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Geschichte der Rekonstruktion Konstruktion der Geschichte

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Page 1: Geschichte der Rekonstruktion Konstruktion der Geschichte · Rekonstruktion als Rezeption – Die Rekonstruktion antiker Stadtbilder und ihre Verbreitung | Valentin Kockel Archäologische

Geschichte der Rekonstruktion

Konstruktion der Geschichte

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Publikation zur Ausstellung des Architekturmuseums der TU München in der Pinakothek der Moderne22. Juli bis 31. Oktober 2010Ein Projekt des Architekturmuseums der TU München in Kooperation mit demInstitut für Denkmalpfl ege und Bauforschung der ETH Zürich, Uta Hassler

Ausstellung und Publikation wurden gefördert durch:

Ernst von Siemens Kunststiftung

Fritz Thyssen Stiftung Förderverein des Architekturmuseums der TU München

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Geschichte der RekonstruktionKonstruktion der GeschichteHerausgegeben von Winfried Nerdinger in Zusammenarbeit mit Markus Eisen und Hilde Strobl

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

AufsätzeZur Einführung – Konstruktion und Rekonstruktion historischer Kontinuität | Winfried Nerdinger

Rekonstruktion – Die zweite Chance, oder: Architektur aus dem Archiv | Aleida Assmann

Religiöse Kontinuität und ritueller Wiederaufbau | Fernando Vegas und Camilla Mileto

Wiederaufbau, Neubau und Rekonstruktion in Asien. Zur Kontinuität von Objekt und Ritual in Nepal, Indien und Japan | Niels Gutschow

Rekonstruktion und ›Denkmalpfl ege‹ in der Antike | Ortwin Dally

Die sogenannte Wiederbelebung der antiken Architektur in der Renaissance | Hubertus Günther

Rekonstruktionen von Kontinuität zwischen 1600 und 1800: Überbrückung der durch Politik, Religion und Krieg verursachten Zäsuren | Eva-Maria Seng Rekonstruktion als Rezeption – Die Rekonstruktion antiker Stadtbilder und ihre Verbreitung | Valentin Kockel

Archäologische Rekonstruktionen in Deutschland. Von der romantischen Gartenruine zum wissenschaftlichen Versuchslaboratorium | Hartwig Schmidt

Deutschlands ›Superbauten‹? Rekonstruktionen und nationale Identität | Winfried Speitkamp

Denkmalpfl ege und historische (Re-)Konstruktion von nationaler Identität in den USA | Anna Minta Die Rolle der Rekonstruktion nach dem Wechsel der Systeme in Osteuropa | Arnold Bartetzky

Rekonstruktion in der Denkmalpfl ege | Heinrich Magirius

Bürgerschaftliches Engagement als Katalysator für Rekonstruktionen | Uwe Altrock / Grischa Bertram / Henriette Horni

Wiederaufbau und Rekonstruktion am Beispiel der Münchner Residenz | Johannes Erichsen

»Ruinen und Rekonstruktionen« – konservatorische Konzepte des 20. Jahrhunderts und Architekturkritik heute | Uta Hassler

Katalog 1. | Rekonstruktion des ›authentischen Geistes‹ und rituelle Wiederholung 2. | Rekonstruktion am heiligen Ort – religiöse und architektonische Kontinuität 3. | Rekonstruktion zur Selbstbehauptung, Wiedererrichtung oder Neuerfi ndung der Nation 4. | Rekonstruktion von Bildern und Symbolen einer Stadt 5. | Rekonstruktion zur Wiederherstellung der Einheit eines Ensembles oder zur Wiedergewinnung eines Raumes 6. | Rekonstruktion als Antikenrezeption – von der Zeichnung zur Animation 7. | Archäologische Rekonstruktion 8. | Rekonstruktion zur Erinnerung an Personen und Ereignisse 9. | Rekonstruktion für Freizeit und Konsum 10. | Rekonstruktion und die ›Ehrlichkeit‹ der Moderne

AnhangGlossarLiteraturverzeichnisAbbildungsnachweisPersonenregisterOrtsregisterAbkürzungsverzeichnisAutorenDankLeihgeberImpressum

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Vorwort

Um das umstrittene Thema Rekonstruktion aus oftmals fi xierten Denkmustern in einen offenen, differenzierten Diskurs zu führen, soll mit vorliegender Publikation die historische Bandbreite des Phänomens, die ›Geschichte der Rekonstruktion‹, mit Einzelbeispielen und Überblicksauf-sätzen ausgeleuchtet werden, damit Leitbilder und Prämissen wie auch Dogmen und Feindbilder der aktuellen Diskussionen im Kontext der geschichtlichen Zusammenhänge erneut refl ektiert wer-den können. Da es sich bei jeder Rekonstruktion auch um eine ›Konstruktion der Geschichte‹ vom jeweils gegenwärtigen Standort handelt, sollten historische wie aktuelle Beispiele immer auf ihre jeweilige Gegenwart und deren Verständnis von ›Wiederherstellung‹ bezogen werden. Erst aus dem Zusammenhang von Rekonstruktion und Konstruktion von Geschichte erschließen sich die Be-deutungsfelder der Begriffe, mit denen argumentiert wird, und erst aus dieser Perspektive kann ver-sucht werden, die vom zeitgeschichtlichen Horizont begrenzten Defi nitionen, Vorstellungen und Wünsche zu präzisieren, zu hinterfragen und gegebenenfalls zu relativieren.

Der Vorgang, dass etwas, das aus welchem Grund auch immer verändert oder zerstört wurde, in einen Zustand versetzt wird, der einem früheren Status möglichst gleich oder ähnlich sein soll, dürfte in frühe Zeiten der menschlichen Kultur zurückreichen. Rekonstruierende Wiedergewin-nung ist historisch so selbstverständlich wie bauen, reparieren und abreißen. Probleme und Ableh-nung entstehen erst seit dem 19. Jahrhundert mit einer zunehmenden Differenzierung des histo-ri schen Bewusstseins sowie aus neuen, mit Theorie und Praxis von Rekonstruktion verknüpften Vor stellungen und Wertungen, die auch zu vielen begriffl ichen Verwirrungen führten. Warum aber im Laufe der Geschichte eine Kontinuität hergestellt wurde und wie genau man sich bei Wieder-herstellungen am Vorgängerbau orientierte, basierte auf sehr unterschiedlichen Gründen oder Kon zepten und ist je nach Epoche und Kultur verschieden. Die Vielfalt geschichtlicher Phäno-mene, die mit diesem Thema verknüpft ist, lässt sich auch mit historischen Begriffen wie Restitu-tio, Reparatio oder Renovatio nur schwer fassen, denn auch diese wechselten im Laufe der Zeit ihre Bedeutung. Alle Begriffe müssten also immer wieder neu aus dem Kontext defi niert werden, wobei noch erschwerend hinzukommt, dass manche Prozesse überhaupt nicht begriffl ich benannt wurden. Die gegenwärtig geläufi gen Termini wie Rekonstruktion, Restaurierung, Wiederaufbau, Wiedererrichtung oder Wiederherstellung werden im allgemeinen Sprachgebrauch vielfach syn-onym verwendet. Die Vielfalt und Komplexität der Vorgänge können damit nicht präzise erfasst werden, und darüber hinaus kommt es häufi g fälschlicherweise zu einer Vermengung mit ›Kopie‹ und ›Replik‹, die sich jedoch eindeutig auf ein noch vorhandenes Original beziehen.

In einzelnen Fachdisziplinen existieren unterschiedliche Defi nitionen, aber der erst vor einigen Jahr-zehnten in der (deutschen) Denkmalpfl ege unternommene Versuch, Rekonstruktion von Wieder-herstellung hinsichtlich dem Fehlen beziehungsweise der Verwendung von originaler Substanz zu differenzieren, ist nicht geläufi g geworden. Vielleicht auch deshalb, weil die Übergänge oft fl ie-ßend sind und eine Trennung nach Prozentzahlen wenig überzeugt. Zudem haben die Begriffe auch in der Denkmalpfl ege inzwischen eine eigene Geschichte – was Georg Dehio in seiner berühmten Devise 1905 als ›konservieren, nicht restaurieren‹ bezeichnete, müsste gut hundert Jahre später wohl in ›restaurieren, nicht rekonstruieren‹ übersetzt werden. Im Osten Deutschlands verstand man wie-derum bis 1989 unter Rekonstruktion etwas, das im Westen als ›Wiederaufbau‹ bezeichnet wurde. Die Geschichte der Wiederherstellung von Bauten hat nur begrenzt mit ›Denkmalpfl ege‹ und kaum etwas mit ›schöpferischer‹ Architektur zu tun, sie kann deshalb weder nach den Defi ni tionen ge-genwärtiger Denkmalpfl ege zusammengestellt und betrachtet, noch aus dem Blickwinkel moder-ner Architektur, die zudem auch noch mit dem völlig anders konnotierten Leitmotiv ›Kritische Rekonstruktion‹ operiert, bewertet werden. Für die Publikation wurde deshalb ›Rekon struktion‹ im Sinne des relativ neutralen Begriffs ›Wiederherstellung‹ weit gefasst, so kann am his torischen Beispiel entsprechend differenziert werden, wie der jeweilige Vorgang aus seiner Zeit und Bedingt-heit zu beschreiben und zu verstehen sein könnte. Eine Orientierung über die Bedeutungsfelder der Begriffe bietet ein Glossar im Anhang.

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Für die Durchführung des Projekts haben sich das Architekturmuseum der TU München und das Institut für Denkmalpfl ege und Bauforschung der ETH Zürich zusammengefunden. In einem ersten Schritt fand im Januar 2008 das Symposium ›Das Prinzip Rekonstruktion‹ an der ETH Zürich statt. Die Tagungsbeiträge sowie eine Edition historischer Texte werden parallel zur vor-liegenden Publikation im Zürcher vdf Hochschulverlag veröffentlicht. Als zweiter Schritt folgt nun die vom Architekturmuseum der TU München vorbereitete und organisierte Ausstellung ›Ge-schichte der Rekonstruktion – Konstruktion der Geschichte‹, die in den Räumen des Museums in der Pinakothek der Moderne gezeigt wird.

Für die Gliederung von Ausstellung und Begleitpublikation wurden aus dem Zusammenhang von ›Rekonstruktion und Konstruktion von Geschichte‹ zehn Themen herausgearbeitet, mit de-ren Hilfe die Vielfalt der Gründe für Wiederherstellungen und ihre unterschiedliche Handhabung strukturiert werden. Die Oberbegriffe können selbstverständlich nur Segmente aus einem kom-plexen Kontinuum erfassen, deshalb ist die Zuordnung der Beispiele auch selten strikt auf eine Ka tegorie begrenzbar, die Übergänge sind fl ießend. Religiöse, nationale, regionale oder auch archi-tektonisch-formale Beweggründe für Wiederherstellungen gehen ineinander über, viele der ausge-wählten Beispiele könnten unter mehreren Oberbegriffen behandelt werden. Wie bei jeder Auswahl wären auch manche der hier vorgelegten Exempla durch andere austauschbar, die Bea rbeitung der aus vielen Ländern und Epochen zusammengestellten Themen durch geeignete Autoren sowie die Beschaffung von Abbildungen setzten zudem Grenzen. Die Beispiele aus der Zeit nach dem Zwei-ten Weltkrieg, die sich fast beliebig vermehren ließen, wurden bewusst reduziert.

Die Durchführung des Projekts basiert auf der großzügigen fi nanziellen Förderung durch die Ernst von Siemens Kunststiftung, die Fritz Thyssen Stiftung und den Förderverein des Architek-turmuseums der TU München. Sie ermöglichten eine langfristige wissenschaftliche Vorbereitung des Themas. Die Recherchen wurden durch die Mitarbeiter in vielen Archiven, Museen und Samm-lungen unterstützt, denen wir zu großem Dank verpfl ichtet sind. Weiterhin danken wir besonders Niels Gutschow, Hubertus Günther, Valentin Kockel und Hartwig Schmidt, die jeweils eine Ab-teilung betreuten, allen Autoren für ihre Beiträge und den Leihgebern für die Bereitstellung von Exponaten. Wir danken Johannes Erichsen, Rolf Griebel, Michael Semff und Wolf Tegethoff für großzügige Unterstützung, Heinz Hiltbrunner für die grafi sche Gestaltung des Katalogs, Ilka Backmeister-Collacott für das Lektorat und dem Prestel Verlag für die termingerechte Herstel-lung. Herzlicher Dank gilt den Mitarbeitern am Architekturmuseum, insbesondere Irene Meis-sner für die Gestaltung der Ausstellung. Ohne den enormen und unermüdlichen Einsatz und das gewaltige Engagement von Markus Eisen und Hilde Strobl, die alle Recherchen durchführten, für die gesamte Koordination und Organisation zuständig waren sowie zahlreiche Texte verfass-ten, wären weder Ausstellung noch Begleitpublikation zu verwirklichen gewesen.

Uta HasslerInstitut für Denkmalpfl ege und Bauforschung der ETH Zürich

Winfried Nerdinger Architekturmuseum der TU München

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Aufsätze

Markthäuserfassaden in Mainz

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Zur Einführung – Konstruktion und Rekonstruktion historischer Kontinuität | Winfried Nerdinger

Rekonstruktion – Die zweite Chance, oder: Architektur aus dem Archiv | Aleida Assmann

Religiöse Kontinuität und ritueller Wiederaufbau | Fernando Vegas und Camilla Mileto

Wiederaufbau, Neubau und Rekonstruktion in Asien. Zur Kontinuität von Objekt und Ritual in Nepal, Indien und Japan | Niels Gutschow

Rekonstruktion und ›Denkmalpfl ege‹ in der Antike | Ortwin Dally

Die sogenannte Wiederbelebung der antiken Architektur in der Renaissance | Hubertus Günther

Rekonstruktionen von Kontinuität zwischen 1600 und 1800: Überbrückung der durch Politik, Religion und Krieg verursachten Zäsuren | Eva-Maria Seng Rekonstruktion als Rezeption – Die Rekonstruktion antiker Stadtbilder und ihre Verbreitung | Valentin Kockel

Archäologische Rekonstruktionen in Deutschland. Von der romantischen Gartenruine zum wissenschaftlichen Versuchslaboratorium | Hartwig Schmidt

Deutschlands ›Superbauten‹? Rekonstruktionen und nationale Identität | Winfried Speitkamp

Denkmalpfl ege und historische (Re-)Konstruktion von nationaler Identität in den USA | Anna Minta Die Rolle der Rekonstruktion nach dem Wechsel der Systeme in Osteuropa | Arnold Bartetzky

Rekonstruktion in der Denkmalpfl ege | Heinrich Magirius

Bürgerschaftliches Engagement als Katalysator für Rekonstruktionen | Uwe Altrock / Grischa Bertram / Henriette Horni

Wiederaufbau und Rekonstruktion am Beispiel der Münchner Residenz | Johannes Erichsen

»Ruinen und Rekonstruktionen« – konservatorische Konzepte des 20. Jahrhunderts und Architekturkritik heute | Uta Hassler

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Zur Einführung – Konstruktion und Rekonstruktion historischer KontinuitätWinfried Nerdinger

Eine Kopie ist kein Betrug, ein Faksimile keine Fälschung, ein Abguss kein Verbrechen und eine Rekonstruktion keine Lüge.1 Über Jahrhunderte basierte die Ausbildung von Künstlern und Archi-tekten auf dem Kopieren von Mustern und Vorlagen und die Entwicklung von Kunst und Architek-tur vollzog sich über Nachahmung, Anpassung, Zitat und Wiederholung. Diese Prinzipien waren eine Grundlage beispielsweise der ganzen römischen Kunst, trotzdem ist diese eigenständig und auch eigenschöpferisch, Schlagwörter aus dem »Arsenal moderner Kunstgeschichte« wie »Kopis-ten kunst« oder »Eklektizismus« werden der »zentralen Eigenart« dieser Epoche »in keiner Weise gerecht«.2 Palladios Villa Rotonda fand Hunderte von Nachfolgern, die als Kopien, Adaptionen oder Neuformulierungen seine Gedanken über mehrere Jahrhunderte in zahlreiche Länder weiter-trugen und zu neuen Entwicklungen anregten, aber niemanden betrogen oder gar Geschichte ver-fälschten. Eine moralische Wertung von ›Nachahmung‹ ist nur dann sinnvoll, wenn jemand mit Absicht getäuscht werden soll, um einen Vorteil zu erreichen, und wenn dem jeweiligen Original eine Wahrheit zugeschrieben wird, die nur ihm zukommen soll und deshalb jede Form von wieder-holender Nachahmung geradezu als unmoralischer Vorgang abgewertet wird; obwohl mit ›Origi-nal‹ dabei zumeist nur ein zeitlich fi xierter Zustand gemeint ist, der häufi g selbst im Lauf der Ge-schichte wieder repariert, verändert oder wiederhergestellt wurde.

Wer einen verlorenen oder zerstörten Bau rekonstruiert, fälscht nicht und verfälscht auch nichts, denn es handelt sich immer um einen Neubau, der als solcher trotz historischer Formen zumin-dest für die Zeitgenossen bekannt und kenntlich ist und über entsprechende Quellen und Doku-mente auch für spätere Generationen immer als Wiederholung identifi zierbar bleibt. Wer das be-rühmte Royal Hospital von Christopher Wren im Londoner Stadtteil Chelsea besichtigt, erfährt nur über eine kleine Tafel am Zugangsweg, dass ein Teil des Baus im Ersten Weltkrieg zerstört und in den 1920er-Jahren rekonstruiert sowie ein anderer Teil im Zweiten Weltkrieg zerbombt und anschließend in alter Form wiedererrichtet wurde. In polnischen Kirchen fi ndet sich am Eingang häufi g ein Foto des im Krieg zerstörten Sakralbaus und es wird auf die Daten der Wiederherstellung hingewiesen. Hier wird nicht gelogen, gefälscht oder betrogen, sondern eine Erinnerung durch Wie-derholung von Formen bewahrt und an die nachfolgenden Generationen weitergegeben. Wer die Hinweise nicht sieht oder wer glaubt, die Altstädte von Warschau (Kat.-Nr. 3.14), Danzig, Bres-lau und Posen seien ›historisch‹, der wird nicht getäuscht, sondern ist zu wenig informiert. Als nach dem Ersten Weltkrieg Hunderte von Siedlungen und Städten und Tausende von Gebäuden in Bel-gien, Nordfrankreich und Ostpreußen in Schutt und Asche lagen, wurde über landesweite Kam-pagnen zur ›Reconstruction‹ beziehungsweise Rekonstruktion aufgerufen.3 Die Wiederherstellung war politisches Ziel und Wunsch der Bürger und sie erfolgte ohne große Diskussionen, ob damit die Geschichte ›verfälscht‹ und ›Lügengebäude‹ errichtet würden. Man veränderte nach funktio-na lem Bedarf, hob hin und wieder vermeintlich nationale Formen stärker hervor und manche for-derten eine ›zeitgemäße‹ Gestaltung, aber im Großen und Ganzen kam es zu historisierenden Wie-derherstellungen, die als Geschichtszeugnisse inzwischen teilweise nationalen Rang besitzen und das »kulturelle Gedächtnis«4 der folgenden Generationen mitprägten. Wer heute durch das Zen-trum von Arras (Kat.-Nr. 4.4), Diksmuide (Kat.-Nr. 4.5) oder Ypern (Kat.-Nr. 4.6) geht, befi ndet sich in einer Stadt mit historischer Dimension, auch wenn fast alles, was er sieht, aus den 20er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts stammt.

Erst nach dem Zweiten Weltkrieg begannen – angeführt von Architekten und Denkmalpfl egern – die öffentlichen Moraldebatten um Rekonstruktion, die angesichts der Zerstörung und der Ver-brechen eine besondere ethische Dimension und Überzeugungskraft erhielten. Moderne Architek-ten, deren Geschichts- und Selbstverständnis aus dem Kampf gegen die ›lügenhafte‹ Architektur des 19. Jahrhunderts, gegen die angeblich unschöpferisch-eklektische Verwendung historischer For-men geprägt worden war, erklärten jede Rekonstruktion zur Lüge und zum Betrug an der Gegen-wart. So heißt es in einem Manifest 1947 kategorisch: »Das zerstörte Erbe darf nicht his torisch re konstruiert werden, es kann nur für neue Aufgaben in neuer Form entstehen.«5 Mit den mate-riellen sollten die seelischen Trümmer beseitigt und dann eine neue, bessere Welt aufgebaut wer-den. Der Gebrauch historischer Form und der Ausdruck der Gegenwart wurden auf das mora-li sche Gegensatzpaar von Lüge und Ehrlichkeit reduziert, eine Polarisierung, die auch nach der Rück kehr von Geschichte über die Architektur der Postmoderne vielfach dominant blieb. Dass die Vorstellungen von einem ehrlichem, zeitgemäßen, schöpferischem Bauen aus der Ablehnung des

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angeblich unehrlichen, unzeitgemäßen und unschöpferischen Historismus des 19. Jahrhunderts er wuchsen und heute einer differenzierten Bewertung von Nachahmung oder Rekonstruktion im Wege stehen, wird zumeist nicht refl ektiert, obwohl die Leistungen des Historismus längst gleich-berechtigt neben die Werke der Avantgarde gestellt werden und essenzieller Teil unseres kulturel-len Gedächtnisses sind.6 Im Hinblick auf eine sich immer mehr auf künstlerische Autonomie und schöpferische Individualität berufende Gegenwartsarchitektur gewinnt deshalb eine von Rudolf Schwarz bereits 1929 formulierte Einschätzung zunehmend an Bedeutung: Man könne sich doch denken, »daß jemand mit alten Formen Baukunst triebe. Das hätte dann aber mit Kopieren nichts zu tun und er könnte sogar ein Prophet sein. Umgekehrt sind heute die meisten Architekten Kopis-ten, nur daß sie unverstandene neue Formen abschreiben oder Modescherze stammeln.«7

Auch die moralisierende Haltung vieler heutiger Denkmalpfl eger geht auf Entwicklungen im 19. Jahr-hundert zurück. Angesichts der wachsenden Verluste von Baudenkmälern durch die Industri ali-sie rung und Urbanisierung und der Versuche einer Kompensation durch ›stilreine‹ Wiederher stel- lung und ›schöpferische‹ Rekonstruktion, beschwor John Ruskin 1849 mit moralischen Appel len und Begriffen die Bedeutung von historischer Substanz: »Lasst uns also gar nicht von Wiederher-stellung reden. Die Sache ist eine Lüge von Anfang bis zu Ende. Ihr könnt das Modell von einem Gebäude machen, wie von einem Leichnam; das Abbild mag die Schale der alten Mauern umschlie-ßen, wie der Abguß das Skelett enthalten mag, zu welchem Nutzen ist mir unerfi ndlich und unwich-tig; aber der alte Bau ist jedenfalls zerstört, vollständiger und erbarmungsloser, als ob er in Trüm-mer gesunken und in einen Staub- oder Lehmhügel verwandelt wäre.« Und wenn Bauten wirklich ab gerissen werden müssten, dann »tut das ehrlich und setzt keine Lüge an ihre Stelle«.8 Die von Ruskin betriebene und von Camillo Boito und Max Dvořák fortgeführte moralische Diskreditie-rung und inquisitorische Verdammung jeder Form von Rekonstruktion – »die Fälscher von alten Gebäuden gehören auf die Galeere«9 – führte auch dazu, dass die großen Leistungen ›schöpferi-scher‹ Restaurierung oder Denkmalpfl ege von Eugène-Emmanuel Viollet-le-Duc, George Gilbert Scott oder Ferdinand von Quast, durch die nicht nur zahllose Denkmäler gerettet, sondern auch die Vorstel lungen von Geschichte von Generationen geprägt wurden, bis heute nicht genügend ge-würdigt und gegenüber einer ›wissenschaftlichen‹ Denkmalpfl ege abgewertet werden.10 Dass die moderne (westliche) Denkmalpfl ege, die zur Bewahrung von Denkmälern institutionalisiert wurde, sich ausschließlich der historischen Substanz verpfl ichtet sieht, ist selbstverständlich, denn dies ist ihre Aufgabe und Sinngebung. Die strikte Ablehnung von Rekonstruktionen, die als Neubau-ten überhaupt nicht in ihren Bereich fallen, ist dagegen häufi g nur ein Moralisieren gegenüber an-deren Auffassungen. Rekonstruktion hat jedoch vielfach nichts mit ›Denkmalpfl ege‹ zu tun, son-dern ist ein von religi ösen oder memorialen Kategorien und Interessen geleiteter Vorgang einer epochen- und kulturspezifi schen Erinnerungskultur. Wenn es vorrangig darum geht, Erinnerung über Architektur zu bewahren, muss die bauliche Substanz nicht zwingend ›original‹ sein.

Als 1963 über den Erhalt oder Abriss der von den Beaux-Arts-Architekten McKim, Mead and White errichteten Penn Station in New York heftig gestritten wurde, erklärte der Bauhaus-Grün-der Walter Gropius, der in Harvard seit 1937 mehrere Generationen junger Architekten geprägt hatte: »Why, for instance, do we dissipate our strength by fi ghting battles for the resurrection or pre servation of structures which are monuments to a particularly insignifi cant period in American architectural history, a period which, still unsure of its own mission, threw the Roman toga around its limbs to appease its nagging doubts. Pennsylvania Station in New York is such a case of pseudo-tradition.«11 Einer der bedeutendsten Bauten des Historismus, in dem die Architektur der Cara-callathermen eine grandiose Nachahmung und Übertragung auf eine Bahnhofsanlage gefunden hatte, wurde – wie zwei Jahre zuvor Euston Station in London – trotz Protesten abgerissen, nicht zuletzt weil die Rückwendung in die Geschichte und die Verwendung historischer Formen als un-schöpferisch und unehrlich diffamiert werden konnten.

Dieses Beispiel zeigt nicht nur, wie zeitgebunden die Urteile auch großer Persönlichkeiten sind, sondern verweist auch auf das generelle Problem, dass sich der Blick in die Geschichte häufi g nur auf den ›Fortschritt‹ konzentriert und auf die Entwicklung von Neuem ausgerichtet ist. Bei diesem Blickwinkel geraten alle bewahrenden, retardierenden oder in die Geschichte zurück orientierten Bestrebungen buchstäblich aus dem Blickfeld. Die gesamte Geschichte der Architektur, wie auch der bildenden Kunst, ist aber ein Gefl echt von Innovation und Bewahrung, von Umbruch und Sur-vival, von Avantgarde und Revival. Die Architekturgeschichte kennt nicht nur Aufbrüche, son-dern auch Kontinuität, Zeiten einer bewussten Abwehr von Neuerungen, Epochen des Bewahrens

Pennsylvania Station in New York, Blick in den großen Warteraum, 1910

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und retrospektive Tendenzen. Darüber hinaus ist sie auch eine Geschichte der Reparaturen, Wie-derherstellungen und Rekonstruktionen, denn zu allen Zeiten wurden Bauten durch Kriege, Na-turkatastrophen oder einfach Verwitterung und Abnutzung beschädigt, zerstört, repariert und wiederhergestellt.12 Die Vorstellung, dass immer und überall ›neu‹ gebaut wurde, ist abwegig, die bewahrenden Maßnahmen fanden nur bei einer auf Neuerung ausgerichteten Betrachtungsweise wenig Interesse. Die meisten Architekturgeschichten verfolgen nur, wie sich gotische Formen aus-breiteten und wann und wie sie in welchem Bauwerk in anderen Ländern erste Anwendung fanden; sie zeigen, wann die Renaissance von Italien über die Alpen kam und wie sie sich in Deutschland manifestierte und es wird analysiert, von wo Innovationen barocker Raum- oder Fassadeninszenie-rungen ausgingen. Dass gotische Formen bis ins 18. Jahrhundert in vielen Gebieten weiterlebten, dass es immer wieder archaisierende Tendenzen gab, dass Gewölbe, Türme oder Fassadenteile bei Zerstörung in Angleichung an das noch Vorhandene rekonstruiert wurden, und dass ›Reparatu-ren‹ zum Alltagsgeschäft gehörten, erscheint für die Bestimmung der Wege in die Gegenwart zu-meist als unwichtig oder abseitig.

Die umfangreichen Forschungen zur Nachgotik und den verschiedenen Survivals, zur Geschichte der Restaurierung und Denkmalpfl ege belegen jedoch seit langem, dass es neben einer Geschichte der Veränderungen auch eine der Kontinuität, des Bewahrens und eben auch Rekonstruierens gab. Wolfgang Götz hat schon 1956 in seiner unpublizierten, lange Zeit viel zu wenig beachteten Leip-ziger Dissertation zur Vorgeschichte der Denkmalpfl ege in drei Bänden eine schier erdrückende Materialfülle zu einer Kontinuitätsgeschichte der Architektur ausgebreitet.13 Durch Studium von Abrechnungen, Chroniken und Materiallisten in Archiven sowie von Bauinschriften eröffnete sich ein völlig neuer Blick auf Bautätigkeiten, die nicht nur auf Vollendung, sondern auch auf konti-nuierliche Wiederherstellung von Bauwerken gerichtet waren. Die allmähliche Neubewertung des Historismus, dessen Umgang mit Geschichte nicht mehr als unschöpferisch abgetan wurde, führte seit den 1960er-Jahren zu einer Fülle von Studien, die bewahrende und retrospektive Tendenzen nahezu überall in Architektur und bildender Kunst zusammentrugen und analysierten. Michael Hesse, Hermann Hipp, Peter Kurmann, Heinrich Magirius und viele andere lieferten immer neue Belege dafür, dass Architekturgeschichte nicht nur eindimensional als Fortschreiten zur Gegen-wart betrachtet werden kann, sondern gleichsam aus Kette und Schuss, aus der Zusammenschau von Brüchen und Kontinuitäten gewoben werden muss.14 Dies ist selbstverständlich kein deutsches Phänomen, Jukka Jokilehto hat 1986 in einer umfassenden Studie eine ›History of Architectural Conservation‹15 vergleichend für England, Frankreich, Deutschland und Italien geliefert. In allen Arbeiten zeigt sich, dass eine Geschichte der Restaurierungen »von der Geschichte der Wiederauf-nahme vergangener Formen nicht zu trennen«16 ist.

Aus einer Perspektive, die auch Kontinuität einbezieht, werden Bauten, die uns heute stilistisch einheitlich erscheinen, als Zeugnisse vieler Epochen wahrnehmbar. Dies bezieht sich nicht nur auf das Weiterbauen von gotischen Sakralbauten bis zum beginnenden Klassizismus oder die ›Voll-endungen‹ im 19. Jahrhundert, sondern auch auf ›historisierende‹ Erhöhungen von Türmen, Aus-tausch von Strebewerk und Fassadenteilen, Einfügungen oder ganz allgemein für Wiederherstel-lungen, die sich durch die Jahrhunderte ziehen.17 So konnte beim Zeustempel in Olympia (Kat.-Nr. 2.2) festgestellt werden, dass er mehrmals nach Zerstörung in alter Form rekonstruiert wurde und dafür jeweils auch neue Bauteile Verwendung fanden. Die nach einem Brand 1481 rekonstruierte Ga lerie am Fuß des großen Dachs der Kathedrale von Reims ahmte »höchst geschickt Formen des 13. Jahrhunderts«18 nach, die Südwand des Südquerschiffs der Stiftskirche St. Servatius in Qued-linburg wurde mitten in der Renaissance 1571 in den alten Formen wiederhergestellt, nach den Zer-störun gen der Hugenotten wurden Anfang des 17. Jahrhunderts mehrere Bauten bis hin zu den Skulpturen »in einer peinlich genau imitierenden Romanik rekonstruiert«, und die Langhauswände des romanischen Kaiserdoms zu Speyer (Kat.-Nr. 2.9) sind Rekonstruktionen der Zeit von 1772 bis 1778.

Es ist eben keineswegs so, dass »die großen Bauperioden der Vergangenheit niemals die Stile ihrer Ahnen nachgeahmt« haben, wie Walter Gropius meinte, der seinen Studenten erklärte: »Man sucht vergeblich nach Kopien der Vergangenheit, die etwa eine äußere ›kosmetische‹ Gleichförmigkeit wahren sollten.«19 Im Gegenteil, es gab in der Geschichte immer wieder Diskussionen, ob ein zer-störter Bau in alten Formen wiederhergestellt oder nach dem neuesten Stand der Architekturent-wicklung errichtet werden sollte. Als ein Feuer den Chor der Kathedrale von Canterbury 1174 zer-störte, wurde unter Mönchen und Experten diskutiert, den Bau zu rekonstruieren oder in gotischer

a Chiado in Lissabon, Zeichnungen zur Wiederherstellung von Álvaro Siza

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Konstruktion neu zu errichten. Hier setzten sich die ›Modernen‹ durch.20 Nach dem Brand des Do-genpalasts in Venedig 1577 ging es zwischen Wiederherstellung oder Modernisierung in Renais-sanceformen hin und her, die Gutachter – darunter Andrea Palladio – plädierten konträr, aber hier wurde der alte Zustand weitgehend wiedergeschaffen.21 Nach den Zerstörungen am Speyerer Dom setzten sich ebenfalls diejenigen durch, die eine Einheit mit dem verbliebenen Rest wiederherstel-len wollten, und bei San Paolo fuori le muri (Kat.-Nr. 2.10) entschied Papst Leo XII. 1825 den Streit um ›Alt‹ oder ›Neu‹ durch Anordnung einer Rekonstruktion. Als bei einer Diskussion über mo-derne Architektur an der Princeton University 1937 der Dekan Ely Jacques Kahn seinen Studen-ten die rhetorische Frage stellte, im Falle einer Zerstörung würde doch wohl niemand die altehr-würdige Universität in modernen Formen wiederaufbauen wollen, da musste er feststellen, das die große Mehrheit für einen Neubau plädierte.22 Damals war die moderne Architektur auf dem Vor-marsch in den USA, heute fi ele die Antwort wohl anders aus. Und 1947 empfahl eine vom Cathe-dral Council eingesetzte Expertenkommission die vollständige Rekonstruktion der zerstörten Kathedrale von Coventry, den Wettbewerb 1951 gewann jedoch Basil Spence, der als Einziger die Ruinen mit einem Neubau kombinierte.23 Wann rekonstruiert und wann modernisiert wird, hängt vom jeweiligen Stand der Architekturdiskussion sowie von vielen anderen Faktoren ab, eine Über-sicht der Beweggründe bieten die in zehn Kapitel gegliederten Beispiele des Katalogs der vorlie-genden Publikation.

Die häufi g emotional geführten oder dogmatisch fi xierten Diskussionen um Rekonstruktion soll-ten in den Diskurs über das ›kulturelle Gedächtnis‹ eingebunden werden, denn dieses ist selbst eine Form von Erkenntnis. Zur Auseinandersetzung mit dem kulturellen Gedächtnis gehört eine »Doppelung der Ebenen: der Erkenntnis von Gegenständen und der Refl exion der Bedingungen eben dieser Erkenntnis«.24 Das heißt, die Prämissen der jeweiligen Standpunke und der zeitgeschicht-liche Horizont müssen mit einbezogen werden, denn es geht darum, »den genauen Ort in der Ge-genwart anzugeben, auf den sich meine historische Konstruktion als ihren Fluchtpunkt beziehen wird.«25 Die Schuld an den Zerstörungen und die Dominanz des ›Interna tional Style‹ ließen nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland kaum Rekonstruktionen zu. So erkannte Rudolf Hille-brecht erst 1959 nach einem Besuch Warschaus, dass dem unter seiner Leitung modern wieder auf-gebauten Hannover die geschichtliche Dimension fehlte und er befürwortete dann selbst eine Wie-derherstellung des Leibnizhauses (Kat.-Nr. 8.11). Dass die Rekonstruktionen in Osteuropa seit 1989 eine Eliminierung der Sowjetzeit und eine Anknüpfung an jeweils eigene nationale Traditi-onen sind (vgl. Kat.-Nr. 2.17, 3.22, 3.24), ist ebenso evident wie der Zusammenhang der Wünsche nach Rekonstruktion in der Bundesrepublik mit einem Generationswechsel und der Unzufrieden-heit mit dem Wiederaufbau der Städte (Kat.-Nr. 4.12). Darüber hinaus ist der Umgang mit dem Thema Rekonstruktion in der Nachkriegszeit generell geprägt von Vorstellungen eines Bruchs mit Traditionen, einer Distanzierung von Historie durch das Aufzeigen von Diskontinuitäten und Frag-menten. Wiederherstellung ist demgegenüber getragen vom Wunsch nach Kontinuität und Kon-formität, aber auch diese konstruierte Erinnerung ist Teil zeitgenössischer kultureller Selbstkon-struktion. Deshalb müsste sogar nach Meinung eines Avantgardisten wie Rem Koolhaas »die Kluft zwischen Erhaltung und Moderne [...] überwunden werden«,26 denn das Verlangen nach Wieder-herstellung ist längst Bestandteil der Gegenwart. Rekonstruktionen haben genauso ein Daseins-recht in der Gegenwartsarchitektur wie schöpferische Neubauten – über die Gestaltung einer Kon-tinuität oder eines Bruchs mit der Geschichte muss jedoch in jedem Einzelfall entschieden werden und dabei ist auch die Meinung der Mehrheit der Bürger zu berücksichtigen. Architekten wie Carlo Scarpa, Luigi Snozzi, Giorgio Grassi und Álvaro Siza haben exemplarisch gezeigt, dass es beim Bauen im historischen Kontext weniger um Originalität, sondern um Dienst an Historie und Bür-gern geht. Als Siza mit der Wiederherstellung des Chiado (Kat.-Nr. 5.19), der Altstadt von Lissa-bon, beauftragt wurde, erklärte er: »Die Frage nach den Fassaden ist mir nicht wichtig«,27 aber im Zuge der Wiederherstellung verbesserte er die Wohn- und Lebensqualitäten. Auf diesem Wege gäbe es (vielleicht) weniger Streit um Rekonstruktion.

1 Vgl. zur Differenzierung Lowenthal 1990; ders. 1992; Magirius 2008d. | 2 Zanker 2007, S. 32. | 3 Reconstructions et modernisation 1991; Dendooven/Dewilde 1999; Bussière/Marcilloux/Varaschin (Hg.) 2002. | 4 Assmann/Hölscher (Hg.) 1988; Assmann 1997; Assmann 1999. 5 Ein Aufruf: grundsätzliche Forderungen, in: Baukunst und Werkform 1947, S. 18; vgl. Nerdinger 2009, S. 378-397. | 6 Vgl. Denslagen 2009. 7 Schwarz 1929. | 8 Ruskin 1900, S. 366. | 9 Marconi 1996, S. 22. | 10 Fawcett 1976; Mörsch 1981; Choay 1997. Zur Zeitgebundenheit der wissenschaftlichen Denkmalpfl ege vgl. Knoepfl i 1972; Wyss 2007, S. 273-296. | 11 Gropius 1964; vgl. Nerdinger 1990. | 12 Vgl. den Bei-trag von Eva-Maria Seng in diesem Band mit weiterführender Literatur. | 13 Götz 1956. | 14 Hipp 1979; Hesse 1984; Magirius 1989; Findei-sen 1990. | 15 Jokilehto 1986. | 16 Kurmann 1991. | 17 Vgl. die Beiträge in Hoffmann u. a. (Hg.) 2005. | 18 Kurmann 1991. | 19 Gropius 1956, S. 63. | 20 Vgl. den zeitgenössischen Bericht von Gervasius von Canterbury, ›Tractatus de combustione et reparatione Cantuarensis ecclesiae‹; Sauerländer 1989, S. 35. | 21 Wolters 1996. | 22 Premises and Conclusions 1937, S. 57ff. | 23 Spence 1963. | 24 Oexle 2000, S. 62. | 25 Walter Benjamin an Max Horkheimer 16.10.1935, in: Scholem/Adorno (Hg.) 1978, S. 690; vgl. Revel/Hunt (Hg.) 1995. | 26 Koolhaas 2005, S. 83. 27 Colenbrander 1990, S. 17; Castanheira/Domingo Santos 1994.

Chiado in Lissabon, Blick durch die Rua Garret auf das namen-gebende Chiado-Gebäude nach der Wiederherstellung, 2007 b

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Rekonstruktion – Die zweite Chance, oder: Architektur aus dem Archiv | Aleida Assmann

»Sollt ich einmal fallen nieder, So erbauet mich doch wieder!« (Spruch über dem Eingangsportal des Schwarzhäupterhauses in Riga)

Rekonstruktion ist eine neue Option in der Architekturgeschichte, die mit einem Paradigmenwech-sel einhergeht. Dieser hat mit einer tief greifenden Veränderung unseres Zeitverständnisses zu tun und betrifft das Verhältnis zur Zukunft und Vergangenheit. In dem Maße, wie die Zukunft nachge-las sen hat, Projektionsfl äche für Erneuerung und Veränderung zu sein, bietet sich die Vergangen-heit in eben dieser Funktion an. Stillschweigend hat die Vergangenheit eine Qualität übernommen, die einst ausschließlich der Zukunft zugesprochen wurde, nämlich die einer unerschöpfl ichen Re s-source für Erneuerung und Wandel. Bis vor Kurzem galt die ebenso selbstverständliche wie un-er schüt terliche Prämisse, dass die Vergangenheit abgelaufen und deshalb festgelegt und abgeschlos-sen, die Zukunft demgegenüber jedoch offen und veränderbar sei. Das hat sich nun geändert: Die Of fenheit und Veränderungsmöglichkeiten der Zukunft erscheinen inzwischen als stark einge-schränkt durch die Zwänge bedrohlicher Umweltveränderungen, die den gesamten Planeten Erde erfasst haben. Was sich dagegen in den letzten Jahrzehnten als erstaunlich wandelbar erwiesen hat, ist unser Bild von der Vergangenheit. Ganze Geschichtsdomänen, die das nationale Selbstbild einst beherrschten, wie heroische Episoden aus dem Mittelalter oder dem 19. Jahrhundert, sind aus dem Bewusstseinshorizont der Gegenwart verschwunden, während neue Episoden aufgetaucht sind, deren noch unbewältigte traumatische Nachwirkungen unsere ganze Aufmerksamkeit beanspru-chen. Wir erleben ferner, wie mit dem Wandel politischer Systeme der Geschichtshorizont wie eine Kulisse neu aufgestellt wird, um mit dem Bewusstseinswandel der Gegenwart Schritt zu halten.

Das neue architektonische Phänomen der Rekonstruktion ist ein unmittelbarer Ausdruck dieses veränderten Verhältnisses gegenüber Vergangenheit und Zukunft. Der Blick wendet sich ab von der Zukunft als dem Generalversprechen des Neuen und konzentriert sich auf die Möglichkeit der Wiederherstellung und Erneuerung von Vergangenem. ›Alt‹ und ›Neu‹, zwei bislang klar defi nierte Gegensätze, gehen dabei eine neuartige Verbindung ein. Das entscheidende Novum in der Praxis der Rekonstruktion besteht in der neuerdings gewonnenen Wahlfreiheit, die historische Uhr zu-rückzustellen. Die Geschichte wird unter diesen Umständen nicht mehr im Bilde eines irreversi-blen Zeitpfeils auf einer linearen Achse betrachtet. In der Dimension der Architektur gilt, dass Ent-scheidungen von bestimmten Menschen unter bestimmten Bedingungen von anderen Menschen zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal revidiert werden können. Das, wovon sich die Früheren losgesagt haben, können sich die Späteren wieder zurückholen. Gewiss gab es immer schon eine Revision der Geschichte in der Dimension der Deutung und parallel dazu auch die permanente Revision historischer Bausubstanz. Diese Veränderungen waren jedoch alle zukunftsgerichtet auf einer linearen Zeitachse; es gab die Chance permanenter Erneuerung, es gab jedoch nicht die ›Ver-alterung‹. Diese in die Zukunft gerichtete Einbahnstraße ist nun zum ersten Mal in der Gegenrich-tung freigegeben.

Wiederaufbau und Rekonstruktion Der Begriff ›Rekonstruktion‹ wird nur auf wertvolle und öffentlich bedeutsame Gebäude – meist handelt es sich um sogenannte Landmarks – angewandt, die historisch und stilistisch klar von der Gegenwart getrennt sind. Architekturtheoretiker unterscheiden zwischen Kopie, Teilrekonstruk-tion, Nachbildung, Wiederaufbau und Rekonstruktion. Unter ›Wiederaufbau‹ verstehen sie die Wie derherstellung eines durch ein unglückliches Ereignis zerstörten Gebäudes aus seinen Resten; demgegenüber bezieht sich ›Rekonstruktion‹ auf die Wiederherstellung eines verlorenen Originals nach Bild-, Schrift- oder Sachquellen. Nicht selten verwandeln sich Rekonstruktionen im Bewusst-sein der Bevölkerung zurück in ›Originale‹, wie es etwa mit der Münchner Innenstadt oder der Sem-per-Oper in Dresden (Kat. 5.14) geschehen ist. Die Generationen, die darum wussten, sterben aus; die Gebäude authentifi zieren sich durch die Zeit von selbst.1

Das Wort ›Wiederaufbau‹ beherrschte die frühe Nachkriegszeit. Damals ging es um den Ausbau von Infrastruktur und die Linderung existenzieller Not. Heute, in der Epoche der Rekonstruktion, geht es demgegenüber um die Reklamierung von historischem Erbe und damit um Fragen des städ-tischen oder nationalen Selbstbilds. Die Rekonstruktion macht Platz nicht für eine neue Zukunft, sondern für eine andere Vergangenheit.2 Vom Historismus des 19. Jahrhunderts unterscheidet sich diese Option dadurch, dass die Vergangenheit nicht mehr durch historische Einfühlung und stilis-

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ti sche Anleihen in die Gegenwart zurückgeholt wird, sondern durch die originalgetreue Rekonst-ruktion verschwundener historischer Bauten. Dieser neue Historismus ist etwas ganz Anderes als die Anverwandlung oder Wiedererfi ndung vergangener Stilepochen; es ist eine Architektur aus dem Archiv auf der Basis exakter Abbildungen, Beschreibungen und noch vorhandener Pläne. An-stelle eines namhaften und frei gestaltenden Architekten liegen Verantwortung und Kompetenz dabei in den Händen anonym bleibender Techniker, Künstler und Handwerker, die sich um Per-fektion, Originaltreue und Authentizität bemühen. Rekonstruktion ist deshalb kein Stilphänomen, sondern eine neuartige kulturelle Praxis, in der sich ein verändertes Verhältnis zur Architektur und Geschichte ausdrückt.

Da die Standorte wiederherzustellender historischer Bauten in der Regel selten leer sind, erfordert eine Rekonstruktion die Entscheidung gegen andere inzwischen errichtete, ebenfalls historische Gebäude. Solche aktuellen Fragen stellen sich derzeit nicht nur in der Mitte Berlins, sondern auch bei der Bebauung des Neumarkts in Dresden (Kat. 4.15) oder in Leipzig, wo ein Universitätsge-bäude an die Stelle der 1968 gesprengten Paulinerkirche (Kat.-Nr. 10.7) getreten ist. Die Frage, die von Fall zu Fall entschieden werden muss, lautet: Wie viel heterogene Geschichte wird in einer Stadt erhalten beziehungsweise welcher der hier angestauten Zeitschichten wollen wir den Vorzug geben? Geschichte – das wird dabei deutlich – ist nicht nur gewachsen und ›geschichtet‹, sondern ist im Zeitalter der Rekonstruktion längst zu einer plastischen Verfügungsmasse geworden, über deren Gestalt die jeweilige Gegenwart entscheidet. Als Instanzen der Entscheidung sind an diesen Prozessen nicht nur Politiker beteiligt, sondern in wachsendem Maße auch die Bevölkerung. Poli-tik, bürgerschaftliches Engagement und Ökonomie berühren sich bei diesen Großprojekten, die von starker medialer Aufmerksamkeit begleitet werden – handelt es sich doch bei den zu rekonstru-ierenden Gebäuden um Landmarks im öffentlichen Raum, die den unverwechselbaren Charakter der eigenen Stadt markieren. Geschichtsbewahrung und -präsentation stützen den ›Standortfak-tor‹ und inszenieren ›Alleinstellungsmerkmale‹; die Investition in Geschichte lohnt sich, weil sie mit den Attraktionen des Weltkulturerbes wetteifert und den touristischen Wert der Städte stei-gert.

Um die Begriffe ›Wiederaufbau‹ und ›Rekonstruktion‹, die für Außenstehende nahe beieinander lie gen mögen, führen die Spezialisten erbitterte Diskussionen. Unter Denkmalpfl egern, die sich der Authentizität der Bausubstanz verschreiben und zur Erhaltung und Pfl ege nicht reproduzier-barer Geschichtszeugnisse verpfl ichten, gilt die Rekonstruktion als »geschichts-, kunst- und denk-malfeindlich«.3 Die Puristen unter ihnen nennen die Rekonstruktion von zerstörten Gebäuden gar ein ›Verbrechen‹; für sie stellt der veränderte oder zerstörte Zustand des Originals selbst eine ge-schicht liche Quelle dar, die durch Rekonstruktion verfälscht wird. Den Befürwortern der Rekon-struktion hingegen geht es keineswegs um Zerstörung von Geschichte, sondern um Möglichkeiten einer Re aktivierung bedeutender Kunst- und Kulturzeugnisse. Sie argumentieren, dass Rekonstruk-tion ein Teil architektonischer Normalität sei, weil in der Geschichte schon immer weiter- und um-gebaut worden sei. Beobachter stellen fest, dass sich erst in den letzten Jahrzehnten eine un über-brückba re Kluft zwischen Objektschutz und räumlicher Erneuerung aufgetan hat, die nicht nur unterschiedliche professionelle Standpunkte, sondern auch unterschiedliche Positionen in der demokratischen Öffentlichkeit abbildet. Während Entscheidungen für Baumaßnahmen im monar-chi schen und to talitären Staat unter Ausschluss der Öffentlichkeit getroffen wurden, sind die Bür-ger einer Demo kratie zu einem sehr viel höheren Grade an Entscheidungsprozessen beteiligt. In den Debatten um die Bebauungspläne werden zugleich zentrale Fragen nach dem Umgang mit der eigenen Geschich te demokratisiert. Die Folge ist eine permanente und vielstimmige Auseinan-dersetzung zwischen Fachleuten, Politikern, Investoren und Bürgern. Die Bürger spielen bei Re-konstruktionsprojekten eine immer größere Rolle, weil sie sich in Form groß angelegter Spenden-aktionen meist selbst an den Kosten beteiligen.4

Zur Dynamik von Abriss und Wiederherstellung – drei Typen der RekonstruktionZerstörung und Rekonstruktion sind zwei Seiten einer Medaille. Der Wunsch nach Rekonstrukti- on antwortet auf einen vorgängigen Zerstörungsimpuls. Der jeweils vorliegende Zerstörungsgrund schreibt sich dabei unweigerlich in das jeweilige Rekonstruktionsprojekt mit ein. In allen Fällen greifen strategische, symbolpolitische, ästhetische und pragmatische Motive ineinander, sind aber dennoch durchaus unterschiedlich akzentuiert. Die in die Rekonstruktion eingebaute zeitli che Dynamik von Abriss und Wiederherstellung folgt unterschiedlichen Motivationslagen, unter de-nen drei besonders hervorzuheben sind:

Altstadt von Warschau, Blick auf den Marktplatz nach der Zerstörung 1944

Blick auf den Marktplatz nach der Wiederherstellung 1953

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Vernichtung und Wiederherstellung: Der Handlungsrahmen ist in diesem Fall eine feindliche ·Aus einandersetzung. Ein Gebäude wird zerstört, weil es zur Zielscheibe feindlicher Aggression wird. Die Antwort auf eine solche Auslöschung ist die Rekonstruktion als Affi rmation des ei-genen Überlebens und der eigenen Identität. Die Wiederherstellung des zeitweilig Verlorenen ist so wohl ein triumphalistisches Zeichen als auch eine Trauma-Therapie; sie kann – wenn die Re-konstruktion Teil einer übergreifenden Versöhnungsgeschichte ist – auch zum Signal der Über-windung und Beendung einer feindlichen Auseinandersetzung werden.

Abkehr und Rückkehr: Der Rahmen ist in diesem Fall die epochale Zäsur einer politischen ·Um orientierung. Ein Gebäude wird aus dem Stadtbild entfernt, weil es dem eigenen Selbstbild ideologisch im Wege steht; in diesem Fall führt eine politische Neuorientierung zur Wiederher-stellung, die zugleich zum Symbol wird für einen abermaligen Bruch und Neubeginn, der die rezente Vergangenheit auslöscht und an ältere Traditionen anknüpft.

Abwertung und Wiederaufwertung: Der Rahmen ist in diesem Fall ein historischer Geschmacks- ·wandel. Ein zerstörtes Gebäude wird nicht wiederaufgebaut, sondern vernachlässigt und schließ-lich abgerissen. Weil es massiv an Wert verloren hat, kann es sich gegenüber neuen Bedürfnissen und Zielen nicht mehr behaupten. Die Rekonstruktion bedeutet in diesem Fall Wiederaufwertung des vorübergehend Entwerteten und ist Symptom einer ästhetischen und historischen Umorientie-rung.

Die Beziehung zwischen Abriss und Wiederherstellung soll im Folgenden entlang der drei skizzier-ten Rahmenbedingungen an einigen Beispielen erläutert werden. Für den ersten Fall, die Dyna-mik von Vernichtung und Wiederherstellung, ist das paradigmatische Beispiel die Zerstörung der Warschauer Altstadt (Kat. 3.14) durch deutsche Truppen gegen Ende des Zweiten Weltkriegs. Die gezielte Zerstörung durch feindliche Aggression war nicht nur auf die Bevölkerung, sondern auch auf die Auslöschung historischer Bausubstanz gerichtet. Sie kam einem Angriff auf Geschichte und nationale Identität gleich. In eben diesem Sinne wurde die deutsche Aggression von den Po-len beantwortet durch den originalgetreuen Wiederaufbau der Altstadt unmittelbar nach dem Krieg mithilfe von Stadtansichten (ausgerechnet aus der Sammlung Hermann Görings!). Während an-derswo das Prinzip der ›Enttrümmerung‹ herrschte und die Architekten vielfach das Werk der feind-lichen Zerstörung durch gezielten Abriss verlängerten, entschied man sich in Polen für umgehende Rekonstruktion. In Polen bildete sich für diese besondere Aufgabe eine heimische Handwerkstra-di tion aus, deren Träger seitdem überall auf der Welt von Oberägypten bis Dresden als Spezialisten für Rekonstruktionsaufgaben hinzugezogen werden. Rekonstruktion stand in Polen im Zeichen von Wi derstand und wurde zu einem wirksamen politischen Symbol nationaler Selbstbehauptung gegen die deutsche Vernichtungsgewalt. Die Wiederherstellung des mittelalterlichen Viertels samt dem Schloss war das sichtbare Zeichen der Reaffi rmation eigener Identität.

Im Falle der Dresdner Frauenkirche (Kat.-Nr. 4.15), die in den letzten Kriegsmonaten durch alli-ierte Bombenangriffe zerstört wurde, fi el die symbolische Antwort anders aus. Sie wurde nicht wiederaufgebaut, vielmehr blieb die Ruine nach dem Krieg als ein Mahnmal gegen Imperialismus, Faschismus und Krieg erhalten. Dieses Mahnmal des ›kalten‹ Krieges gegen den ›heißen‹ Zweiten Weltkrieg konnte auf unterschiedliche Weise gelesen werden: als Zeichen der Reue gegenüber der deutschen Aggression, als Zeichen der Verbundenheit mit den siegreichen russischen Alliierten und als Zeichen der Anklage gegen den Bombenterror der feindlichen Westmächte. Nach der Wieder-vereinigung konnte die vor der ›Enttrümmerung‹ als Mahnmal gerettete Ruine wiederaufgebaut werden. Diese Rekonstruktion wurde mit der Botschaft der symbolischen Beendung des Zweiten Weltkriegs und der Versöhnung der ehemals feindlichen Nationen in einem neuen Europa verbun-den. Durch den von Engländern und einer 1989 gegründeten deutschen Bürgerinitiative gemein-sam betriebenen Wiederaufbau dieser Kirche verwandelte sich ein Mahnmal des Hasses und der Anklage in ein Mahnmal der Trauer und Versöhnung.5 Die noch vorhandene Originalsubstanz, die durch eine systematische, 17 Monate dauernde Abtragung des Trümmerbergs gesichert wurde, ist mit 8390 originalen Fassaden- und 91 500 Hintermauersteinen in den neuen Bau eingegangen. Durch Erhaltung der unterschiedlichen Steinfärbung sind die Anschlussstellen zwischen ›Alt‹ und ›Neu‹ sichtbar hervorgehoben. Hier bleibt also nach dem Wiederaufbau der Verweis auf die Ru-ine zusammen mit der tief ins Bewusstsein der Bewohner eingravierten Geschichte der Zerstörung noch für eine Weile erkennbar.

Mahnmal Frauenkirche in Dresden, politische Inszenierung anlässlich der Arbeiterfestspiele 1967

Neumarkt mit Frauenkirche in Dresden, Ansicht von Norden, um 1990

Werbeanzeige für die Wiederherstellung der Frauenkirche, 1993

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Im zweiten Fall, der Dynamik von Abkehr und Rückkehr, erfolgt die Zerstörung nicht durch frem- de Einwirkung, sondern durch eigene Eingriffe. Diese sind dadurch motiviert, dass ein Gebäude dem eigenen Selbstbild ideologisch entgegensteht. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde in der DDR vieles von dem, was noch stand, unter dem Vorwand abgerissen, dass es mit den Werten des neuen Regimes nicht mehr vereinbar war. In den ›16 Grundsätzen des Städtebaus‹ von 1950 wurden po-litische Gründe für die Beseitigung noch bestehender historischer Gebäude aufgeführt.6 Der 6. Grund satz forderte die Umwandlung des Stadtkerns in eine politische Bühne: »Auf den Plät-zen im Stadtzentrum fi nden die politischen Demonstrationen, die Aufmarschplätze und die Volks-feiern an Festtagen statt. Das Zentrum der Stadt wird mit den wichtigsten und monumentalsten Ge bäu den bebaut, beherrscht die architektonische Komposition des Stadtplanes und bestimmt die architektonische Silhouette der Stadt.«7 Mit diesem Argument verteidigte Walter Ulbricht im Jahre 1950 den Abriss des Berliner Stadtschlosses: »Das Zentrum unserer Hauptstadt, der Lustgar-ten und das Gebiet der jetzigen Schlossruine, müssen zu dem großen Demonstrationsplatz werden, auf dem der Kampfwille und Aufbauwille unseres Volkes Ausdruck fi nden.« In diesem Falle scheint in der Dynamik von Abriss und Wiederherstellung ein Wiederholungszwang am Werke zu sein: Der Palast der Republik, den Ulbricht an die Stelle des Stadtschlosses setzte, ist nach einem wei-teren politischen Regimewechsel knapp 60 Jahre später abermals mit demselben – ausgesproche-nen oder unausgesprochenen – Argument abgerissen worden.

Ein klassisches Beispiel für einen politisch motivierten Abriss ist die Christus-Erlöser-Kathedrale in Moskau (Kat.-Nr. 3.22), die Stalin 1931 sprengen ließ. Sie war ihm im Stadtbild als Wahrzei-chen des vorrevolutionären Russlands ein Dorn im Auge, weshalb er sie durch den gigantischen ›Pa last der Sowjets‹ ersetzen wollte, der allerdings nie verwirklicht wurde. Gebaut wurde am sym-bolischen Ort lediglich das Freischwimmbad ›Moskva‹. Seit Ende der 1980er-Jahre entwickelte sich das Projekt einer Rekonstruktion, die 2000 fertig gestellt wurde. Das aufwendige Bauprojekt folgt der Logik von Abkehr und Rückkehr; Stalins emphatische Kursänderung wurde knapp 80 Jahre später – nicht weniger emphatisch – wieder rückgängig gemacht. Die neu erstandene Kathedrale ist in der Hauptstadt zum mächtigsten Symbol politischer Umorientierung nach dem Zusammen-bruch des Sowjetreichs geworden. Sie steht für die Überwindung der russischen revolutionären Ge schichte und ihrer Werte sowie für die Wiederanknüpfung an die zaristische Tradition, für ei-nen spirituellen Nationalismus und eine Annäherung von Kirche und Staat.8

Als weniger radikale, graduellere Variante der Dynamik von Abriss und Wiederaufbau historischer Bauten ist das Muster von Abwertung und Wiederaufwertung im Rahmen eines allgemeinen Ori-en tierungswandels zu nennen. Walter Weidauer, ab 1946 Dresdens erster kommunistischer Bürger-meister, entwarf mit seinem Amtsantritt ein modernes Umbauprogramm im Namen neuer Nor-men wie Hygiene und Demokratie, das er allerdings aufgrund des Widerstands in der Bevölkerung nicht umzusetzen vermochte. Der Preis für diese neuen Forderungen war der Verlust der alten Re-si denzstadt: »Was nützt dem Menschen die Tradition, wenn er dadurch in eine Zwangsjacke gesteckt wird, wenn er unbequem wohnt, und den Krankheiten Vorschub leistet. Besser wohnen wol len wir, schöner und freier soll unser Leben sich gestalten. Keine Paläste für die Reichen und Hütten für die Armen, sondern Demokratie auch im Wohnungsbau. Je besser und zweckmäßiger der Mensch wohnt und lebt, umso größer seine Leistungsfähigkeit. Nicht eine Residenzstadt mit ihrem starken parasitären Einschlag, sondern eine Stadt der Arbeit, der Kultur, des Wohlstandes für alle muss Dresden werden.«9

In den 1960er-Jahren waren es Einkaufszentren mit Fußgängerzonen, die im Westen und Osten auf Kosten historischer Bausubstanz in die Zentren deutscher Städte eingebaut wurden. Die his-torische Altstadt musste dabei an neue ›City-Erfordernisse‹ angepasst werden. An die Stelle reprä-sentativer historischer Bauten traten in den Innenstädten die großen Kaufhäuser: »Die City mit den Polypenarmen der Kaufhäuser fraß sich vor allem in den versehrten Städten tief in die Altstadt-substanz von Lübeck bis Augsburg.«10 Kritiker warnten bereits in den 1970er-Jahren vor großvolumi-gen Funktionsbauten, die den städtebaulichen und architektonischen Kontext negieren und mit der Zerstörung historischer Ensembles oft zum Verlust des gesamten historischen architektoni-schen Umfeldes führen. Ein Beispiel für die nachträgliche Revision einer damals getroffenen Ent-schei dung ist der Abriss des Braunschweiger Schlosses im Jahre 1960 (Kat.-Nr. 9.7).11 Es musste zwar nicht einem Einkaufszentrum weichen, sondern machte einer großen Grünfl äche Platz. Auf dem Gelände des Schlosses wurde ein Schlosspark angelegt, der ab 1963 als öffentlicher Park ge-nutzt wurde. 2004 wurde diese Maßnahme wieder rückgängig gemacht. Man entschied sich in die-

Stadtschloss in Berlin, Ansicht von Westen nach der Zerstörung 1945 und vor der Sprengung 1950

Palast der Republik in Berlin, Ansicht von Südwesten

Simulation des wiederhergestellten Stadtschlosses

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sem Fall für eine Rekonstruktion der Schlossfassade unter Verwendung der noch erhaltenen Ori-ginalbauteile, die über die ganze Stadt verteilt waren. Den Kern des auf dem Schlossparkgelände errichteten Gebäudes bildet heute eine Einkaufs-Mall, die sogenannten Schloss-Arkaden. In Braun-schweig wurde auf diese Weise durch die Rekonstruktion ein später Kompromiss zwischen moder-ner Konsumkultur und historischem Glanz erreicht.

Moderne zwischen Utopie und TraumaDie zentrale These dieses Beitrags lautet: Man kann das Thema ›Rekonstruktion‹ erst verstehen, wenn man es vor dem Hintergrund der Abrissmanie der Nachkriegszeit sieht; es ist einzubetten in den Mentalitätswechsel, von dem eingangs die Rede war. Die mit Ende des Kalten Krieges einge-läutete Wende ist zugleich die vom modernistischen Prinzip der ›kreativen Zerstörung‹ hin zum Interesse an historischer Nachhaltigkeit. Diese Wende hat eine untergründige psychische Dimension. Danach ist die Rückseite der architektonischen Utopie der kreativen Zerstörung das Trauma des Geschichtsverlusts, das sich im Rekonstruktionsverlangen eine neue Ausdrucksform geschaffen hat.

Was hat es mit dem Konzept der ›kreativen Zerstörung‹ auf sich?12 Den Einstieg in eine Antwort können hier einige Sätze aus einem Interview bilden, das am 30. Mai 2009 im Deutschlandfunk in der Reihe ›Denk ich an Deutschland‹ zu hören war. Zu Gast war der Architekt Gottfried Böhm, der sich an die Nachkriegszeit erinnerte, die er »nicht als Untergang, sondern als Anfang« erlebt habe. Das Zerstörte um ihn herum sei für ihn kein Schmerz gewesen, sondern im Gegenteil »ein Reiz, etwas mit dem zu machen, was noch da war«. Er bekannte sich dabei ausdrücklich zur Ab-rissmanie der Nachkriegszeit, gab aber aus der Retrospektive zu, dass diese zu weit gegangen sei, was er damals allerdings nicht bemerkt habe: »Der alte Kram war mir zuwider.« Im Gegenteil mach te er deutlich, dass er heute vieles von dem schätze und hoch bewerte, was er damals katego-risch abgelehnt und verworfen habe.

Die ›Stunde Null‹, die für die Bevölkerung leidvoll und traumatisch war, brachte den Architekten die große Chance neuer Visionen. Befreit von ›historischem Ballast‹ konnten sie ihre Ideen umset-zen. In einem Vortrag von 1946 beschrieb Hans Scharoun die großartigen Möglichkeiten, die sich aus Sicht der Planer auftaten: »Die mechanische Aufl ockerung der Stadt durch Bombenkrieg und Endkampf gibt uns die Möglichkeit einer großzügigen organischen und funktionellen Erneue-rung.«13 Was West- und Ostdeutschland damals verband, war das Stilideal und das sozialutopische Programm der sogenannten Nachkriegsmoderne. Grundlage für beides war das, was im Wes ten ›Abriss‹ und im Osten ›Enttrümmerung‹ genannt wurde und auch die Beseitigung noch bestehen-der historischer Gebäude einschloss. Abriss und Enttrümmerung boten die Möglichkeit, sich vom kontaminierten historischen Erbe zu befreien und neue soziale Utopien zu realisieren.

Dieses die west- und ostdeutsche Ideologie überwölbende Programm der Nachkriegsmoderne ent-stand nach dem Zweiten Weltkrieg keineswegs aus einem Vakuum. Die historische Anamnese zeigt, dass es Teil einer katastrophischen Zerstörungs-Geschichte ist, die durch zwei Weltkriege hindurch-gegangen ist. Das Syndrom, um das es dabei geht, hat Albrecht Koschorke in einem Aufsatz über ›Moderne als Wunsch. Krieg und Städtebau im 20. Jahrhundert‹ genauer analysiert und dabei eine aufschlussreiche Tiefenanalyse des Modernisierungsparadigmas vorgelegt.14 Der Aufsatz unter-sucht die Diskursgeschichte des 20. Jahrhunderts und fokussiert dabei auf das Vokabular der Ge-walt, das von Architekten nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg übernommen worden ist. Den Kern des Modernisierungsparadigmas hat Reinhart Koselleck auf die bekannte Formel vom Aus-einandertreten von ›Erfahrungsraum‹ und ›Erwartungshorizont‹ gebracht; in radikalerer Form läuft dieses Konzept auf den gewaltsamen Bruch zwischen Vergangenheit und Zukunft hinaus. Dieser Bruch – und das ist hier entscheidend – wird aber nicht nur passiv zu erfahren, sondern auch aktiv herbeigeführt. Vom Ersten Weltkrieg z. B. erhoffte man sich einen »ersehnten Epo chen um-bruch« und einen »Akt kollektiver Selbstreinigung«15 durch »die wahre und vollständige Erlösung von der Vergangenheit«16.

Der mächtige kollektive Impuls zur ›Läuterung‹, der im Modernisierungsprogramm enthalten ist, besteht darin, »mit wachsendem Rigorismus die Spuren des Vergangenen auszutilgen – seien sie persönlicher oder kollektiver Natur.«17 Die Visionen der modernen Architektur erfüllen genau die-ses Versprechen. Sie betreiben, so Koschorke, Raumpolitik im Zeichen des Vergessens;18 sie setzen an zum »Angriff auf die Städte«19 im Namen »körperlicher und sittlicher Gesundheit«20. Die neu- en Visionen sollen auf Kosten des Bestehenden realisiert werden. »Allen Großplanungen gemein-

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sam«, so fasst Koschorke dieses Programm zusammen, »ist die bewusste und programmatische Rücksichtslosigkeit gegenüber der Historischen Topographie«.21 In der Selbstdarstellung verstand sich die neue moderne Architektur als »eine ungeheure, blitzeschleudernde, brutale Entwicklung«, die »die Brücken zu der Vergangenheit abgerissen hat«.22 Es ist frappierend, wie in solchen Formu-lierungen die Sprache der Kriegsführung mit der der Städteplanung zur Deckung gebracht wurde. Koschorke kommentiert: »Allen radikalen Planungen im 20. Jahrhundert ist das Bewußtsein eines Zeitenbruchs, das heißt eines unversöhnlich gewordenen Gegensatzes zwischen historischen Tradi-tionen und aktuellen Innovationszwängen gemeinsam. Sie arbeiten nicht darauf hin, ihn zu schlich-ten, sondern ihn zu stimulieren und dadurch noch weiter zu verschärfen. Das schließt die lustvolle und identifi katorische Besetzung seiner Destruktionspotentiale mit ein.«23 Koschorke spricht von einer »Doppelfi gur aus destruktiven und konstruktiven Impulsen«,24 an anderer Stelle auch von einer »schizoiden Disposition der Moderne«25 – und wundert sich, wie es möglich ist, dass Trauma- ta zu normativen Handlungsvorgaben werden können.26 Seine historische Anamnese des Moder-nisierungsprogramms lässt die Doppelfi gur der kreativen Zerstörung erkennen, die aus Planungs-perspektive als Revolution und Utopie, aus der Erfahrungsperspektive als Ruine und Trauma er scheint. Revolution und Utopie lenken den Blick auf die Geschichte aus der Perspektive des ak-tiven Planens und Machens von Geschichte, Ruine und Trauma entsprechen der Perspektive des pas siven Erlebens und Erleidens von Geschichte. Solange das revolutionäre Paradigma der Moder-nisierung herrscht und der Blick ausschließlich auf die in der Zukunft erwarteten Erfolge des ge-walttätigen Handelns gerichtet ist, wird ausschließlich das kreative und konstruktive Potenzial der Zerstörung wahrgenommen. Sobald man sich jedoch von diesen in die Zukunft gerichteten uto-pi schen Perspektiven distanziert, tritt das gewalttätige, destruktive und tief verstörende Ausmaß die ser Zerstörung ins Bewusstsein. Mit dem Einbruch der utopischen Projekte im Westen wie im Osten war ein neuer Blick auf die Vergangenheit freigegeben; Zukunftserwartung und Planungs-optimismus, diese beiden wichtigsten Kanäle der Energiezufuhr der Modernisierungsprogramme kollabierten und ließen sowohl die Traumata als auch die Ressourcen der Vergangenheit in Erschei-nung treten. Die ›unvollendete Moderne‹ war nach diesem Perspektivenwechsel mit ihren eigenen destruktiven Potenzialen konfrontiert. Vollendung bedeutet in diesem Zusammenhang: selbstkri-tische Anamnese, Entdeckung der blinden Flecken und Durchleuchtung der schizoiden Motiva-tionsstruktur der Moderne.

Historische NachhaltigkeitDem englischen Kunstphilosophen John Ruskin ist aufgefallen, dass wir, wenn wir über die uns fol genden Generationen nachdenken, diese Nachwelt meist in unsere gegenwärtigen Projekte ein-spannen. Wir brauchen sie als Publikum für unsere Taten und Leistungen, damit diese in ruhmrei-cher Erinnerung bleiben; wir brauchen sie als Tribunal, welches das Unrecht, das uns hier gesche-hen ist, dereinst anprangern und irgendwie ausgleichen wird. Wir sollten jedoch, so schrieb Rus kin Mitte des 19. Jahrhunderts, den Spieß einmal umdrehen und auch über die Pfl ichten nachdenken, die wir Heutigen gegenüber der Nachwelt haben: »Wir spielen unseren Part auf dieser Erde schlecht, wenn wir bei unseren Zwecken und Zielen nur an unsere Mitwelt und nicht auch an die Nachwelt denken. Gott hat uns diese Erde für unsere Lebenszeit überlassen, sie ist eine große Gabe, die aber auch denen gehört, die nach uns kommen und deren Namen bereits ins Buch der Schöpfung ein-geschrieben sind. Wir haben kein Recht, durch irgendetwas, das wir tun oder lassen, ihnen Scha-den zuzufügen oder ihnen Güter vorzuenthalten, die wir ihnen hätten weiterreichen können.«27

Diese Denkform, die Ruskin unter seinen Zeitgenossen vermisste, ist inzwischen angesichts von Kli makatastrophe und aufgezehrten Ressourcen weit verbreitet. Wir haben begonnen, an unsere Pfl ichten gegenüber der Nachwelt zu denken, seit uns bewusst geworden ist, dass wir auf deren Kos-ten existieren. Ruskin hat unsere ökologischen Sorgen nicht geteilt; er dachte bei dem, was wir an kommende Generationen weiterzureichen haben, nicht an die Natur, sondern an die Architektur, an das ›built environment‹. Nicht nur für die eigene Zeit sollten wir seiner Meinung nach bauen, sondern auch für eine Zukunft, die uns dies später einmal danken wird. Der höchste Wert eines Bau werks besteht nach Ruskin deshalb nicht in seinen Steinen und kostbaren Materialien, sondern in seinem Alter, in seiner Qualität als historisches Zeugnis menschlichen Lebens, Schaffens und Leidens. An den Mauern dauerhafter Architektur brechen sich die Wogen kurzfristiger Lebenszeit und historischer Epochen; die Mauern verkörpern für ihn eine Form von Dauer, die »vergessene und zukünftige Zeitalter miteinander verknüpft« und damit in einer Welt der Beschleunigung und Flüchtigkeit Kontinuität und Identität stiftet. Ganz im Sinne Ruskins betonte Hermann Lübbe Anfang der 1980er-Jahre: »In der Flucht der Städtebilder hat die musealisierende Praxis die evi-

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dente Funktion, Elemente der Wiedererkennbarkeit, Elemente der Identität zu sichern.«28 Moder-nisierungstheoretiker wie Lübbe sahen in dieser affektiven Hinwendung zur Vergangenheit eine Kom pensation für die Zumutungen des mit beschleunigtem Fortschritt einhergehenden Vertraut-heitsschwunds unserer Lebenswelt. In diesem Sinne schrieb auch Odo Marquard: »Die moderne Fortschrittswelt braucht als Kompensation in besonderer Weise die Entwicklung einer Bewahrungs- und Erinnerungskultur.« Für Marquard ist der ›homo conservator‹ der Doppelgänger des ›homo faber‹; er tritt an seine Seite, um die schmerzhaften Wirkungen von dessen radikalem Handeln et-was abzudämpfen.29

Ruskin hat den Wert der ›historischen Nachhaltigkeit‹ geprägt, aus dem im 19. Jahrhundert die Be wegung der Denkmalpfl ege hervorgegangen ist. Heute wird der gesellschaftliche Auftrag der Denkmalpfl ege etwas anders formuliert: »Bei allen unvermeidlichen Veränderungen der Umwelt, die wir im Interesse der sozialen und wirtschaftlichen Weiterentwicklung hinnehmen müssen, bleibt es ein wichtiges gesellschaftliches Anliegen, bedeutende Zeugnisse der Geschichte weitgehend un-verfälscht zu erhalten, so dass es den heute Lebenden, aber auch späteren Generationen möglich ist, sich ein eigenes Urteil über die Vergangenheit zu bilden.«30

Die Stadt als PalimpsestSich ein eigenes Urteil über die Vergangenheit zu bilden setzt voraus, diese in möglichst vielen Schichten erfahren zu können. Mit der Praxis der Rekonstruktion ist der Zusammenhang von Architektur und Geschichtsbewusstsein auf eine neue Grundlage gestellt. Die Leitfrage ist dabei nicht mehr nur: Wie viel Vergangenheit bleibt in unserer gebauten Umwelt gegenwärtig?, sondern auch: Was wollen wir aus dem Limbo des Vergessens zurückholen, welche Lücken wollen wir wie-der auffüllen, welcher Stufe der Vergangenheit soll zu einer neuen Gegenwart und Zukunft verhol-fen werden?

Wo keine radikalen Kahlschläge stattgefunden haben, nimmt die gewachsene Bausubstanz die Struk tur eines Palimpsests an. Ein Palimpsest ist eine kostbare Pergament-Handschrift, deren Be-schriftung von mittelalterlichen Mönchen sorgfältig abgekratzt wurde, um einer Neubeschriftung Platz zu machen. Durch Anwendung geeigneter Mittel kann jedoch der ausgelöschte Text später unter der Überschreibung wieder lesbar gemacht werden. Der Palimpsest ist eine philologische Metapher, die Parallelen zur geologischen Metapher der Schichtung aufweist. Die Stadt ist ein dreidimensionaler Palimpsest: Auf konzentriertem Raum ist Geschichte immer schon geschichtet als Resultat wiederholter Umformungen, Überschreibungen, Sedimentierungen. Wir können hier mit Reinhart Koselleck auch von ›Zeitschichten‹ sprechen. Die Formel von der ›Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen‹ gilt nicht weniger als für die miteinander lebenden Generationen auch für die unterschiedlichen Schichten urbaner Bausubstanz. Obwohl im Stadtraum alles gleichzeitig anwesend ist, heißt das jedoch keineswegs, dass jeweils alle Schichten auch gleichzeitig wahrge-nommen werden und im Bewusstsein präsent sind. Der polnisch-amerikanische Autor und Lite-raturnobelpreisträger Czesław Miłosz hat die selektiven Wahrnehmungsformen der Zeitschichten am Beispiel von Städten wie Königsberg, Breslau und seiner Heimatstadt Wilna hervorgehoben, als er schrieb: »Ein Pole in Danzig zum Beispiel wird mit der deutschen Kultur konfrontiert, die sich jahrhundertelang aufgeschichtet hat und die in jedem architektonischen Detail anwesend ist.« Doch erst nach dem Zusammenbruch des polnischen Kommunismus registrierte er eine gewisse Bereitschaft zur Anerkennung dieser geschichteten Geschichte: »Die Polen, die sich als Danziger oder Breslauer fühlen, weil sie in diesen Städten ihre Kindheit und Jugend verbrachten, scheinen Achtung für das Erbe zu lernen. Und dieses Erbe verdanken sie der Arbeit von vielen deutschen Generationen.« In Palimpsest-Städten wie Danzig oder Wilna, wo sich ganz unterschiedliche Kul-turen und Ethnien ablagerten, weil sie den rapiden Wechsel von politischen Systemen und Natio-nen erlebt haben, stellt sich nach Miłosz für die Nachgeborenen die Frage: »Wie kann man dieses Erbe als das eigene anerkennen, wie fügt man sich in die Generationenkette dieser Stadt ein?«31

Ein anschauliches Beispiel für den Palimpsest-Charakter eines Gebäudes ist das mehrfach um-ge baute Schwarzhäupterhaus auf dem Marktplatz von Riga (Kat.-Nr. 4.14). Das gotische Back-stein ge bäude wurde im 14. Jahrhundert errichtet, im 16. Jahrhundert in einem manieristischen Re-nais sance stil reichlich verziert und bis in 19. Jahrhundert mehrfach erneuert. 1941 wurde es unter deutschem Beschuss stark zerstört; 1948 wurde die Ruine gesprengt, um an ihrer Stelle – wie in vielen sozialistischen Städten üblich – einen großen freien Platz zu schaffen. Nach 1991 begannen die Vorarbeiten zur Rekonstruktion mit Öffentlichkeitsarbeit und einer Ausstellung, die 1999 im

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Rahmen des wiederhergestellten Altstadt-Ensembles zur Einweihung des gotischen Gildenhauses führte. 50 Jahre nach seinem Abriss hatte Riga sein historisches Stadtbild zurückgewonnen und mit ihm, wie ein Zeitungsartikel kommentiert, »seine alten Wurzeln, seine Identität«.32 Mit der Wie derherstellung des Gebäudes reiht sich die lettische Hauptstadt in die lange Generationenket- te die ser Stadt ein, die auch Hinterlassenschaften Bremer Kaufl eute und mittelalterlicher Gild-entraditionen mit einschließt.

Der serbische Architekt und Künstler Bogdan Bogdanović hat die Stadt einmal als ein »Depot ge sammelter Erinnerungen« defi niert. In seinem Buch ›Die Stadt und der Tod‹ schreibt er über die Zerstörungswut »moderner Barbaren«, die sich vor der komplexen und unerschöpfl ichen Formen-sprache vergangener Epochen und kultureller Überlagerungen fürchten, weil sie sie weder verste-hen noch kontrollieren können. Die verräumlichte Geschichte hat eine durch Überbauungen und Ablagerung kultureller Restbestände ›gewachsene‹ Struktur, zumal auf dem Balkan, wo die Kul-turen und Gruppen in einer »tausendjährigen gegenseitigen Durchdringung« existierten.33 Diese historische Komplexität zu zerstören und ihre eigene Geschichte absolut zu setzen sei das Ziel na-tionalistischer – und, wie wir hinzufügen dürfen: sozialistischer und modernistischer – Städtezer-störer gewesen. Vor diesem Hintergrund sind die mit der Rekonstruktion verbundenen geistigen und materiellen Investitionen der Bürgerschaft in die Nachwelt der plastische Ausdruck eines neu- en, persönlichen und stark emotional gefärbten Geschichts-Engagements. Der Kern dieses En-gagements ist das Trauma von Erfahrungsgenerationen, die auf die Zerstörung ihrer Städte durch Bomben, ideologisch begründete Säuberungen und utopische Visionen mit dem Mittel der Rekon-struktion antworten. Nach den Kriegen und Kulturrevolutionen des 20. Jahrhunderts hat das Be-dürfnis nach historischer Nachhaltigkeit deutlich zugenommen. Die vielen Kahlschläge, die auf das Konto von zunächst totalitärer Politik und dann forcierter Modernisierung gingen, sind mit star ken Emotionen besetzt und verantwortlich dafür, dass das affektive Verhältnis zu älterer und vor moderner Architektur so markant zugenommen hat. Aus der Rekonstruktionswelle spricht des-halb nicht zuletzt die Nostalgie einer traumatisierten Generation.

Das Anliegen dieses Beitrags war es, das neue Phänomen der Rekonstruktion in einen übergreifen-den psycho-historischen Zusammenhang zu stellen, der es als eine Antwort auf Formen feindli-cher und kreativer Zerstörung des 20. Jahrhunderts ausweist. Rekonstruktion kann dabei ganz unterschiedliche Aufgaben erfüllen. Es geht je nach den Begleitumständen um Wiedergutmach-ung, symbolischen Widerstand, politische Neuorientierung und die Affi rmation der eigenen Iden-tität. Im Medium der Architektur gibt es das, was andernorts ausgeschlossen ist: die Gnade einer zweite Chance. Während die Millionen von Menschen, die durch Krieg und gezielte Vernichtung umgekommen sind, nicht wiederauferstehen können, lassen sich Steine wieder aufrichten und Ge-bäude wieder herstellen. Das Rad der Geschichte kann hier ausnahmsweise zurückgedreht werden, um Fehler zu korrigieren und Wunden zu heilen. »In Riga geschehen noch Wunder« war damals ein Ar ti kel über die Rekonstruktion des dortigen Schwarzhäupterhauses überschrieben.34 Aber nicht nur in Riga geschehen seit den 1990er-Jahren Wunder. Aufgrund ihrer Häufi gkeit sprechen wir bei der Rekonstruktion heute nicht mehr von Wundern, sondern von einer neuen Option und einer nach wie vor umstrittenen, aber längst etablierten kulturellen Praxis.

1 Fischer 1997, S. 7, 11. | 2 Vgl. den Artikel (mit anschließendem Interview) von Stimpel 2007. | 3 von Buttlar 2004. | 4 Für die Dresdner Frau-en kirche zum Beispiel hat der Nobelpreisträger Günter Blobel rund 820 000 Euro seines Preisgeldes gespendet. Für das neue historische Groß projekt, das Stadtschloss in der Mitte Berlins, sollen durch private Spenden die Mehrkosten für die Fassadenrekonstruktion von etwa 80 Millionen Euro aufgebracht werden. Vgl.: Berlin erhält sein Stadtschloss zurück, in: FAZ, 5.7.2007. 5 Die Initiative für den Wiederaufbau der Frauenkirche ist zu einer der größten kulturellen Bürgerinitiativen Europas angewachsen. Vgl. http://www.frauenkirche-dresden.de, 2.4.2010. 6 Durth/Düwel/Gutschow 2007, S. 136-162. | 7 Durth/Düwel/Gutschow 2007, S. 173. | 8 de Keghel 2001. Die Autorin hebt hervor, dass in die sem Fall der Bruch im Selbstbild durch Elemente der Kontinuität abgefedert wird. Diese sind dadurch gegeben, dass für die Rekonstruk-tion der Kathedrale als einem Ort für »eine würdige Gestaltung des Gedenkens an den Zweiten Weltkrieg« geworben wurde, ebd. S. 218. 9 Durth/Düwel/Gutschow 2007, S. 10. | 10 von Beyme 1998, S. 153. | 11 Die Befürworter des Abbruchs verteidigten ihre Position mit politi-schen Argumenten. Man sah im Schloss eine Machtdemonstration der herrschenden Welfen, welche die Stadt nach mehreren gescheiterten Versuchen 1671 gegen hartnäckigen Widerstand der Bürgerschaft erobert hatten. Obendrein trug die Nutzung des Schlosses als SS-Junkerschu le zur Entwertung des Gebäudes bei und nährte den Impuls, diese historische Epoche durch den Abriss zu beendigen. | 12 Zum Thema der ›kre-ativen Zerstörung‹ vgl. Assmann 2008. | 13 Zit. nach Geist/Kürvers 1989, S. 236. | 14 Koschorke 1999. | 15 Ebd., S. 31. | 16 Ebd., S. 27. | 17 Ebd., S. 35. | 18 Ebd., S. 36. | 19 Ebd., S. 37. | 20 Ebd., S. 39. | 21 Ebd., S. 39. | 22 Ebd., S. 39. | 23 Ebd. | 24 Ebd., S. 31. | 25 Ebd., S. 33. | 26 Koschorke schließt seinen Aufsatz mit dem Impuls, der affektökonomischen Dialektik von Modernität und Barbarei weiter nachzugehen: »Es wird Zeit, eine Bilanz des 20. Jahrhunderts zu ziehen, die sich nicht mehr mit einfachen Entgegensetzungen (wie Moderne versus Barbarei, Anm. d. Verf.) beschwichtigt«, ebd., S. 42. | 27 Ruskin 1849, Kapitel 4, § § 9 und 10 (Übers. d. Verf.). | 28 Lübbe 1982, S. 18. | 29 Diesen Gedanken hat Odo Marquard 1997 auf dem Kolloquium ›Das Zeitalter des Ausrangierens und die Kultur des Erinnerns‹ im Haus der Geschichte anlässlich des 70. Geburtstags von Oscar Schneider formuliert. | 30 Schulze 2001, S. 10. | 31 Miłosz 2001, S. 53-55. | 32 von Boddien 2002. | 33 Bogdanović 1993, S. 42-44. | 34 Vgl. von Boddien 2002.

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Religiöse Kontinuität und ritueller Wiederaufbau | Fernando Vegas und Camilla Mileto

»Ich werde diesen Tempel, der von Menschenhand gemacht ist, niederreißen und in drei Tagen einen anderen aufbauen.« (Markus 14, 58)

Seit alters her sind Religionen nur wenig an umfassenden und variantenreichen Neu- und Umbau-ten interessiert. Für diese Zurückhaltung ist nicht unbedingt das als traumatisch empfundene Ver-schwinden eines Gebäudes in der Folge von Naturkatastrophen oder anderen schrecklichen Er-eignissen verantwortlich. Mit einer solchen Haltung ermöglicht Religion eine Kontinuität, durch die sich beispielsweise ein bestimmtes mythisches Bild eines Tempels erhalten kann, auch wenn sich die Baumaterialien oder die konstruktiven Fähigkeiten längst verändert haben. Zu diesem Fortbe-stehen der Heiligkeit gehört auch der Wiederaufbau von Kultstätten an immer demselben Ort, manchmal sogar über dem alten Gebäude, was in deren Bedeutung und symbolischem Wert begrün-det liegt. Auch in anderen Strategien, wie Assimilation, Usurpation oder Wiederverwendung, für die es zu allen Zeiten und an zahlreichen Orten vielfältige Beispiele gibt, manifestiert sich dieses be harrliche Festhalten, das auch an zyklisch wiederkehrenden Feierlichkeiten sichtbar wird, bei de nen ephemere Bauten und symbolische Kopien immer wieder neu aufgebaut und manchmal auch im Rahmen einer rituellen Handlung zerstört werden.

Schon immer gab es in den verschiedenen Kulturen den rituellen Wiederaufbau singulärer Gebäu de, welcher der Läuterung, Erneuerung oder Instandhaltung und damit der Erhaltung der Aktualität des Gebäudes dienen soll, auch wenn damit das Ersetzen der eigentlichen Baumaterialien verbun-den ist. Gerade bei alten Kulturen hängt bei diesen rituellen Wiederaufbauten das Konzept der Authentizität nicht so sehr an dem eigentlichen Baumaterial, wie dies aus westlicher Perspektive heute der Fall ist, sondern an dem Symbol oder an der Form, die als Garanten für die Authentizi-tät des Gebäudes stehen. Diese Haltung, die den Wert der Form eindeutig über das Material stellt, dessen eigentlicher Wert nur darin besteht, eine zeitbegrenzte Hülle für die symbolischen Inhalte des Gebäudes zu sein, ist normalerweise verbunden mit der Verwendung ephemerer Baumateri-a lien für das Gebäude. Die Rituale für den Wiederaufbau sind häufi g verbunden mit der Instand-hal tung beziehungsweise dem Ersatz der wenig dauerhaften Materialien. Ursprünglich war der Grund für diese rituellen Baumaßnahmen möglicherweise die Verwitterung des Materials, doch dann form ten manche Kulturen diese in der Natur der Materialien begründete Notwendigkeit zu festgelegten Erneuerungszyklen um, die einen Bezug zur Landwirtschaft, Astronomie oder zum Leben der Menschen hatten. Dem rituellen Wiederaufbau entsprechen auch rituelle Zerstörungen, die den gesamten Prozess überhaupt erst in Gang setzen.

Erhalt der primitiven HütteDie Kultbauten der Glaubensgemeinschaften, die durch neue Siedlungsgewohnheiten entstanden, die mit dem durch die Landwirtschaft bedingten Beginn der Sesshaftigkeit im Neolithikum in Zu-sammenhang stehen, wurden häufi g aus wenig dauerhaften Materialien und in einfachen, ortstypi-schen Formen gebaut. Diese Formen glichen der Architektur jener Zeit, in der sie entstanden, wo- bei sie aus Kapazitätsgründen mitunter etwas größer angelegt waren als die normalen Wohngebäude. Da die Religionen in der Regel eher am Althergebrachten festhalten und sich gegen Ver änderungen wehren, blieb das ursprüngliche Bild ihres Kultgebäudes erhalten, auch wenn dessen Form schon lange keinen Bezug mehr zur zeitgenössischen Architektur hatte.1

Die Grundform griechischer Tempel ist die Holzhütte,2 ägyptische Tempel lassen sich von Hütten aus Baumstämmen, Zweigen, Schilfrohr, Palmzweigen und Lotusblättern ableiten,3 die Pyramiden- Tempel der Maya und Azteken aus einer Hütte mit steilem Giebeldach aus pfl anzlichen Baustof-fen, babylonische Tempel, die auf einer Zikkurat gebaut wurden, entstanden aus der alten Wohn-hausarchitektur mit Wänden aus Lehmziegeln, Palmstämmen und fl achen Dächern aus Lehm4

und schließlich die Tempel in Südostasien aus Scheunen oder Getreidespeichern, in denen wert-volle Dinge aufbewahrt wurden.5

Die Neigung, ein bestimmtes, aus vergänglichen Materialien gebautes Bild zu erhalten, entwickel te sich in zwei unterschiedliche Richtungen: dem Nachbau der Formen in dauerhaften Materialien oder der zyklischen Erneuerung des weniger dauerhaften Materials. Für die meisten Kultstätten wurde der erste Weg eingeschlagen, sobald die jeweilige Kultur in der Lage war, Stein oder Ziegel als Baumaterial einzusetzen, zu transportieren und zu verarbeiten. So wurden bei den griechischen

Die dorische Ordnung in Holz und in Stein nach Josef Wilhelm Durm

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Tempeln die Elemente aus Holz nach und nach durch Teile aus Stein ersetzt, wobei die ursprüngli-chen Formen der Nagelköpfe oder Kopfplatten deutlich ablesbar blieben, oder Stein wurde in einer ungewöhnlichen Weise zur Ausbildung der Rähme verwendet.6 Ägyptische Tempel erlebten eine ähnliche Entwicklung. Bei den Tempeln der Maya und Azteken wurden aus den Hütten aus Pfl an-zenmaterialien Gebäude mit geneigten Dächern und unechten Gewölben, bei denen jede neue Stein- lage immer weiter vorkragt.7 Babylonische Tempel wurden aus gebrannten Ziegeln gemauert statt aus Lehm gebaut und möglicherweise mit Dachziegeln gedeckt.8

Die notwendige spirituelle Erneuerung dieser Tempel aus dauerhaften Materialien erfolgte durch mehr oder weniger komplexe Reinigungsriten, die, wie etwa bei den Hethitern,9 in regelmäßigen Ab ständen oder aber nach bestimmten Ereignissen stattfanden, zum Beispiel nachdem der geweih te Ort entweiht wurde, wie beim Tempel von Jerusalem (Kat.-Nr. 2.1), nachdem er von Antiochus IV. geplündert worden war.10

Abgesehen von einigen historischen Beispielen aus alten Schriften hat sich die Möglichkeit eines zyklischen Wiederaufbaus nur in einigen Regionen der Erde bis heute erhalten, in denen Kultbau-ten periodisch ersetzt oder mit wenig dauerhaften Materialien in Varianten neu aufgebaut werden. Dies ist zweifellos von allen hier vorgestellten Optionen die ursprünglichste und direkteste Form von rituellem Wiederaufbau.

Im Folgenden werden die Abläufe bei den unterschiedlichen Arten von Wiederaufbau anhand meh-rerer Beispiele dargestellt. Diese haben – angesichts der vielen bekannten Bauten, die es weltweit gibt und die im Laufe der Geschichte dokumentiert wurden – nicht den Anspruch auf Vollständig-keit. Es wurde jedoch versucht, eine Klassifi kation aufzustellen, die es möglich macht, die unter-schiedlichen Varianten und die mit dem Thema verbundenen Fragen näher zu beleuchten. Entspre-chend wurden diese Beispiele von den Autoren im Licht der gewählten Thematik interpretiert und andere interessante Aspekte, die nicht in diese Gesamtbetrachtungen fallen, unberücksichtigt ge-lassen.

Wiederaufbau durch AssimilationBauliche oder architektonische Assimilation ist eine Strategie, die es im Laufe der Geschichte in vielen Kulturen gab und die dem weiten Feld ritueller Wiederaufbauten oder Erneuerungen zu-zurechnen ist. Es handelt sich dabei letztlich um die Übernahme bestehender Strukturen zur Ver-besserung oder Verschönerung der geplanten Architektur; gewissermaßen wird an einem speziel-len Geist, der durch die vorangegangene oder zugrunde liegende ›gebaute Geschichte‹ gestärkt ist, weitergebaut. Die direkteste Umsetzung dieser Strategie fi ndet sich in der Tradition des Anbauens, wie bei den Zikkuraten, Pyramiden oder Huacas. Es gibt verschiedene Beispiele von Zikkuraten, die auf bereits bestehende Zikkurate gebaut wurden. Auf diese Weise sparte man Mühen und Ener-gie, übernahm zugleich aber auch stillschweigend die Errungenschaften der Vorgänger, die häufi g enge Verwandte des aktuellen Herrschers waren. Ein bekanntes Beispiel ist die Zikkurat von Ba-bylon (Kat.-Nr. 3.19), die Nebukadnezar II. während seiner Herrschaft (604-562 v. Chr.) erbauen ließ und die um die Zikkurat seines Vaters Nabopolassar (625-605 v. Chr.) entstand, in deren Kern sich wie de r um die ursprüngliche Zikkurat befi ndet, die viele Jahre zuvor von dem berühmten König Hammu rabi (1792-1750 v. Chr.) errichtet worden war.11

Bisweilen wurde diese Assimilationsstrategie auch bei den Pyramiden in Ägypten angewendet. Ein Beispiel ist die Sakkara-Pyramide, die unter dem Pharao Djoser mindestens sechs Mal erwei tert wurde. Sie war zunächst eine einfache, quadratische Mastaba und später die erste Pyramide wäh-rend seiner Herrschaft, die so lange andauerte, dass in dieser Zeit zahlreiche Assimilationsbau ten durchgeführt werden konnten.12 Ein weiteres Beispiel ist die Pyramide von König Snofru (4. Dynas-tie) in Meidum, bei der in drei Bauphasen der jeweilige Vorgängerbau in den neuen Bau integriert wurde. An eine siebenstufi ge Pyramide wurde zunächst eine achte Stufe hinzugefügt und in der drit ten Bauphase erhielt die Pyramide eine neue Verkleidung aus Kalkstein; die Baumaßnahme wur de wahrscheinlich durch den Tod des Pharaos unterbrochen, als die Pyramide ein Drittel der geplanten Höhe erreicht hatte.13

Die Pyramiden der Moche, Maya und Azteken folgten ähnlichen Strategien. Bei manchen von ihnen handelt es sich um große Gebäude, die von vornherein so geplant und errichtet wurden, an-dere wiederum wurden beständig erweitert; immer wieder hüllte man eine Pyramide um den alten

Schematischer Schnitt durch die Zikkurat von Babylon von Nabopolassar und die darüber entstandene Zikkurat seines Sohnes Nebukadnezar II. nach Montero, Vegas und Mileto

Sakkara-Pyramide, die mindestens sechs Mal assimilierend in gleicher Kontur durch Pharao Djoser vergrößert wurde

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Bau, wodurch sich die heilige Aura des Gesamtwerkes verstärkte. Ein typisches Beispiel ist die Nord-akropolis in der alten Maya-Stadt Tikal in Guatemala, die sich bei Bauuntersuchungen als die letz- te Ummantelung von insgesamt sieben Unterbauten herausstellte, die kurz nacheinander errichtet wurden14 – etwa so wie bei den russischen Matrjoschka-Puppen.

Neben Beispielen für eine Umhüllung der Gebäudemasse fi ndet sich eine vergleichbare Assimi-lationsstrategie auch bei den Grundrisserweiterungen, bei denen Vorgängerbauten in neuen, um-fangreicheren und großartigeren Komplexen aufgingen. Mit diesen Formen der Assimilation frü-herer Gebäude oder Pyramiden, die selbst schon ein Symbol für Größe waren, entstanden noch bedeutendere oder noch größere und höhere Bauten. Die Nachfahren der Erbauer der ursprüng-li chen Bauten demonstrierten damit, dass sie noch größer sind als ihre Vorgänger, zugleich aber er- wiesen sie dem lange zuvor errichteten Gebäude die Ehre. Die alten Ägypter waren Meister dieser Form der Assimilation, für die die Tempel von Luxor beziehungsweise Karnak beispielhaft ste -hen.15 Die heutige Form der Tempelanlage von Luxor entstand in drei Phasen der Transformation und Erweiterung: Zu Beginn gab es nur ein kleines, von Thutmosis III. (1504-1450 v. Chr.) errich-tetes Heiligtum. Amenhotep III. (1417-1379 v. Chr.) ließ eine komplexe Tempelanlage mit innen-liegendem Sanktuar errichten: eine sich zu einem großen Atrium öffnende Säulenhalle, die von einem Pylon abgeschlossen wird, und dahinter eine Kolonnade für Prozessionen. Etwa 150 Jahre nach der Vollendung des Tempels von Amenhotep fügte Ramses II. (1304-1237 v. Chr.) einen von einem Säulengang gesäumten Hof um das kleine Sanktuar des Thutmosis hinzu. Dieser Hof, den man durch einen riesigen, von Ramses-Statuen fl ankierten Pylon betrat, besaß wegen der unter-schiedlichen Ausrichtungen der zu verbindenden Gebäude, dem Tempel des Amenhotep und dem Sanktuar des Thutmosis, die Form eines Rhomboids. Beim Tempel von Karnak entstand eine noch komplexere Anlage. Es scheint, dass das Gelände des Tempels bereits während des Alten Reiches als heilig angesehen wurde; zur Zeit von Thutmosis I. (1525-1512 v. Chr.) wurde der erste Tempel mit seinem Pylon errichtet, an den man unter Thutmosis III. (1504-1450 v. Chr.) eine Festhalle an-baute. In den folgenden 100 Jahren kam noch eine neue Säulenhalle mit weiteren Pylonen hinzu.

Jedoch muss man gar nicht so weit in die Geschichte zurückgehen. Die Moschee in Córdoba er-lebte mehrere Phasen der Assimilation, die zum einen von Epoche zu Epoche die Kontinuität si-cher stellten und zum anderen die notwendige Erweiterung der Moschee möglich machte. Die erste Moschee wurde unter dem ersten Emir von Córdoba, Abd ar-Rahman I., im 8. Jahrhundert offen-sichtlich auf den Überresten der alten, dem Heiligen Vinzenz geweihten Basilika errichtet, was der ›Strategie der Usurpation‹ entspricht, worauf noch eingegangen wird. Im 9. Jahrhundert ließ Abd ar-Rahman III. die Moschee nach Süden erweitern, und im 10. Jahrhundert kam noch eine Erwei-terung durch den Kalifen al-Hakam II. in dieselbe Richtung hinzu. Ende des 10. Jahrhunderts be-fahl Almansor schließlich eine erneute Erweiterung nach Osten. Nach all diesen Erweiterungen umfasste das so entstandene Gebäude die fünffache Fläche der ursprünglichen Moschee. Viele der verwendeten Säulen und Kapitelle stammten im Übrigen aus den Überresten von römischen Tem-peln und umliegenden Bürgerhäusern. Nach der Rückeroberung durch die Christen 1236 wurde die Moschee nach einigen kleineren Umbauten zur Kathedrale von Córdoba geweiht, ohne dabei die islamische Struktur des Gebäudes zu zerstören.16 In späteren Jahrhunderten erfolgte Umbau-ten waren letztlich nur Nutzungsanpassungen.

Wiederaufbau durch UsurpationGanz anders als bei der Strategie der Assimilation, bei der bestehende Strukturen mit dem Ziel absorbiert werden, eine neue bauliche Anlage zu schaffen, ist die Vorgehensweise bei der Usur-pation. Hierbei wird im Zuge eines Machtwechsels der Vorgängerbau abgerissen und ein neuer Bau errichtet, der jedoch den vorhandenen Standort als geweihten Ort übernimmt. Zu kaum ei-ner Zeit kam es in der Geschichte dazu, dass Kultgebäude an einen anderen Ort innerhalb der Stadt verlagert wurden. Diese Ortsgebundenheit ist nicht nur reine Gewohnheit, sondern hängt auch mit der Notwendigkeit zusammen, jede Spur der in dem ursprünglichen Gebäude vollzoge-nen Verehrung vollständig auszulöschen. In diesen Fällen fi nden sich die einzigen greifbaren Nachweise der Vorgängerbauten bei Ausgrabungen unter den bestehenden Kultbauten. Dieses Phänomen von Kontinuität, das es in Europa häufi g gibt und das stärker und umfassender ist, je dominanter die jeweiligen Kulturen an einem Ort sind, ist beispielsweise typisch für Regionen im Mittelmeerraum, die verhältnismäßig lange Zeit unter islamischer Herrschaft gestanden hatten. In Valencia etwa stand an dem Ort, an dem sich einst in der römischen Stadt ein Tempel befand, eine von den Westgoten errichtete christliche Kirche. Es folgte eine islamische Moschee, und heute

Tempel von Luxor, drei assimilierende Erweiterungen: (1) der kleine Schrein von Tuthmosis III., (2) der Tempel des Amenhotep III., (3) Säulengang und Pylon von Ramses II. Ausarbeitung von Vegas und Mileto nach Kostof

Maya-Stadt Tikal in Guatemala

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steht dort wieder die christliche Kathedrale. Durch diese Ortsgebundenheit legen sich symboli-sche Inhalte gleichsam wie Schichten über den geheiligten Ort, so dass ein alternativer Standort bei dessen Inbesitznahme gar nicht in Erwägung gezogen wird. Darin zeigt sich durchaus auch ein gewisser Glauben daran, dass man die Energie des Ortes unabhängig von der vorherigen Ge-staltung übernehmen kann. Der Wiederaufbau, der nach der Zerstörung des Vorgängerbaus stattfi ndet, soll nicht die davor existierende Form reproduzieren, aber ›Nutzen‹ aus der geheiligten Stätte ziehen.

In diesem Zusammenhang sind auch Wiederaufbauten zu nennen, die – ohne dasselbe Grund-stück zu bebauen und damit zwangsläufi g Vorgängerbauten zu zerstören – die Aura eines be-stimmten Ortes, eines Gebietes oder einer Region nutzen. Ein gutes Beispiel hierfür sind große, symbolisch aufgeladene und mit heiligen Tempelbauten gefüllte Baukomplexe, wie etwa in Ang-kor, Kambodscha,17 und in der Ebene von Bagan, Myanmar (Birma),18 wo jedes neue Gebäude zu den bereits bestehenden Bauten hinzugefügt wird, gleichwohl ohne zu versuchen, diesen ihre Bedeutung zu nehmen. Ähnliches fi ndet sich im ägyptischen Gizeh, wo verschiedene Pharaonen sich baulich verewigt haben, und beim Komplex von Tikal, Guatemala, wo viele verschiedene Pyramiden aus unterschiedlichen Zeiten stehen. Ein weiteres interessantes Beispiel bieten die ja-panischen Kaiser der Heian-Zeit. Sie gründeten und bauten immer dann eine neue Hauptstadt, wenn ein neuer Kaiser den Thron bestieg. Dieser extravagante und augenscheinlich wenig nach-haltige Brauch entspringt zwar dem gleichen, im Folgenden beim Wiederaufbau des Ise-Schreins (Kat.-Nr. 1.1 und Aufsatz Niels Gutschow, S. 36-47) noch beschriebenen, symbolischen Streben nach Erneuerung und Reinheit, ließ jedoch eine Reihe halbverlassener Hauptstädte in der Region um Kyoto, der vorletzten dieser Städte, entstehen. Mit diesem Vorgehen verfolgten die Kaiser zwei Ziele: der Palast konnte erneuert werden, ohne der Reproduktion der Form unterworfen zu sein, zugleich aber konnte man von der geheiligten Aura, den verborgenen Kräften eines bestimm-ten Gebietes des Reiches profi tieren.

Nach Naturkatastrophen oder von Menschen herbeigeführten Zerstörungen wird für den Wie-deraufbau häufi g dasselbe Grundstück genutzt; dabei wird entweder das Gebäude in seiner alten Form wiederhergestellt, wie dies bei der Kirche S. Paolo fuori le mura in Rom (1823–1860; Kat.-Nr. 2.10) der Fall war, oder es fi ndet eine Erneuerung der Form statt, wie dies beim Goetheanum in Dornach von Rudolf Steiner der Fall war, das 1913 bis 1919 erbaut und in den Jahren 1923 bis 1929 neu errichtet wurde.19 Hierbei handelt es sich weder um zyklisch stattfi ndende, noch um ri-tuelle, symbolische oder religiöse Wiederaufbauten, sondern um Rekonstruktionen beziehungs-weise veränderte Wiederherstellungen, bei denen der Wert auf dem Gebäude als solchem liegt.

Umbau zum Zwecke einer WiederverwendungDie Strategie der Usurpation kann sehr kostspielig sein und den Abriss bestehender Bauten sowie den Bau neuer Gebäude bedeuten. Aus diesem Grund gibt es Beispiele für einen Umbau zum Zweck der Wiederverwendung des geheiligten Gebäudes, bei dem die alte Konstruktion der neuen Nutzung angepasst wird, um so mögliche Widersprüche in der Gestaltung und Ikonografi e des übernommenen Gebäudes aus dem Weg zu räumen.

Zu dieser Gruppe wiederverwendeter, bestehender Kultbauten gehören einige außergewöhnliche Gebäude, wie die Kathedrale von Syrakus, dem vielleicht ältesten geweihten Gebäude der Welt, das ohne Unterbrechung als Sakralbau genutzt wurde. Erbaut wurde es als Athena-Tempel, spä-ter zu einer christlichen Kirche geweiht, dann in eine Moschee und schließlich wieder in eine christ-li che Kirche umgewandelt. Damit dient dieses Gebäude seit 2500 Jahren verschiedenen Religionen als Ort der Anbetung. Der heidnische Hephaistos-Tempel auf der Agora in Athen wurde durch seine Umwidmung in eine Kirche, die heute dem Heiligen Georg geweiht ist und die unter ihrem neu hinzugefügten Gewölbedach den alten Bau bewahrt, gerettet. Aus dem Parthenon, der im 5. Jahrhundert v. Chr. als freie Rekonstruktion des alten, zerstörten Hekatompedons in Athen entstand, wurde im 5. Jahrhundert n. Chr. die byzantinische Kirche Hagia Sophia, danach eine Kirche für den lateinischen Ritus, später eine muslimische Moschee und schließlich eine Pulver-kammer, die 1687 nach einem Treffer durch venezianische Bomben explodierte. Das Pantheon in Rom wurde sofort als christliche Kirche weiterverwendet, obwohl es durchaus schwierig war, den außer gewöhnlichen kreisrunden Grundriss in die Liturgie einzubinden. Die Moschee in Córdoba wurde ebenfalls ohne Umbauten umgenutzt und zu einer christlichen Kathedrale geweiht, auch wenn sich der rechteckige, ungerichtete Grundriss nur schlecht für die christliche Liturgie eignete,

Kathedrale von Syrakus auf Sizilien, Nordfassade mit geschlossenem dorischen Peripteros, 2009

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die seit der Eroberung Córdobas darin gefeiert wurde. Es folgten der feinfühlige Umbau, bei dem 1489 die erste christliche Kirche entstand, sowie 1523 die brutale, unproportionierte Errichtung einer christlichen Kathedrale in dem Bauwerk. Ein interessantes Beispiel für eine Wiederverwen-dung ist auch die Kirche S. Lorenzo in Miranda in Rom. Die Kirche wurde auf der Cella und einem Teil des Pronaos des Tempels des Antoninus Pius und seiner verstorbenen Frau Annia Faustina auf dem Forum Romanum errichtet. Der heidnische Tempel ist möglicherweise bereits im 8. Jahr-hundert in eine christliche Kirche umgewandelt worden, schriftlich ist dies seit dem Jahr 1192 be legt. Im 15. und 16. Jahrhundert entfernte man die Anbauten und legte den Portikus frei. Im 17. Jahrhundert erhielt die Kirche ihr heutiges Aussehen, die zwischen 1601 und 1614 errichtete neue Fassade ließ die Säulen der Vorhalle des römischen Tempels sichtbar. Es gibt viele weitere Beispie le für römische Tempel, die ebenfalls als Kirchen weiterverwendet wurden und dank die-ser Strategie der religiösen Umnutzung in ihrer Bausubstanz weitgehend erhalten blieben. Zu den bekanntesten Beispielen zählt die Maison Carrée in Nîmes (ein römischer Tempel von Agrippa aus dem Jahr 16 v. Chr.) und der Tempel des Hercules Victor in Rom (erbaut 120 v. Chr.). Die Aula Palatina in Trier ist ein ganz besonderes Beispiel für die mehrfache Umnutzung eines Gebäudes: von einer welt lichen Kaiserresidenz in einen Ort der Anbetung und umgekehrt. Erbaut wurde sie zu Beginn des 4. Jahrhundert v. Chr. als Empfangssaal von Kaiser Konstantin in Treveris, dem heutigen Trier, als Teil der großen Palastanlage. Im 12. Jahrhundert begann, ohne größere Umbau-ten an dem Ge bäude, die Nutzung als christliche Kirche. Im 17. Jahrhundert wurde das Bauwerk Teil einer neuen bischöfl ichen Residenz und diente während der napoleonischen Kriege als Laza-rett und Kaserne. 1856 wurde die einstige Palastaula wiederum zu einer Kirche, einer evangelischen Erlöserkirche, die nach schweren Bombenschäden im Jahre 1944 nach dem Zweiten Weltkrieg in Teilen wiederhergestellt werden musste.

Ephemere WiederaufbautenDer Bau von stets identischen, ephemeren Gebäuden, die nur eine begrenzte Lebensdauer besitzen, ist ein weiterer häufi g anzutreffender und bereits lange Zeit praktizierter Brauch in vielen Kultu-ren. Hierzu gehört die zyklisch wiederkehrende Errichtung ephemerer Bauten, die für ein histori-sches Ereignis stehen oder daran erinnern. Meist verbunden sind damit religiöse Riten, aber nicht immer steht am Ende zwangsläufi g eine rituelle Zerstörung. Joseph Rykwert nennt Beispiele für einen solchen rituellen Bau primitiver Hütten aus der griechischen, römischen, jüdischen, ägypti-schen, sumerischen oder chinesischen Kultur, die durch Reproduktion von Gebäuden in einem be-stimmten, ortstypischen beziehungsweise primitiven Stadium zugleich ein Andenken an deren Ur-sprünge darstellten.

Die griechische ›Skene‹, die zu Ehren von Isis in Tithorea erbaut wurde,20 die Hütten, die zu den Fest lichkeiten für das Heiligtum der Dioskuren von Elatea oder für das Thargelia-Fest der Athe-ner errichtet wurden, die ›Skiades‹, die während des Karneia-Festes aufgestellt wurden, oder die berühmte Septerien-Hütte sind ähnliche Beispiele für zyklisch wieder kehrende, ephemere Bauten. Die römischen ›Umbrae‹, die am Festtag des Neptun aufgestellt wurden, oder die Hütten, die zu den Festlichkeiten der Göttin Anna Perenna errichtet wurden, sind weitere typische Exempla für diese Form der ephemeren Bauten.21 Sowohl in Griechenland als auch in Rom wurden diese Hüt-ten entweder aus Stoff, der über Zweige gespannt wurde, oder aus frisch geschnittenen Stöcke er-richtet.22 Das jüdische Laubhüttenfest im Herbst ist Feier und Fest in ei nem. Die Menschen ver-bringen eine Woche in rustikalen, provisorisch errichteten Hütten aus Zwei gen und grünen Pfl an zen. Mit dem jährlichen Buß- und Reinigungsritus wird an die 40 Tage, die das jüdische Volk nach der Flucht aus Ägypten in der Wüste verbrachte, erinnert.23 Der tatsächliche Ursprung dieses rituel-len hebräischen Festes in ›Sukkots‹ (Laubhütten) oder Bretterbuden ist ein Erntefest in Kanaan, das schon in früherer Zeit gefeiert wurde und zu dem eben falls der Bau von Hütten gehörte, ob-wohl in diesem Fall der Grund für die Feier eher weltlicher oder heidnischer Natur war.

Es gibt Riten für die Errichtung ephemerer Bauten, deren Wiederholungszyklen so weit auseinan- der liegen, dass man sie kaum als solche erkennt. In Japan wird bei jeder Krönungszeremonie eines neuen Kaisers provisorisch eine Gruppe von 100 primitiven Hütten auf Stelzen und aus nicht ent-rindeten Baumstämmen mit gefl ochtenen Matten als Wände, Fußböden aus Strohmatten und mit Walmdächern aus frisch geschnittenem grünen Gras und Moos errichtet. Im Baustil sind die Hüt-ten den Ise-Tempeln (Kat.-Nr. 1.1) nachempfunden,24 sie werden bei Nacht ohne ›Zeugen‹ aufgestellt, später werden sie zerstört oder ihre Materialien zum Bau namenloser Tempel wiederver wen det. Ein weiteres interessantes Beispiel für einen ephemeren beziehungsweise zyklischen Wiederaufbau

Aula Palatina in Trier, Ansicht von Westen

Temporär errichtete Hütten, die für jede Krönungszeremonie eines neuen japanischen Kaisers neu errichtet werden

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sind die Zen-Gärten im ›Kare-san-sui-Stil‹ mit den in ein Kiesbett eingelassenen Steinen. Sie wer-den jeden Tag neu mit einem Rechen bearbeitet, so dass sie nie so aussehen wie am Tag zuvor, son-dern mit den stets an gleicher Stelle stehenden Steinen und dem Neuarrangement des Kieses in neuen Kreisen und Linien immer ein anderes Bild bieten. Auch die zarten tibetanischen Mandala-Bilder aus unterschiedlich eingefärbtem Sand lassen sich in diesem Zusammenhang nennen, die nach vielen Tagen Arbeit einfach wieder ausgewischt werden, um stattdessen wieder ein neues Bild zu beginnen. Es geht dabei weder um das Rechen des Kieses noch das Schaffen der komplizierten Mandalas aus farbigem Sand, sondern um Meditation.

Bau und Nachbau Die Errichtung zeitbegrenzter oder dauerhafter Kopien mit einer rituellen Bedeutung ist das Äqui-valent zu einem Wiederaufbau des baulichen Objekts, um mit dessen Gegenwart seine implizite Bedeutung oder Symbolik in einem bestimmten zeitlichen oder räumlichen Kontext aufl eben zu lassen. Eine Kopie impliziert, dass das Original noch steht oder existiert. Sie kann neben ihrer Vor-lage oder weit weg davon stehen, und ihr Leben kann dadurch verlängert werden oder es steht de-ren Zerstörung bevor.

Theoretisch oder streng konzeptionell betrachtet muss hier auch die Strategie der Reproduktion bestimmter Archetypen von Tempeln und Gebäuden verschiedener Religionen und Kulturen als Möglichkeit der Aneignung der ursprünglichen Bedeutung des Gebäudes behandelt werden. So war und ist der Parthenon in Athen ein Archetyp für immer neue ›Kopien‹ beziehungsweise mehr oder weniger wörtliche Interpretationen im Rest der Welt, in der Vergangenheit und in der Gegen-wart, sowohl bei religiösen wie auch bürgerlichen Bauten. Gleiches gilt für den Hongan-ji-Tempel in Kyoto, der Referenzbau für andere buddhistische Tempel ist, oder für Vignolas Kirche Il Gesù, die die Grundform für Jesuitenkirchen auf der ganzen Welt bildet. Die Renaissance war ebenso eine Zeit des Neubaus von mehr oder weniger fantasievollen ›Kopien‹ wie der Klassizismus und die his-toristischen Stile des 19. Jahrhunderts. Die Abhandlungen von Vitruv, Alberti, Serlio, Vignola und anderen über die klassische Architektur wiesen den Weg für diese Reproduktionen.

Die Geschichte der Rekonstruktion des mythischen Tempels von Salomo (vgl. Kat.-Nr. 2.1) ver-dient eine besondere Erwähnung, da in der gesamten Architekturgeschichte beständig darauf Be- zug genommen wurde und man versuchte, ihn nachzubauen. Insbesondere muss hier die Veröffent-lichung von Jérôme Prado und Juan Bautista Villalpando erwähnt werden, die zwischen 1596 und 1604 in Rom entstand.25 Sie umfasst drei umfangreiche Bände, die über den Bau des salomoni-schen Tempels berichten und dessen Existenz auf der Basis der Erkenntnisse aus der Lektüre des Buches Eze chiel detailliert belegen. In dem Werk wird die Hypothese vertreten, dass sich die klas-si sche Archi tektur aus dem Archetypus des Tempels von Jerusalem ableitet, weil es das jüdische Volk bereits so lange gebe, es das auserwählte Volk Gottes sei und die Schrift ihm ein großes Reich verheiße. Nach Villalpando kann man aus dem Wissen über dieses Gebäude die Regeln für die per-fekte Architektur ableiten. Die Überzeugungskraft, mit der der Jesuitenpater seine Aussagen vor-trug, ließ die gezeichnete Rekonstruktion absolut wahrheitsgetreu und unfehlbar erscheinen, so dass sie auf mehrere Generationen einen starken Einfl uss ausübte und zur Wiederaufnahme der klassischen Ordnungen beitrug.

Bei den exakten Kopien ist auch der Shimogamo-Schrein in Kyoto von Interesse. Ihm liegt das glei che Konzept zugrunde wie dem Ise-Schrein, aber angesichts des wirtschaftlichen Aufwands eines zyklischen Neubaus einer Kopie in unmittelbarer Nähe ließ man zwei Gebäude stehen: das letzte Original und die letzte Kopie. Nun lässt man die Gottheit alle 20 Jahre von einem Gebäude in das andere umziehen, um der in der Shintō-Religion geforderten Erneuerung gerecht zu werden.26 Ein weiteres einzigartiges Beispiel ist die Zwillingskirche S. Maria Incoronata in Mailand. Die erste Kirche stammt wahrscheinlich aus dem 13. Jahrhundert, als Papst Alexander IV. die verschiede-nen Eremitengruppen zusammenfasste und den Augustinerorden gründete. 1450 wurde die Kirche auf Anweisung von Bianca Maria Visconti, der Ehefrau von Francesco I. Sforza, umgestaltet und in S. Nicola da Tolentino umbenannt. Zehn Jahre später beschloss die Stifterin, als Geschenk für ihren Ehemann eine zweite Kirche direkt an die rechte Seite der ursprünglichen Kirche anzubauen und im Inneren mit der alten Kirche zu verbinden. 1484 wurde der Baukomplex, geweiht der Heiligen Maria Incoronata, unter der Leitung des Architekten Guiniforte Solari fertiggestellt.27

S. Nicola da Tolentino und S. Maria Incoronata in Mailand, Blick auf die Zwillingskirchen aus dem 13. und späten 15. Jahrhundert

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Ein ungewöhnliches Beispiel aus dem 20. Jahrhundert für einen rituellen Bau einer Kopie ist das Lenin-Mausoleum in Moskau. Der ursprüngliche Holzbau auf dem Roten Platz vor den Mauern des Kreml wurde in Stein nachgebaut, weil das Holz verwittert war. Entworfen hat das Mausole- um der Architekt Alexei Schtschussew, und es wurde in nur drei Tagen im Januar 1924 errichtet. Der mehrstufi ge Bau ist in seiner Gestaltung von der Djoser-Pyramide, von der Grabstätte von Kyros dem Großen und – nach eigenen Aussagen des Erbauers – von den Tumuli inspiriert, in de-nen früher die Fürsten in der mongolischen Steppe beigesetzt wurden. Dieses erste, schnell errich-te te Mausoleum aus Holz wurde bereits im August 1924 wieder abgebaut und von Schtschussew durch ein solideres, beständigeres Mausoleum ersetzt, das ebenfalls aus Holz bestand. 1930 erhiel-ten dann die Architekten A. Schtschussew, I. A. Frantsuz und G. K. Yakovlev den Auftrag, die Holz- konstruktion abzureißen und in gleicher Form in Stein wieder aufzubauen, um dem Gebäude dau-erhaft Bestand zu geben.28 In der Vergangenheit entstanden symbolische Kopien häufi g für große Feste oder Beisetzungsfeierlichkeiten. Ein einzigartiges Beispiel ist die Kopie des Tempels der Ve-nus Genetrix in Rom, die anlässlich der Bestattung von Julius Caesar neben dem Marsfeld er-rich tet wurde; darin stand der mit goldbestickten purpurfarbenen Stoffen bedeckte Katafalk aus El fenbein und es waren die blutgetränkten Kleider zu sehen, die Caesar bei seiner Ermordung getragen hatte.

Rituelle ZerstörungEine rituelle Zerstörung kann mitunter zu einer Strategie der Läuterung, rituellen Erneuerung oder sogar der Grund beziehungsweise Katalysator für zukünftige Regenerationen oder Wie der-aufbau ten werden, auch wenn diese häufi g nicht direkt mit dem eigentlichen Bauwerk in Bezug stehen. Dieser scheinbare Widerspruch ergibt sich aus der Dualität zwischen Zerstörung und Er-neuerung. Und tatsächlich gibt es Fälle, in denen der Fokus stärker auf den Akt der rituellen Zer-störung als auf den darauffolgenden Wiederaufbau gelegt wird. Die rituelle Zerstörung selbst er-folgt meist durch Feuer oder Wasser.

Von Feuer begleitete Feierlichkeiten, die ursprünglich mit jahreszeitlichen Abläufen oder der Land-wirtschaft verknüpft waren, gibt es weltweit sehr häufi g. Die ›fallas‹ in Valencia, die ›fogueres de San Juan‹ in Alicante, die ›cremada del dimoni‹ in Badalona, der ›falò‹ in Palermo, das ›Brusa la-vecia‹-Fest in Trient, das ›Burning of the Clavie‹ im schottischen Burghead, das buddhistische Früh-lingsfest in Kyoto sind nur eine kleine Auswahl aus der Vielzahl dieser Reinigungsriten mit Feuer, die es in vielen Kulturen auf der ganzen Welt gibt. Die Römer nutzten, wie andere Kulturen der Vergangenheit, das Feuer in vielen Fällen zur Läuterung, so beispielsweise bei der Verbrennung der Leichname in einem Verbrennungsritus, bei dem der Scheiterhaufen mit Sorgfalt aufgerichtet wurde. Je wichtiger ein Verstorbener war, desto luxuriöser und aufwendiger war die Bestattung. Es dauerte manchmal Monate, bis der Scheiterhaufen aufgebaut war; an solch komplexen Projek-ten arbeiteten die besten zeitgenössischen Architekten, Bildhauer, Maler und andere Künstler.

Die in den antiken Schriften wohl am besten dokumentierte Bestattungszeremonie, die für Rom nicht ohne Folgen blieb, waren die Feierlichkeiten für Julius Caesar auf dem Marsfeld. Damals warf das trauernde Volk spontan viele persönliche Gegenstände in das Feuer des Scheiterhaufens.29 Berichtet wird von zwei Fremden, jeder mit einem Speer und einem Schwert bewaffnet, die den Scheiterhaufen unerwarteterweise mit Fackeln in Brand setzten. Als die Menschen die Flammen sahen, begannen sie, trockene Zweige, Abschiedsgaben und sogar die schnell brennenden hölzernen Magistratsstühle darin aufzutürmen. Alles, was greifbar war, wurde in die Flammen geworfen, die alles dankbar aufnahmen. Schauspieler und Flötenspieler legten ihre Festgewänder ab und war-fen sie ebenfalls in das Feuer. Legionäre taten dasselbe mit ihren Traueruniformen, und Frauen warfen ihren Schmuck sowie die Amulette und Togen ihrer Kinder in das Feuer. Berühmt ist auch der Scheiterhaufen, den Alexander der Große für seinen engen Weggefährten Hephaistion in Ba-bylon bauen ließ; er war besonders hoch und mit zahlreichen Skulpturen und Gemälden sowie vielen wertvollen Gegenständen geschmückt, die allesamt mit dem Leichnam verbrannten. Archi-tekten, Ingenieure, Maler und Bildhauer hatten monatelang an diesem Scheiterhaufen gearbeitet.

Weitaus schlichter und pragmatischer, ohne Schmuckelemente oder bauliche Gestaltung sind die Scheiterhaufen, die am Ganges in Indien zur Verbrennung der Toten gebaut werden. Der interes-santeste Aspekt hier ist die Kombination des Ritus der Läuterung durch Feuer mit dem Ritus ei-ner Erneuerung mit Wasser: nach der Verbrennung wird die Asche der Körper zur Läuterung in den heiligen Fluss gestreut. In Varanasi werden einige Tempel regelmäßig zu bestimmten Jahreszei-

Durch die Fluten des Ganges beschädigte oder zerstörte Tempel in Varanasi, die anschließend repariert oder wieder-hergestellt werden

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ten vom Ganges überschwemmt. Dabei handelt es sich nicht um einen Baumangel, vielmehr wer-den die zerstörerischen Auswirkungen der Überfl utungen, in deren Folge Reparaturarbeiten oder Wiederaufbauten notwendig sind, als reinigendes Bad angesehen.30 Am heiligen Fluss Ganges fi n-den viele Wasserreinigungsrituale statt: von Taufen, die auch in anderen Religionen wie etwa dem Christentum üblich sind, bis hin zu täglichen rituellen Waschungen oder Wasserbestattungen in besonderen Fällen, bei denen eine Verbrennung nicht angemessen erscheint (hauptsächlich Klein-kinder, schwangere Frauen und Brahmanen). Beim Durga-Puja-Fest in Kalkutta, das zwei Mal im Jahr stattfi ndet, werden Tausende Statuen der Göttin Durga, die auf einfache Weise mit Zwei-gen und Stroh sowie Schlamm aus dem Ganges hergestellt und kunstvoll bemalt und geschmückt werden, in den Fluss geworfen. Weitere Beispiele für die rituelle Zerstörung von Votivfi guren sind die römischen Oscillum-Figurinen, die an Bäume im Garten aufgehängt wurden, um böse Geis-ter fernzuhalten, und dann an einem bestimmten Tag abgenommen und durch neue ersetzt wur-den, sowie das ebenfalls römische Fest, bei dem Argei, anthropomorphe Figuren, in den Tiber ge-worfen wurden, worauf später noch näher eingegangen wird.

Wiederaufbau durch InstandhaltungEs gibt eine weitere Form der Wiederherstellung, die auf der notwendigen Instandhaltung von Gebäuden aus Materialien, deren Haltbarkeit von ihrem Schutz vor der Witterung abhängig ist, beruht. Im Unterschied zu den oben genannten Beispielen, bei denen etwa Stroh als ephemeres Material vollständig ersetzt werden muss, ist hier nur die Verkleidung des Gebäudes zu erneuern. Diese Bauten sind aus ungebrannten Ziegeln gebaut und mit Lehm verputzt und stehen insbeson-de re in tropischen oder subtropischen Ländern. Nach den Instandhaltungsarbeiten sieht das frisch verputzte Gebäude wie neu aus. Auf jeden Fall muss im Rahmen dieser beständigen Instandhal-tung, die für den Fortbestand des Gebäudes notwendig ist, auf das gesamte Gebäude ein Lehm-putz aufgebracht werden, da die Haltbarkeit der Unterkonstruktion von der Effi zienz dieser Maßnahme abhängt.31 In den meisten Fällen kann dies nicht als Akt einer rituellen Erneuerung angesehen werden. Aber in dem speziellen Fall der Moscheen am Niger haben sich diese jährlichen Instandhaltungsarbeiten am Ende der Trockenzeit und vor dem Beginn der Regenzeit zu ei nem jährlichen Fest entwickelt, bei dem Gebäude von allen in der Region lebenden Menschen er neuert werden – ein Fest gemeinschaftlicher Reparaturarbeiten an dem geheiligten Ort. Die jährliche meist im April stattfi ndende Feier (›crepissage‹) des Verputzens der Moschee in Djenné mit Lehm und Stroh ist besonders berühmt. Die Fassaden des großartigen Lehmgebäudes werden vollständig er neuert und die vom Regen im vorangegangenen Jahr verursachten Schäden repariert.32

Wiederaufbau als pragmatischer NeubauIn einer anderen Region der Welt gibt es aufgrund der traditionellen Kultur und der Rückbesin-nung auf die Vergangenheit, was in Japan durch die kontinuierlichen Präsenz der Kultur nicht existiert, ein weiteres einzigartiges Beispiel rituellen Wiederaufbauens. Es ist der jährliche Wieder-aufbau der letzten Hängebrücke der Inkas, Q’eswachaka (wörtlich ›Seilbrücke‹), eine Tradition, die sich auch fünf Jahrhunderte nach der spanischen Eroberung gehalten hat. Die Q’eswa Chaka-Brü-cke in Peru überspannt in einer Höhe von 28 Metern den Fluss Apurimac. Die Bauern, die dies- und jenseits der Brücke leben, bauen sie jedes Jahr im Juni neu. Nach einer Überlieferung haben die Dorfbewohner den Befehl dazu direkt von dem Inkaherrscher Pachacutec selbst erhalten. Für den Bau einer neuen Brücke benötigt man über 1000 Menschen, und an seinem Beginn stehen ri-tuelle Dankesfeiern zu Ehren der Göttin Pachamama, bei denen Ichu-Gras (stipa ichu) gesammelt wird, das im Hochland (Puna) wächst. Dieses Gras wird eingeweicht, gepresst und gefl ochten, be-vor die so hergestellten Strohseile über den Fluss gespannt werden. Die alte Brücke wird entfernt oder in den Fluss geworfen, sobald die Hauptseile der neuen Brücke angebracht sind. Danach wird die neue Brücke durch Hinzufügen der Lauffl äche und der seitlichen Halteseile fertiggestellt. Zur Inka-Zeit war es eine feste Regel, die Hängebrücken aus Strohseilen jedes Jahr neu zu bauen, da das Material nach einem Jahr so verwittert war, dass die Brücken nicht mehr sicher waren. Daher erfolgte der Wiederaufbau aus dem pragmatischen Grund der Materialermüdung, woraus sich jedoch in diesem Beispiel mit der Zeit und mit dem Verschwinden der Zivilisation, Kultur und Religion der Inkas eine eigene, örtlich gepfl egte Tradition entwickelte. Dies ist auch deshalb bemerkenswert, da es eine moderne Stahlbrücke in perfektem Erhaltungszustand nur einige Me-ter von der Hängebrücke entfernt gibt, die diese traditionelle Brücke eigentlich über fl üssig macht.

Vergleichbar damit sind auch Dacheindeckungen aus pfl anzlichen Materialien, die je nach Aus-gangsstoff jedes Jahr oder nach mehreren Jahren ersetzt werden müssen, da das Stroh mit der Zeit

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wegen der Feuchtigkeit zu faulen beginnt. Es gibt Fälle, in denen diese periodisch wiederkehren-den Arbeiten an Dächern aus pfl anzlichen Materialien bei öffentlichen oder heiligen Gebäuden Anlass für große Feierlichkeiten darstellen, bei denen die gesamte Dorfgemeinschaft am Neuauf-bau des Daches mitwirkt, wie dies auch bei der alten Inka-Brücke der Fall ist. Diese Form der gemeinschaftlichen Feier, die hauptsächlich in Regionen mit tropischem Klima üblich ist, nimmt in einigen Fällen rituellen Charakter an. Ein bekanntes Beispiel ist das Festival Santa Rosa de Lima in Arima (Trinidad und Tobago), eine alte örtliche karibische Tradition des gemeinschaftlichen Wie deraufbaus, die von der heute hier vorherrschenden katholischen Religion übernommen wur de. In gleicher Weise müssen die Holzplanken auf den Dächern der Häuser in den nördlichsten Tei-len der Welt regelmäßig ersetzt werden, wobei die Häufi gkeit von der natürlichen Verwitterung des Materials abhängig ist. Bei den alten Holzkirchen in Skandinavien und im Norden Russlands ist diese Erneuerung des Materials, die gelegentlich von Freiwilligen aus der Nachbarschaft durch-geführt wird, um das Gotteshaus zu schützen und ihm die Ehre zu erweisen, eine Notwendigkeit, die jedoch nichts mit dem eigentlichen Alter der Holzkonstruktion zu tun hat.33

Es gibt weitere Beispiele für einen pragmatischen Wiederaufbau, bei denen das verwitterte Mate-rial vollständig ersetzt wird, aber der Ritus den Fokus nicht so sehr auf den Wiederaufbau, son-dern eher auf die Zerstörung des zu ersetzenden Materials legt. Plutarch beschreibt eine ungewöhn-liche Tradition im Alten Rom, bei der, wie vorher bereits erwähnt, anthropomorphe Figuren (argei) von der hölzernen Ponte Sublicio in den Tiber geworfen wurden.34 Diese Figuren waren wohl aus dem Stroh gefertigt, das von den Dächern der ›argea‹, Weihkirchen aus Zweigen, Holzpfählen, Schilfrohr und Stroh, deren Ursprünge auf Numa Pompilius zurückgehen,35 stammte. Diese Bau-ten wurden im Anschluss an eine Prozession nach den Iden des März, mit der der Erneuerungs-prozess initiiert wurde, erneuert.36 Der etymologische Ursprung des Wortstammes ›arg‹, mit der Bedeutung hell und rein, bezieht sich auf einen Prozess der Wiedererlangung der Reinheit durch Zerstörung.37 Es war einer der wichtigsten Reinigungsriten in Rom, wo eine Läuterung meist durch Wasser erfolgte.

Wiederaufbau als vollständiger NeubauVon dieser Form des rituellen Wiederaufbaus kann gesprochen werden, wenn das Gebäude auf-grund der wenig dauerhaften Materialien nicht mehr schön aussieht und baufällig geworden ist38

und das Erscheinungsbild daher nicht mehr die Würde vermittelt, die ihm als Kultstätte für eine Gottheit oder geheiligte Objekte zukommt. Häufi g sind es Witterungsextreme, wie starke Regen-fälle, Stürme, Feuchtigkeit oder Hitze, die zu einem schnellen Verwittern der Materialien führen. Es ist daher nahe liegend, dass die von Verwitterung betroffenen Materialien ersetzt werden müs-sen. In anderen Fällen ist das vollständige Ersetzen einer Konstruktion nicht nachhaltig und nicht wirtschaftlich und daher – sofern nicht unbedingt notwendig – keine der üblichen Optionen. Die Häufi gkeit für ein Ersetzen ist abhängig davon, bis zu welchem Grad die Gebäudenutzer bereit sind, die Verwitterung fortschreiten zu lassen, und wie groß ihre fi nanziellen Mittel sind. Die Häufi g-keit kann an Jahreszeiten oder längere astronomische Zyklen gebunden sein oder sich am Erhal-tungszustand des Gebäudes orientieren.

Beispiele für diese Form von rituellem Wiederaufbau fi nden sich vor allem in subtropischen oder tropischen Regionen in Südostasien, wobei jedoch Einfl üsse von außen auf die einheimischen Kul-turen viele alte örtliche Traditionen mehr oder weniger stark verändert haben. Sehr deutlich wird dies an den Gebäuden der Toraja in den Bergregionen im Süden der indonesischen Insel Sulawesi. Sowohl die Wohnhäuser (tongkonan) als auch die Reisspeicher (alang) und die Gräber beziehungs-weise ›rauchlosen Häuser‹ sind Holzkonstruktionen mit sattelförmigen Walmdächern aus pfl anz-lichen Materialien, die jeweils an den Firstspitzen nach vorne auskragen.39 Es ist eine einzigartige Stammesarchitektur, die stark von der Religion und dem komplexen Bestattungskult dieser animis-tischen Kultur geprägt ist. Deren Bauten werden in regelmäßigen Abständen am selben Ort wie-der aufgebaut, wenn die Materialien nicht mehr ihrer Bestimmung gerecht werden.40 Die Häufi g-keit variiert von Ort zu Ort und scheint eher vom Grad der Verwitterung des Materials als von anderen Gründen abzuhängen. Für die umfangreichen Bestattungszeremonien, deren Vorbereitun-gen lange Zeit in Anspruch nehmen, werden provisorische Holzbauten insbesondere für diesen An lass errichtet und später entweder verlassen oder sogar während der Feierlichkeiten rituell ver-brannt.

Im Gegensatz dazu fi ndet in Japan diese Form des periodischen Wiederaufbaus äußerst regelmä-ßig und minutiös geplant statt, denn die 123 Tempel im Ise-Schrein (Kat.-Nr. 1.1) werden seit min-

Tongokonan bei Tana Toraja in Indonesien

a Moschee in Djenné, die jährlich neu mit Lehm und Stroh verputzt wird

a Detail der neu verputzen Moschee

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destens 1300 Jahren alle 20 Jahre pünktlich neu errichtet. Diese Shintō-Tempel besitzen wie die Gebäude der Toraja die Form eines Getreidespeichers auf Stelzen, um sie vor Feuchtigkeit und Nagetieren zu schützen, eine Parallelität, die einen Einfl uss aus Südostasien auf die japanische Kultur nahelegen könnte. Bei den Ise-Tempeln gibt es neben dem Gebäude schon einen Platz, der für den jeweiligen Neubau vorbereitet ist. Die neue Kopie wird gebaut, während der aktuelle Tem-pel noch steht; dieser wird erst zerstört, wenn die Wiederholung fertiggestellt ist. In einer nächt-lichen Zeremonie vor dieser rituellen Zerstörung werden der heilige Spiegel der Sonnengöttin Amaterasu und weitere heilige Symbole vom alten in den neuen Tempel umgezogen. Da der alte Tempel während des Baus der Kopie noch steht, wird sichergestellt, dass eine identische Kopie des Originals geschaffen wird und nicht die Gefahr von sukzessiven Veränderungen während des Ab-bruch- und Neubauprozesses besteht. Durch den Umzug nimmt die Göttin Amaterasu gleichsam wie erfrischt Besitz von dem Neubau, der ihrer Würde gerecht wird und ihr die notwendig Ehr-erbietung zukommen lässt. Damit ist die jeweils neue Kopie eine Erneuerung aus religiösen Grün-den, basierend auf dem Wunsch nach Frische, Sauberkeit und Reinheit. Das neue Material symbo-lisiert Wiedergeburt und Reinheit und wird daher nicht so sehr wegen seiner baulichen Qua litäten, sondern vielmehr wegen der sich darin ausdrückenden Spiritualität geschätzt. In diesem Fall ma-nifestiert sich in der Form – oder besser gesagt, in dem gesamten Ritual – das mit dem Objekt zu-sammenhängende Bewusstsein, und es geht nicht um das Material, das dieses Objekt umschließt. Dauerhaftigkeit in der westlichen Architektur zeigt sich in den Baumaterialien, die massiv und wo möglich langlebig sind.41 Die Dauerhaftigkeit des Ise-Schreins zeigt sich in der Kontinuität der Veränderung, gleichsam wie bei einem Fluss, bei dem sich die Wassermoleküle pausenlos ändern, aber das Wasser immer vorhanden ist, oder bei einem Garten, in dem die Blumen und Pfl anzen sich mit der Zeit verändern, aber der Garten immer derselbe bleibt.

Für die Reinheit und Erneuerung, so die Haltung im Shintō-Glauben, ist nicht so sehr der Wieder-aufbau des Gebäudes wichtig, sondern das Festhalten an der Bautradition, dem handwerklichen Wissen, das in jeder Generation vom Meister an den Schüler weitergegeben wird, was möglicher-weise der Grund für die Länge des Erneuerungszyklus, genau 20 Jahre, ist. Unter Umständen hing sie zunächst mit der natürlichen Verwitterung des Materials zusammen, ist aber jetzt sicherlich mit der erwarteten Dauer der Arbeitstätigkeit der Menschen verbunden. Das alte Material dieser Tempel wird bei den alle 20 Jahre stattfi ndenden rituellen Kopien für Wegmarkierungen entlang des Pilgerwegs zum Ise-Schrein wiederverwendet, wie etwa für die Eingangstore (tori), die heilige Uji-Brücke in Ise, die Brücke in der Stadt Tsu und die heiligen Wegemarken an den Kreuzungen der Tokaido-Straße nach Ise. Das Material wird alt, verliert Reinheit und seine übertragene Bedeu-tung erlischt nach und nach. Nachdem es zum dritten Mal wiederverwendet wurde, ist der reine Materialwert größer, und es kann daher problemlos für irgendein Gebäude eingesetzt werden. Manchmal werden solche Materialien aus dem rituellen Abbau des Ise-Tempels auch für die Re-paratur, Instandhaltung oder sogar den Wiederaufbau von Tempeln verwendet, die bei Erdbeben oder anderen Naturkatastrophen beschädigt wurden.

Früher wurden alle Shintō-Schreine regelmäßig aus Gründen der Erneuerung und Läuterung der eigentlichen Konstruktion und des Materials neu aufgebaut. Heute ist aufgrund der hohen Kos-ten dieses gesamten Prozesses der Ise-Schrein die einzige Shintō-Anlage, bei der diese Tradition noch gepfl egt wird. Die Bauten anderer bekannter Schreine sind die letzten Rekonstruktionen in diesen Anlagen, so beispielsweise der Izumo-taisha-Schrein (der 25., letzter Neuaufbau 1744), der Sumiyoshi-Schrein (1807) und die Schreine Kamo-mioya, Kamo-wakeikazuchi und Kasuga (alle 1863).42 Beeinfl usst von diesem rituellen Neuaufbau der Shintō-Tempel glauben viele Japaner, dass ein sehr dauerhaftes Bauen dem japanischen Geist widerspricht.43 In früheren Zeiten hielt man es in einigen Sippen für notwendig, beim Tod des Familienoberhauptes das Haus der Familie ab zu-reißen, ein neues zu bauen und darin einzuziehen. Noch heute gibt es in den japanischen Häusern eigene Schreine, deren Aussehen immer wieder erneuert wird und die jedes Jahr an einen anderen Platz gestellt werden, obwohl es aufgrund von Reinigungsriten nicht mehr unbedingt not wendig ist, den Schrein an sich neu aufzubauen. Dieser Zyklus aus Bauen und Abreißen der Shin tō-Gebäude, die die Form von alten Getreidespeichern besitzen, ist – so der Eindruck, der sich auf drängt – eine Allegorie des natürlichen Prozesses von Wachstum, Blühen, Fruchttragen und Aussaat, dem die Landwirtschaft unterliegt. Im beständigen Anfertigen einer identischen Kopie des heiligen Gebäu-des spiegelt sich die Reproduktion der einzelnen Pfl anzenarten aus dem Samen wider.

Im antiken Griechenland waren die eleusischen Mysterien verbunden mit Jakchos, dem Gott des Getreides und Ackerbaus sowie der ewigen Jugend, der mit Hilfe der Göttin Demeter durch den

Luftbild des inneren Schreins (Naiku) in Ise

Hütte des Romulus auf dem Palatin in Rom, Rekonstruktion von Giacomo Boni um 1900

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sich wiederholenden Prozess aus Tod und Wiedergeburt, wie er sich in den Jahreszeiten manifes-tiert, erreicht wird. In der Frühzeit hielt man in Delphi Festlichkeiten zu Ehren des Apollo ab, die Septerien genannt wurden und alle acht Jahre stattfanden;44 diese können als heilige Feste interpre-tiert werden, die dem Zyklus der Landwirtschaft gewidmet sind und während derer Holzhütten auf dem Dreschboden errichtet und direkt danach rituell abgebrannt wurden. In Rom wurde die Hütte auf dem Palatin, auch die Heimstatt des Romulus genannt,45 mit einem Pfl anzen dach ge-pfl egt und regelmäßig im alten Stil einer primitiven Hütte neu aufgebaut,46 als Beweis für das Al-ter Roms und als Zeugnis für die Authentizität der Stadt.47 Darüber hinaus wurde die Regis auf dem Forum Romanum, eine archaische Hütte mit einem Dach aus Pfl anzenmaterial, und das Haus des zweiten Königs von Rom, Numa Pompilius, mindestens bis in Vitruvs Zeit bewahrt, der sie als sehr gut erhalten beschreibt, da sie regelmäßig wiederaufgebaut worden sei.48 In beiden Fällen und im Gegensatz zum Tempel in Delphi scheint der Abriss weder rituell noch periodisch stattge fun-den zu haben, sondern aufgrund von Bränden, Naturkatastrophen oder dem Verfall des Mate rials notwendig geworden zu sein. Der Wiederaufbau erfolgte mit großer Sorgfalt und Detailtreue so-wie Ehrfurcht vor der symbolischen Bedeutung dieser beiden Hütten.

Obwohl die im letzten Absatz beschriebenen rituellen Wiederaufbauten oder Neubauten die spre-chendsten Beispiele für die Thematik dieses Aufsatzes sind, macht diese Reise durch Zeit und Raum deutlich, dass die rituelle oder symbolhafte ›Rekonstruktion‹, verstanden in einem sehr weiten Sin ne, in vielen Kulturen zu fi nden ist. Unabhängig davon, ob sie mit einer möglichen rituellen Zerstörung verbunden ist, ob sie mit der Vorstellung von Läuterung, Erneuerung oder Regenera-tion zusammenhängt oder ob sie in regelmäßigen oder unregelmäßigen Abständen erfolgt, immer scheint dieser wiederkehrende Wunsch oder die sich wiederholende Notwendigkeit, in einem ewi-gen Akt der Zerstörung und des Wiederaufbaus die Wertschätzung der Form oder den Geist eines Ortes über das Material zu stellen, eng mit dem Lebenszyklus der Natur und der Menschen ver-bunden zu sein.

1 Wade 2009. | 2 Ovid, Metamorphosen VIII, 611-725; Pausanias X, V, 9. | 3 Frankfort 1961, S. 153-155. | 4 Margueron 2003. | 5 Vegas/Mileto 2003, S. 15. | 6 Vitruv IV, II. | 7 Vidal Lorenzo/Muñoz Cosme 1997, S. 23-26; Muñoz Cosme 2006. | 8 Montero Fenollós/Vegas/Mileto 2004. 9 González Salazar 2008. | 10 Léon-Düfor 1980, S. 882; vgl. Buch Judit 4, 3, in: Biblia de Jerusalén 1981. | 11 Schmid 1981; ders. 1991. 12 Lehner 1997, S. 84. | 13 Ebd., S. 98. | 14 Vidal Lorenzo/Muñoz Cosme 1997, S. 22-25. | 15 Kostof 1988, S. 146-157. | 16 Moneo 1985. | 17 Free-man/Claude 2003. | 18 Strachan 1996. | 19 Leti Messina 1996. | 20 Pausanias X, XXXII, 15f. | 21 Rykwert 1975, S. 185f. | 22 Ebd., S. 196. 23 3. Buch Mose (Levitikus) 23, 33-43; 4. Buch Mose (Numeri) 29, 12-38; 5. Buch Mose (Deuteronomium) 16, 13-15. | 24 Kenzo/Kawazoe 1965, S. 202, 176-178. | 25 Prado/Villalpando 1596-1604. | 26 Vegas/Mileto, Camilla 2003, S. 32. | 27 Deotto, Paolo, 2008, S. 5. | 28 Rykwert 1975, S. 27-29. | 29 Sueton, De vita Caesarum LXXXIII, LXXXIV, 50f. | 30 Blasco Ibáñez 1924, S. 329-345. | 31 Mileto/Vegas 2009, S. 469- 475. | 32 López Osorio 1999, S. 15. | 33 Noguera Giménez 1997, S. 12. | 34 Plutarch, Quaestiones romanae XXXII. | 35 Tito Livio I, XXI, 5. 36 Palmer 1970, S. 84-97. | 37 Marcos Casquero 1992, S. 205. | 38 Morot-Sir/Algros 2009. | 39 Schulz-Dornburg 2008. | 40 Waterson 1986. 41 Berney 1995, S. 12. | 42 Vegas/Mileto 2003, S. 22. | 43 Taut 1936, S. 17. | 44 Rykwert 1975, S. 176. | 45 Plutarch, Vitae parallelae XX, 5-8. 46 Ovid, Fasti VI, 261f. | 47 Vitruv II, I, 5. | 48 Plutarch, Quaestiones romanae XCVII.

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Wiederaufbau, Neubau und Rekonstruktion in Asien. Zur Kontinuität von Objekt und Ritual in Nepal, Indien und Japan | Niels Gutschow

Vom Wesen der ErneuerungÜber Erneuerungsrituale beim Bauen in ganz verschiedenen Kulturen Asiens, in Japan, Nepal und Indien zu berichten, lädt ein, auf die Gedanken zweier großer Denker des 20. Jahrhunderts zurückzugreifen – Gedanken, die die nachfolgende Generation in dieser Breite und zugleich mit einer wohl auch angreifbaren Pauschalität nicht mehr zu Papier bringen wird. Der Religionswis-senschaftler Mircea Eliade (1907-1986) beruft sich mit seiner Schrift zum Wesen des Religiösen, ›Das Heilige und das Profane‹, auf Studien in Indien, verarbeitet aber im Wesentlichen Sekundär-literatur. Der Anthropologe Claude Lévi-Strauss dagegen hat breite Feldforschung betrieben und den Begriff des ›Strukturalismus‹ geprägt, um den sich – wie seine Schüler bereits 1974 schrieben – »alle Wissenschaften vom Zeichen, der Zeichensysteme« zugehörig gruppierten.1

Eliades wichtigste These ist die, dass menschliches Handeln an mythischen Vorbildern ausgerich-tet sei. Deshalb sei der Mensch anlässlich der Erneuerungsrituale in mythische Zeit zurückver-setzt, wobei profane Zeit ausgesetzt sei. Nach Eliade erlebt der Mensch Raum und Zeit nicht als homo gen: Heiliger, durch Objekte strukturierter Raum sei gegenüber einem unstrukturierten, ten-denzi ell chaotischen und deshalb auch bedrohlichen Raum abgegrenzt. In ähnlicher Weise unter-scheide sich heilige, zyklische Zeit von linearer, profaner Zeit. ›Hierophanie‹, so Eliade, hebe ›die Homogenität des Raumes‹ auf und enthülle einen ›festen Punkt‹. Die Besetzung von Land erfor-dere die Verwandlung eines larvenhaften Chaos ›durch rituelle Wiederholung der Kosmogonie – in Kosmos‹.

Damit ist das Stichwort gegeben für die folgenden Fallbeispiele: Ziel der zyklischen Erneuerung von Schreinen und Ritualobjekten in Japan oder des immer neuen Aufbaus von Festwagen in Ne pal ist die Wiederholung der Kosmogonie, und dazu gehört nicht selten der Rückfall in das Chaos im Rahmen eines Rituals, das sich außerhalb von profaner Zeit vollzieht. Die Schaffung von heiligen Orten hat immer auch die Öffnung zur Folge, »die den Übergang von einer kosmi-schen Region zur anderen ermöglicht (vom Himmel zur Erde und umgekehrt von der Erde in die Unterwelt)«2. Zeichen der Öffnung ist die ›axis mundi‹ in Gestalt eines Baumes, einer Leiter oder eines Berges. Die Achse markiert den Mittelpunkt, um sie herum erstreckt sich die nach den Him-melsrichtungen orientierte Welt. In Ise sind es die Baumschäfte unter den Schreingebäuden, die Mittelpunkte markieren, in den vielgeschossigen buddhistischen Turmtempeln Japans sind es die ›Herzständer‹, in Nepal die Neujahrsbäume, die die Weltachse symbolisieren. Und die vielgeschos-sigen Tempel Nepals bilden den kosmischen Berg ab, den Meru.

Zur Charakterisierung von Zeit führt Lévi-Strauss in seinem Buch ›Das wilde Denken‹ neue Be-griffe ein. Er unterscheidet demnach ›heiße‹ von ›kalten‹ Gesellschaften. ›Heiße‹ Gesellschaften seien »durch ein gieriges Bedürfnis nach Veränderung gekennzeichnet«3. Hitze entstehe – so der Anthropologe – durch die Linearisierung von Zeit. Das geschehe durch Erinnerung historischer Ereignisse sowie durch Planung von Zukunft. Lineare Zeit konsolidiert tendenziell Herrschaft und hat Staatlichkeit und Schriftlichkeit zur Folge. Kalte Gesellschaften leben »nicht einfach außerhalb der Geschichte, sondern sie halten die Geschichte draußen, sperren sie aus, vermeiden es, Geschichte zu haben«. Kälte bedeutet selbstverständlich nicht den Stillstand von Kultur, den Aus schluss von Wandel. Kälte werde jedoch durch zyklisch wiederholte Rituale erzeugt. Unter peinlichster Beob-achtung von Vorschriften werden Bewegungen im Raum vollzogen, weil nur durch die Wiederho-lung eine wirkungsvolle Erneuerung der Zeit und damit die Fortdauer der Welt und der Gesellschaft gesichert sei. Prozessionen ließen unterschiedliche ›Chronotope‹ entstehen, d. h. jeder Topos, je-der Ort oder jede heilige Landschaft schaffe sich ein eigenes Verständnis von Zeit. Keine Kultur verharrt ausschließlich in ›kalter‹ Zeit oder gibt sich im Zeichen unablässigen Forschritts ›heißer‹ Zeit hin. Es gibt vielmehr immer auch Gegenströmungen, so dass Orte in linearem neben Orten in zyklischem Zeitkontext zu fi nden sind. Allein die Gewichtung der Dominanz ist in den verschie-denen Kulturen unterschiedlich. Jan Assmann identifi ziert ›Orte der Erinnerung‹ ne ben ›Orten der Erneuerung‹. Deshalb bestimme »erst das spezifi sche Zusammenspiel von Hitze und Kälte bzw. Linearität und Zyklizität […] die Besonderheit eines kulturellen Chronoto pos«.4

Im Jahr 1968 erschien ›Das wilde Denken‹ in deutscher Übersetzung. In Japan begründeten Teiji Itohs ›Nihon no Toshi Kukan‹, Yuichiro Kojiros ›Umi to kaze – matsuri to shuraku‹ (›See und

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Wind, Feste und Gemeinschaft‹) und Yukio Mishimas ›Naked Festival‹ neue Techniken zur Er-fassung von Stadt und Ritual. Schon zuvor hatte 1966 Günter Nitschke mit seinem Artikel ›‚Ma’. The Japanese Sense of ‚Place’ in Old and New Architecture and Planning‹5 die japanische Sicht auf das Wesen von ›Orten‹ vorgestellt. Etwa gleichzeitig hatte Kenzo Tanges Buch über Ise in eng- lischer Übersetzung 1965 für Aufsehen gesorgt, während Kevin Lynchs ›The Image of the City‹ in deutscher Übersetzung Städtebauer und Architekten gleichermaßen anregte.6 Eingeleitet wurde das Interesse an einer Anthropologie von Architektur durch ›Die heilige Stadt‹ von Werner Mül-ler aus dem Jahr 1961 und Joseph Rykwerts Artikel ›The Idea of a Town‹ von 1963.7

NepalIn Nepal, wie auch in Japan gibt es einen Lunisolarkalender. Doch in Nepal ist das Bewusstsein für den Stand des Mondes noch heute Teil des Alltags, während in Japan im Zeichen einer allum-fassenden Modernisierung viele Schreinfeste in den gregorianischen Kalender gezwungen wurden. Abgesehen von den Sonnenwenden sind alle jahreszeitlichen und lebenszyklischen Rituale nach dem Mond festgelegt. Keineswegs unterliegen nur heilige Objekte, Ritualgeräte, Tempel oder bud- dhistische Kultbauten (Sanskrit: stūpa, japanisch: tō) einer zyklischen Erneuerung. Auch Objekte des Haushalts wie der Besen und die Worfelschwinge, alle Gerätschaften wie der Waschzuber des Wäschers, das Motorrad oder das Auto werden am ›siegreichen Zehnten‹ (vijayadaśamī) im Rah-men eines zehntägigen Festes im Oktober verehrt und dadurch mit neuer Energie versorgt. Das Werkzeug eines jeden Menschen verbringt mindestens eine Nacht in der Ritualkammer des Hau-ses, um ›aufgeladen‹ zu werden: für den Architekten war das früher der Bleistift, heute ist es der Lap top. Ent scheidend für die Gesellschaft in Bhaktapur, einer der drei ehemaligen Königsstädte des Kath mandu-Tals, ist jedoch die Wiedergeburt der neun Erscheinungsformen der Göttin Durgā. In der Nacht zu dem ›siegreichen Zehnten‹ sind die in Gestalt von Masken präsenten Götter in einem tan trischen Ritual neu erstanden. Am selben Tag ziehen die Götter in Gestalt der Masken-träger in die Stadt ein. Noch sind es unsoziale, eben geborene Wesen. Erst nachdem sie – ganz wie die Men schen – an den folgenden Tagen die lebenszyklischen Rituale von der ersten Reisspeisung über die Initiation bis zur Hochzeit durchlaufen haben, sind sie im vollen Besitz ihrer Kräfte. In den fol genden neun Monaten besuchen die Götter in einer festgelegten Abfolge die Quartiere der Stadt, um damit deren räumliche Ordnung zu bestätigen. Schließlich sterben die Götter, die Mas-ken wer den verbrannt.

In einem zweiten großen Stadtritual anlässlich von Neujahr am 14. April, das in Nepal den Früh-jahrspunkt markiert, wird das Thema variiert. An diesem Tag werden alle diejenigen Gottheiten, die zweifach, das heißt ikonisch und nichtikonisch repräsentiert sind, durch ihre genau defi nierten Stadtquartiere getragen. Schließlich suchen sie an der Peripherie der Stadt den Ort auf, an dem die Gottheit nichtikonisch – in Gestalt eines unbearbeiteten Steins – vertreten ist. In dieser Gestalt verkörpert die Gottheit chtonische Qualitäten und fordert als solche Blutopfer. Als Abspaltung der ursprünglichen Gottheit in Stein wird die bewegliche, mit neuer Energie versehene, ikonische Repräsentation zurück in die Stadt getragen. Die Steine an der Peripherie markieren die Grenze zwischen der ›chaotischen Homogenität‹ des umgebenden Landschaftsraumes und dem ›festen Punkt‹, in diesem Fall die Stadt Bhaktapur. Weitere Komponenten des Neujahrsrituals variieren das Thema. So etwa wird am Altjahrsabend ein großer Baum aufgerichtet, um am folgenden Tag wieder eingeholt zu werden. Es handelt sich um den vedischen Opferpfahl (Sanskrit: yaṣṭti), den my thischen Weltenbaum, der einst Himmel und Erde trennte. Mit dessen Aufrichtung wird die von Eliade angesprochene ›Wiederholung der Kosmogonie‹ unter Beteiligung fast der gesamten männ-lichen Stadtbevölkerung inszeniert.

Ein drittes Element des Neujahrsfestes verdient gestreift zu werden, zumal es sich dabei auch um eine Baumaßnahme handelt. In den Wochen vor Neujahr werden zwei Wagen in Gestalt von zwei- ge schossigen Turmtempeln gebaut, die, von Göttern besetzt, durch die Stadt gezogen werden, be vor sie am Altjahrsabend den Platz mit dem Weltenbaum erreichen und dessen Aufrichtung ge- wissermaßen bezeugen. Sobald das zentrale Götterpaar der Stadt in ikonischer Gestalt die Wa-gen besetzt hat, wird der größere von beiden an langen Seilen in entgegengesetzte Richtungen ge zogen. Dabei handelt es sich nicht um einen sportlichen Wettbewerb, sondern um einen verbis-senen Kampf. Der geringste Zwischenfall lässt die Stadt buchstäblich in zwei Hälften zerfallen. Die beiden Par teien bewerfen sich mit Pfl astersteinen, bis Verletzte vom Platz getragen werden. Mit der Überschrei tung anerkannter sozialer Verhaltensformen reißt das Geschehen die Gesell-schaft gleichsam zurück ins Chaos – aber nur, damit sie sich sogleich neu formieren kann. In ele-

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mentarer Aggression wird eine Krise vom Zaun gebrochen, deren Überwindung den Grundstein legt für den Fortbestand von Stadt und Gesellschaft. Oftmals versperren die Wagen mit Achs-bruch und stark gebeutelt die Hauptstraße, doch das Chaos schränkt die Verehrung der Götter nicht ein.

So wenig wie die Götter beständig sind und nicht einfach die Stadt ›für immer‹ entlang einer ›hei-ßen‹ Zeit bewohnen, sind auch die Bauten beständig. Sie sind an einem Tag mit Glück bringender Himmelskonstellation in einer genau bestimmten Minute konsekriert. Dieser Tag ist in einer In-schrift fi xiert, damit in jedem Jahr an eben diesem Tag eine rituelle Erneuerung vollzogen wird. Im hinduistischen Kontext vollzieht das Ritual ein Brahmane, im buddhistischen Kontext ein Vaj-rācārya, als ›Meister des Vajra-Zepters‹.

An den meisten Tempeln und Stupas ist die Beziehung zwischen der Stifterfamilie und dem Bau-werk verloren gegangen, so dass der Tag der Konsekrierung in Vergessenheit geriet und heute nicht mehr beachtet wird. An dem großen Turmtempel mit fünf Dächern, dem Nyātapvala-Tempel in Bhaktapur, den König Bhūpatīndra Malla 1701/1702 für seine persönliche Gottheit Siddhilakśmī innerhalb von nur 197 Tagen erbauen ließ, wird das jährliche Ritual immer noch vollzogen. Am zwei ten Tag des zunehmenden Mondes im Monat Aśāḍha (Juni/Juli) begibt sich ein brahmani-scher Priester in die Kultkammer, um das Erneuerungsritual zu vollziehen. Dabei ist niemand sonst an wesend, es hätte auch niemand Interesse daran, denn es handelt sich um die persönliche Göt-tin des Königs, die iṣṭadevata, die im täglichen und jahreszeitlichen Ritual der Stadtbewohner ohne Be deutung ist.

Bei den buddhistischen Votivbauten, den Stupas, ist das jährliche Ritual immer öffentlich, aber auch in diesem Fall gibt es kein Publikum, da allein die Stifterfamilie und deren Priester an der Ze- remonie beteiligt sind. Inschriften versprechen denjenigen Verdienst, die das Bauwerk unterhal-ten, und verfl ucht diejenigen, die ihm Schaden zufügen sollten. Ist eine Reparatur des Stupas er -forderlich, darf niemand ›Hand anlegen‹. Vielmehr wird eine Kuh bemüht, deren Schwanz über ein Seil mit der Spitze des Stupas verbunden ist. Ein kleiner Ruck genügt, dann kommen die Hand-werker, deren Werkzeuge idealerweise in Gold gefasst sind. Vorsichtiges Handeln ist geboten, denn das Bauwerk ist konsekriert und hat, wie die oben erwähnten Götter oder der Opferpfahl, die le-benszyklischen Rituale durchlaufen. In ihm steckt also eine Wesenskraft, die über ein Ritual des Vajrācārya-Priesters zuerst einmal herausgeholt werden muss. Dazu bedient sich der Priester ei-nes fünffachen Fadens – die Fünf Buddhas repräsentierend –, der um den Stupa gespannt und mit einem heiligen Topf, dem kalaśa, verbunden ist. Das Wesen des Bauwerks wird also für die Dauer der Reparatur in dem Topf bewahrt, bevor es nach Vollendung der Maßnahme in das Bau werk zurückkehrt.

Die newarischen Turmtempel wurden niemals im Rahmen eines Zyklus’ erneuert, sondern nach Erdbeben, Feuer oder Termitenbefall. Der der nationalen Gottheit Paśupatinātha gewidmete Tem-pel wurde zuletzt nach Schädlingsbefall 1696 abgetragen und unter Verwendung der überkom me- nen Schwelle innerhalb von 105 Tagen wieder aufgerichtet. Ähnlich verhält es sich mit dem Caṅ-gu-Nārāyaṇa-Tempel, der im Mai 1702 abbrannte und 1708 neu geweiht wurde. In beiden Fäl len wurden die bis zu zehn Meter langen Schwellen der Portale wiederverwendet. Sehr wahrschein-lich unterscheiden sie sich nur geringfügig in den Dimensionen und Proportionen von den Vorgän-gerbauten des 5. Jahrhunderts.

Zahlreiche Chroniken bezeugen die Erneuerung dieser Tempel, doch wird nie deutlich, wie weit-gehend diese waren. Weitaus wichtiger war es, den königlichen Spender aus dem Dunkel der Ge-schichte heraustreten zu lassen. Benannt wird dann lediglich die Vollendung des Bauvorgangs durch das Aufsetzen einer vergoldeten Spitze. Relevant in unserem Zusammenhang ist, dass sich am Grundriss sowie an der Neigung und Konstruktion des Daches kaum etwas geändert haben wird. Die Gestalt wurde also ohne eifernde Neuerung übernommen. Auch die Konstruktionsmerk-male der auf allen vier Seiten des quadratischen Baus identischen Portale mit jeweils drei Öffnun-gen wurden von den Vorgängerbauten übernommen. Entscheidend ist, dass die ikonografi sche Aus stattung des Portals wohl über 1000 Jahre, bis ins frühe 17. Jahrhundert unverändert blieb. Das bedeutet, dass eine einmal gefundene Gestalt mit einem einmal festgelegten Ausstattungsprogramm erhalten blieb, wenn Katastrophen wie Erdbeben oder Feuer den Tempel vernichteten. Zu bemer-ken bleibt noch, dass diese Tempel auf königlichen Stiftungen beruhen und dem Śiva oder Viṣṇu

Bhaktapur in Nepal; anlässlich des Neujahrsfestes (Bisketjātrā) am 14. April zieht das mächtige Götterpaar Bhairava und Bhadrakālī auf Wagen in Gestalt von Tempeln, die in den Wochen zuvor aus alten und neuen Bauteilen neu gebaut werden, entlang der Hauptstraße durch die Stadt

Nach dem Brechen der beiden rechten Räder, stürzt der Wagen gegen eine Hauswand. Der Verehrung der Götter tut das keinen Abbruch. ›Unfälle‹ sind Teil des Stadtrituals, das die Erneuerung von Raum und Zeit inszeniert.

Cyasilin Mandap in Bhaktapur, Arbeiten am Rekonstruktions-modell b

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ge widmet sind – Göttern der Hochreligion, die im täglichen Ritual der Newars sehr geringen Zu-spruch fi nden und bei lebenszyklischen Ritualen nicht aufgesucht werden. Dennoch wurde der große, innerhalb von nur 14 Monaten 1817/1818 gebaute Tripureśvara-Tempel nach dem Erdbe-ben von 1934 bis zum Jahr 1940 unter Verwendung von erhaltenen Fragmenten der Portale wie-der aufgebaut. Völlig selbstverständlich war dagegen die Wiederaufrichtung des großen, ins Jahr 1717 datierten Bhairava-Tempels in Bhaktapur (Kat.-Nr. 1.4) bis 1940. Ohne Bhairava hat die Stadt ge wissermaßen keinen Bestand.

Erst seit den 1970er-Jahren kommt es im Abstand von einer Generation zu weiteren ›Rekonstruk-tionen‹ von Tempeln, deren Gestalt im Gedächtnis der Bewohner noch lebendig ist – so etwa die Rekonstruktion des Cyasilin Mandap (Kat.-Nr. 1.5). Das Beispiel des ›Gott-Hauses‹ (Tripura-sundari Dyochen; Kat.-Nr. 1.13) in Bhaktapur, das bis 2008 nach Abriss des Vorgängerbaus neu gebaut wurde, zeigt, dass die örtliche Bevölkerung nicht an Rekonstruktionen auf ›wissenschaft-licher‹ Grundlage interessiert ist. Wiederaufbauten, die im Zeichen von knappen Ressourcen nach Erdbeben in eher schlichter Form wiederaufgebaut wurden, werden nun durch stark ›verschö-nerte‹ Versionen ersetzt.

Zahllose Inschriften in Stein oder auf zum Teil vergoldeten Kupfertafeln bezeugen Baumaßnah-men. Im seltenen Fall wird deren Anlass vermerkt, etwa ein Brand oder Erdbeben. Noch seltener wird erwähnt, dass das Bauwerk bis auf die Fundamente abgetragen wurde, um es anschließend neu zu errichten. Manchmal wird berichtet, dass ein älteres Bauwerk ersetzt wurde, so dass man annehmen kann, dass ein völlig neuer Bau in vergrößerter Gestalt entstand. Fast alle Inschriften sind zweiteilig: Anfangs werden die Stifter in Sanskrit gepriesen, dann werden auf Newarisch ge-nauestens die Feldfl uren aufgeführt, deren Ernteerlös dem baulichen Unterhalt, der Bezahlung der Priester und Musiker sowie den Unkosten im Ritual gewidmet ist. Im Sanskrit ist immer von ›jīr-ṇoddhāra‹ die Rede, ein Begriff, der sich aus ›jīrṇa‹ und ›uddhāra‹ zusammensetzt. ›Jīrṇa‹ beschreibt den Zustand – etwa alt, verfallen, verbraucht –, während ›uddhāra‹ eine Tätigkeit beschreibt, die mit dem Aufrichten verbunden ist: Es geht also um den Ersatz von Schadhaftem, um Reparatur. Im Newarischen wird entweder der Sanskrit-Begriff genutzt oder das Substantiv ›lhajyā‹ (Repara-tur) in Verbindung mit dem Verb ›yaye‹ (machen) oder ›juye‹ (werden). Damit wird zuweilen ex-pli zit die jährliche Unterhaltung des Daches beschrieben, oft aber auch ganz allgemein eine Er-neuerung, wobei der Umfang der Maßnahme nicht erkennbar ist. Inschriften in nepalesischer Spra che verbinden seit dem 19. Jahrhundert den Sanskrit-Begriff ›jīr noddhāra‹ mit dem Verb ›gar nu‹ (machen).

IndienÜber die zyklische Erneuerung von Tempeln sind aus Indien keine Quellen bekannt. Tempel wur-den nach den vielen, seit dem 11. Jahrhundert bezeugten Zerstörungen neu gebaut und zwar un-bedingt unter Verwendung des alten Kultbildes oder des ›ursprünglichen‹ liṅgas (dem Phallus-symbol Śivas), wenn es sich um einen śivaitischen Tempel handelte. In Benares etwa ist der zen trale, dem ›Herrn der Welt‹ (Viśveśvara) gewidmete Tempel 1770 neben der Ruine des älteren Tempels neu gebaut worden. Die Fragmente des alten Tempels wurden in die Rückseite einer Moschee integriert, die in einer Demonstration von Macht im 17. Jahrhundert den alten Ort überhöhte. Hunderte oder gar Tausende von Tempeln wurden in Benares seit dem Ende des 18. Jahrhunderts neu gebaut, oft viele Meter über den im Schutt früherer Bauten verborgenen Kultbildern. Über eine verlorene Kultlandschaft legte sich eine neue, die im Zeichen eines wachsenden indischen Na tio nalismus und hindufundamentalistischer Strömungen bis heute an Bedeutung gewinnt. Im örtlichen Sprachgebrauch demonstriert jeder Tempel an einem alten Ort eine Rekonstruktion. Das geht so weit, dass Neubauten ungeachtet ihrer Entstehungszeit und ihrer Gestalt als ›2000 Jahre alt‹ bezeichnet werden.

Unter britischer Herrschaft begann im frühen 19. Jahrhundert die Erforschung von Ruinen. Die Denkmalbehörde des Landes, der 1872 gegründete Archaeological Survey of India (ASI), küm-merte sich fortan um die Erhaltung (preservation) von Ruinen und empfahl nur ausnahmsweise Reparaturen (repairs). Sollte es zu einer Restaurierung kommen, so schloss das ›Conservation Ma nual‹ von John Marshall aus dem Jahr 1923 die Reparatur ›von göttlichen oder menschlichen Figuren‹ aus. Nur fl orale Muster durften in besonderen Fällen ergänzt werden.8 Diese rigide Vor-gehensweise prägt bis heute die Praxis der Behörde. Allein ›tote‹ Ruinen wurden als ›Monumente‹ erhalten, denn die britische Kolonialregierung vermied tunlichst jede Auseinandersetzung um ein

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genutztes Bauwerk. Diese Haltung erwies sich als folgenreich im Umgang mit der Vergangenheit, denn die kolonialen Vorgaben machen bis heute jede Diskussion um eine Erweiterung des Denk-malbegriffs unmöglich. Erst in den 1990er-Jahren erhoben sich Stimmen aus dem Umfeld einer international ausgebildeten Architektenschaft. In einer engagierten Streitschrift forderte Krishna Menon, der unter anderem bei Ludwig Hilberseimer in Chicago studiert hatte, ein radikales Über-denken der ›Charta von Venedig‹, an deren Formulierung 1964 fast ausschließlich Europäer mit-gewirkt hatten.9 Diese Charta erwies sich als noch rigider als Marshalls ›Conservation Manual‹. Während dieser den Anspruch formuliert hatte, dass jeder Kontrast (›violent and unpleasant con-trast‹) zwischen alten und neuen Oberfl ächen zu vermeiden sei,10 forderte die ›Charta von Venedig‹ nicht nur ein klares Absetzen des neuen Materials gegenüber dem alten, sondern explizit auch, den Ergänzungen den ›Stempel unserer Zeit‹ aufzudrücken.

Menon zeigt durchaus Verständnis für die Haltung des Westens, »die visuelle Qualität des archi-tektonischen Erbes zu bewahren und ›einzufrieren‹«; denn »seine gebaute Umwelt hat sich durch Industrialisierung und Kriege völlig verändert.« Diese traumatische Erfahrung sei der Katalysa-tor für die Denkmalpfl egebewegung in Europa gewesen: »Anders als im Westen, wo die lineare Wahrnehmung von Zeit kulturelle Antworten bestimmt, ist in Indien das Konzept zyklischer Zeit tief in der Kultur verwurzelt. Dieser fundamentale Unterschied im Konzept von Zeit wird in ei-nem unterschiedlichen Konzept von Authentizität deutlich: Im Westen ist dieses bestimmt durch das Bewusstsein für Irreversibilität von Zeit, die vergänglichen Qualitäten von Objekten und Ereignis sen – die ›goldene Patina von Zeit‹. In Indien jedoch misst die zyklische Wahrnehmung von Zeit den von Menschen geschaffenen Objekten keine besondere, zeitlich gebundene Bedeu-tung bei. Die zyklische Wahrnehmung von Zeit überträgt vielmehr die Qualität von Authentizität auf den Ort, an dem das Objekt existiert. Deshalb verehren Kulturen, in denen das Konzept zy-klischer Zeit vorherrscht, eher den Ort als das Bauwerk, das dort steht. Kulturen, die Zeit als ein lineares Phä nomen wahrnehmen, verehren dagegen das Bauwerk.«11

Bereits 1989 hatte Krishna Menon versucht, eine Bilanz der indischen Praxis zu präsentieren. Da-nach sei Indien eines der wenigen Länder, in denen echte Authentizität (›genuine authenticity‹) im mer noch geschaffen werden könne, und zwar »in einem lebensfähigen Dialog von Tradition und Modernität«12. Im Mai 1991 trafen sich in Kathmandu Architekten aus Nepal, Indien und Pa kistan, um mit Kollegen aus Deutschland, Österreich, Frankreich, Japan und den USA denk-mal pfl egerische Praxis zu refl ektieren und zu versuchen, thesenartig Erfahrungen zu beschreiben. Da rin heißt es: »Die Existenz einer lebendigen Tradition sichert das Überleben von ästhetischen Werten, denen die Qualität von Authentizität anhaftet. Solche Traditionen schließen die Einfüh-rung eines zeitgenössischen Stempels für ein ergänzendes Werkstück oder für rekonstruierte Bau-teile aus.«13

Zerstörte Tempel werden in Indien nicht rekonstruiert, sondern am alten Ort – nicht notwendiger-weise auf den alten Grundmauern – neu gebaut. In Nordwestindien sind es seit Generationen und bis heute die Sompura-Familien, die Tempel in einem historischen Gewand, dessen Herkunft sich nicht immer bestimmen lässt, bauen. Zu den wichtigsten Beispielen gehört der Somnāth-Tempel in Veraval. Der älteste Tempel an diesem Ort stammt aus dem 10. Jahrhundert. Nach sei ner Zer-störung im Jahr 1016 wurde er lediglich in reduzierter Gestalt wiederaufgebaut. Das Auffi nden alter Fragmente brachte Aktivisten 1950 dazu, an der ursprünglichen Stelle durch die Sompuras einen grandiosen Tempel entwerfen und bauen zu lassen. Die Aktivisten glaubten, dadurch »eine wich tigere Tat für das kollektive Unterbewusstsein der Nation zu vollbringen als viele andere Un ternehmungen der Regierung.«14 Bis 1952 entstand der Tempel nach Entwurf der Sompuras. Ähn liche Rekonstruktionen, die keine ›Evidenz‹ benötigten, sondern allein einem vorgestellten Idealbild folgten, entstanden an vielen Orten Indiens. Wichtiger ist jedoch, dass dadurch eine Pra-xis begründet wurde, die Krishna Menon als ›schöpferische Nachahmung‹ (›inventive mimesis‹) bezeichnet. Seit den 1970er-Jahren entstehen große Tempelkomplexe, deren Bauten, so Menon, »nicht irgendwelchen vorgeschriebenen klassischen oder einfach nur üblichen Modellen folgen, son dern fantasievolle Nachahmungen von Originalen an anderen Orten und in anderer Zeit sind.«15

Dies trifft auch zu für die Tempel der Jainas, die über Jahrhunderte hinweg gut unterhalten wur-den. Sie stehen durchweg in einem rituellen Zusammenhang und sind deshalb nicht an Weisungen des ASI gebunden. Auf dem heiligen Berg Satrunjaya bei Palitana in Gujarat etwa wird der Putz

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UNVERKÄUFLICHE LESEPROBE

Winfried Nerdinger

Geschichte der Rekonstruktion - Konstruktion derGeschichte

Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 512 Seiten, 24,5 x 30,5 cm363 farbige Abbildungen, 396 s/w AbbildungenISBN: 978-3-7913-5092-9

Prestel

Erscheinungstermin: August 2010

In der Öffentlichkeit wie in Fachkreisen wird um das Thema »Rekonstruktion« seit Jahren eineheftige, emotional aufgeladene Debatte geführt. Rekonstruiert wurde jedoch seit der Antike –aus verschiedenen Gründen sowie mit wechselndem Verständnis von »Wiederherstellung«. EinBlick in die Geschichte kann helfen, die Probleme und Argumente in einen größeren historischenKontext einzuordnen und so die Diskussion etwas zu »entemotionalisieren«. In der vorliegenden Publikation werden anhand von circa 150 repräsentativen Fallbeispielen –von Japan bis Kanada und von der griechischen Antike bis heute – verschiedene Beweggründefür die Rekonstruktion verlorener Bauten präsentiert und analysiert. Der Bogen spannt sich vonRekonstruktionen aus Gründen religiöser Kontinuität oder aus nationalen Überlegungen bishin zu Wiederaufbauten zur Erfüllung ästhetischer oder kommerzieller Wünsche. Mit Modellen,Gemälden, Plänen, Fotos und Animationen wird ein ebenso spannender wie lehrreicher Einblickin ein kontroverses Thema gegeben.