Sozialforschung,die sich als dezidiert kritisch begriff und die ihre maßgebliche Orientie-rung nicht im Verbessern und Differenzieren administrativer Kapazitätenzur Problembearbeitung sehen wollte, sondern die sich als Geburtshel-fer oder doch wenigstens Unterstützer von �Basiswiderstand� sozialunterprivilegierter Gruppen gegenüber diesen, von administrativer Logikgeprägten Problemzuschnitten verstand. Die sich aus solcher Gegen-wehr entwickelnde �Aktionsforschung� hat der Diskussion über die Dy-namik der Wissensverwendung innerhalb der kritischen Sozialwissen-schaften lange den Stempel aufgedrückt und die Forscher gezwungen,sich über die Nutzungsdimensionen der Sozialwissenschaften jenseitsder klassischen Theorie-Praxis-Dichotomie zu verständigen.

Allerdings hat die Handlungsperspektive, sich gewissermaßen als dau-erhafte �Guerilla inmitten der Bürokratie� zu verstehen, nicht den Testder Wirklichkeit bestanden. Dafür waren nicht nur die damit zwangsläu-fig entstehenden Rollenkonflikte und Loyalitätsdiskrepanzen für die For-scher in den administrativen Settings verantwortlich. Auch eine zweiteErkenntnis vermittelte sich im politischen Prozess dieser Aktionsfor-schung. Entgegen dem basisdemokratischen Pathos der Aktionsfor-schung ging auch sie implizit von einer �Hierarchie des Wissens� aus:die intellektuell versierten und theoretisch gebildeten Forscher mit dem�großen Durchblick� geben danach den, letztlich nur durch ihre eigene�Betroffenheitsdynamik� zusammengehaltenen Widerstandsformen dieeigentlich politische Richtung der Wissensanwendung vor. Die Praxisder Aktionsforschung zeigte aber ein weitaus weniger einseitig gerich-tetes Bild: es wurde sehr rasch offenbar, dass gerade Basisgruppen,Bürgerinitiativen, problemzentrierte Protestformen, schließlich sozialeBewegungen ihre eigenen sozialen Logiken entwickeln, die die betei-ligten Sozialforscher zu neuen Erfahrungen und sozialen Lernprozes-sen nötigen und die nicht mit einem hierarchischen Verständnis derWissensverteilung zu vereinbaren sind.

Auch wenn sich also die Hoffnungen an eine Aktionsforschung sehrbald als übersteigert und deren Prämissen als fragwürdig herausstell-

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ten, so wird man doch den durch sie erzwungenen intellektuellen Klä-rungsprozess über die Dynamik der sozialwissenschaftlichen Wissens-verwendung heute als wichtigen Gewinn bewerten müssen. Die sichdaran anschließende Neuverständigung über die �Verwendungszu-sammenhänge sozialwissenschaftlichen Wissens� in den achtziger Jah-ren und der daraus entstehende Diskurs der �Praxisforschung� habenzweifellos aus beiden Optionen die entscheidenden intellektuellen An-regungen entnommen.

4 Die Anregungskraft der Verwendungsforschung

Der Hinweis auf die Dominanz des �naiven Modells� hat schon die Erb-schaft verdeutlicht, mit der eine Verwendungsforschung sich auseinan-derzusetzen hatte. Um noch einmal den entscheidenden Punkt hervor-zuheben: Grundlage solcher pejorativen Einschätzungen ist und bleibtimmer noch die Annahme einer klaren und letztlich nicht aufhebbaren,weil gegenstandsimmanenten Hierarchie � einer Hierarchie zwischender Qualität wissenschaftlicher Erkenntnisfindung bzw. Wissensorgani-sation auf der einen Seite und praxisorientierten Handlungszusammen-hängen mit ihren (angeblich) unsystematisierten Vollzügen anderer-seits. Dieses an sich doch recht krude Selbstverständnis einerGegenüberstellung von �Ordnung� und �Chaos� scheint auch verschie-dene Versuche in den siebziger und achtziger Jahren unbeschadetüberstanden zu haben, in denen das hermetisch Abgeschlossene einersolchen Kontrastierung durch Forschungsaktivitäten über den Wegeiner praktischen Verwendungslogik von sozialwissenschaftlichem Wis-sen aufgelöst werden sollte.

Gerade weil diese Diskussion auch wesentliche Anregungen für eineNeukonzeptionierung von �Praxisforschung� geliefert hat, sollte an eini-ge Ergebnisse dieser Forschung in aller Kürze noch einmal erinnertwerden. Denn gerade das Infragestellen solcher überkommenen Hie-rarchien zwischen �Wissenschaft� und �Praxis� gehörte zum zentralenResultat dieser Verwendungsforschung. Sie setzte dieser Trennungs-perspektive ein definitives Ende: zum einen durch die bewusste undgezielte Dynamisierung der Grenzen zwischen beiden Systemen, aberauch durch den Versuch, sich Rechenschaft abzulegen über die hoch-ambivalente Situation des Sozialwissenschaftlers in der Konfrontationmit der Praxis, die zu einem Spannungsverhältnis zwischen kollegen-abhängiger und klientenabhängiger Praxis führt. Dieses Gewicht, das

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der Reflexivität des Forschers und damit auch der Dynamik des kon-kreten Forschungssettings in der Verwendungsforschung verliehenwurde, war dann auch die Basis für einen veränderten Blick auf die ge-samte Verwendungssituation. Daher lautet die Essenz der Lehre ausdieser Forschung: sozialwissenschaftliches Wissen ist aufgrund derStruktur seiner Inhalte und seines Gegenstandes nur im Zuge eines ge-sellschaftlichen Prozesses umsetzbar, der von je unterschiedlichenAkteuren unter dauernder reflexiver Veränderung der eigenen Hand-lungsbedingungen getragen werden muss.

Zentrales Ergebnis einer solchen Verwendungsforschung war sicherlichdie dort gelungene Rehabilitation der �Eigenlogik� von Handlungssys-temen. In der Perspektive von den �zwei Welten� in Wissenschaft undPraxis ist eine solche Eigenlogik durchaus schon als intervenierenderFaktor erkannt. Aber sie gilt zuallererst als eliminationsträchtige Stö-rung. Nun wechselte die Berücksichtigung solcher Eigenlogiken sozu-sagen vom Rand ins Zentrum der Analyse. Der analytische Blick kon-zentrierte sich zuerst auf die Anwendungssituation, dann öffnete sichdie Sicht auf Motivkonstellationen der Kooperierenden in der konkretenPraxis, in der die wissenschaftlichen Disziplinen und z. B. professionelleSozialarbeit zusammenwirkten. Schließlich wurde die Perspektive hinzur Analyse der �inneren Rationalität� von Handlungszusammenhängenerweitert, eine Orientierung, die der Analyse auch eine womöglichstrukturtheoretische Unterfütterung verleihen konnte (vgl. statt anderer:Beck & Bonß 1989)

Nahm man diese Perspektive der Verwendungsforschung für sich inAnspruch, dann musste allerdings die Annahme einer essentiellenTrennbarkeit von �Wissensproduzent� und �Abnehmer� sich notwendi-gerweise auflösen. Nun erscheint �Wissensverwendung� als ein vielfäl-tiges Netzwerk von sozialen Beziehungen, als ein Feld, in demverschiedene Blickrichtungen von aufeinander bezogenen Gruppen,Institutionen und Individuen miteinander konfrontiert werden. Undsolche Konstellationen machen konfliktreiche Aushandlungsprozessezwischen den Definitionsbereichen notwendig. Die erwähnten �Eigenlo-giken� oder �partiellen Rationalitäten� von Situationen, von Gruppenak-tivitäten, von Organisationen müssen damit einen neuen und zentralenStellenwert in der Analyse von Verwendungsprozessen gewinnen, stel-len also nicht mehr länger eine vernachlässigenswerte Residualkatego-rie dar, wie noch im traditionellen Modell der �getrennten Systeme�.

Dass eine solche Ausformulierung der Verwendungsanalyse auch Kriti-ker haben würde, konnte nicht überraschen. Die mit dieser intellektuel-

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len Ausrichtung verbundene Problematisierung der Verwendungsein-flüsse wurde mit dem Vorwurf des Relativismus und einer tendenziellenVerselbständigung dieser Handlungsrationalitäten bedacht, in denenkeine Relevanzhierarchien mehr kenntlich seien und damit eine prinzi-pielle Gleichrangigkeit der Wissensformen unterstellt werde. Der sich inder Verwendungsforschung materialisierende Konstruktivismus hat je-doch einen klar umrissenen Weg mit deutlichen Implikationen gezeigt:von der Frage nach identifizierbarem Wissen hin zu einer Rekonstrukti-on des Verwendungsprozesses selbst zu gelangen, die auch eine ei-genständige Transformation der darin benutzten Wissensformen ein-schließt, damit also auch neue Qualitäten anspricht, die wieder auf dieVerwendung selbst zurückwirken.

5 �Praxisforschung� im Kreuzungspunkt von�Disziplinarität� und �Professionalität�

In neueren Beiträgen aus Soziologie, Pädagogik und Sozialarbeitswis-senschaft ist allerdings noch grundsätzlicher gefragt worden. �Diszipli-narität� und die im praktischen und beruflich definierten Handeln sichverdeutlichende �Professionalität� werden nicht mehr auf ihr möglichesSpannungsverhältnis befragt, sondern die These ist, dass es sich hiereigentlich um zwei Prozesse einer professionellen Habitusbildung han-dele, die miteinander in systematische und kontinuierliche Beziehunggesetzt werden müssten. Der eine Habitus mache zu entscheidungs-entlasteten und bewusst handlungsdistanzierten Rekonstruktionen fä-hig, der andere Habitus erlaube eine arbeitsfeldbezogene, professionellreflektierende Entscheidungsfähigkeit. Also nicht �Wissenschaftler� und�Praktiker� stehen sich hier gegenüber, sondern vielmehr käme es aufdie den Forschenden zugrundeliegenden ethischen Orientierungen,Haltungen oder Aneignungsweisen an, die es erlauben würden, gewis-sermaßen Gegenhalt gegenüber einer Vereinseitigung der Perspektiveimmer mitzuorganisieren und dies zum Zentrum der Verwendungsdy-namik im Sinne einer dauernden kritischen Intervention zu machen (vgl.z.B. Oevermann 1996).

Es sind dies Hinweise, die allerdings nicht nur gegenüber immanentenHierarchisierungsprozessen aus der Wissenschaftlerperspektive Gel-tung beanspruchen. Aus meinen eigenen Erfahrungen in der Lehre vonStudenten der gerontologischen Aufbaustudiengänge lassen sich zwei,durchaus unterschiedliche Umgangsweisen mit der Domäne wissen-

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schaftlicher Selbstrepräsentation entnehmen, die beide nicht zu einersolchen distanzleistenden Habitusbildung verhelfen, sondern diese di-rekt behindern. Zum einen ist immer noch ein lange subkutan gehalte-nes Unterlegenheitsgefühl gegenüber wissenschaftlichen Diskursenfestzustellen. Im regulären Alltag der Lehrerfahrungen tritt diese Ge-fühlslage allerdings nicht offen zu Tage, sondern beweist sich in eherkritischer Distanz zur Wissenschaftskultur und stellt stattdessen dieserdie �Logik der Praxis� gegenüber. In einem dominant von wissenschaft-lichen Wertvorstellungen geprägten Verhandlungskontext wird dieseWiderständigkeit dann aber sehr oft nicht bewahrt, sondern aufgrundeines situativ veranlassten Sicherheitsbedürfnisses recht schnell inmanchmal geradezu übereifrige Anpassungsversuche an den herr-schenden Diskurs umgeformt. Damit wird aber nicht nur mangelndesSelbstbewusstsein offengelegt, sondern es wird gleichzeitig gerade je-ner Teil der Gegenöffentlichkeit geopfert, den es sich lohnen würde zubewahren und als Kontrastprogramm gegen die Wissenschaftskulturprogrammatisch ins Feld zu führen. Die zweite Umgangsform kenntdemgegenüber solche Ambivalenzen gar nicht mehr und ist damit min-destens ebenso problematisch wie die erste. Hier hat sich bereits einesichere und fest etablierte Perspektive auf die Praxis als einem domi-nanten Erzeugungskontext von Problemfeldern in der Gerontologieausgebildet. Fragen nach der �Wissenschaftlichkeit� der eigenen For-schungsweise und ihr inhärenten Fragestellungen werden oft gar nichtmehr verstanden, weil sich �Praxisforschung� schon längst zum nichtmehr weiter begründungsbedürftigen Selbstläufer mit Wachstumstrendentwickelt hat. Für eine wirklich reflexive Sichtung der gegenwärtigenForschungsdynamik kann dies eigentlich nur heißen: Überlegenheits-gefühle aus einer sich bereits verselbständigenden Praxisforschungmüssen ebenfalls dauernd kritisch auf ihre Möglichkeit befragt werden,eigenständige Distanzleistungen zum forschenden Arbeitsprozess zuerbringen.

In den eben angesprochenen Diskussionen aus Pädagogik und So-ziologie werden zumindest theoretisch die unterschiedlichen Ausgangs-bedingungen für die Ausformung solcher Habitualisierungen durchausernsthaft angesprochen. Überhaupt eine Differenz von entscheidungs-entlastetem Habitus und einem arbeitsfeldbezogenen Habitus anzu-nehmen, behält ja durchaus noch die Eigenheiten der je spezifischenWissensaneignung im Blickfeld. Aber das Verhältnis zueinander isteben nicht mehr hierarchisch in unterschiedlichen Wertigkeiten definiert,sondern bestimmt sich nun gleichberechtigt nur durch die zeitweise Nä-he zum konkreten Arbeitsfeld in der Praxis. Hinzu kommt mit einer sol-chen Unterscheidung zweier Habitusgestalten die Leistung einer impli-

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ziten Prognose in die Zukunft: es wird damit nichts weniger als die mög-liche Ausformung eines neuen Typus des Professionellen beschrieben,der hier gewissermaßen als Vision und neuer Persönlichkeitscharakterder Dienstleistungsgesellschaft entworfen wird. Zu dessen Leitbild ge-hört dann eben die Möglichkeit, wahlweise je nach konkreter Praxissitu-ation verschiedene Perspektiven der bewussten Distanzsetzung bzw.einer relativ gehaltenen Nähe auf das jeweilige Arbeitsfeld zu entwi-ckeln und das daraus resultierende Haltungsrepertoire als zukünftigzentrales Element der Konstitution professionellen Handelns zu be-greifen.

Praxisforschung im wohlverstandenen Sinne sollte daher diese Art derHabitusbildung zum Organisationsmittelpunkt der forschenden Aktivitä-ten machen und an seiner Ausformung und Verstetigung arbeiten (s.auch: Müller 1999). Es ist daher konsequenterweise für die Zukunft zufragen, ob diese Habitusanforderung sich auch als adäquater Ausdruckder zu Beginn skizzierten Dynamisierung der Forschungslandschaft in-terpretieren lässt. Distanz sowohl gegenüber den, traditionellerweisevorherrschenden, öffentlich dominierten Forschungskontexten als auchgegenüber den nun an Bedeutung zunehmenden privat bestimmtenForschungsbereichen zu zeigen, lässt womöglich erst die gegenwärtigeVielfalt von Nutzungsdimensionen klarer ins Gesichtsfeld treten. Dazugehört es aber auch, die jahrzehntelang von vielen Sozialforscherngehegte Präferenz öffentlicher Forschungsförderung in ihren Voraus-setzungen offen zu überprüfen. Und dies würde die Revision der unein-gestandenen Annahme bedeuten, gerade dort würde das der For-schungsförderung zugrundeliegende �allgemeine Interesse� eine zu en-ge Bindung an praktische Nutzungsdefinitionen verhindern, während�private Interessen� notwendig keine Spielräume über den unmittelba-ren Nutzungsraum hinaus zuließen. Habitusbildung konkretisiert sichdemgegenüber über die Distanzhaltung hinaus als Aufforderung, dieAnteile von Disziplinarität und Professionalität jeweilig konkret zubestimmen und auszuhandeln, ohne sich einseitig von vorneherein aufeine der beiden Seiten zu schlagen.

6 Verschränkungen der Diskurse in derProfessionalisierungsdebatte

Dass die Wirklichkeit der durch die gegenwärtige Praxisforschung er-hellten Handlungszusammenhänge in aller Regel noch weit von der

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Ausbildung solcher Habitusformen entfernt ist, wird man nicht bestreitenkönnen. Allerdings sollte dieser zweifellos zutreffende Befund nicht dar-an hindern, jene positiven Bedingungen zu seiner Etablierung gesell-schaftspolitisch etwas näher zu bestimmen, die solche Habitusausprä-gungen zumindest wahrscheinlicher machen könnten. Um hier etwasdifferenzierter argumentieren zu können, wird man vor allem Entwick-lungen und Diskussionen in den angloamerikanischen Ländern genauerverfolgen müssen.

Vor allem hat mich hier die seit längerem in Großbritannien geführteDiskussion über �interprofessionalism� interessiert, die im gemeinsamenFeld zwischen Gerontologie und Pflegewissenschaft geführt worden ist,inzwischen auch schon (immerhin seit 1986) eine eigene Zeitschrift, das�Journal of Interprofessional Care�, begründet hat und seit 1997 sogarschon mit einer gewissen resümierenden Perspektive auf ein eigenesHandbuch, das Handbook of Interprofessional Work (Thompson, Mat-thias & Ovretiet 1997) zurückschauen kann.

Ausgangspunkt dieses Diskussionszusammenhangs war die Fragenach dem Management und dem Wandel der Identitäten von professio-nellen Gruppen, Service-Nutzern und der Veränderung von Abklä-rungsprozessen der Identitäten zwischen diesen Gruppen innerhalb dermodernen und postmodernen Dienstleistungsgesellschaft. Ohne nundas �Identitätsmanagement� zur notwendigerweise einzigen relevantenDeterminante dieser Dynamik zwischen Gabe und Empfang derDienstleistung erklären zu wollen, zentriert sich diese Diskussion, die imübrigen durch vielfache empirische Studien unterstützt wird, letztlich aufdie Herstellung von Prozessen der Koproduktion sozialer Dienstleistun-gen. Durchaus im Sinnzusammenhang einer Praxisforschung wird derDualismus von �Wissenschaft� und �Praxis� im Diskurs des Interprofes-sionalismus gezielt erweitert durch eine Art der �Triangulierung�, d.h.durch die systematische Einbeziehung der �user participation� als dritterReferenz- und Interaktionsebene. Die Dynamik des produktiven Aus-handelns und Abgleichens von Identitäten, aber auch der jeweiligenGrenzziehungs- und Abgrenzungsprozesse zwischen den Domänen derprofessionellen Selbstverständigung machen hier so etwas möglich wieeine Analyse des �Innenlebens� der Praxis, die entsteht, wenn mehrereprofessionelle Situationsdefinitionen aufeinander treffen und gewisser-maßen wechselseitig neujustiert werden müssen.

Bis heute sind die Teilnehmer der Diskussion über den Interprofessio-nalismus uneinig über die langfristig erwartbaren Konsequenzen, diesich für die Beziehungen im interprofessionellen Feld ergeben könnten.

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Eine eher optimistische Variante betont für die Betrachtung des Zu-sammenhangs von Identitätsmanagement und sozialen Beziehungenden höheren Grad an Rollenflexibilität, der sowohl für Servicenutzer alsauch die unterstützenden Professionellen aus der interprofessionellenDynamik resultiere. Ein spezifisches Gewicht erhält hier das alte Prob-lem der Interdisziplinarität. Hier stellt es sich aber nicht mehr wie vorherals systematisches, aber doch immer uneingelöstes Kooperationsver-sprechen seitens verschiedener sozialwissenschaftlicher Disziplinen.Vielmehr erscheint es nun als ein wichtiger Unterstützungsfaktor bei derHerstellung solcher Rollenflexibilitäten, die gewissermaßen �Partner-schaften� von Professionellen und Nutzerdefinitionen ermöglichen kön-nen.

Deutlich wird sicherlich auch, dass klare Berührungspunkte zwischender hier vorgelegten Verwendungsanalyse und der angesprochenenDiskussion über den Interprofessionalismus bestehen. So könnte manz.B. die weiter oben unterschiedenen Habitusbildungen durchaus alseine spezifische Form solcher Rollenflexibilitäten begreifen. Unsicher-heit besteht allerdings über die Gestaltbarkeitsvielfalt solcher Rollen: jeundeutlicher und weniger fixiert Identitätskonzeptionen überhaupt ge-samtgesellschaftlich im Alter erscheinen � ich erinnere nur an das oftzitierte Stichwort einer zunehmenden Pluralisierung von Lebenformenim Alter � desto schwieriger ist auch die Dynamik im Austausch- undAbgleichungsprozess des professionellen Feldes wie auch zwischenden erwähnten drei Domänen einzuschätzen. Hier macht sich nun dieeher pessimistische Variante dieser Einschätzungen bemerkbar, diezudem auf gewichtige empirische Befunde verweisen kann. Zweifellosließen sich z.B. in Studien in Großbritannien unter dem Druck neuer in-terner Märkte in den Gesundheitsleistungen Tendenzen des defensiven�Einbunkerns� der Professionen belegen oder Tendenzen einer erhöh-ten Sichtbarkeit von sich steigernden Rivalitäten zwischen professio-nellen Gruppen ausmachen. Statt zunehmender Verunklarung der pro-fessionellen Identitäten, wie die optimistische Variante annahm, warman also eher Zeuge eines Rückzugs auf rigidere Identitätsdefinitionen,um damit zur Sicherung einer berechenbaren Umwelt für diese profes-sionellen Gruppen beizutragen.

Es zeigt sich klar: die Diskussion der Verwendungsdynamik bewegt sichzumindest auf dem gerontologischen Hintergrund � und dies ist sicherein weiterer positiver Einfluss der pflegewissenschaftlichen Verstän-digung � in die Richtung einer mikroanalytischen Ausrichtung derVerwendungsdiskurse. Dies jedoch nicht als Verleugnung der großengesellschaftliche Linien, in die sich eine Verwendungsdiskussion einzu-

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passen hat. Wie allein schon die Bezugnahme auf die Pluralisierungvon Lebensformen zeigt, bietet das Stichwort des Identitätsmanage-ments gesellschaftstheoretisch reichhaltige Anknüpfungspunkte für sol-che Analysen � Verbindungen zu Lebensstilanalysen im Alter würdensich z.B. anbieten. Aber trotz dieser Erweiterungsmöglichkeit zeigt dieDiskussion des Interprofessionalismus doch unmissverständlich, dassdas entscheidende Zentrum der zukünftigen gerontologischen Verwen-dungsanalysen in diesem beschriebenen professionellen Aushand-lungs- und Abgleichungsprozess liegen muss und dass die zunehmendwichtigere Praxisforschung von eben diesen Konstellationen bestimmtwerden wird.

Literaturverzeichnis

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Thompson, P., Matthias, S. Ovretiet (1997). (Hrsg.). Handbook of Interpro-fessional Work. London.

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Zum Verhältnis von Forschung und Praxis inder Sozialen Gerontologie:

Allgemeine Überlegungen und eine konkreteReaktion auf den Beitrag von v. Kondratowitz

Hans-Werner Wahl

Deutsches Zentrum für Alternsforschung an derUniversität Heidelberg

1 Ausgangs- und Bezugspunkte des Beitrags

Diesem Beitrag müssen die folgenden Bemerkungen vorangestellt wer-den: Zum ersten sei gesagt, dass es sich bei dem Autor dieser Zeilennicht um einen Wissenschaftshistoriker oder Wissenschaftstheoretiker,sondern lediglich um einen aktiven Teilnehmer und gleichzeitig interes-sierten, teilnehmenden Beobachter der gerontologischen Forschunghandelt. Man mag dies bei der Gerontologenzunft insgesamt für eineselbstverständliche �Personalunion� halten, jedoch fanden und findensich insgesamt zumindest in der Gerontologie im deutschsprachigenRaum nur relativ wenige Publikationen, die in eine solche Richtung wei-sen bzw. die entsprechenden Fragen aufgreifen (vgl. neuerdings z.B.Karl, 2000; vgl. auch Rosenmayr, 1979, 1982).

In der Regel verhindern wohl die Sachzwänge des �Forschungsalltags�allzu häufig Reflexionen über das eigene Fach, und dies ist an sichauch nicht zu kritisieren. Dennoch ist es wohl für die Weiterentwicklungder deutschen Gerontologie, speziell die soziale und auch die psycho-logische Gerontologie (im weiteren ist in formal, aber nicht inhaltlichverkürzender Weise nur noch von �Sozialer Gerontologie� die Rede),wie für jede Wissenschaft, bedeutsam und vielleicht sogar kritisch, dieeigene Wissenschaftsentwicklung, den erzielten Stand (in seiner gan-zen Heterogenität) sowie die Abwägung möglicher Zukunftsoptionen vordem Hintergrund dieses Stands, in deutlich intensiverer Weise als inletzter Zeit geschehen in den Mittelpunkt zu rücken. Auf jeden Fallscheint es mir unstrittig, dass die deutsche Soziale Gerontologie sich inVeränderung befindet und die in den 70er und 80er Jahren geführtenDebatten (etwa jene um die Berechtigung einer Defizit- versus Kompe-

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tenzsicht des Alters oder jene nach der Bedeutung einer guten versusschlechten ökonomischen Ausstattung für Altern), so wichtig, ja, ent-scheidend, sie im historischen Kontext für die Alternsforschung undPraxis auch waren, heute wenig helfen.

Es ist aus diesem Grunde aus meiner Sicht sehr zu begrüßen, dass imRahmen der Veranstaltung �Gerontologie und Sozialpolitik� des Deut-schen Zentrums für Altersfragen (DZA) in Berlin im Oktober 1999 auchgrundsätzlich über die Gerontologie bzw. die Soziale Gerontologienachgedacht werden konnte (und durfte). Und 25 Jahre DZA sind si-cherlich Anlass genug, um dies zu tun. Aber braucht die sozialwissen-schaftliche Gerontologie überhaupt solches Bemühen, befindet sie sichgar in einer Krise? Auf den ersten Blick sind nur wenige Anzeichenhierfür zu erkennen, denn allerorten sind intensive und vielfältige For-schungsbemühungen und neue Impulse im Bereich der Lehre zu er-kennen. Kontroversen sind selten und, wenn überhaupt, kurzfristigerNatur; sie weichen sehr schnell wieder dem Bemühen um Harmonieund gegenseitige Anerkennung. Also ein guter, ein zufriedenstellenderZustand, eine Zustand des �Weiter so�, den die Soziale Gerontologieheute erreicht hat?

Im Folgenden will ich mich dieser Frage in zwei Schritten zuwenden: Ineinem ersten Schritt sei der Versuch unternommen, mehr beobachtend,denn stringent analytisch argumentierend, zwei Strömungen der derzei-tigen nationalen wie internationalen sozialgerontologischen Diskussionund Reflexion zu akzentuieren: zum einen die Tendenz hin zu einer�Praxiswissenschaft�, zum anderen die Auseinandersetzung mit derFrage nach der Rolle von Theorien. In einem zweiten Schritt verstehtsich der Beitrag auch als eine Antwort auf den in diesem Buch enthalte-nen Aufsatz von von Kondratowitz mit dem Titel �Determinanten undDynamiken der Verwendung sozialgerontologischen Wissens� (der wie-derum auf einem Vortrag auf der erwähnten Tagung basiert).

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2 Zwischen Praxis und Theorie � einigeBeobachtungen der aktuellen Sozialgerontologie

2.1 Vom Anwendungs- und Praxisdruck der heutigen SozialenGerontologie

Die sozialgerontologische Forschung hat sich wohl von Anfang an einersehr starken Praxislegitimation ausgesetzt gesehen bzw. diese Praxis-legitimation auch selbst aktiv gesucht und befördert. Es bestand vonBeginn an, spätestens aber seit etwa Ende der 60er Jahre, seitens derGesellschaft die Erwartung, dass (auch) sozialgerontologische Erträg-nisse (und nicht etwa nur Erkenntnisse und Fortschritte der biologisch-medizinischen Forschung) das ganz konkrete Altern verbessern sollten.Diese Erwartung entwickelte sich von einem anfänglichen Randdaseinder Sozialen Gerontologie innerhalb des gesellschaftlichen und politi-schen Bewusstseins zu einem heute recht wesentlichen Eckpfeiler, dersich nicht zuletzt aus der nun voll ins Rampenlicht getretenen �Ergrau-ung� der Gesellschaft mit allen Folgefragen (wir wollen hier bewusstnicht von �Folgeproblemen� sprechen) wie auch aus den zwischenzeitli-chen Anwendungsleistungen des Faches erklären lässt. Nachdem es inden 70er Jahren zu einem regelrechten Kult des Interventionismus vorallem in den USA gekommen war, dem hinsichtlich der Veränderungvon Altern nichts mehr unmöglich schien, setzte auch im deutschspra-chigen Raum mit voller Kraft eine Strömung ein, die seit Lehr (1979; vgl.auch Rosenmayr, 1979) häufig mit dem Begriff der �Interventionsge-rontologie� bezeichnet wurde und neuerdings häufiger auch unter derBezeichnung einer �Angewandten Gerontologie� firmiert (Karl, 2000;Wahl & Tesch-Römer, 2000).

Aber nicht nur seitens der Gesellschaft hat der (ganz im positiven Sinnegemeinte) Erwartungsdruck hinsichtlich der Anwendungspotenz von so-zialgerontologischen Erkenntnissen deutlich zugenommen. Auch ausder Perspektive der Sozialgerontologie selber, und dies schließt indirekter Weise an das eben Gesagte an, ist ein über die Jahre stetigzunehmender Anspruch zu erkennen, empirisch fundierte Verände-rungsoptionen für Altern heute und morgen anbieten zu können. Ge-rontologische Identität wird heute regelhaft und allgemein anerkanntnicht nur mit den Komponenten einer guten Beschreibung und Erklä-rung, sondern auch mit jener der Modifikation und Optimierung von Al-ternsverläufen untermauert (Baltes & Baltes, 1992; Wahl & Tesch-Römer, 1998). Es ist dabei im Wissenschaftsalltag durchaus interessantzu beobachten, wie sich bisweilen Gerontologen und Gerontologinnen

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je nach Kontext von ihrer Identität als Grundlagenwissenschaftler in die�andere� Identität des �Praktikers� begeben, ja, manchmal sogar beson-ders stolz darauf zu sein scheinen, auch als Praktiker und Praxiskenneranerkannt zu sein. Bisweilen kann diese Praxisnähe hie und da in einerdann paradoxen Variante sogar zu einem Differenzierungs- und Profilie-rungskriterium innerhalb der wissenschaftlichen Gemeinde werden.

Der �Anwendungsdruck� auf die sozialgerontologische Forschung heutelässt sich auf verschiedenen Ebenen erkennen bzw. konvergierend il-lustrieren. So haben zwischenzeitlich Forschungsförderungen seitensdes Bundes, der Länder und Gemeinden einen erheblichen Platz inner-halb des gerontologischen Gesamtforschungsförderungsspektrums ge-wonnen, zumal dabei nicht selten eher gewisse �Passungen� anstellevon rigorosen Reviewverfahren die Mittelvergabe bestimmen. Die dabeigegebenen Forschungserwartungen sind verständlicherweise vor allemauf schnellstmögliche Anwendung und Umsetzung ausgerichtet. Eben-so ist beispielsweise auch das für die gerontologische Forschungsförde-rung immer relevanter werdende Forschungsförderprogramm der Euro-päischen Kommission in starker Weise auf Anwendung bezogen(�community-added value� etc.). Man gewinnt bisweilen den Eindruck,dass es zunehmend die Kunst des Forschens in der Sozialen Geron-tologie ausmacht, bei eigentlich in hohem Maße der Anwendungdienenden Forschungsförderungen auch genügend grundlagenwissen-schaftliche Substanz �herauszuschlagen� und entsprechenden Publika-tionsorganen zuzuführen. Hier ist allerdings, zumindest was den Buch-markt betrifft, auch zu konstatieren, dass es immer schwieriger wird,Verlage und Lektoren für die Verbreitung von Grundlagenerkenntnissenzu motivieren. Erwartet wird, vor allem bei begrenzter Bereitschaft zumEinbringen von hohen Druckkostenzuschüssen, das �Umschreiben� vonArbeiten (wie Dissertationen, Habilitationen, Projektberichte) im Sinneeiner �Praxisarbeit�. Und schließlich erleben es Gerontologen heuteauch in wohl stärkerem Maße als früher als eine Art Selbstverpflichtung,viel für die Dissemination ihrer Befunde zu tun. Selbst die DeutscheForschungsgemeinschaft ermutigt neuerdings dezidiert Grundlagenwis-senschaftler, ihre Ergebnisse sehr viel aktiver als �traditionell� (zumin-dest in Deutschland) in die Gesellschaft zu kommunizieren und etwa mithohem Engagement eine überzeugende �Pressearbeit� zu betreiben.Ein besonders gut gelungenes Beispiel dieses Bestrebens in den letz-ten Jahren ist für mich das Einbringen von wesentlichen Befunden derBerliner Altersstudie in anwendungsnahe Periodika wie etwa die �Alten-pflege� (vgl. Baltes, 1997).

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Besonders schwierig wird die Balance zwischen Grundlagenforschungund Anwendung allerdings bisweilen in jenen sozialgerontologischenThemenfeldern, die bereits durch ihren Forschungsgegenstand einehohe Praxisnähe aufweisen. Hier will ich nur kurz und beispielhaft, weildamit am besten vertraut, auf mein eigenes Forschungsgebiet, dieökologische Gerontologie, hinweisen (vgl. z.B. Wahl, Mollenkopf & Os-wald, 1999). Die Beschäftigung mit Fragen des Wohnens oder desWohnumfelds älterer Menschen ist sicherlich äußerst praxisrelevant.Allerdings hat man es bisweilen nicht einfach, zu argumentieren, dassauch in solchen Gebieten der Sozialgerontologie empirische Forschungauf gutem Grundlagenniveau möglich und notwendig ist, ohne dassdamit gleich ein Gewinn für zukünftige Wohnanpassungsmaßnahmenoder den Bau von Pflegeheimen verbunden wäre. Natürlich ist mit sol-chen Forschungsarbeiten die Hoffnung verbunden, zukünftige Wohn-planungen und �entscheidungen (etwa seitens der öffentlichen Förde-rer) auf eine bessere empirische Grundlage zu stellen, jedoch ändertdies nichts an der Berechtigung und Eigenständigkeit der untersuchteneher grundlagenwissenschaftlichen Fragen (in diesem Falle des Woh-nens als einem der zentralen Handlungs- und Erlebensbereiche ältererMenschen). Grundsätzlich besteht wohl insofern in vielen Bereichen derSozialen Gerontologie die Gefahr, zwischen alle Stühle zu geraten (fürdie �reine� Grundlagenforschung sind die Arbeiten �zu angewandt�, fürdie Altenhilfepraxis sind sie �Grundlagenforschung� und deshalb �zuweit weg�).

2.2 Theorien in der heutigen Sozialen Gerontologie:Theorienarmut oder Theorien-�Disuse�?

Nichts ist praktischer als eine gute Theorie. Diese auf Kurt Lewin zu-rückgehende Erkenntnis scheint in gewisser Weise in der heutigen So-zialen Gerontologie wieder aktueller denn je zu sein, wobei derzeit min-destens zwei Diskussionsstränge zu erkennen sind: Auf der einen Seitewird von führenden Vertretern des Fachs Klage dahingehend geführt,die Soziale Gerontologie habe zwar in den vergangenen 20-30 Jahreneine kaum mehr überschaubare Fülle von Daten und Einzelbefundenvorgelegt, jedoch sei sie nicht dazu in der Lage, diese in theoretischerWeise zu einem (mehr oder weniger) widerspruchsfreien, konzisen undschlüssigen Gesamtbild zu integrieren. An vorderster Stelle dieser �Be-wegung� ist Birren mit seiner zwischenzeitlich fast schon inflationär zi-tierten Aussage, die Gerontologie sei �data rich but theory poor�, zunennen (z.B. Birren & Bengtson, 1988, S. IX; vgl. auch Birren, 1999).Auf der anderen Seite haben Bengtson und Mitarbeiter in den letzten

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Jahren argumentiert, die verfügbare kritische Masse an Theorien in derGerontologie sei an sich vorhanden, jedoch würde diese nicht ange-wendet (Bengtson, Burgess & Parott, 1997; Bengtson , Rice & Johnson,1999). In einer noch stärkeren Variante dieses Arguments, wie sie andieser Stelle von mir hinzugefügt wird, hätten die heutigen Forschermöglicherweise gar verlernt, Theorien auf ihre Daten anzuwenden, d.h.,die in der Vergangenheit zu seltene Anwendung von Theorien hätte imSinne eines �Disuse�-Effekts auf der Ebene der Forscher dazu geführt,dass heute auf eigentlich vorhandene Theorien (zu) wenig zurückge-griffen wird bzw. dies von immer weniger Forschern überhaupt kompe-tent geleistet werden will bzw. kann. Drei Fragen stellen sich: Was hatPraxis mit Theorie zu tun? Besteht eine Theoriearmut in der sozialenGerontologie? Werden die vorhandenen Theorien zu wenig angewen-det? Beginnen wir mit der letzten Frage.

Bengtson und Mitarbeiter (Bengtson et al., 1997) haben die Behauptungeiner zu geringen Anwendung von verfügbaren Theorien nicht nur inter-pretativ oder gar impressionistisch auf der Grundlage der vorliegendenForschungsarbeiten abgeleitet, sondern auch empirisch überprüft undzwar in folgender Weise: Zunächst wurde eine Klassifikation der derzeitwichtigsten Theorien der Sozialen Gerontologie im angelsächsischenRaum vorgenommen, die zu 11 Ansätzen führte (eine kurze Kommen-tierung erfolgt hier aus Platzgründen nur dort, wo sie unbedingt not-wendig erscheint):

(1) Perspektive der Sozialkonstruktivisten (Tradition des symboli-schen Interaktionismus bzw. der Phänomenologie und der Ethno-methodologie; beispielsweise Arbeiten wie jene von Kuypers undBengtson, 1973, �Social Breakdown Theory�, oder von Gubrium,1975, 1993).

(2) Lebenslaufperspektive (z.B. P. Baltes, 1987; Kohli, 1988).(3) Austauschtheorien (z.B. Dowd, 1975).(4) Feministisch orientierte Theorieansätze (z.B. Ginn & Arber, 1995;

Rossi, 1985).(5) Modernisierungstheoretische Ansätze (Cowgill & Holmes, 1972).(6) Theorien zur politischen Ökonomie des Alters (diese Ansätze ver-

suchen insbesondere zu erfassen, wie ökonomische und politi-sche Einflüsse die Ressourcenallokation in Bezug auf Ältere anddamit auch Alterns insgesamt beeinflussen; z. B. Guillemard,1992; Walker, 1981).

(7) Kritische Theorie in der Sozialen Gerontologie (diese in der Tradi-tion der Frankfurter Schule stehenden Theorieansätze mit starkerÜberlappung mit den vorgenannten Ansätzen geben der Praxis-relevanz gerontologischer Forschung und der Rolle von �emanzi-

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patorischem Wissen� eine hohe Priorität; z.B. Dannefer, 1994;Moody, 1992).

(8) Altersstratifizierungsansatz (z.B. Riley, 1994).(9) Aktivitätstheorie (z.B. Tartler, 1961).(10) Kontinuitätstheorie (Atchley, 1989).(11) Disengagement-Theorie (Cumming & Henry, 1961).

Schon diese Klassifikation kann nach Bengtson et al. recht eindrucks-voll belegen, dass eine kritische Masse an theoretischen Ansätzen inder heutigen Sozialen Gerontologie durchaus vorhanden ist. Sie kannzudem belegen, dass diese Theorien recht gut das gerade für die Sozi-ale Gerontologie so wichtige Spektrum von Ansätzen auf der Makro-Ebene (Beispiel: Theorien zur politischen Ökonomie des Alters), überAnsätze auf der Makro-/Mikro-Ebene (Beispiel: Lebenslaufperspektive)bis hin zur Mikro-Ebene (Beispiel: Austauschtheorien) abdecken. Aller-dings: Diese Theorien werden nur selten angewendet, um empirischeUntersuchungen konzeptuell zu begründen bzw. die zugehörigen Er-gebnisse zu interpretieren und diskutieren. Bengtson et al. haben ins-gesamt acht der im angelsächsischen Raum wichtigsten wissenschaftli-chen Zeitschriften im Zeitraum 1990 � 1994 daraufhin untersucht, wiehäufig in den entsprechenden Beiträgen explizit auf die genannten bzw.auf andere Theorien rekurriert wurde. Das Ergebnis: In 72% der insge-samt 645 einbezogenen Arbeiten erfolgte keinerlei Rekurs auf eineTheorie, in nur 18% auf eine der genannten Theorien und in weiteren9% auf eine andere sozialwissenschaftliche Theorie. Man kann zwar,auch ohne dies im einzelnen quantitativ zu überprüfen, annehmen, dassdie Prozentzahlen sich bei einer Untersuchung von im engeren Sinnepsychologisch-gerontologischen Arbeiten (mit dann allerdings auch inTeilen anderen Theorien) günstiger darstellen würden, jedoch über-rascht insgesamt doch schon sehr, wie wenig Sozialgerontologen ihreeigenen Theorien in ihren besten Journals explizit anzuwenden schei-nen.

Hat demnach Birren mit seiner Behauptung einer Theoriearmut in derheutigen Gerontologie Unrecht? Liest man die neuesten Aussagen vonBirren (1999) zu diesem Thema, vor allem jene in dem von Bengtsonund Schaie (1999) herausgegebenen �Handbook of Theories of Aging�,so gewinnt man den Eindruck, dass auch Birren weniger die nicht vor-handenen Theorien beklagt (obgleich wohl heute eine generelle Stim-mung dahingehend existiert, es lohne nicht mehr, größere theoretischeEntwürfe zu entwickeln und zu publizieren), sondern die fehlende theo-retische Integration der vorhandenen �Datenflut�. Birren spricht in die-sem Zusammenhang gar von einem �Dust Bowl Empiricism� (1999, S.

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463): �The heritage of dust bowl empiricism, which still characterizes thestudy of aging to date, is the staggering amount of age-related data thatare difficult or impossible to integrate. Perhaps there will emerge an in-tegrating influence through more meta-analysis of studies in which theadditivity of information is a primary value� (1999, S. 463). Dem Zweifelvon Birren an der wirklichen Lösungspotenz von Meta-Analysen, denman in diesem Zitat herauslesen kann, kann sich der Autor dieser Zei-len nur anschließen. Bromley hat im übrigen bereits vor ca. 25 Jahreneine ganz ähnliche Beobachtung der gerontologischen Forschungs-landschaft wie folgt beschrieben: �Much of what we have learned con-sists of detailed, low-level, empirical observations, lacking system andexplanation. It is not sufficient merely to observe that certain agechanges take place; we need to know why they take place� (1974, S.372; Hervorhebung durch Bromley). Dies alles führt dann zu der imHinblick auf die Wissenschaftsentwicklung der Sozialen Gerontologierelevanten Frage, inwieweit eine Phase des �naiven� Empirismus schonüberschritten ist. Nach Bengtson und Birren ist die Soziale Gerontologiediesbezüglich, um es einmal so auszudrücken, noch auf dem Wege.Und Kurskorrekturen in Richtung einer (wieder?) stärkeren Durchdrin-gung des Fachs mit konzeptuellen und integrativen Überlegungen er-scheinen dringender denn je geboten zu sein.

Aber warum überhaupt Theorien? Was haben sie mit praktischenProblemlösungen zu tun? Lewin folgend, lässt sich vielleicht darauf mitBengtson et al. eine einfache Antwort geben: �If we don�t understandthe problem, how can we fix it?� (Bengtson et al., 1999, S. 7f.). DasWichtigste an dieser Aussage sehe ich darin, dass gute Theorien undihre Anwendung, und damit lassen sich noch einmal die Perspektivenvon Bengtson und Birren zusammenführen, immer zweierlei Funktionenerfüllen: Sie führen auf der einen Seite zu intellektuellen Fortschrittendes Faches und sie bieten gleichzeitig Personen des praktischenHandlungsfeldes (z.B. Sozialpolitikern) die Grundlage dafür, Entschei-dungen bezüglich der Allokation von Mitteln (zur Förderung von be-stimmten Wohnoptionen von Älteren, von bestimmten Interventionspro-grammen für pflegende Angehörige usw.) nicht nur aufgrund von planenZahlen (z.B. Anzahl von Substandardwohnungen, Prävalenz belasteterAngehöriger), sondern orientiert an möglichst guten Problemerklärun-gen auszurichten (vgl. auch Kühnert & Niederfranke, 1993).

Nach diesen allgemeinen Überlegungen hinsichtlich des Forschungs-Praxis-Verhältnisses sei nun im Folgenden die Diskussion anhand einerkonkreten Arbeit weitergeführt und ausdifferenziert. Es handelt sich ge-

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wissermaßen um eine �zweite Bewegung� zur Bearbeitung der weiteroben aufgeworfenen Fragen.

3 Die Arbeit �Determinanten und Dynamiken derVerwendung sozialgerontologischen Wissens�(v. Kondratowitz)

3.1 Versuch, diese thesenartig auf den Punkt zu bringen

Zunächst sei der Versuch unternommen, die Ausführungen der Arbeitvon Hans-Joachim von Kondratowitz (vgl. diesen Band) in den folgen-den vier miteinander zusammenhängenden Thesen zusammenzufas-sen und diese dabei, der Diskussion halber, hinsichtlich der einen oderanderen Aussage gleich noch etwas verschärft bzw. um einige rhetori-sche Zwischenfragen angereichert zu präsentieren.

These 1: Die sozialgerontologische Forschungslandschaft ist in einergrundlegenden Veränderung begriffen, die allerdings weniger wissen-schaftsintern, von theoretischen Umwälzungen und Neubesinnungeninnerhalb des Fachs getrieben ist, sondern vor allem von externenRahmenbedingungen herrührt. Speziell dezentrale Forschungsfördererbestimmen mit ihren Spezialinteressen zunehmend stärker das For-schungsbild der Sozialen Gerontologie. Zwischenfragen en passant: Istdies so? Und, wenn ja, warum? Und was heißt dies, wenn es denn soist, für das Fach Soziale Gerontologie? Ist es nicht ein Armutszeugnis,vielleicht gar eine gefährliche Tendenz, wenn weniger die eigenenkonzeptionellen und empirischen Weiterentwicklungen, sondern wis-senschaftsexterne Umstände die Forschungs- und Erkenntnisdynamikeines Faches bestimmen? Oder sind dies eindeutig vorteilhafte Ent-wicklungen? Im Interesse des Faches wie der älteren Menschen wieder Gesellschaft?

These 2: In der Zukunft werden in der Sozialen Gerontologie eine de-zentrale, von den unterschiedlichsten Akteuren geförderte Forschungs-politik, und die traditionelle öffentliche Forschungsförderung in immerengerer Weise miteinander verzahnt werden bzw. werden müssen. DieÜberlagerung beider Stränge wird zu einem zentralen Merkmal der so-zialgerontologischen Forschungsdynamik der Zukunft. Zwischenfragenen passant: Ist dies so? Und, wenn ja, was wird dies für die Entwicklungdes Wissenschaftsfachs Soziale Gerontologie bedeuten? Wird dadurch

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die Entwicklung eines konsistenten Wissenskorpus und werden integra-tive Bemühungen im Hinblick auf durchgängige und mehrfach bestätigteEinsichten gefördert � oder eher geschwächt werden?

These 3: Der Forschungscharakter der Sozialen Gerontologie als sol-cher wird sich verändern: Konkrete Sachprobleme sollen mittels mög-lichst effizienter Forschung in möglichst kurzer Zeit möglichst optimalgelöst werden. Umfassend angelegte Forschungsbestrebungen, die inRichtung von grundlegenden und allgemeingültigen Erkenntnissen zie-len, werden immer stärker in den Hintergrund treten. Zwischenfragen enpassant: Was bedeutet eine solche Entwicklung für ein Fach? Bestehtnicht die Gefahr, nicht zuletzt auch aus Gründen der vielversprechen-den Forschungsmittelakquirierung, nur noch einem Anwendungssognachzugeben? Andererseits: Aus den mehr als bekannten demografi-schen Gründen muss sich Gerontologie, nein, es ist zu personalisieren,müssen sich wissenschaftlich arbeitende Gerontologinnen und Geron-tologen morgen der Anwendungsfrage in noch sehr viel stärkerer Weisestellen, als dies heute bereits geschieht. Aber wo wird die Anwen-dungsmaxime kontraproduktiv für die grundlegenden Erkenntnisaufga-ben des Fachs Soziale Gerontologie bzw. wo verhindert sie seine weite-re Profilierung in der internationalen wissenschaftlichen Gemeinde?

These 4: Der alte Gegensatz zwischen Grundlagen- und Anwendungs-forschung ist in der Sozialen Gerontologie aufzuheben. Diese traditio-nelle Trennung führt heute und morgen nicht mehr weiter, �Wissenpro-duzenten� und �Abnehmer� sollten in einem komplexen System von�Wissensverwendung� miteinander verwoben werden, in dem sich Wis-senschaftler nicht elfenbeinturmartig von den Praxisanforderungen unddamit auch von Verantwortungen entlasten, sondern als Teil ihres pro-fessionellen Habitus� stets die Anwendungsseite, wie Kommunen,Wohlfahrtsverbände, Pflegeinstitutionen, Sozialpolitiker, mit im Augebehalten, also einen aktiven Part in der Verwendungsdynamik über-nehmen. Zwischenfragen von passant: Überwiegen in der Sozialen Ge-rontologie wirklich die Vorteile bei einer immer stärkeren Aufgabe derTrennung von Grundlagen- und Anwendungsforschung? Welche Ge-winne erhält das Fach von einer, wie von Kondratowitz und andere esnennen, �Praxisforschung� � und wo ergeben sich Begrenzungen undvielleicht deutliche Reibungsverluste?

Zunächst ist es aus meiner Sicht, und damit wiederhole ich nur die be-reits weiter oben getroffenen Aussagen, sehr wesentlich und wichtig,Überlegungen zu den, wie es in der Überschrift der Arbeit von vonKondratowitz heißt, �Determinanten und Dynamiken der Verwendung

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sozial-gerontologischen Wissens�, heute erneut an das Fach heranzu-tragen. Denn die gesellschaftliche und individuelle Realität des Alterns,und damit auch das Miteinander der Generationen, sind offensichtlich ineiner rapiden Veränderung begriffen, in einer Veränderung, von der ichbisweilen den Eindruck habe, dass sie von den im gerontologischenFeld tätigen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern sehr vielschwerfälliger und unschärfer erkannt wird, als von gesellschaftlichenInteressensgruppen, Politikern � in Teilen auch von der Privatwirtschaft,beispielsweise in Gestalt von Banken, Wohnungsbaugesellschaften bishin zu �Internet-Providern� und den Anbietern von sog. �intelligenten�Wohnlösungen. Zudem fällt es uns Gerontologen nun einmal sehrschwer anzuerkennen, dass viele Forschungsbefunde der 70er und80er Jahre, mühsam erworben und niedergeschrieben, heute und erstrecht morgen nicht mehr so richtig greifen. Vor diesem Grunde seieneinige Kommentare und Einschätzungen im Hinblick auf die Ausführun-gen von von Kondratowitz angeboten.

3.2 Kommentare und Einschätzungen

Was These 1 betrifft, so halte ich die Beobachtung einer immer stärke-ren Bestimmung der sozial-gerontologischen Forschung von dezentra-len Forschungsförderern für durchaus zutreffend. Allerdings muss manin diesem Zusammenhang auch bedauerlicherweise feststellen, dassdie sozialwissenschaftliche Gerontologie derzeit nur eine sehr be-grenzte, eigene theoretische Mission zu entwickeln in der Lage ist unddamit weiterhin in starkem Maße eigene Forschungsimpulse auf dieserBasis setzen könnte. Der beste Beleg hierfür scheint mir in den weiteroben herausgearbeiteten Theorie- bzw. Theorieanwendungsdefizitender heutigen Sozialen Gerontologie zu liegen.

So vermisse ich heute, vor diesem Hintergrund, ein gutes Stück weitfachimmanente, theoretische Reflexionen von Sozialgerontologinnenund Sozialgerontologen im Hinblick auf die offensichtlichen Verände-rungen des Alterns. Genannt seien nur einige Stichworte: Neue Wohn-formen, neue Technologien und Übergang zur Informationsgesellschaft,neue Pflege- und Versorgungskonzeptionen mit neuen Ansprüchen aufSeiten der Älteren, aber auch mit neuen Aspekten auf Seiten der pro-fessionell und familiär Pflegenden, neue Herausforderungen im Hinblickauf die Austarierung des Verhältnisses zwischen den Generationen. Ichwürde solche eigenen Sichtweisen des Fachs Soziale Gerontologie fürsehr wesentlich erachten, um dem praxisdruckgetriebenen Erkenntnis-

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interesse vieler partikularer Forschungsförderungsakteure auch eine ei-gene theoretische Position entgegenzusetzen. Wertvolle Anstöße hier-zu gibt mit Sicherheit das im Jahre 1999 erschienene �Handbuch Sozi-ale Gerontologie� (Jansen, Karl, Radebold & Schmitz-Scherzer, 1999).

Denn ich sehe, und damit gehe ich auf These 2 ein, die Gefahr, dassder allzu starke Druck einer �Praxisforschung� einem umfassenderenErkenntnisanspruch des Faches Soziale Gerontologie nicht genügenkönnen wird. Für mich gilt es heute mehr denn je, beide Stränge zuverfolgen: den Weg der grundlegenden Forschungsarbeit mit eigen-ständigen und möglichst allgemeinen Perspektiven vor dem Hintergrunddes verfügbaren Wissens und seiner theoretischen Durchdringung undden Weg der Bearbeitung von direkten und ungelösten Praxis- und Po-litikanforderungen. Dies ist häufig leichter gesagt als getan, denn diebereits weiter oben beschriebene Gefahr, am Ende zwischen allenStühlen zu sitzen, ist groß. Idealerweise gehen beide Stränge in einzel-nen Projekten eng zusammen, müssen dies aber nicht.

Es wird, und damit nehme ich den eben geäußerten Gedanken mit Be-zug auf These 3 erneut auf, eine zu starke Orientierung an den Not-wendigkeiten der sog. �Praxis� der Sozialen Gerontologie als einer Wis-senschaftsdisziplin mittel- und langfristig keinen Gefallen tun. Ichbetrachte es weiterhin als eine vornehme und sehr wichtige Aufgabeder Sozialen Gerontologie, sich in sehr viel stärkerem Maße als heuteauch in der internationalen wissenschaftlichen Gemeinde Gehör undAnerkennung zu verschaffen. Und dieses bedeutet nun einmal auch(wenngleich nicht nur) die Durchführung von sehr guten empirischenForschungsarbeiten, theoretisch wohlfundiert und auch empirisch,gleich ob quantitativer und qualitativer Art, dem Stand der Kunst ent-sprechend. Ich will nur in Parenthese noch einmal daran erinnern, dasses in den letzten Jahren gerade auch in der amerikanischen �Social Ge-rontology� einen starken Impuls in Richtung qualitativer Forschung ge-geben hat, der 1996 beispielsweise auch in einem entsprechenden Ka-pitel an exponierter Stelle, dem �Handbook of Aging and the SocialSciences�, Niederschlag gefunden hat (Hendricks, 1996). Es geht alsonicht einseitig um quantitative Forschung, sondern es geht, ich wieder-hole mich, um gute empirische Forschung mit jeweils dem Forschungs-gegenstand angemessener Methodologie. Ich denke, dass hier nochEiniges zu tun ist: Wann ist beispielsweise die letzte deutsche sozialge-rontologische Arbeit im Gerontologist, in den Journals of Gerontology:Social Sciences, oder in anderen vergleichbar guten internationalenJournalen erschienen? Viel fällt einem nicht dazu ein. Es ist in diesemZusammenhang auch mit Bedauern festzustellen, dass es im deutsch-

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sprachigen Raum bislang nicht gelungen ist, ein zumindest tentativesPendant zu diesen beiden Journalen der amerikanischen gerontologi-schen Gesellschaft, das eine praxisnahe, aber dennoch auf sehr hohemwissenschaftlichen Niveau, das andere das �Flagschiff� der gerontologi-schen Forschung, speziell der sozial- und verhaltenswissenschaftlichenschlechthin und weltweit, zu etablieren. Das oftmalige �Kippen� auch inden wissenschaftlichen Beiträgen in den deutschsprachigen wissen-schaftlichen Zeitschriften zwischen Praxis und Grundlagenforschung in-nerhalb und zwischen den Beiträgen halte ich langfristig für keine guteEntwicklung und letztlich auch auf dem Wege hin zu einem �evidenz-basierten� gerontologischen Handeln in der Praxis nicht substantiell för-derlich.

Und schließlich, wiederum das bereits weiter oben Gesagte aufgreifend,der Aspekt Grundlagenforschung versus Anwendung, die in These 4angesprochene alte, wenngleich weiterhin auch für die Soziale Geron-tologie zentrale Frage. Gerade mein letzter Punkt, der augenblicklicheGesamtstand des Faches Soziale Gerontologie und das aus meinerSicht sehr ernst zu nehmende Erfordernis, diesen Zustand zu verbes-sern, machen mich skeptisch im Hinblick auf die Fruchtbarkeit einer zustarken �Praxisforschung�. Allerdings würde ich mir schon wünschen,dass wir von dem noch vielfach existierenden Bild der �Forschung auszweiter Hand�, wenn es um in starker Weise angewandte Forschunggeht, ein Stück wegkommen würden. Ich will hier selbstverständlichnicht einer uferlosen Liberalisierung des Wissenschaftsbegriffs dasWort reden, aber eine gewisse Pluralisierung von Forschungsstrategienin diesem Sinne mit der Maxime gegenseitiger Anerkennung und Wert-schätzung scheint mir auch heute weiterhin durchaus angebracht zusein.

4 Fazit

Also am Ende: Sind wieder alle Fragen offen, wenn der Vorhang fällt?Ich denke, die Beobachtungen und Überlegungen von Herrn vonKondratowitz werden in jedem Falle das Nachdenken über das FachSoziale Gerontologie weiter befruchten. Ich selber wollte in meinenKommentaren dazu nur noch einige weitere Differenzierungen beitra-gen und damit die in meinen Augen wichtige, aber selten geführteDiskussion im Hinblick auf das grundlegende Selbstverständnis der So-zialen Gerontologie, wichtig für die auf diesem Gebiet tätigen Wissen-

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schaftlerinnen und Wissenschaftler wie für die vielfältigen sozialpoliti-schen Akteure, weiter zu stimulieren. Und offensichtlich handelt es sichhier, die von Bengtson und Birren angestoßenen Diskussionssträngeam Ende noch einmal aufgreifend, nicht um ein �typisch deutsches�Problem, sondern auch um eine der wichtigsten Herausforderungen derderzeitigen und zukünftigen Sozialen Gerontologie in einer internatio-nalen Perspektive.

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Nationale Altenberichterstattung alsInstrument der Politikberatung

Holger Adolph

Deutsches Zentrum für Altersfragen, Berlin

1 Einleitung

Heinz Herbert Noll hat die allgemeine Aufgabe der Sozialberichterstat-tung für die Sozialpolitik innerhalb eines Wohlfahrtsstaates wieDeutschland so umrissen, dass �repräsentative, quantitative Informatio-nen, wie sie die Sozialstatistik und Soziaberichterstattung bereitstellen,u.a. benötigt werden, um Probleme rechtzeitig zu erkennen, um ange-messen und bedarfsgerecht darauf zu reagieren sowie um die Verwirk-lichung wohlfahrtsstaatlicher Ziele und die Wirksamkeit des staatlichenHandelns beurteilen zu können� (1998, S. 633).

Dieser weit gehende Anspruch wird ebenfalls an spezielle Sozialbe-richte zur Situation einzelner Bevölkerungsgruppen, wie es die Altenbe-richte der Bundesregierung darstellen, herangetragen. Auch für die Po-litikfelder, die die Lebenssituation älterer Menschen beeinflussen,müssen spezifische Informationen zu deren Lebenslage bereitgestelltwerden. Die nationalen Altenberichte der Bundesregierung stellen dabeinur eine Informationsquelle unter anderen zur sozialen Lage ältererMenschen in Deutschland dar. Sie konkurrieren mit einer Vielzahl wis-senschaftlicher und populärwissenschaftlicher Veröffentlichungen zumThema Altern, unter anderem zahlreichen Länder- und kommunalenAltenberichten. Besondere Resonanz gefunden haben die beiden Be-richte der Enquete-Kommission �Demographischer Wandel� des Bun-destags (vgl. auch Niederfranke 1997). Als Beispiele für die zahlreichenempirischen Forschungsprojekte der letzten Jahre, die umfangreicheInformationen zur Lebenssituation älterer Menschen und zum Altern inDeutschland hervorgebracht haben, seien hier exemplarisch einige ge-nannt: die �Interdisziplinäre Langzeitstudie des Erwachsenenalters überdie Bedingungen gesunden und zufriedenen Alterns (ILSE)� (vgl. u.a.Martin u.a. 2000), die �Berliner Altersstudie (BASE)� (vgl. u.a. Mayer,Baltes 1996), die Längsschnittstudie über �Bedingungen zur Erhaltungvon Selbständigkeit im höheren Lebensalter (SIMA)� (vgl. u.a. die zahl-reichen Aufsätze in der Zeitschrift für Gerontopsychologie und -psy-

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chiatrie), die Studien zu �Möglichkeiten und Grenzen selbständiger Le-bensführung� in Privathaushalten und Heimen (vgl. u.a. Schneekloth,Müller 1997, Schneekloth u.a. 1996, Wahl, Wetzler 1998, Häussler-Sczepan 1998), die Untersuchung �Wirkungen der Pflegeversiche-rung�(Schneekloth, Müller 2000), die Projekte �Alterssicherung inDeutschland (ASID)� (vgl. u.a. Kneißl, Kortmann Rosenbladt 1998) und�Altersvorsorge in Deutschland (AVID)� (vgl. u.a. Kortmann, Schatz1999), sowie der �Alters-Survey� (Kohli, Künemund 2000).

Dennoch nehmen die Altenberichte in verschiedener Hinsicht eine Son-derstellung ein im Vergleich mit nicht-amtlichen Berichten, rein wissen-schaftlichen Studien, Aufbereitungen der amtlichen Statistik, bevölke-rungsstatistischen Datenanalysen (z.B. Datenreport Alter (BMFSFJ1997a), Die Alten der Zukunft (BMFSFJ 1997b)) oder politischen Stel-lungnahmen zur sozialen Situation von Senioren in Deutschland. AlsTextgattung eigener Art, als �Hybrid-Texte�, charakterisierte Kurt Lü-scher auf einer Tagung des DJI �Sozialberichterstattung � Bilanz undPerspektiven� die Sozialberichte vom Typus des nationalen Kinder- undJugendberichts, der Familienberichte und der Altenberichte auf Grundihrer Stellung zwischen einer rein wissenschaftlichen Untersuchung undeines politischer Beratungs- und Positionspapiers (1998, S. 98).

Den Altenberichten wird im Bezug auf die Darstellung der Lebens-umstände älterer Menschen eine hohe Legitimität und Autorität zuge-sprochen. Sie präsentieren eine quasi offizielle Sichtweise zur Situationälterer Menschen und besonderer Problemlagen innerhalb dieser Be-völkerungsgruppe. Die Berichte beanspruchen, eine objektive, neutraleund wissenschaftlich unabhängige Aufbereitung der zentralen Aspekteder Lebenslagen älterer Menschen in Deutschland abzubilden. Von dendaran beteiligten Akteuren wird angestrebt, den Berichten eine breiteAkzeptanz zu sichern. Sie sollen als eine universelle und legitime Rep-räsentation der gesellschaftlichen Realität und nicht als eine interes-sengeleitete Stellungnahme wahrgenommen zu werden. Um dies zugewährleisten wird eine unabhängige Sachverständigenkommission mitder Erarbeitung eines Sachverständigenberichts betraut und dieser wirddurch eine Stellungnahme der Regierung ergänzt. Weiter existieren ei-nige Verfahrensregeln für den Produktionsprozess der Berichte, die fürSachverständigenberichte wie den Altenbericht typisch sind. Diese sol-len zur Entstehung der besonderen Legitimität amtlicher Sozialberichtebeitragen.

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2 Die bisherigen Altenberichte derBundesregierung

Die Anfertigung des ersten nationalen Altenberichts fiel durch die Wie-dervereinigung in eine gesellschaftliche Umbruchphase. Der 1993 demBundestag übergebene Bericht widmete sich der Aufgabe, ein erstesumfassendes Gesamtbild der Lebenssituation der Senioren im verein-ten Deutschland zu zeichnen und den Stand des gerontologischen Wis-sens aufzuzeigen und zu verbreiten.

Der zweite, im Januar 1998 dem Parlament vorgelegte Bericht mit demThema �Wohnen im Alter� lieferte eine differenzierte Analyse der Wohn-situation älterer Menschen in Deutschland und entwickelte zukunftswei-sende Perspektiven für die Stadtentwicklungs- und Wohnungsbaupoli-tik. Ihm gelang es, die interdisziplinären Perspektiven unter einemeinheitlichen Leitbild zu integrieren, das die Eigenverantwortlichkeit desälter werdenden Menschen für ein selbstbestimmtes und sozial integ-riertes Leben, die Bedeutung des Eingebundenseins in soziale Netz-werke, die Verantwortlichkeit der Politik für die Rahmenbedingungendes Alterns und die Bedeutung der Wohnbedingungen für ein eigenver-antwortliches und sozial integriertes Leben im Alter betont. Neben einerdifferenzierten Bestandsaufnahme der aktuellen Wohnprobleme ältererMenschen werden Entwicklungsstrategien für die Zukunft des Wohnensim Alter aufgezeigt.

Der dritte Altenbericht nahm wieder eine allgemeine Bestandsaufnahmeder Lebenssituation älterer Menschen in Deutschland vor. Darüber hin-aus zog er eine Bilanz von 10 Jahren deutscher Einheit und entwickelteZukunftsperspektiven der Altenpolitik für das 21. Jahrhundert. DieserBericht wurde im Januar 2001 dem Bundestag und der Öffentlichkeitvorgestellt.

Der aktuell in der Entstehung befindliche 4. Altenbericht hat den Auf-trag, die Risiken im hohen Alter unter besonderer Berücksichtigung derDemenzproblematik zu untersuchen. Wie schon für die 2. und 3. Alten-berichtskommission wurde zur Unterstützung der Kommissionsarbeiteine Geschäftsstelle am Deutschen Zentrum für Altersfragen (DZA)eingerichtet. Der Sachverständigenteil dieses Berichts wurde im Januar2002 fertig gestellt. Die Bundesregierung muss den Gesamtberichtdann spätestens bis zum Ende der Legislaturperiode im September2002 dem Parlament übergeben.

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Tabelle 1: Überblick zu den bisherigen Altenberichten der Bun-desregierung

ErsterAltenbericht,erster Teil-bericht

ErsterAltenbericht,Endbericht

ZweiterAltenbericht

DritterAltenbericht

VierterAltenbericht

Berichtsauftrag AllgemeineBestandsauf-nahme derLebenssitu-ation ältererMenschen.Schwer-punkte:Kompeten-zen ältererMenschenund Präven-tion und Re-habilitationzur Verhin-derung vonPflegebe-dürftigkeit

Aktualisie-rung desersten Teil-berichts undVergleichzwischenden neuenund altenBundeslän-dern undVergleichmit den eu-ropäischenNachbar-staaten

Bestandsauf-nahme derRahmenbe-dingungendes Woh-nens im Al-ter

AllgemeineBestandsauf-nahme derLebenssitu-ation ältererMenschen inDeutschlandund Bewer-tung derEntwicklungseit derDeutschenEinheit,Ausblick aufdas kom-mendeJahrzehnt

Risken imhohen Alterunter be-sondererBerücksich-tigung vonDemenz �Herausfor-derung anPolitik, Wis-senschaftund Gesell-schaft.

Bearbeitungsdauer(Sachverständi-genkommission)

März 1989bis Mai 1990

bis Novem-ber 1992

Juli 1995 bisJuli 1997

Januar 1998bis Juni2000

Juli 2000 bisvoraussicht-lich Dezem-ber 2001

Anzahl der Kom-missionsmitglieder

14 16 9 11 12

Vorsitzende(r) derKommission

Prof. Dr. Dr.h.c. mult.Hans Tho-mae

Prof. Dr.Rudolf-MariaSchütz

Prof. Dr.-ing.Dr. phil h.c.ClemensGeißler

Prof. Dr.AndreasKruse

Prof. Dr.SiegfriedKanowski

Bundestagsdruck-sache

�wurde nichtmit einerStellung-nahme derBundesre-gierung ver-sehen undveröffentlicht

12/5897,28.9.1993

13/9750,28.1.1998

14/5130,18.1.2001

erscheintvoraussicht-lich imSommer2002

Die Altenberichte bilden inzwischen einen institutionalisierten Beitragder Politikberatung im heterogenen Politikfeld, das sich mit den Belan-gen älterer Menschen in Deutschland befasst. Ihre Wirkung in politi-schen Entscheidungsprozessen und ihr Einfluss auf den altenpoliti-schen Diskurs sind bislang noch nicht wissenschaftlich untersuchtworden. Zu den Familienberichten liegen aber inzwischen einige Arbei-ten vor, die diese Fragen untersuchen (vgl. u.a. Bien & Rathgeber 2000,Walter 1995, von Schweitzer 1995, Leu 1997, Kaufmann 1976).

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Eine eingehende Analyse der Wechselwirkungen zwischen Altenbe-richterstattung und altenpolitischem Diskurs bzw. der öffentlichen Aus-einandersetzung über Altersfragen kann auf Grund fehlender Untersu-chungen hier nicht geleistet werden. Es sollen im Folgenden dieRahmenbedingungen für das Entstehen der Berichte beschrieben sowieeinige Ergebnisse der Wirkungsforschung zu vergleichbaren Formender Politikberatung dargestellt werden.

3 Altenberichte im System der Sozialbericht-erstattung in Deutschland

Noll systematisiert die unterschiedlichen Typen der Sozialberichterstat-tung anhand von zwei Merkmalen. Zum einen unterscheidet er anhandder Akteure zwischen amtlichen und nicht-amtlichen Formen der Sozi-alberichterstattung. Zum zweiten differenziert er nach dem Berichtsge-genstand: Wird allgemein und umfassend zur sozialen Situation in einerGesellschaft berichtet oder dient der Bericht der Darstellung einzelnerLebensbereiche und/oder Bevölkerungsgruppen? In dieser Kategorisie-rung lassen sich die Altenberichte als spezialisierte amtliche Sozialbe-richte bezeichnen. Dieser Kategorie von Sozialberichten bescheinigtWolfgang Zapf (1998, S. 16), dass sie �in den letzten Jahren besondersdeutliche Fortschritte gemacht hat�. Die Altenberichte der Bundesregie-rung beziehen sich im Gegensatz zu kommunalen oder länderspezifi-schen Berichten auf die gesamte ältere Bevölkerung in Deutschland.

Man kann amtliche Sozialberichte außerdem nach dem Berichtsanlassbzw. dem rechtlichen Status unterscheiden (vgl. Barlösius & Köhler1999, S. 557). Ein Teil der amtlichen Berichte entsteht auf Grund einergesetzlichen Verpflichtung. So sieht beispielsweise das Landwirt-schaftsgesetz von 1955 einen jährlichen Agrarbericht zur sozialen Lageder landwirtschaftlich tätigen Bevölkerung oder das Pflegeversiche-rungsgesetz einen �Bericht über die Entwicklung der Pflegeversiche-rung� vor. Weiter existieren Berichte auf Grund eines parlamentarischenBeschlusses. Sie entstehen auf Grund einer Aufforderung des Bundes-tags an die Regierung, zu Wirkung und Umsetzung einzelner Gesetzeoder zu einzelnen bedeutenden Themen einmalig oder periodisch Be-richte vorzulegen. Auch die nationalen Altenberichte haben ihre Grund-lage in einem solchen parlamentarischen Beschluss. Berichte aufGrund einer Initiative der Bundesregierung dienen in der Regel der Vor-

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bereitung von Gesetzen oder zur Abstimmung und Verbesserung derRegierungsarbeit.

Für den Charakter der amtlichen Sozialberichte bildet darüber hinausdie Autorenschaft bzw. die Verantwortlichkeit für den Berichtsinhalt einwichtiges Kriterium. Berichte, die an ein Gesetz gekoppelt sind, werdenin der Regel von dem federführenden Ministerium erstellt. Diese Formder Berichterstattung läuft für die jeweiligen Regierungen weitgehendüberraschungsfrei ab, da sie die Berichte selbst erstellt. Es werdeni.d.R. Planungsdaten für den Steuerungsbereich der Gesetze zusam-mengetragen und durchgeführte Maßnahmen dargestellt.

Tabelle 2: Klassifikation ausgewählter nationaler Sozialberichtein Deutschland

amtlich nicht amtlichBerichtstypRessort- oderRegierungsbe-richte

Sachverstän-digenkommis-sionsberichte

Wissenschaft Andere

Allgemein:umfassend,bereichsüber-greifend

Datenreport(Teil 1), Sozi-albericht derBundesregie-rung

Datenreport(Teil 2), Sys-tem SozialerIndikatoren,Sozialreport,Recent SocialTrends in WestGermany

Berichte der Enquete-Kommission �DemographischerWandel�*

Speziell: füreinzelne Le-bensbereicheund/oder Be-völke-rungsgruppen

Berufsbil-dungsberichte,Waldscha-densberichte,Pflegeversi-cherungsbe-richte, Armuts-und Reich-tumsberichtder Bundesre-gierung

Familienbe-richte, Kinder-und Jugendbe-richte, Alten-berichte

Altenreport,Frauenreport,Alters-Survey

Armutsberichtdes DGB unddes Paritäti-schen Wohl-fahrtsverban-des

* Zur Arbeitsweise der Enquete-Komissionen des Bundestages vgl. Blickpunkt Bun-destag 2000Quelle: erweiterte Darstellung nach Noll 1998, S. 636

Bei den Berichten, die im Auftrag des Parlaments erstellt werden, be-steht die Möglichkeit, eine unabhängige Expertenkommission mit der

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Erarbeitung eines Berichts zu betrauen. Diese Form kann für die auf-traggebende Regierung mehr Überraschungsmomente bergen, da dieso entstehenden Berichte bei Kritik am Regierungshandeln einen gro-ßen Rechtfertigungsdruck erzeugen können.

4 Charakteristik der Altenberichte

Die Altenberichte bestehen, wie beispielsweise Kinder- und Jugend-berichte oder Familienberichte auch, aus zwei getrennten Teilen: Einwissenschaftlicher Berichtsteil wird durch eine unabhängige Sachver-ständigenkommission erstellt. Die Sachverständigenkommission, dieehrenamtlich tätig ist, hat ca. eineinhalb bis zweieinhalb Jahre für dieseAufgabe Zeit. Dem Sachverständigengutachten wird eine Stellungnah-me der Bundesregierung beigefügt. Beide Teile werden zusammen un-ter dem Titel �Altenbericht der Bundesregierung� dem Parlament undder Öffentlichkeit übergeben. In der Regel folgt im Bundestag eine Aus-sprache zu den Berichtsinhalten.

Den offiziellen Anlass für die regelmäßige Erstellung der Altenberichtebildet ein Parlamentsbeschluss aus dem Jahr 1994, der die Bundesre-gierung verpflichtet, dem Deutschen Bundestag in jeder Legislaturperi-ode einen Bericht zu einem altenpolitischen Schwerpunktthema vorzu-legen. Darüber hinaus sieht der Beschluss die Verpflichtung vor, imJahr 2000 einen umfassenden Bericht zur Situation älterer Menschen inDeutschland zu präsentieren. Dieser Bericht wurde im Juni 2000 demBMFSFJ übergeben und im Januar 2001 dem Parlament mit der Stel-lungnahme der Bundesregierung zugeleitet.

5 Die Sachverständigenkommissionen

Die Berufung der Sachverständigenkommission für den wissenschaft-lichen Teil des Altenberichts obliegt der Bundesregierung. Das feder-führende Seniorenministerium beruft eine multidisziplinär zusammen-gesetzte Sachverständigenkommission. Für jeden Altenbericht wirdjeweils eine neue Kommission berufen. Auch wenn ein Teil der Kom-missionsmitglieder bisher in mehreren Altenberichtskommissionen be-teiligt war, ergeben sich damit wechselnde personelle Konstellationen in

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den Kommissionen. Als Mitglieder dieser Kommission werden ausge-wiesene Experten aus der Gerontologie oder sozialpolitisch relevantenDisziplinen mit Bezug zu Altersthemen sowie Experten aus Verbändenausgewählt. Die Zusammensetzung der Altenberichtskommissionen istaber z.B. im Vergleich mit der der Kinder- und Jugendberichte deutlichwissenschaftsdominiert. Auch die aktuell arbeitende Sachverständigen-kommission für den 4. Altenbericht ist überwiegend mit Wissenschafts-vertretern besetzt.

Barlösius & Köhler (1999, S. 555) haben anschaulich die möglichenOptionen einer Regierung bei der Besetzung einer unabhängigenSachverständigenkommission beschrieben. Notwendige Voraussetzungfür die Berufung ist, dass es sich bei den betreffenden Personen umallgemein anerkannte Experten für das Berichtsthema handeln muss.Als zweite Voraussetzung nennen die Autorinnen, dass die Berufenendas Vertrauen der Auftraggeber besitzen und ähnliche Grundpositionenvertreten. Hier steht das berufende Ministerium aber vor einem Dilem-ma. Zur Unterstützung regierungseigener Positionen läge es nahe, Ex-perten zu berufen, die tendenziell einheitliche, regierungsfreundlichePositionen vertreten. Eine so zusammengesetzte Kommission könntesich voraussichtlich im Prozess der Konsensfindung innerhalb derKommission schnell auf gemeinsame Konzepte, Problemwahrnehmun-gen und Lösungsvorschläge einigen. Homogen zusammengesetztenKommissionen werden sich leichter auf eine kohärente Bestandsauf-nahme, eine einheitliche Bewertung sowie konkrete und detaillierte Lö-sungsstrategien und politische Empfehlungen einigen können. �Aller-dings wird ein solcher Bericht in der öffentlichen und politischenRezeption wahrscheinlich als Stellungnahme oder Positionspapierwahrgenommen und die Legitimität des dort dargelegten Standpunktesbleibt insgesamt hochgradig umstritten� (Barlösius & Köhler 1999, S.556).

Im Interesse einer weitgehenden Akzeptanz eines Berichtes scheint esErfolg versprechender, eine Sachverständigenkommission politisch undwissenschaftlich relativ heterogen zu besetzen. Sind konkurrierendeStandpunkte ausreichend repräsentiert, muss im Arbeitsprozess zwi-schen den Mitgliedern ein Kompromiss gefunden werden, wenn dieKommission nicht auf die stark polarisierende Alternative der Minder-heitenvoten in ihrem Bericht ausweichen will. In einem Kompromissmüssen dann kontroverse Sichtweisen integriert werden, die häufigauch im politischen Diskurs auffindbar sind. �Die Kommissionsarbeitwird zu einem Prozess der internen Konsensfindung und dupliziert da-mit, wenn auch auf Expertenebene, das, wozu der Bericht auch gesell-

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schaftlich und politisch beitragen soll: ein breites Einverständnis beiumstrittenen Themen herzustellen� (Barlösius & Köhler 1999, S. 555).Damit steigt die Chance, als allgemein gültige und legitime Sichtweiseauf die gesellschaftliche Realität anerkannt zu werden. Auf der anderenSeite muss eine solche Analyse, die auf einem weitgehenden Kompro-miss beruht, abstrakt bleiben.

Auch die multidisziplinäre Zusammensetzung der Altenberichtskommis-sionen kann ambivalente Effekte auf den Prozess der Berichtserstellunghaben. So bedarf es in der Regel einer Phase der Abstimmung und desFindens gemeinsamer Problemdefinitionen und des sich Einigens aufgenerelle Argumentationslinien, die von den Vertretern unterschiedli-cher Fachdisziplinen geteilt werden können. Struktur und Inhaltder Sachverständigenberichte unterliegen jeweils Aushandlungs- undAbstimmungsprozessen zwischen den Kommissionsmitgliedern. Diejeweiligen professionellen Hintergründe und Forschungsinteressenspielen eine bedeutende Rolle bei der Problemdefinition und der For-mulierung der zentralen Fragestellungen. In der interdisziplinären Zu-sammenarbeit liegt aber gleichzeitig die große Stärke der Altenberichts-kommissionen. Gelingt es den Kommissionen, sich auf ein für alleDisziplinen tragfähiges Grundkonzept zu einigen, verringert sich dieGefahr, die Darstellung der komplexen Lebenslagen älterer Menscheneinseitig auf die Perspektive einer oder zweier dominierender Diszipli-nen zu reduzieren. Die gelingende Abstimmung der unterschiedlichenHerangehensweisen ist eine Voraussetzung für argumentative Verbin-dungslinien, die eine altenpolitische Botschaft erst hervorbringen. Die-sen Kernaussagen wird dann häufig zugebilligt, über Professionsgren-zen hinweg konsensfähige integrierte Problemwahrnehmungen undLösungen darzustellen. Leichter als bei den Enquete-Kommissionendes Bundestags, die aus wissenschaftlichen Experten und Bundestags-abgeordneten gebildet werden und damit parteitaktischen Zwängenausgesetzt sein können, besteht für die Altenberichtskommissionen dieMöglichkeit, Probleme überparteilich und sachlich anzusprechen, ge-zielt Schwerpunkte zu setzen und auch evtl. unpopuläre Lösungsvor-schläge zu entwickeln.

6 Ziele der Altenberichterstattung

Zwischen den allgemein für Sozialberichte formulierten Zielen und denspezifischen Erwartungen der Zielgruppen und Akteure bei speziellen

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Sozialberichten wie sie die Altenberichte darstellen, entsteht ein gewis-ses Spannungsverhältnis. Auf der einen Seite existieren an die Altenbe-richte die Anforderungen, wie sie allgemein für die Sozialberichterstat-tung formuliert werden, eine Dauerbeobachtung des sozialen Wandelsund eine Wohlfahrtsmessung für die Gruppe der älteren Menschen inDeutschland zu leisten. Dabei sollen die durchschnittlichen Lebensver-hältnisse dieser Gruppe erfasst und beschrieben werden und es wirdauf hoch aggregierte Maßzahlen und Indikatoren zurückgegriffen. Ne-ben einer Bestandsaufnahme werden eine Bewertung der aktuellen Si-tuation und zurückliegender Entwicklungen sowie ein Ausblick auf zu-künftige Veränderungen erwartet. Altenberichte zielen also nichtnotwendigerweise auf die Beschreibung von Problemgruppen innerhalbder älteren Bevölkerung ab.

Auf der anderen Seite haben Altenberichte die Aufgabe, eine problem-orientierte Beratung für die zukünftige Weiterentwicklung der Sozial-politik zu liefern. Sie bieten die Möglichkeit, öffentlichkeitswirksameHinweise auf sozialpolitische Fehlentwicklungen und Probleme der Un-terversorgung einzelner Gruppen zu geben und so ein altenpolitisches�Agenda Setting� zu betreiben.

Zwischen diesen Polen positionieren sich auch die bisher vorgelegtenAltenberichte. So zeigt beispielsweise der 3. Altenbericht durch einedifferenzierte Darstellung der Ressourcen, die ältere Menschen heutebesitzen, dass die Ausstattung der älterer Bevölkerung in Deutschlandmit materiellen aber auch personalen Ressourcen im Sinne von Kom-petenzen, Wissen und sozialen Netzwerken im Durchschnitt durchausals gut zu bezeichnen ist. Gleichzeitig versucht der Bericht aber dasAugenmerk der Politik auf die problematische Situation von einzelnenGruppen innerhalb der älteren Bevölkerung und auf Versorgungsberei-che zu lenken, die einer kontinuierlichen Weiterentwicklung und Ver-besserung bedürfen, wie die ambulante und stationäre pflegerischeVersorgung. Die Altenberichtskommissionen stehen damit regelmäßigvor der schwierigen Aufgabe, eine Balance zu finden zwischen a) einerangemessen Beschreibung der Kompetenzen, die ältere Menschen be-sitzen sowie des Potentials, das sie für die Gesellschaft darstellen kön-nen, und b) einer kritischen problemzentrierten Darstellung von Defizi-ten und des Unterstützungsbedarfs bestimmter Gruppen � und diesmöglichst, ohne zur Entstehung oder Zementierung von negativen Al-tersstereotypen beizutragen.

Noll (1999, S. 19 f.) hat die typischerweise für die Sozialberichterstat-tung benutzten Datenquellen systematisiert. Die Charakteristik der he-

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rangezogenen Daten korrespondiert dabei mit den Hauptaufgaben derSozialberichterstattung: Dauerbeobachtung des sozialen Wandels undWohlfahrtsmessung. Die Datenquellen erlauben i.d.R. eine explizite Fo-kussierung auf Individuen oder private Haushalte (Individuenorientie-rung). Es wird allerdings zur Bewertung der Effektivität von Maßnahmenselbstverständlich auch immer auf Daten zu Struktur, Nutzerkreis undAufwendungen usw. für sozialpolitische Leistungen zurückgegriffen.Wie in anderen amtlichen Sozialberichten dominieren auch bei den Al-tenberichten Datenquellen mit einer empirisch-quantitativen Ausrich-tung. Eng damit verbunden ist das zentrale Kriterium der Repräsentati-vität bei der Auswahl der Daten. Dabei gibt es eine Priorität vonSurveydaten und es werden solche Datenquellen bevorzugt, die einezeitliche Kontinuität der Berichterstattung erlauben, im Idealfall alsoZeitreihen- und Längsschnittdaten (vgl. hierzu Zapf, Schupp, Habich1996 und Weick 1997).

Daten der amtlichen Statistik besitzen für die Altenberichte einen be-sonderen Stellenwert, da sie zum einen in der Regel den oben ge-nannten Kriterien genügen und ihnen zum anderen auf Grund ihresEntstehungskontextes � ebenso wie amtlichen Berichten � eine hoheLegitimität zugebilligt wird. �Die amtlichen Nomenklaturen und Klassifi-kationen wirken tief in die alltäglichen Wahrnehmungsweisen und in diewissenschaftlichen Kategorien, mit denen wir uns über die soziale undwirtschaftliche Welt verständigen, und prägen so Sichtweisen, selbst diekritischen, die sich bewusst von ihnen absetzen� (Barlösius & Köhler1999, S. 553).

Auch wenn die Altenberichte den Daten der amtlichen Statistik den Vor-zug vor Daten empirischer Forschungsprojekte geben, greifen sie dochhäufig auf deren Daten und Ergebnisse zurück. Zum einen erhebt dieamtliche Statistik nicht für alle von den Altenberichten zu beschreiben-den Bereiche ausreichende und passende Daten. Außerdem handelt essich bei den von der amtlichen Statistik verwendeten Begriffen undKonzepten zur Beschreibung gesellschaftlicher Tatsachen in der Regelum solche, die sich erst über einen längeren Zeitraum als politisch kon-sensfähig erweisen mussten. Es wird der amtlichen Statistik gelegent-lich vorgeworfen, dass sie kaum in der Lage sei, gesellschaftliche Ver-änderungen zeitnah abzubilden. Am Beispiel des Familienbegriffs deramtlichen Statistik illustriert Eggen (2000, S. 85) die Einwände der Kri-tiker: �Die Daten der amtlichen Statistiken verdeckten nicht nur eineVielfalt familiärer Lebensformen, sondern suggerierten eine Kontinuität,die einen Wandel familiärer Lebensformen verschleiere�. Die empiri-sche Sozialforschung erweist sich, was die Konzeptualisierung von ge-

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sellschaftlichen Phänomenen und die Methodik angeht, i.d.R. als we-sentlich flexibler und eher in der Lage gesellschaftlichen Wandel aufzu-spüren und abzubilden.

7 Adressaten der Altenberichte und Verwendungder Ergebnisse

Die Altenberichte richten sich an mindestens vier Zielgruppen, die je-weils eigene Erwartungen an die Altenberichte haben.

An erster Stelle sind hier die Auftraggeber, d.h. die Regierung und dasParlament, zu nennen. Von dieser Seite wird zum einen die Bereitstel-lung altenpolitisch relevanter Informationen erwartet. Als Zielstellungwird formuliert, dass die Berichte aus einer fundierten wissenschaftli-chen Analyse heraus Handlungsempfehlungen für die Politik ableitensollen, die hinreichend detailliert sind, um in konkreten politischen Maß-nahmen aufgegriffen werden zu können.

Neben der Zielgruppe der politischen Entscheidungsträger spielt dieÖffentlichkeit als Adressat eine bedeutende Rolle. Die allgemeine Auf-klärung und die gesellschaftliche Selbstvergewisserung zu Fragen desUmgangs mit älteren Menschen und ihres Stellenwerts in der Gesell-schaft können als Ziele in allen bisherigen Altenberichten identifiziertwerden. Mit der Ausrichtung auf eine breite interessierte Öffentlichkeitgeht ein besonderer Anspruch an die Anschaulichkeit und Verständlich-keit der Berichte einher.

Die Altenberichte werden darüber hinaus auch von Praktikern aus derAltenhilfe und von Vertretern der in diesem Feld tätigen Verbänden re-zipiert. Von dieser Gruppe werden Handlungsempfehlungen oder zu-mindest Hinweise für die zukünftige Ausrichtung ihrer Arbeit erwartet.

Der Umfang, in dem die Wissenschaft die Altenberichte rezipiert, istbislang nicht untersucht worden. Die gerontologische �scientific comu-nity� gehört zwar sicher nicht zu den Hauptadressaten der Berichte. Siedarf aber in ihrer Funktion als Referenzgruppe und potenzielle Leser-schaft nicht unterschätzt werden. Da sich die überwiegende Mehrheitder Kommissionsmitglieder aus der Wissenschaft rekrutiert, agieren siein den Sachverständigenkommissionen in einem Spannungsfeld, dassich aus unterschiedlichen Ansprüchen ergibt. Einerseits existiert der

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Anspruch der Sozialberichterstattung, die Ergebnisse möglichst an-schaulich und verständlich für eine breite Leserschaft darzustellen, wo-mit die Notwendigkeit der Reduktion von Komplexität einher geht. Ande-rerseits sind die Kommissionsmitglieder mit den wissenschaftlichenAnsprüchen an eine möglichst präzise und differenzierte Darstellungkomplexer Sachverhalte konfrontiert. Die bisherigen Altenberichte ver-suchen beide Ansprüche zu verbinden und stellen eine Mischform vonpolitischen Expertenberichten und an eine breitere Öffentlichkeit adres-sierten Berichten für Bürger dar.

Neben den Anforderungen, die von den unterschiedlichen Zielgruppenan die Altenberichte gestellt werden, beeinflusst das Interesse der Mit-glieder der Sachverständigenkommission, ihrem Bericht eine möglichstgroße (intendierte) Wirkung im altenpolitischen Diskurs zu verschaffen,den Charakter der Berichte. Die Erfahrungen mit anderen Berichten ha-ben gezeigt, dass die Rezeption durch Medien und Politik häufig sehrselektiv geschieht und zum Teil Argumente aus einen größeren Argu-mentationszusammenhang gerissen werden, um partikulare Interessendamit argumentativ zu unterstützen (vgl. Walter 1995, S. 92, Lüscher2000). Deutlich wurde die �Verselbstständigung� von Teilinhalten einesBerichts beispielsweise in der politischen und öffentlichen Diskussionum den 10. Kinder- und Jugendbericht im Bundestagswahljahr 1998.Nachdem es bereits um das Erscheinungsdatum des Berichtes Kon-flikte gab und der damaligen Ministerin Nolte vorgeworfen wurde, diePräsentation des Bericht wegen missliebiger Inhalte zu verzögern, wur-de zunächst fast ausschließlich ein kurzer Abschnitt über Kinderarmutwahrgenommen. Alle übrigen wichtigen Aussagen zu anderen The-menbereichen, welche die Familienberichtskommission transportierenwollte, konnten erst nach der Bundestagswahl in der Fachdiskussionhinter dem Thema der Kinderarmut hervortreten.

Da Kommissionen sich gegen eine selektive und verzerrende Wahr-nehmung ihrer Berichte schützen wollen, stehen sie unter einem ge-wissen Zwang, neben einer differenzierten Bestandsaufnahme undAnalyse gleichzeitig eine möglichst eindeutige, griffige und klare alten-politische Botschaft an prominenter Stelle im Bericht zu formulieren unddiese im gesamten Bericht immer wieder aufzugreifen und aufscheinenzu lassen. Solch eine Botschaft kann wie oben bereits angedeutet nurein Kompromiss zwischen bzw. eine Homogenisierung der in der Kom-mission vertretenen Standpunkte sein. Prägnante und konfliktive Kern-aussagen und eine �eigene Handschrift� der Berichte erleichtern dereneindeutige Identifizierbarkeit und fördern die Aufmerksamkeit für denBericht im altenpolitischen Diskurs.

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Für die Altenberichte steht eine systematische Untersuchung ihrer Ver-wendung und Wirkung auf den politischen und öffentlichen Altersdiskursnoch aus. Für die Familienberichte liegen aber inzwischen mehrere Ar-beiten dazu vor. Walter (1993) hat eine Untersuchung zur Wirkung derFamilienberichte, die sich auf Experteninterviews mit ehemaligen Mit-gliedern der Familienberichtskommissionen stützt, programmatisch mitdem Titel �Ich bin nur mäßig enttäuscht darüber� überschrieben. NeuereArbeiten kommen aber zu optimistischeren, wenn auch ambivalent blei-benden Einschätzungen der Möglichkeiten, durch diese Art der Sozial-berichte auf politische Entscheidungen oder den fachlichen und öffentli-chen Diskurs Einfluss nehmen zu können.

Die vorliegenden Analysen zu den Wirkungen der Familienberichte voll-ziehen im wesentlichen den Bewertungswandel in der wissenssoziolo-gischen Diskussion um den Transfer wissenschaftlicher Erkenntnis indie politische und professionelle Praxis nach. Für Beck und Bonß(1998, S. 11) ist die Verwendung wissenschaftlicher Beratungsergeb-nisse �also nicht ,Anwendung�, sondern ein aktives Mit- und Neuprodu-zieren der Ergebnisse�.

Zwar wird weiterhin häufig die nicht ausreichende instrumentelle Nut-zung (instrumental use), dass heißt die direkte Anwendung der wissen-schaftlichen Ergebnisse und die Umsetzung der Empfehlungen der Be-richte kritisiert. Genauso wird nach wie vor die auf Seiten der Politkvorfindbare symolische Nutzung (symbolic use) kritisiert: die nach wis-senschaftlichem Verständnis illegitime Nutzung wissenschaftlicher Ex-pertise in Form einer verzerrenden selektiven und punktuellen argu-mentativen Nutzung oder zur Nachlegitimierung bereits gefällterEntscheidungen und dem Aufschieben von Entscheidungen (vgl. Kauf-mann 1976, Walter 1995, v. Schweitzer 1995, zur Typologie der Wis-sensnutzung Beyer & Trice 1982). In der Theorie-Praxis-Diskussion hatschon seit längerem ein Perspektivenwechsel stattgefunden, der auchEinfluss auf die Bewertung der Nutzung von Sachverständigenberichtendurch die Politik und die professionelle Praxis hat. Nicht der Transferwissenschaftlicher Ergebnisse in die Politik und Praxis, sondern die se-lektive Aufnahme und Verarbeitung dieser Ergebnisse stehen inzwi-schen im Zentrum des Interesses. �Auf der Seite der Anwender sind dieEigenrationalitäten der Institutionen, in denen Praktiker handeln, vongroßer Bedeutung. Verwendungskontexte entwickeln eine spezifischeQualität, eine �Eigenlogik� oder �Eigendynamik�, die nicht nur bestimmt,welchen sozialwissenschaftlichen Ergebnissen in Entscheidungssituati-onen Relevanz bzw. Irrelevanz zugewiesen wird, sondern in der auch

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und vor allem die Wissenbestände selbst transformiert werden(Kondratowitz 1985, S. 67, siehe auch seinen Beitrag in diesem Band).

Damit tritt die Bedeutung einer anderen Nutzungsform in den Vorder-grund: Die konzeptionelle Nutzung (conceptual use) bedeutet keineunmittelbare Anwendung von Wissen, sondern dient der allgemeinenAufklärung zu einem Sachverhalt. So können beispielsweise durch Be-richte bedeutende gesellschaftliche Fragen erst in das Bewusstsein derPolitik und einer breiten Öffentlichkeit gerückt werden. Sie fungieren als� �Wegweiser�, insofern sie beachtenswerte Phänomene benennen, mitwissenschaftlicher Autorität darstellen und dabei Wahrnehmungskate-gorien etablieren� (Barlösius, Köhler 1999, S. 562). Es werden zentraleBegriffe, Konzeptionen und Problemdefinitionen, die einer wissen-schaftlichen Analyse entstammen, für die politische, fachliche und öf-fentliche Diskussion verwertbar gemacht. Wissenschaftliche Erkennt-nisse aus Sozialberichten fließen durch diese Art der Nutzung in denpolitischen und öffentlichen Diskurs ein, wenn auch häufig zeitlich ver-zögert.

Die Altenberichte erfüllen eine weitere wichtige Funktion, die keine ge-nuin wissenschaftliche ist. Die Sachverständigenkommissionen sindgezwungen, die allgemein gehaltenen Aufgabenstellungen für dieAltenberichte zu interpretieren und damit Prioritäten hinsichtlich derRelevanz gesellschaftlicher Aufgaben zu setzen. Dies setzt Diskussi-onsprozesse um die normativen Grundlagen von Bewertungen undEntscheidungen voraus, die für die Leserschaft transparent gemachtwerden sollten. Besonders der zweite und der dritte Altenbericht habenWert auf die Nachvollziehbarkeit der Werteprämissen gelegt, die denBerichten zu Grunde liegen. Zwar weist Zapf (1998, S. 13) darauf hin,dass schon in den 70er-Jahren Zweifel bestanden, ob Sozialberichtedazu geeignet sind eine �konsensfähige Setzung gesamtgesellschaftli-cher Ziele und Prioriäten� vorzunehmen. Die Altenberichte können je-doch für sich in Anspruch nehmen, einen wichtigen Beitrag zur Diskus-sion um individuelle und gesellschaftliche Leitbilder des Alterns unterden Bedingungen der einschneidenden demographischen Veränderun-gen in unserer Gesellschaft zu leisten. In Anlehnung an Walter (1995,S. 93) kann man eine der Funktionen der Altenberichte so beschreiben,dass sie �prominentes Medium eines Diskurses� sind, der die Rolle desAlters unter einem funktionalen Gesichtspunkt politisch bearbeitet undwichtige programmatische Formulierungen im altenpolitischen Diskur-ses liefern.

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