gesammelte aufsätze zu platon () || das neue platonbild

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Das neue Platonbild ¹ I Es empfiehlt sich, für das Folgende an das zuerst 1984 erschienene und demnächst in elfter Auflage vorliegende Platon-Buch von G. Reale² anzuknüpfen, weil es die aktuelle Lage der Platonforschung am eindringlichsten reflektiert und auf den Begriff bringt. Reale zufolge hat man es bei den drei in der Geschichte der Pla- tondeutung aufgetretenen Leitbildern: dem neuplatonischen, dem romantischen und dem gegenwärtig im Entstehen begriffenen, mit Paradigmen, oder (nach neuerer Terminologie) mit disziplinären Matrizesim Sinne der Theoriendyna- mik von Th. Kuhn zu tun. Dem ist grundsätzlich zuzustimmen. Reale hat dafür genügend viele Indizien beigebracht, und wie man hört, steht Kuhn selbst der Anwendung auf Platon günstig gegenüber. Man kann dann in der Abfolge der drei Paradigmen einen Dreischritt konstatieren, bei dem das neue Platonbild, wie ich es hier skizzieren möchte, nach der Thesis des neuplatonistischen, bis ins 17. und 18. Jahrhundert geltenden, und der Antithesis des romantischen, von Schleier- macher und Schlegel begründeten Paradigmas, in etwa die Rolle der Synthesis übernimmt: Es hält sich von den Extremen des Zuviel und des Zuwenig glei- chermaßen frei, d. h. es verfällt weder wie das erste der unhistorischen Adaptation und systematischen Überformung, noch setzt es wie das zweite Platons Philo- sophie verkürzend mit dem erhaltenen Schriftencorpus gleich. Es nimmt vielmehr zwischen der bis zum 18. Jahrhundert herrschenden allegorisierenden und der seither dominierenden literarisierenden Deutung eine mittlere, historisch be- gründete und ausgewogene Position ein, indem es die auf Platons Lehrtätigkeit in der Akademie zurückgehende indirekte Überlieferung mit dem Gesamtwerk ver- bindet. Insbesondere legen wir auf die Feststellung Wert, daß alle haltbaren Elemente des romantischen Paradigmas, wie etwa die recht verstandene Dialog- theorie Schleiermachers, in das neue Paradigma eingebracht und darin aufge- hoben werden können. Es handelt sich um einen Fall der Theorienreduktion von Teiltheoremen auf eine umfassendere Gesamttheorie. Dieses Verhältnis der In- klusion sollte einen Konkurrenzstreit zwischen den Vertretern der einen oder anderen Interpretationsrichtung eigentlich überflüssig machen. Überarbeitete Fassung eines an den Universitäten München, Mainz,Wien, Innsbruck, Siegen, Köln, Schaan/ Liechtenstein, Poznań/ Polen gehaltenen Vortrags. G. Reale, Per una nuova interpretazione di Platone. Rilettura della metafisica dei grandi dialoghi alla luce delle Dottrine non scritte, Mailand 10 1991 (deutsch: Zu einer neuen Interpretation Pla- tons, Paderborn 1993). Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst Library Authenticated Download Date | 10/6/14 7:53 PM

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Das neue Platonbild¹

I

Es empfiehlt sich, für das Folgende an das zuerst 1984 erschienene und demnächstin elfter Auflage vorliegende Platon-Buch von G. Reale² anzuknüpfen, weil es dieaktuelle Lage der Platonforschung am eindringlichsten reflektiert und auf denBegriff bringt. Reale zufolge hat man es bei den drei in der Geschichte der Pla-tondeutung aufgetretenen Leitbildern: dem neuplatonischen, dem romantischenund dem gegenwärtig im Entstehen begriffenen, mit Paradigmen, oder (nachneuerer Terminologie) mit „disziplinären Matrizes“ im Sinne der Theoriendyna-mik von Th. Kuhn zu tun. Dem ist grundsätzlich zuzustimmen. Reale hat dafürgenügend viele Indizien beigebracht, und wie man hört, steht Kuhn selbst derAnwendung auf Platon günstig gegenüber. Man kann dann in der Abfolge der dreiParadigmen einen Dreischritt konstatieren, bei dem das neue Platonbild, wie iches hier skizzieren möchte, nach der Thesis des neuplatonistischen, bis ins 17. und18. Jahrhundert geltenden, und der Antithesis des romantischen, von Schleier-macher und Schlegel begründeten Paradigmas, in etwa die Rolle der Synthesisübernimmt: Es hält sich von den Extremen des Zuviel und des Zuwenig glei-chermaßen frei, d.h. es verfällt weder wie das erste der unhistorischen Adaptationund systematischen Überformung, noch setzt es wie das zweite Platons Philo-sophie verkürzendmit dem erhaltenen Schriftencorpus gleich. Es nimmt vielmehrzwischen der bis zum 18. Jahrhundert herrschenden allegorisierenden und derseither dominierenden literarisierenden Deutung eine mittlere, historisch be-gründete und ausgewogene Position ein, indem es die auf Platons Lehrtätigkeit inder Akademie zurückgehende indirekte Überlieferung mit dem Gesamtwerk ver-bindet. Insbesondere legen wir auf die Feststellung Wert, daß alle haltbarenElemente des romantischen Paradigmas, wie etwa die recht verstandene Dialog-theorie Schleiermachers, in das neue Paradigma eingebracht und darin aufge-hoben werden können. Es handelt sich um einen Fall der Theorienreduktion vonTeiltheoremen auf eine umfassendere Gesamttheorie. Dieses Verhältnis der In-klusion sollte einen Konkurrenzstreit zwischen den Vertretern der einen oderanderen Interpretationsrichtung eigentlich überflüssig machen.

Überarbeitete Fassung eines an den Universitäten München, Mainz,Wien, Innsbruck, Siegen,Köln, Schaan/ Liechtenstein, Poznań/ Polen gehaltenen Vortrags. G. Reale, Per una nuova interpretazione di Platone. Rilettura della metafisica dei grandi dialoghialla luce delle ‚Dottrine non scritte‘, Mailand 101991 (deutsch: Zu einer neuen Interpretation Pla-tons, Paderborn 1993).

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Wenn trotz der größeren Erklärungsleistung der neuen Betrachtungsweise undtrotz des Anomalienüberhangs, der degenerativen Problemverschiebung und derStagnation des romantischen Forschungsprogramms sich manchmal nur schwerüberwindbare Widerstände gegen die im folgenden vertretene Platondeutung be-merkbar machen, dann ist das, wie Reale mit Berufung auf Kuhn gewiß zu Rechtdiagnostiziert, ein charakteristisches Indiz dafür, daß es sich tatsächlich um einenParadigmenwechsel handelt. Es ist nämlich eine Erfahrungsregel der Wissen-schaftsgeschichte, daß die Vertreter eines Paradigmas dieses ihr Leitbild mit derWissenschaft selbst identifizieren und den Versuch, es durch ein anderes zu er-setzen, als ein Attentat auf die Wissenschaft betrachten. Dem entspricht es im FallePlatons, daß das hergebrachte romantische Platonbild noch niemals auch nur imAnsatz kritisch auf seine Voraussetzungen hin analysiert und überprüft worden ist.Schleiermacher und Schlegel werden zumindest im kontinentalen Raum faktischbis heute als unangreifbare Autoritäten behandelt und ihre Platonbilder fraglos undwie selbstverständlich als sakrosankt und kanonisch unterstellt.

Dies gilt für Schleiermachers Identifizierung des Literaturdialogs mit derplatonischen Philosophie selbst ebenso wie für Schlegels philosophisch folgen-reicheren Infinitismus, der erst in der Platondeutung des 20. Jahrhunderts voll zurAuswirkung gelangt ist. Aus diesemMangel an Distanz und der stillschweigendenTabuisierung kritischer Reflexion ist zu entnehmen, daß man sich mit den ro-mantischen Ursprüngen nach wie vor voll identifiziert. Man tut dies auf Seiten derPhilologie,weil man den literarisierten Platon Schleiermachers in den Kontext derantiken Literatur- und Kulturgeschichte zurückstellen kann. Man tut es sodann aufSeiten der Philosophie, weil sich das moderne Selbst- und Weltverständnis inseiner Geschichtlichkeit, Endlichkeit und Vorläufigkeit an den Texten einesKlassikers der Philosophie mit Hilfe von Schlegels dynamisch-infinitistischerDeutung wiedererkennt und gespiegelt findet.

Die unvoreingenommene und in ihrer Weise sachbezogene Philosophiehistoriewird sich indessen mit solchen harmonischen, aber zirkulären Spiegelungseffektennicht zufrieden geben können. Man kann nachweisen– undwir haben dies im FalleSchleiermachers ebenso wie in dem Schlegels bereits getan³ – daß die Dogmen vonder Autarkie des platonischen Literaturdialogs und vom Infinitismus des platoni-schen Philosophiebegriffs ihren ganz bestimmten und daher unwiederholbarenphilosophie- und geistesgeschichtlichen Ort haben: Schleiermachers exklusiveTheorie des Literaturdialogs wurzelt im frühromantischen Programm der Verbin-

H. Krämer, Platone e i fondamenti della metafisica, Mailand 51993, bzw. Plato and the Foun-dations of Metaphysics, Albany/ New York 1990, jeweils Kap. I; ders., La nuova immagine diPlatone, Neapel 1986, Kap. II; ders., „Fichte, Schlegel und der Infinitismus in der Platondeu-tung“, DVjs 62 (1988), 583–621.

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dung von Philosophie, Religion und Kunst und insbesondere systematisch in einemidentitätsphilosophisch begründeten und dadurch aufgewerteten Symbolverhältniszwischen Gedanke und Ausdruck, Inhalt und Form, Subjektivem und Objektivem,das seine nächste und bekanntere Parallele in Schellings Kunstphilosophie findet.

Schlegels dynamisch-infinitistische Platondeutung wiederum erweist sich alsdem Ideenkreis der Bewußtseins- und Bildungsgeschichte des neuzeitlichenSubjekts im Deutschen Idealismus zugehörig und zwar – das läßt sich philolo-gisch zeigen – speziell in der Gestalt derWissenschaftslehre des frühen Fichte.VonSchlegel gehen dann die zentralen Kategorien der neueren Platondeutung aus: dieder Entwicklung, des Unfertigen, Unvollendbaren und Asystematischen, der Iro-nie sowie des agnostisch Undurchsichtigen und Unsagbaren. Schlegel argu-mentiert aber mit dem Gedanken der unendlichen Reflexion, der dem allem zu-grundeliegt, von der Spitze der neuzeitlichen Subjektivität aus.

Die Aufdeckung dieser Zusammenhänge und Bedingtheiten zieht heute inbeiden Fällen unvermeidlich einen Verfremdungseffekt nach sich, der den Zauberdes romantischen Paradigmas bricht. Die bislang fraglos als Standards tradiertenund als kongenial gefeierten romantischen Programme geraten damit ins Zwie-licht geschichtlicher Kontingenz und verlieren gleichsam ihre hermeneutischeUnschuld. Schleiermacher ist davon weniger betroffen als Schlegel, weil er seineim Kern richtige Dialogtheorie nur überschätzt und absolut gesetzt hat. Man kanndurchaus Schleiermacher mit Schleiermacher widerlegen und zugleich positivaufheben, wenn man wie neuerdings Th. A. Szlezák⁴ zeigt, daß die Dialoge inAnlage und Gedankenführung immer schon über sich selbst hinausweisen aufPlatons Lehrtätigkeit in der Akademie und das Ungeschriebene. Schlegels Pla-tondeutung ist demgegenüber keine historische Leistung gewesen, sondern deranachronistische Versuch, Platon als Kronzeugen für das Anliegen der eigenenEpoche zu gewinnen. Man wird sich für den erwünschten radikal-offenen Phi-losophietypus nach anderen Archegeten und Autoritäten umsehen müssen alsgerade Platon.

An präsentistischen Rückprojektionenen und zirkulären Selbstbestätigungenmittels der Philosophiegeschichte fehlt es heute freilich weniger denn je. Je mehrbei den Philosophen die Kenntnis der antiken Philosophie abnimmt, desto mehrwächst die Tendenz, die Texte als vogelfrei zu betrachten und sich dazu nur nochstrategisch, nämlich im Dienst philosophie- und wissenschaftspolitischer Ab-sichten zu verhalten. Das Areal der Philosophiegeschichte wird dann mit lauter

Th. A. Szlezák, Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie, Berlin/ New York 1985; ital.Platone e la scrittura della filosofia, Mailand 31991; ders., Come leggere Platone, Mailand 1991(deutsch: Platon lesen, Stuttgart-Bad Cannstatt 1993).

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Doppelgängern von Hegel, Heidegger oder Wittgenstein avant la lettre und enminiature bevölkert, von denen man nichts lernen kann als was man ohnehinschon anderweitig zuwissen glaubt, die aber die aktuellen Autoritäten,von denenman ausgeht,unversehens um ihre innovatorischeOriginalität bringen. Darin liegtkeineÜberwindungdesHistorismus, sondern ein Zurückfallen invorhistoristischeAufklärungshistorie. Was speziell Platon angeht, so wird das Bedürfnis nachKronzeugenschaft dann besonders prekär, wenn es zur Parteinahme für das demGeist der Neuzeit näherstehende und weniger festgelegte romantische Paradigmaführt, das solchen Rückprojektionen leichter offensteht, verbunden mit einerobskurantistischen Verleugnung des historisch ihm überlegenen und besser be-gründeten. Es ist nun aufschlußreich zu beobachten, daß es sich bei der Mehrzahlder deutsch- und englischsprachigen philosophischen Autoren, die das neuePlatonbild in seiner Historizität oder seiner philosophischen Relevanz in Fragestellen, um Kritiker und Gegner der Metaphysik handelt, die speziell an der me-taphysischen Prinzipientheorie Platons Anstoß nehmen. Sie versuchen entweder,mittels der Option für das romantische Paradigma einen entmetaphysiziertenPlaton als Gewährsmann der eigenen Bestrebungen zu gewinnen, oder aber einenÜbermetaphysiker Platon als bizarren Prototyp in eine Destruktionsgeschichte derMetaphysik einzuordnen. Im zweiten Fall wird das neue Platonbild zwar toleriert,ihm aber ein historistischer Pyrrhussieg vindiziert, der philosophisch-systema-tisch gesehen folgenlos bleiben müsse.

Demgegenüber bestehen wir darauf, daß das Problem der Metaphysik zuvielschichtig ist, um im Handstreich verabschiedet werden zu können, und daßinsbesondere dem neu gesehenen Platon, auch wenn er auf die klassische Me-taphysik vorausweist, eine hermeneutische Multivalenz und ein Perspektiven-reichtum zukommen, die eine Auswertung unter ganz verschiedenen systemati-schen Gesichtspunkten erlauben.

Beispiele dafür werde ich im folgenden im Anschluß anmeine in italienischerund englischer Sprache erschienenen Arbeiten vorlegen.⁵

II

Wir haben in der Tat in zahlreichen Publikationen, auf die ich hier summarischverweisen muß, das neue Gesamtbild darzustellen versucht, das sich ergibt, wennman literarische und mündliche, direkte und indirekte Platonüberlieferung nach derMethode wechselseitiger Erhellung auf einander bezieht. Dann zeichnet sich eine

Vgl. S. 403, Anm. 3.

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mehrstufige Begründungsbewegung ab, die den Pluralismus der Ideenlehre durcheine weitergehende Reflexion überwindet und zu einer expliziten Unifikation in einerübergreifenden Prinzipientheorie von Einheit und Vielheit vorstößt.

Damit eröffnet sich die Aussicht auf eine Kontinuität der philosophischenTradition des Westens von der vorsokratischen Ursprungsspekulation über denPlatonismus zur neuplatonisch-christlichen Metaphysik, bei der die protologischeFragestellung sich bis in die Lösungen hinein durchhält.

Ich kann hier nur andeuten, daß Platon alle weiteren ontologischen Unter-schiede auf verschiedene Grade der Verbindung zwischen den beiden Grund-prinzipien zurückgeführt hat: zunächst den vom Eleatismus überkommenenUnterschied zwischen intelligibler und sensibler Welt, dann innerhalb des In-telligiblen die Differenz zwischen Universalien und Mathematischem, aber auchdie Gegensatzpaare oberster Gattungen wie Identität und Diversität, Gleichheitund Ungleichheit, Ansichseiendes und Relatives, ferner die Relation von Teil undGanzem. In allen diesen Fällen überwiegt beim ersten Glied die Einheit, beimzweiten die Vielheit.Wo die Relationen in sichweiter abgestuft werden, kommt eszur Bildung von Ableitungsreihen: So in der Abfolge der Seinsstufen oder spezi-eller in der Reihe: Analogie – Gattung – Art – Individuum oder in der Reihe derZahlen und Dimensionen.

Die indirekte Überlieferung zeigt zwei Grundtypen von Ableitungsreihen miteinem mehr generalisierenden und einem mehr elementarisierenden Begrün-dungsmodus. Platon hat offenbar in mehreren konvergierenden Anläufen ver-sucht, die Totalität des Seienden möglichst umfassend und unter verschiedenenPerspektiven zu thematisieren. Dem Methodenpluralismus entspricht eine in-tensionale Mehrdeutigkeit der Prinzipien, die in dieser Sicht den doppelten Statusvon elementa prima und genera generalissima einnehmen („Einheit“ hat also dendoppelten Sinn des Einfachsten und des Allgemeinsten). Platon hat im übrigenden idealen Universalienbereich durch höchste Bestimmtheit der Relationenausgezeichnet und demgemäßdie Ideen zahlenhaft, nämlich nach arithmetischenVerhältnissen organisiert vorgestellt. Andererseits untersteht der Universalien-bereich den Metaideen der Identität und Differenz. Er ist also in beiderlei Weise inden Prinzipien begründet.

Darüber hinaus hat Platon sowohl bei der generalisierenden wie der ele-mentarisierenden Methode eine doppelte, gegenläufige Argumentationsweiseangewandt: die reduktiv-aufsteigende nach der Erkenntnisordnung und die de-duktiv-absteigende nach der Seinsordnung. Modern ausgedrückt ist dies dieKorrelation von analytischer und synthetischer, von risolutiver und kompositiverMethode oder von Entdeckungs- und Rechtfertigungszusammenhang. Bei allenvier Methodentypen handelt es sich aber nur um Spezifikationen der einen dia-lektischen Methode der platonischen Philosophie.

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Bei den Ableitungsstufen und -reihen besitzt jede Stufe gegenüber der vor-hergehenden ein inhaltliches Plus und ein kategoriales Novum. Sie setzt dievorhergehende voraus und wird mit dieser aufgehoben (wie Platon sagt); es be-steht also eine asymmetrische, aber weitgehend transitive Relation. Doch bietetdie Primärstufe jeweils nur notwendige, nicht auch hinreichende Bedingungender folgenden. Dies gilt auch für die Letztbegründung auf der Prinzipienebene:Auch sie liefert nur ontologische Grundbestimmungen, keine inhaltlichen Vor-gaben im Sinne eines principium rationis sufficientis.

Die Prinzipientheorie eröffnet für die platonische Philosophie einen syste-matischen Horizont und entwirft die Konturen einer einheitlichen Theorienbil-dung. Doch implizieren Konsistenz und Kohärenz und die Tendenz zur Totali-sierung noch nicht dogmatische und definitive Geltungsansprüche. Es empfiehltsich, von einer offenen Systematik zu sprechen, die der Erweiterung und Revisionzugänglich blieb. Immerhin sind damit für die Einschätzung der philosophischenGesamtposition Platons und daher auch für die Interpretation seiner Schriftengewisse unhintergehbare Kriterien gesetzt. Tatsächlich werden viele Stellen derDialoge nur dann sinnvoll, wenn man sie von der Ungeschriebenen Lehre hererklärt, so etwa die Gleichnisfolge im Staat.Wir sind dadurch instandgesetzt, dieseeminenten, aber bisher änigmatischen Texte Platons gewissermaßen buchsta-bierend zu verstehen. In anderen Fällen bietet die Sekundärüberlieferung Ent-scheidungskriterien zwischen verschiedenen Interpretationsmöglichkeiten, so beider Deutung des Dialogs Parmenides. In anderem Zusammenhang figuriert sie alsKorrektiv und vermittelnde Instanz, so etwa beim Sophistes, dessen spezialisierteThematik neben dem politisch-ethischen Programm der Politeia zunächst isoliertzu stehen scheint. Darüber hinaus ließen es der Phaidros und der 7. Brief offen, obund inwieweit der methodischen Ungesichertheit des geschriebenen Werks nichtauch eine inhaltliche Unverbindlichkeit korrespondiert. Der Nachweis sachlicherZuordnung zwischen den Schriften und der von Platon im eigenen Namen vor-getragenen mündlichen Lehre sichert nun die philosophische Verbindlichkeit desgeschriebenen Werkes und wertet es damit entschieden auf (und nicht etwa ab,wie manche Kritiker irrtümlich meinen). Insgesamt erschließt die indirekteÜberlieferung eine höherstufige, reflektiertere Sichtweise der platonischen Phi-losophie, aber sie führt nicht in eine radikal andere Dimension. Der philosophi-sche Anspruch der literarischen Überlieferung kann daher durch die indirektenicht ersetzt, sondern nur ergänzt werden.Umgekehrt eröffnen die Schriften nachwie vor den hermeneutisch-methodischen Zugang zur platonischen Philosophie,während die indirekte Überlieferung nur gleichsampetrifizierte Resultate ohne dieargumentative Genesis bietet. Nur wer die Fragestellungen der Schriften hinrei-chend durchdacht hat, wird daher mit den Lösungen der Ungeschriebenen Lehreetwas anfangen können. Da überdies der Interpret der doxographischen Referate

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nicht wie bei den Schriften auf eine hermeneutische Tradition zurückgreifen kann,bedarf es eines langen, geduldigen Umgangs mit diesen Dokumenten, damit siesich als das zu erkennen geben,was man einmal über die Texte Hegels gesagt hat:Sie seien Gefäße voll starken und feurigen Tranks, aber mit wenig Handhabe.

III

An einem einzelnen Textbeispiel sei die Probe aufs Exempel gemacht und dieErklärungskraft der indirekten Überlieferung an Hand des zentralen Textes vonPlatons Staat über die Idee des Guten vorgeführt. Platon hat das Gute selbst hierein einziges Mal literarisch namhaft gemacht und in einen vielfältigen Kontextgestellt, aber im einzelnen nicht genauer entfaltet. Platon läßt Sokrates vielmehrausdrücklich und wiederholt auf die Unvollständigkeit seiner Darlegungen hin-weisen. Diese Äußerungen können nicht mittels der sokratischen oder gar derromantischen Ironie oder als psychagogisches Manöver relativiert und abgetanwerden, weil sie – wie neuerdings Szlezák⁶ in seiner eingehenden Monographiegezeigt hat – in einem größeren Zusammenhang mit ähnlichen Aussagen stehen,die zuletzt auf die Schriftkritik des Phaidros und des 7. Briefes zu beziehen sind.Zwar kannmanvom sokratischen Ansatz Platons her sehr wohl die Idee des Gutenals das Worumwillen des menschlichen Handelns begreifen, doch wäre dies auchschon durch einschlägige Analysen der Frühdialoge Platons,wie etwa desGorgias,abgedeckt. Der Überschuß an Merkmalen und Funktionsbestimmungen, den diePoliteia darüber hinaus bietet, geht darin jedenfalls nicht auf und hat darum dieInterpreten von jeher in unauflösliche Aporien verstrickt, mitunter auch zuabenteuerlichen und halsbrecherischen Hilfskonstruktionen herausgefordert.Wenn es eine Bewährungsprobe für jede Interpretation ist, alle Merkmale undFunktionen des Guten vollständig, einheitlich und zugleich historisch begründet zuverstehen, dann ist die traditionelle Auslegung bis heute weit entfernt davongeblieben, diesem Kriterium zu genügen.

Die in diesem Beitrag vertretene Forschungsrichtung hat seit einigen Jahr-zehnten einen anderen, naheliegenden Weg eingeschlagen, um die schwierigenTexte zum Sprechen zu bringen, indem sie sie auf die Überlieferung von PlatonsLehrtätigkeit in der Akademie simultan bezog. Auch in der Akademie hat Platonnämlich über die Idee des Guten gesprochen, sie aber genauer als Idee der Einheitbestimmt und in weiterreichende – wir würden heute sagen: ontologische, gno-seologische und grundlagentheoretische – Zusammenhänge gerückt, die dieje-

Vgl. S. 404, Anm. 4.

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nigen der Politeia teils komplementär ergänzen, teils erläutern.Wir sind heute inder Tat in der Lage, alle Merkmale und Funktionen des Guten vollständig, ein-heitlich und historisch begründet zu verstehen,wenn wir die im Sonnengleichnisausdrücklich zurückgehaltene, aber in der Akademie explizit formulierte We-sensbestimmung des Guten in den Politeia-Text einsetzen. Dann wird deutlich,daß Platon das Programm dialektischer Synopsis tatsächlich durchgeführt undvor allem:wie er den Überstieg über die in den späteren Dialogen hervortretendengrößten Gattungen zur Idee der Einheit vollzogen hat. Es wird damit auch ein-sichtig, wie sich die speziellere Thematik der dialektischen Dialoge vom Parme-nides an in den von der Politeia skizzierten Aufstieg zum Guten einfügt. Insbe-sondere können wir jetzt verstehen, daß das Gute nicht nur die einzelnen Güterund Tüchtigkeiten, sondern auch Sein,Wahrheit und Erkennbarkeit der Ideen undder mathematischen Gegenstände begründet oder, wie Platon sagt, „als Anfangverursacht“. Die grundlegende Vorstellung Platons war die Begrenzung und Be-stimmung eines Prinzips der Unbestimmtheit, Vielheit, Differenz, Multiplikationund Graduierung durch das Prinzip der Einheit, Identität und Bestimmtheit.

Demgemäß ist alles Seiende in dem Maße, in dem es ein Identisches, Be-stimmtes, Begrenztes und Beharrendes ist und als solches an der reinen Einheitteilhat. Es kann aber nur darum an der Einheit teilhaben, weil es zugleich an derVielheit teilhat und dadurch von der Einheit selbst verschieden ist. Seiendes istdarum wesentlich als Einheit in der Vielfalt. Dies gilt auch für die Universalien, diePlaton Ideen nennt; sie sind durchweg Einheitsformen, „eingestaltige“, in ihrer Artsinguläre Entitäten, die sich von der Vielheit und Vielgestaltigkeit der daran par-tizipierenden Einzelwesen durch ihre größere Nähe zur Ur-Einheit des Grundesunterscheiden. Mit den Charakteren der Identität und Bestimmtheit ist das Seiendeaber zugleichwahrheitsfähig im Sinne der Erschlossenheit und Erkennbarkeit, undes ist als einheitlich begrenztes ferner auch ein Geordnetes, Harmonisches, Sym-metrisches,Taugliches und Verläßliches, es besitzt mit anderenWorten Tüchtigkeit,Areté.Damitwird insbesondere der Zusammenhang zwischendemGuten selbst undden einzelnen Gütern und Tüchtigkeiten über ein bloßes Subsumptionsverhältnishinaus begrifflich und kategorial einsehbar. Man kann sagen, daß Platon mit dieserKonzeption die Konversionsthese der späteren Transzendentalienlehre der Sachenach weitgehend, und mehr als Aristoteles, antizipiert und zugleich prinzipien-theoretisch begründet hat. Wir erkennen jetzt auch, daß Platon damit an dieontologischen Konnotationen des griechischen Areté-Begriffs angeknüpft hat,ähnlich wie er mit der Verknüpfung von Sein und Wahrheit den veritativen Aspektdes Seinsbegriffs und seine Entfaltung im Eleatismus fortführt. Man hat mit Rechtvon der dreifachen Wurzel der Ideenlehre gesprochen: der ontologischen, dergnoseologischen und axiologisch-normativen; sie trifft aber mutatis mutandis füralles Seiende zu. Platon hat die intensionale Mehrdeutigkeit des Seienden auch in

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der Wesensbestimmung des Einen-Guten als „exaktestes Maß“ zum Ausdruck ge-bracht, denn damit verbindet sich der Dreifachsinn von gnoseologischemMaßstab,ontologischer Grenze und axiologischer Norm. So verstanden, bietet die Bestim-mung des Einen-Guten als letztes Maß eine abschließende Zusammenfassung derplatonischen Philosophie, die Platon aber gerade wegen ihrer vielfältigen Voraus-setzungen nicht literarisch mitgeteilt, sondern gemäß den methodologischen Er-wägungen des Phaidros und des 7. Briefes den langwährenden Aneignungspro-zessen des mündlichen Unterrichts in der Akademie vorbehalten hat. – Auf demBoden der altenOntologie und ihrer Teleologie stehend, brauchte Platon imübrigendie moderne Differenz von Sein und Sollen nicht zu formulieren (ein kategorischesSollen hat im Bereich der antiken Strebensethik ohnehin keinen Ort). Dem Vorwurfdes naturalistischen Fehlschlusses hätte er sich – in der Humeschen Form – durchden Hinweis auf ein universelles Streben, das er Eros nennt, in der MooreschenForm durch die Abstufung und Universalisierung des Strebens entziehen mögen.Voraussetzung ist allerdings, daß die Idee der Einheit das universell Erstrebte unddamit das Gute sei, weil Sein, Erhaltung und Wirkungskraft von der Einheit ab-hängen. Daraus versteht es sich weiterhin, daß dem Ansinnen unserer Herme-neutiker, das platonische Gute auf die Anwendungskompetenz des jeweils histo-risch und sozial Vorgegebenen zu beziehen, aus der Sicht des Historikers nichtwillfahren werden kann. Das platonische Gute selbst ist weder Applikat noch Ap-plikationsprinzip, sondern Applikandum, und es enthält eine transhistorische ka-tegoriale Grundbestimmung und elementare ontologische Grundstruktur für alleseinzelne Gute – eben seine Einheitlichkeit –, ganz ähnlich wie die Eudämoniede-finition des Aristoteles oder in der Neuzeit das auch inhaltlich verwandte Sitten-gesetz Kants. So wenig wie mit dem Unsagbaren der romantischen Ironie Schlegelsoder mit der – erst nachHume und dem Sturz der Teleologie möglich gewordenen –Undefinierbarkeit G. E. Moores, so wenig hat es mit dem Okkasionalismus einerpraktischen Urteilskraft zu schaffen.

IV

Aus unserer Sicht gehört Platons Philosophie entgegen allen modernistischenAdaptationen und Verkürzungen in die Vorgeschichte der klassischen Metaphysikhinein und hat nur dort ihren philosophiehistorisch genuinen Ort.Unabhängig vonseiner Bedeutung für die Geschichte der klassischen Metaphysik läßt sich jedochdas im Zeichen der Prinzipientheorie stehende Platonbild zu verschiedenstenneuzeitlichen und gegenwärtigen philosophischen Richtungen in eine produktivehermeneutische Beziehung setzen. Darin gibt sich die philosophische Tragweiteund Substanz des platonischen Ansatzes zu erkennen. Dabei zeichnet sich eine

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besondere Affinität zum Neueren Idealismus ab, wie sie auf Grund der philoso-phiegeschichtlichen Deszendenzverhältnisse auch zu erwarten war. Auf demWegeüber die kritizistische oder hegelianisierende Idealismus-Nachfolge eröffnet sichneben der Philosophia perennis eine weitere Möglichkeit, das neue Platonbild un-mittelbar auf die systematischen Diskussionen der Gegenwart zu beziehen und inein Gespräch zeitgenössischer Positionen nicht nur unter historischen Vorzeicheneinzubringen. So stellt sich die Frage der Transzendentalphilosophie nach denErkenntnis- und Seinsprinzipien als eine subjekttheoretisch gewendete Transfor-mation der zuerst von Platon umfassend aufgeworfenen Letztbegründungspro-blematik dar. Platon hat nicht nur, wie man dies bereits der Politeia entnehmenkonnte, formale und unifikatorische Begründungsstrukturen entwickelt, sondern,wie wir jetzt deutlicher sehen, innerhalb ihrer die Einheit selbst folgerichtig nocheinmal inhaltlich als oberste Begründungskategorie thematisiert. Zugleich hat er einPrinzip der Mannigfaltigkeit und Graduierung als zusätzliche Bedingung für dieBegründungsleistung der Einheit statuiert. Diese Prinzipientheorie hatte unteranderem auch erkenntnisbegründende, d. h. aber transzendentale Aspekte,wenngleich ohne deren spezifisch neuzeitliche subjekttheoretische Fundierung. Siepräfiguriert damit der transzendentalen Einheit der Apperzeption im Kantianismusebenso wie der zugehörigen Mannigfaltigkeit. In anderer Weise trifft dies für dieabsolute Identität Hegels zu, die als spekulative Identität von Identität und Nicht-identität zugleich mit Nichtidentität durchsetzt ist und damit wie Platons Prinzi-pientheorie eine duale Struktur aufweist, deren Korrelate einander gegenseitigimplizieren. Die Verwandtschaft ist beim frühen Hegel noch enger, wo anstelle derabsoluten Identität in direkter Anlehnung an Platon die absolute Einheit von Einheitund Vielheit erscheint. Man kann daher zusammenfassend behaupten, daß dieplatonische Prinzipientheorie bei Kant und Hegel in subjekttheoretischer undspekulativer Abwandlung aufgenommen und verarbeitet ist.

Eine zweite, ebenso bedeutsame Gemeinsamkeit zeigt sich in der methodi-schen Gegenläufigkeit von Regression und Progression, von Analysis und Syn-thesis, die Platons Ungeschriebene Lehre mit Kant wie überhaupt mit der deut-schen Aufklärungsphilosophie seit Leibniz und andererseits mit Hegel verbindet.Der Zusammenhang ist hier – und dies hat das Buch von H.-J. Engfer⁷ gezeigt –über Proklos und Pappos auch historisch belegt. Platons Ungeschriebene Lehrebietet in den von den Prinzipien ausgehenden Begründungsstrukturen einekontinuierliche Kategorienentwicklung, die Hegels gegen die Dialoge gerichtetenVorwurf der „äußeren Reflexion“, d. h. eben der mangelnden immanenten Be-griffsentwicklung, grundsätzlich entkräftet. Platon hat hier die Linearität des

H.-J. Engfer, Philosphie als Analysis, Stuttgart-Bad Cannstatt 1982, 68 ff.

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Begründungszusammenhangs in Deszendenz undAszendenz, die in den Schriftenunausgeführt oder scheinbar durch parataktische Verhältnisse ersetzt ist, in Ge-stalt von Reihen- und Stufenbildungen thematisch gemacht und in ihrer Gesetz-mäßigkeit auch terminologisch ausformuliert (z.B. als Priorität und Posterioritätin asymmetrischen, aber transitiven Relationen). Insbesondere wird ein Satzoberster Kategorien aus der Einheit und der Mannigfaltigkeit abgeleitet. Dabeikommenbereitswesentliche Bestände der Hegelschen Seins- undWesenslogik zurGeltung. Seine spezielle Kategorienlehre hat Platon nach dem Gesetz wachsenderRelationsgrade angeordnet und damit die Reflexionsbewegung der HegelschenLogik in nuce antizipiert. Platon hat sich also nicht mit einer unvermitteltenVergleichung und Aneinanderreihung der kategorialen Bestimmungen begnügt,sondern deren logische Verknüpfung sehr wohl in die Form einer systematischenAnordnung gebracht, in der jede Kategorie durch ihren jeweiligen systematischenOrt als hergeleitet und begründet erscheint. Platon schreitet ähnlich wie Hegel,nur unspekulativ, durchweg vom Einfacheren zum Komplexeren und Konkretenfort,wobei das Prinzip der Mannigfaltigkeit und Differenz bei Platonwie bei Hegelstufenweise in das Sein eindringt und es verändernd zu neuen Gestalten umformt.In der platonischen Konstitutionstheorie stellt sich der Zusammenhang der Be-stimmungsschritte freilich nicht wie bei Hegel als in sich gehender Spiralengang,sondern als Abfolge verschiedener Mischungsgrade und Mischungsstufen dar, indenen sich Einheit und Vielheit sukzessiv durchdringen. Weniger weit reicht dieParallele zwischen platonischer und kantianischer Konstitutionstheorie:WährendPlaton eine Mehrstufigkeit des Konstitutionsgedankens annimmt, die außer denGegenständen der Erfahrung auch die idealen Kategorien einer prinzipientheo-retischen Konstitution unterwirft, beschränkt sich Kant kritisch auf die Konsti-tution der ersteren. Gemeinsam bleibt jedoch allen drei idealistischen Entwürfen,daß die letzte Begründungsinstanz und Geltungsquelle – die reine Einheit, dieEinheit des Bewußtseins, die absolute Idee der Begriffslogik – sich primär auf eineMannigfaltigkeit kategorialer Bestimmungen und erst dann – durch diese ver-mittelt – auf Gegenstände sinnlicher Erfahrung bezieht. Die begründungstheo-retische Unterscheidung zwischen Prinzipien und Kategorien führt nun fernerhinbei Platon wie bei Kant und Hegel dazu, daß der Begriff des Seienden oder desSeins prinzipien- und konstitutionstheoretisch hinterfragt wird. In diesem Punktunterscheidet sich der Platonismus beispielsweise vomAristotelismus durch seinegrößere Radikalität; zugleich zeigt sich, daß der Neuere Idealismus diese Radi-kalität gegenüber der frühneuzeitlichen Ontologie erneuert und verstärkt hat.

Die zueinander gegenläufigen Methoden der Regression auf Prinzipien hinund der Progression von Prinzipien her sowie die Linearität dieser Entwicklungenverbindet Platons Position mit dem Systembegriff der Neuzeit und zwar, wenn ichrichtig sehe, im Grundsätzlichen enger als dies für die stark schematisierenden

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und scholastifizierten Systembildungen des Hellenismus oder der Spätantikezutrifft. Natürlich hat der Hochdruck der Gewißheitsfrage in der Neuzeit zu einerVerschärfung des systematischen Bedürfnisses geführt, aber man darf nichtübersehen, daß Platon und Aristoteles eine analoge Erkenntniskrise in der So-phistik voraussetzen. Ihr entspricht als Antwort ein Systemgedanke, der die To-talität des Seienden einheitlich zu begründen strebt, wenngleich er dem Plura-lismus der Seinsbereiche und ihren Spezialmethoden größeren Spielraumgewährtals die Philosophie der Neuzeit. Auch hier ist Platon mit dem Anspruch derExistenzableitung des Seienden radikaler gewesen als Aristoteles. Der Grad derGemeinsamkeit zwischen antikem und neuerem Idealismus läßt sich wiederumspeziell dem Vergleich mit Hegel entnehmen: Die Regression der Erkenntnis-ordnung findet bei Platon ihre Begründung in der Progression der Seinsordnung,der sie in spiegelbildlicher Umkehrung entspricht, muß aber vor dieser durch-laufen werden, um auf sie hinführen zu können. Bei der Regression wie bei derProgressionmuß jedoch der Zusammenhang Stufe umStufe und Schritt um Schrittin kontinuierlicher Sukzession erarbeitet werden. (Hier liegt der ontologischeGrund für die Lehr- und Lerntheorie Platons mit ihrer Methode allmählicherAneignung.) Bei Hegel entspricht dem der Weg der Erfahrung des Bewußtseins inder Phänomenologie und seine Fortsetzung in der Logik, wobei allerdings dieplatonische Differenz zwischen Regression und Progression überwunden wird.Gemeinsam ist Platon und Hegel, daß das erkennende Bewußtsein an eine un-vertauschbare Abfolge kategorialer Bestimmungen gebunden ist, die es sukzessivdurchlaufen habenmuß,umdas Absolute in Gestalt der Prinzipiensphäre oder derabsoluten Idee begreifen zu können.

Am nächsten kommt Platon dem neuzeitlichen Systemgedanken zweifellos inder Struktur der intelligiblen Sphäre, die in der Ungeschriebenen Lehre nachmathematischen Verhältnissen und Proportionen exakt durchorganisiert wordenist. Darin liegt der Ansatz zu einer Kohärenztheorie der Wahrheit,wie sie der Sachenach auch der Philosophie Hegels innewohnt und von späteren Hegelianern (wieF. H. Bradley oder B. Blanshard) explizit formuliert worden ist. Daß „die Wahrheitdas Ganze“ ist, ist in der Tat eine Voraussetzung, die auch die vielfach alsmonströsmißverstandene Theorie der Ideen-Zahlen Platons bestimmt und erklärt.Im Bereich der Universalien und Kategorien steht jedes Glied zu jedem anderen ineiner genau definierten, quantitativ ausdrückbaren Relation und spiegelt in derSumme seiner Relationen das Ganze wider. Insofern ist der intelligible Bereich dievollkommene Einheit in der Vielheit. Der geltungs- und rechtfertigungstheoreti-sche Aspekt der platonischen Prinzipientheorie kommt darum erst in der Theorieder Ideen-Zahlen voll zur Auswirkung. Der Begriff des Logos, den die platonischeDialektik darin entfaltet, ist einfacher als die spekulative Grundfigur der Hegel-schen Dialektik. Aber ein kohärenztheoretischer Wahrheitsbegriff liegt beidemale

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zugrunde. In ihm kann man eine Zuspitzung des Systemgedankens erkennen.Soviel zum Verhältnis des neuen Platonbildes zum neuzeitlichen Idealismus.

Um nun ein anderes, ganz heterogenes Beispiel zu nennen: Entgegen einervordergründigen antimetaphysischen Platonkritik, aber in Übereinstimmung miteinsichtigen Wissenschaftstheoretikern wie K. Popper und seiner Schule kanndargetan werden, daß gerade der prinzipientheoretische Ansatz und die Sach-problematik der Ungeschriebenen Lehre Platons sich noch vor den Dialogen fürVergleiche mit moderner Grundlagenforschung und Wissenschaftstheorie emp-fehlen. Man kann von ihrer metaphysischen Substanz abstrahieren und sie mitMitteln der Analytischen Philosophie auf ihre formalen: logischen, linguistischen,epistemologischen und grundlagenwissenschaftlichen Aspekte hin analysieren.So kann man in linguistischer Perspektive die Ideenlehre Platons als Prädikaten-Ontologie und die Prinzipientheorie als Prädikatenlogik höchster Stufe, nämlichals eine Theorie von letzten Metaprädikaten interpretieren, die in allen Aussagenals Einheit und Vielheit implizit enthalten sind. Man kann ferner den elemen-tarisierenden Aspekt der Prinzipientheorie auf ein umgangssprachliches Substratvon transphrastischen Satzsystemen iterierenden Charakters beziehen, also aufeine höherstufige sprachliche Struktur als die bloße Prädikation, die in der ge-neralisierenden Denkform steckt. Platons im Kratylos zu beobachtende Tendenzzu einer idealen Universalsprache, die durch Eineindeutigkeit zwischen Zeichenund Referenten ausgezeichnet ist, läßt sich im übrigen von der Prinzipientheorieher tiefer begründen: Die Prinzipientheorie ist die letzte Bedingung der Mög-lichkeit von Identität und Eindeutigkeit sprachlicher und semantischer Zuord-nungen; und sie erzwingt kraft ihrer praktischen Normativität auch deren realeEtablierung. Platon wäre freilich – dies zeigt gerade die gesuchte intensionaleMehrdeutigkeit der Prinzipientheorie – nicht bis zur Extensionalitätsthese von(Carnap und) Quine fortgeschritten, derzufolge die Intensionen eliminiert werdensollen. Deswegen kann auch Quinesmengentheoretischer Platonismus von Platonher gesehen nur als restriktiv erscheinen. Noch ferner steht Platon natürlichQuines Gedanke der ontologischen Relativität.

Die Bivalenz der Prinzipien als genera generalissima und elementa primawürdeman heute mit der Fregeschen Unterscheidung von Bedeutung und Sinn zuerfassen suchen, ihre zirkuläre Definition aus den Prinzipiaten mit den implizitenDefinitionen D. Hilberts vergleichen und die methodische Differenz von Regres-sion und Progression mit der wissenschaftstheoretischen Unterscheidung vonEntdeckungs- und Rechtfertigungszusammenhang. Platons Generierungsmodelle

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würde man heute in rekursive Definitionen zu übersetzen versuchen.V. Hösle⁸ hatwohl zu Recht darauf hingewiesen, daß in der Präzisierung des Gegenprinzips alsZweiheit der Ansatz zu einem binären Systemgedanken liegt (wie dies auch dieAnwendung in der platonischen Dihairesis belegt.). Daß in der platonischenAkademie ein den Antinomien der modernen Mengenlehre vergleichbares Pro-blem gesehen war, hat die Diskussion um den infiniten Regreß und die Selbst-prädikation in den letzten Jahrzehnten genugsam gezeigt. Unbeachtet blieb aber,daß Platon in der Ungeschriebenen Lehre ein der Typentheorie entsprechendesAxiom formuliert hatte, das den Regreß verhindert und das sich mehrfach auf diePrinzipientheorie beziehen läßt. Man kann versuchen – und wir haben dies getan–, dieses Axiom zusammen mit anderen fundamentalen Sätzen der Ungeschrie-benen Lehre zu einem deduktiven Systemmore geometrico zu ordnen, und hoffen,damit in die Nähe dessen gekommen zu sein, was Platon im 7. Brief als eine Art„Kurzformel“ seiner Philosophie bezeichnet hat. Soviel zum Verhältnis des neuenPlatonbildes zur Analytischen Philosophie.

Eine weitere, dritte Möglichkeit der Aktualisierung liegt im Bereich der Na-turphilosophie, wo die Stellungnahmen C. F. von Weizsäckers richtungsweisendsind und fernerer Entfaltung fähig erscheinen. Von Weizsäcker hat wiederholt⁹Vergleiche zwischen der Ungeschriebenen Lehre Platons und der Quantentheoriesowie dem Programm einer deduktiv verfahrenden Naturwissenschaft gezogen. Inder Tat führt die indirekte Überlieferung die im Timaios angesponnene Reduktionder Körperwelt auf körperlose mathematische Strukturen zu Ende und gelangtdabei zu Theorien über die Diskontinuität von Körpern und Räumen, die von ferneauf die Elementarquanten der Atomphysik vorausweisen.

V

Ich möchte es bei diesen Beispielen für eine speziellere systematische Relevanzdes platonischen Ansatzes bewenden lassen. Von allgemeinerem Interesse istdagegen die gleichfalls systematisch bedeutsame Frage, welche Klärungen sichaus den recht verstandenen, in der Prinzipientheorie zuende reflektierten plato-nischen Ursprüngen für die gegenwärtige Diskussion um Transformation oder

V. Hösle, „Zu Platons Philosophie der Zahlen und deren mathematischer und philosophischerBedeutung“, Theologie und Philosophie 59 (1984), 339, 347 ff. C. F. von Weizsäcker, Die Einheit der Natur, München 1971, 474 ff.; ders., Der Garten desMenschlichen. Beiträge zur geschichtlichen Anthropologie, München/ Wien 1977, 171 ff., 326 ff.,335 ff.; ders., Zeit und Wissen, München/ Wien 1992, 1086ff., 1099ff.

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Ende der Metaphysik und das damit verbundene Selbstverständnis der Philoso-phie ergeben könnten.

Die Prinzipientheorie Platons bietet nämlich diagnostische Kriterien für denProzeß der wachsenden Entplatonisierung der Philosophie in der Neuzeit an. DieNeuzeit betont bekanntlich im Gegenzug zum neuplatonisch-christlichen Ur-Monismus die Differenz und Nichtidentität, die Vielheit und Negativität stärker alsdie Einheit und Identität – schon im Zusammenhang mit der frühneuzeitlichennominalistischen Aufwertung des Individuums, der Subjektivität und einem ak-tuosen Substanz-Begriff, dann zumal von Hegel über die Junghegelianer undNietzsche bis hin zu Heidegger und Adorno, Derrida oder Lyotard. Darin liegt,wiewir jetzt deutlicher zu sehen glauben, eine kategoriale Umakzentuierung inner-halb der Prinzipienebene des Platonismus, nämlich ein Überspringen auf dasGegenprinzip der Vielheit und Entzweiung. Dies wurde solange nicht einsichtig,als man sich am neuplatonischen Metaphysik-Typ und seinem Prinzipien-Mo-nismus orientierte. Der originäre Platonismus bietet demgegenüber mit seinerdualen Prinzipienstruktur einen kategorialen Rahmen an, der die Verschiebungdes Schwergewichts und den neuzeitlichen Einbruch der Nichtidentität in dietraditionellen metaphysischen Identitätsstrukturen begrifflich genauer nach-vollziehbar macht. Dieser kategoriale Rahmenwird allein in der UngeschriebenenLehre und nicht schon in den Dialogen Platons greifbar.

Eine solche schärfere Konzeptualisierung neuzeitlicher Entwicklungen istaber auch noch unter anderen Gesichtspunkten möglich: Die moderne Ablösungdes Substanzbegriffs durch den Relationsbegriff, der sich spätestens von Leibnizan hindurchverfolgen läßt, aber auch die Ersetzungdes absoluten Standorts durchdie Relativität und Perspektivität einer Pluralität von Standorten – wiederum vonLeibniz über Hegel und Nietzsche bis zu Heidegger und Gadamer oder Quine undTh. Kuhn – läßt sich gleichermaßen konzeptuell am Gegenprinzip Platons fest-machen, und zwar an seiner ontologischen und gnoseologischen Relevanz alsPrinzip von Multiplikation, Relationalität und Gradualität überhaupt. An denRelationsbegriff schließt sich als weitere Konsequenz der Anti-Essentialismus derModerne an. Aber auch der Hang zum Asystematischen, zum philosophischenAntisystem, mit der Neigung, hierarchische Repräsentationsverhältnisse durchBinnenreferenzen zu ersetzen, beruht auf der Verschiebung des Gleichgewichtszwischen Einheit und Vielheit, das die Struktur der Systembildung bei Platon bisins einzelne bestimmt hatte.

Der prinzipientheoretische Siegeszug der Zweiheit, Vielheit und Andersheitund ihr neuzeitlicher Triumph über Einheit und Identität zeigt sich ferner drittensin der Aufwertung von Werden, Bewegung, Zeit und Geschichte in den beidenletzten Jahrhunderten. Sie kulminiert in Nietzsches und Heideggers Thesen, daßSein Werden oder Zeit sei. Dies ist fürwahr ein „umgedrehter Platonismus“, wie

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Nietzsche selbst formulierte, aber einer, der auch in der prinzipientheoretischenTiefendimension umgedacht wird, denn das platonische Gegenprinzip war aus-drücklich auch Kategorie von Werden und Bewegung, und der zugleich – durchdas Ineinanderdenken von Sein und Werden, von Prinzip und Gegenprinzip – zuEnde gedacht und so ganz zum Verschwinden gebracht werden soll. Die jüngstenVorschläge, eine Ereignis- oder Prozeßontologie an die Stelle der traditionellenDingontologie zu setzen – bei W. Sellars, D. Davidson oder G. Abel –, stehen in derTradition von Fichte, Schlegel, Hegel, Nietzsche, Dilthey, Bergson undWhitehead,aber auch in Übereinstimung mit Heidegger. Sie versuchen damit Ernst zu ma-chen, Werden als Grunddatum zu begreifen und Sein als Abstraktion zu entlar-ven – ein Schritt, der viel revolutionärer ist als der vomUniversalienrealismus zumNominalismus. Freilichwird dabei auch sichtbar, daß auf relative Konstanten undinsbesondere den Begriff der Konstanz selbst – und der Variabilität selbst – nichtverzichtet werden kann, ohne Erkennen und Kommunikation aufzuheben, ganzso, wie auch das Universalienproblem weiterhin im Raum steht. Ohne Identitätläßt sich über Ereignisse, ohne Generelles über ein Individuum nicht einmalsprechen, geschweige denn argumentieren. Nietzschewar sich durchaus im klarendarüber, daßwir aus den identifizierenden Strukturen der Grammatik nicht herauskönnen, auchwennwir sie als unwahr durchschauen. Dies bedeutet, daß Identitätzugunsten von Differenz und Sein zugunsten von Werden nicht einseitig aufge-hoben werden kann, sondern daß lediglich eine Verschiebung des Schwerge-wichts möglich ist, die dann allerdings vom Platonismus wegführt.

Hier stellt sich die weitergehende und eigentlich entscheidende Frage, obmanden kategorialen Rahmen selbst, den die platonische Prinzipientheorie explizit alssolchen formuliert hatte, auf lange Sicht tatsächlich ganz vergleichgültigen kann,wie Nietzsche und Heidegger annahmen. Dabei müssen natürlich verschiedeneProblemniveaus unterschieden werden, etwa das speziellere Transzendenzpro-blem von einer weitergefaßten und daher weniger kritikanfälligen kategorialenDualität.Was das erstere angeht, so ist vermutlich Heidegger – entgegen seinemSelbstverständnis – dem Platonismus näher geblieben als Nietzsche, dem er einennur halbherzigen Antiplatonismus vorwirft. Tatsächlich hat Nietzsche, indem erdas Werden in der Wiederkunftslehre als Sein setzte, einen Schritt in die Richtungder Vergleichgültigung des Dualismus getan, während Heideggers scheinbarkonsequenterer Antiplatonismus zu einer Gegenmetaphysik geraten ist, die ge-rade als Negation, als Antithese zum Platonismus auf diesen als Thesis bezogenbleibt. Heidegger radikalisiert damit die Grundtendenz der Neuzeit, gegenüber derantiken und mittelalterlichen Äternisierung die Gegenposition von Werden, Ver-änderung, Zeit und Geschichte auszuzeichnen. Solange jedoch die dualeGrundstruktur, die Platons Prinzipientheorie konzeptualisiert hatte, noch alsleitend erkennbar ist, kann eine „Verwindung“ der Metaphysik nicht konstatiert,

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ja kaum erhofft werden. Der kategoriale Rahmen bleibt jedenfalls umso aktueller,je anhaltender und rascher die Verschiebung des Schwergewichts von der Einheitzu pluralistischer Vielheit und Veränderung sich vollzieht. Sie erzwingt nämlichimmer wieder neu die Formulierung relativer Einheiten und bringt andererseitseine Häufung von Charakteren des Nichtidentischen und Veränderlichenmit sich.Auch dann also, wenn man die von Platon exemplarisch entwickelte Metaphysikeiner Welttranszendenz, eines Absoluten, eines daraus abgeleiteten Weltsystemsund einer Wesensbestimmung des Seienden verabschiedet hat, bleibt die Kate-gorialität einer impliziten Metaphysik erhalten.

Ferner wird man auch dort, wo man die Metaphysik als philosophische Dis-ziplin mit dem Anspruch einer Ersten oder Fundamental-Philosophie nicht mehranerkennt, mit einzelnen metaphysischen Problemfeldern rechnen müssen, wieetwa einer Metaphysik der Erkenntnis mit dem Problem der Bewußtseinstrans-zendenz, oder mit der Frage des Geltungsstatus von Universalien. Für die Philo-sophie konvergieren beide Problemfelder in der Frage der Kategorienbildung unddes Kategorienzusammenhangs. Dafür ist aber wiederum Platons Prinzipien-theorie in dem doppelten Sinn instruktiv, daß sie das erste große Beispiel reinphilosophischer Kategorienbildung abgibt und daß andererseits alle Universalienund Kategorien Einheitsformen sind und sich insofern auch inhaltlich auf diekategoriale Grundlegung Platons beziehen lassen. (Die Einheit ist dann die Ka-tegorie der Kategorien – auch für den Kategorienzusammenhang und darüberhinaus für einen korrespondenztheoretischen oder aber – alternierend – einenkohärenziellen oder konsensuellen Wahrheitsbegriff.) Selbst wer primär an Me-taphysikkritik interessiert ist, wird im neu gesehenen Platonismus das prototy-pische Exemplar für einenMaximaltypus von Philosophie finden, der uns über diekategoriale Genesis und die Aufstrukturierung von Metaphysik belehren unddamit Gesichtspunkte für die systematische Aufarbeitung der Philosophiege-schichte an die Hand geben kann. Es ließe sich vermutlich zeigen, daß alleGrundthemen der klassischen Metaphysik durch die Anhäufung und Kontami-nation verschiedener Einheitsbegriffe konstituiert worden sind, die in der Uni-vozität von Einheit gipfelt und bei der die Begriffe der Einzigkeit und Totalität einebeherrschende Rolle spielen. Einheit erweist sich als der Grundbegriff der Meta-physik, nicht der des Seienden, das sich zur Einheit vielmehr wie das explanan-dum zum explanans verhält. Insbesondere zeigt es sich jetzt, daß das Einheits- undBestimmtheitsprinzip Platons das Identitätskriterium auf den Weg gebracht hat,das Heidegger bis hin zur modernen Wissenschaft und Technik kritisch im Augegehabt hat. In dieser Sicht stellt sich die Prinzipien- und IdeenzahlentheoriePlatons als der erste großangelegte Versuch dar, dieWelt einheitlich in den Griff zubekommen und rational verfügbar zumachen – eine Auffassung, die nachmeinenErfahrungen auch von manchen ostasiatischen Beobachtern geteilt wird.

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Doch gleichgültig, ob wir uns dem neuen Platonbild mehr von einem meta-physikkritischen oder metaphysikfreundlichen Bewertungsstandort aus zuwen-den – wir können beidemale von den recht verstandenen Anfängen der Meta-physik bei Platon her die systematischen Alternativen in einen erweitertenhistorischen Horizont rücken und dadurch besser einschätzen. Wenn die philo-sophiehistorische Forschung solche Beiträge zum Selbstverständnis der Gegen-wartsphilosophie leisten kann, dann hat sie ihre Aufgabe erfüllt. Ich beschließedamit mein Plädoyer für die systematische Ergiebigkeit und den Perspektiven-reichtum des platonischen Ansatzes, in der Zuversicht, Zweifel an seiner philo-sophischen Substanz, die in jüngster Zeit gelegentlich geäußert worden sind, alsunbegründet dargetan zu haben.

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