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Reisen auf einfache Art Strike Four Foto: Mauereidechse Magazin 2/2010 Auch aus Steinen, die dir in den Weg gelegt werden, kannst du etwas Schönes bauen. Erich Kästner CHF 12.- Wo bitte geht’s zur Wildnis? Val Grande / Italien

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Reisen auf einfache Art

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Page 1: Go Wild Nr.4

go- wildReisen auf einfache Art Strike Four

Foto: Mauereidechse

Magazin 2/2010

Auch aus Steinen, die dir in den Weg gelegt werden, kannst du etwas Schönes bauen.Erich Kästner

CHF 12.-

Wo bitte geht’s zur Wildnis?Val Grande / Italien

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W ie alle Geschichten hat es auch diese nie gegeben. Sie existiert

nur in unseren Köpfen. Würdest du den selben Weg gehen wie wir, du würdest et-was anderes zu erzählen haben. Aber viel-leicht würdest du dich plötzlich in unserer Geschichte wieder finden und unsere Er-innerungen teilen.

Unsere Reise führte uns diesmal rings um den Val Grande Nationalpark, Itali-ens grösstem Wildnisgebiet. Eine einsame Bergwelt, voll von versteckter Schönheit, verschlungenen Pfaden und respekthei-schender Stille.Nun sind wir ja immer mit der Kamera un-terwegs, um das Erlebte auch in Bildern zu vermitteln. Und daraus ergibt sich schon die erste Schwierigkeit: Um eine Geschich-te zu erzählen, muss man sich bewegen und Eindrücke gewinnen. Um zu fotogra-fieren sollte man vor Ort bleiben können, den richtigen Moment oder das perfekte Licht abwarten. Vieles, was wir euch gerne gezeigt hätten, konnten wir nicht festhal-

ten. Und was wir festhalten konnten, wird der Vielfalt der Landschaft nicht gerecht. So bleibt uns nur der Versuch, ein wenig vom Geist des Val Grande und seiner Um-gebung weiterzugeben. Ein Teil Italiens mit einer grossen, nicht immer leichten Geschichte. Ein Ort, wo man über die Re-gierung flucht, und trotzdem überall die Tricolore weht. Ein Ort wo die Natur über-schwänglich, aber auch bedrohlich sein kann. Man sieht sie noch, die Vergangenheit. Zwischen den mit Brennnesseln überwu-cherten Rusticos, den ausgetretenen Stei-nen der Fusswege, den Mauerresten der einst terrassierten Berghänge. Und oft dünkt es einem, dass man im Wind noch die Rufe der Hirten und das Glockenge-bimmel der Kühe und Schafe vernimmt. Aber auch hier hat die Moderne Einzug gehalten und droht eine alte Kultur gänz-lich zum Verschwinden zu bringen. Wir gingen gut vorbereitet. Wir hatten uns mittels Büchern und Websites informiert,

eine gute Wanderkarte, Kompass und die nötigen Werkzeuge eingepackt und uns mit der richtigen Kleidung ausgerüstet. Die einzige Komponente, die wir nicht mit einberechnet hatten, waren die Italiener. Leider erwies sich diese als die wichtigs-te. «Ich hab’s dir ja gesagt...» würde Fabio-la sagen. «So sind ‹Tschingge›!» Um gleich hinten nach zu schieben, dass sie die Ita-liener ‹Tschingge› nennen dürfe, da sie ja selber zur Hälfte Italienerin ist. Es ist ein farbiges Völkchen, dass in den Städten und Dörfern der norditalieni-schen Alpen wohnt. Nervig, laut, lustig, zurückhaltend, zäh, undurchsichtig, aber durchaus auch sympathisch. Doch seht selbst! Wir wünschen euch jedenfalls viel Spass beim Lesen unserer Abenteuer zwi-schen überwältigender Natur und impro-visierter Zivilisation. Fabiola und Ger

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Liebe Freunde von Go-Wild . . .

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Dunkel und drohend hängen die Wolken über Domodossola als wir es von unserem Zug aus das erste mal erblicken. Im Abteil ist es laut, da sich die Verbin-dungstür nicht mehr schliessen lässt. Schräg gegenüber blättert eine auf etwas ordinäre Art gepflegte ältere Dame, unbe-eindruckt von der klebrigen Wärme, in ei-ner italienischen Illustrierten. Stelle mit Erstaunen fest, dass auch in der Schweiz eine gewisse Apartheid existiert. Auf solche Waggons trifft man in Zürich nicht. Fabiola ist schon ziemlich aufgedreht, und freut sich auf das bevorstehende Aben-teuer. Ich tue mich noch etwas schwer, in Reisestimmung zu kommen. Habe mich gerade in etwas undefinierbar Nasses ge-setzt. Hoffe, das war nicht von einem Kind, oder einem Hund. Aber es riecht neutral.

Eben noch sassen wir im Schnellzug von Zürich nach Brig. Neben uns ein junges Walliser Paar. Mussten wohl auf irgend eine Hochzeit. Er kam gerade vom Militär, und hatte sich in aller Eile umgezogen. Nun mokiert sie sich über sein Hemd. Es ist ganz zerknittert. «Meine Leute stört das nicht!», meint er. «Das sagst du so,» gibt sie zurück. «Aber was werden sie über mich denken, wenn du so ungebügelt da-her kommst?!» Auweia! Stelle mir vor, ich und Fabiola würden so ein Gespräch füh-ren. «Ger! Dein T-Shirt ist ganz zerknit-tert!» «Na, und?» «Das sieht scheisse aus!» «Ach, das wird niemandem auffallen.» «Doch, und die Leute werden denken, ich bin ein faules Schwein, wenn du so unge-bügelt rumläufst!» «Na, aber du bügelst ja auch nicht.» «Okay, das stimmt.»

Denke immer noch darüber nach, als wir schon umgestiegen sind und in den Sim-plontunnel einfahren. Sehe gerade noch den Geist von Pirmin Zurbriggen am Tun-neleingang winken und dann geht’s Rich-tung Italien.Wenigstens ist es auf dieser Seite etwas grüner. Hat wohl doch ab und zu mal

geregnet. Trotzdem wähnt man sich im Hochsommer; und dies im Mai.«Es ist wie im Juli», sagt eine junge Frau auf dem Bahnsteig in schlechtem Englisch zu ihrer Bekannten, die sie vom Zug abge-holt hat. Ausser uns steigen noch ein paar weni-ge andere aus. Vornehmlich Schweizer Ausflügler, aber auch zwei, drei Einheimi-sche. Die Luft ist zum schneiden, und un-sere Rucksäcke würden wohl auch ohne Halteriemen einfach am Rücken kleben bleiben. Fabiola scheint das nicht zu stören. Ziel-strebig läuft sie Richtung Bahnhofshalle und ich trotte lustlos hinterher. Während

der Zugfahrt habe ich noch einige italieni-sche Wörter nachgeschlagen, die ich viel-leicht brauchen könnte, und in meinem Kopf formen sich schon die Sätze. Hoffe einfach, dass ich dann auch die Antwor-ten verstehe.

Glücklicherweise gibt es eine Kundenin-formation. Wir haben nämlich keine Ah-nung, ob wir nun mit dem Bus oder per Bahn weiter reisen werden. Es gibt beides, nur wissen wir nicht genau wo. Der Schal-ter ist aber erst um 14:30 wieder geöffnet.

Los geht’s

Foto :«Into the wild»

«Es ist wie im Juli» , sagt eine junge Frau.

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Da wir auch keine Schliessfächer finden, entschliessen wir uns zu einem Stadtbum-mel mit Gepäck. Naja, wenigstens sehen wir so etwas abenteuerlich aus.Unbeeindruckt von der Gewitterstim-mung tummeln sich die Leute auf den Gassen, und die Strassencafes sind voll. Es war gerade Markt, aber die Händler sind schon dabei, ihre Verkaufsstände abzu-bauen. Trotzdem wird noch hier und da etwas verkauft. Jeder drängt sich irgend-wie am anderen vorbei, Kinder rennen durcheinander, aus einer Bar dringt lau-te italienische Rockmusik. An allen Ecken stehen Leute und halten ein Schwätzchen. Wobei hier auch ein Schwätzchen mit er-hobener Stimme und in mittlerem Brüll-ton geführt wird.

Wir drängen uns auf zwei der wenigen freien Plätze in einer der Freiluftkneippen und bestellen Bier. Werden sofort von ei-nem der marokkanischen Strassenhändler angepeilt. Es gibt fast nichts, was er nicht in seinem Bauchladen mit sich führt. Von

Stofftieren, über Feuerzeuge bis zu Pa-piertaschentüchern, Tampons und Söck-chen. Obwohl ich abwinke, lächelt er mir fröhlich zu und verabschiedet sich höflich. Unterdessen hat der Wind die Wolken ge-teilt, und die Sonne scheint freundlich auf das bunte Treiben. Etwas später genies-sen wir unsere ersten ‹Gelati› und ma-chen uns dann auf den Weg zurück, da jetzt bald die Kundeniformation öffnet. Auf dem Bahnhofplatz setzten wir uns noch kurz hin. Ein Mann auf der gegen-überliegenden Strassenseite fixiert mich mit seinem Blick, kommt dann schnurge-rade auf mich zu und fragt mich nach ei-nem Euro für einen Kaffee. Muss ein gu-ter Menschenkenner sein, oder ich schaue einfach blöd genug aus. Er schnappt sich das Geldstück mit einem kurzen Nicken und ist auch schon weg. Die Kundeninformation ist nicht da, wo sie sein sollte, sondern in einem Provisorium auf der anderen Seite. Drin sitzt ein Mann in Uniform, der mich ziemlich kritisch mustert, als ich zur Tür rein komme. Frage zur Sicherheit nochmals, ob dies die Infor-mation für die Touristen sei, was er mit ei-ner Art Brummen und fast unmerklichem Nicken bejaht. Deutsch spricht er nicht. Englisch? Nein! Französisch? «No, no, no: Italiano!» Okay: Wie viele italienische Rei-sende brauchen wohl eine Auskunft auf dem Bahnhof von Domodossola?

Val Grande? Davon weiss er nichts. Cam-ping? Hier? Keine Ahnung! Santa Maria Maggiore? Ja, davon hat er vielleicht ir-gendeine Broschüre. Nein, doch nicht. Er bleibt etwas ratlos im Raum stehen, und wartet offensichtlich, dass ich die Initiati-ve ergreife. In der Zwischenzeit studiert er eingehend Fabiolas Beine. Dann meint er nein, er könne uns nicht weiterhelfen. Ei-gentlich sagt er das nicht, sondern hebt nur mit einer hilflosen Geste beide Hände und macht: «Bö?»Immerhin erfahren wir, dass wir nicht mit dem regulären Zug, sondern mit einer Privatbahn zu unserem ersten Camping kommen. «Da vorne!» zeigt er. Sie befin-det sich dann schlussendlich genau auf der anderen Seite, aber wir finden sie.Der junge Mann hinter dem Schalter, süd-ländischer Typ, die Hemdsärmel hochge-krempelt: «Wie viele Stationen bis San-ta Maria Maggiore? Fünf! Nein, drei. Oder Vier? Na, es ist ja angeschrieben.»Viel Zeit zum weiterfragen bleibt nicht, denn der Zug fährt ein. Endstation ist Lo-carno und so sind es vornehmlich Schwei-zer Touristen, die mit uns einsteigen. Ver-suche mein Glück nochmals beim Schaff-ner: «Wieviele Stationen? Sechs! Oder vier? Bö?»

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Val Grande? Davon weiss er nichts.

Foto :Heidelbeerwanze

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Obwohl die Bummelbahn nicht viel grös-ser ist als ein Zürcher Tram, verkehrt hier ein Verpflegungswägelchen. Die junge Frau lächelt uns freundlich zu. Schein-bar hat sie unsere Verständigungsschwie-rigkeiten mitbekommen. «Do you speak English?», fragt sie. Ja, klar! Sprechen wir! Sie aber leider nicht! Versucht uns dann redlich zu erklären, wann wir ankom-men werden, aber ganz sicher ist sie auch nicht. «Bö?»Der Zug schleppt sich unterdessen schwerfällig und klapprig weiter in die Bergwelt hinauf, und man fragt sich unwillkürlich ob dies wohl seine letzte Fahrt ist.

Mit Hilfe eines Fahrgastes erfahren wir dann doch noch wo wir aussteigen müs-sen, und so stehen wir wenig später auf dem verlassenen Bahnsteig von Santa Maria Maggiore. Die Hitze ist unerträg-lich. Staub liegt in der Luft und die Stil-le wird nur vom Summen einiger Fliegen unterbrochen. Fühle mich unmittelbar in eine Szene aus einem Spaghettiwestern versetzt und warte nur darauf, dass Clint Eastwood um die Ecke kommt. Es ist dann aber der Stationsvorstand. «Camping? Bö? Vielleicht da hinten?»Zum Glück hat es gleich nebenan ein Re-staurant, und nach dem ich zehn Minu-ten lang die Bedienung gesucht habe, be-kommen wir auch etwas zu trinken.

Wenigstens ist die Serviertochter ein biss-chen nett. Bedient uns zwar erst auch ein wenig reserviert, hilft uns dann aber den Weg zum Camping zu finden. (Er ist üb-rigens nur ein paar hundert Meter ent-fernt). Ein Eichhörnchen grinst uns vom Eingangsschild des Zeltplatzes an. Dies ist dann auch schon das freundlichste Lä-cheln, dass wir in den nächsten drei Tagen bekommen. Klaube meine ganzen Italienischkennt-nisse aus meinem Gedächtnis und erklä-re der Dame am Schalter, weshalb wir hier sind, dass wir nach Wanderwegen zum Val Grande suchen , dass wir eine Fotosto-ry darüber machen wollen, dass wir nach einer Möglichkeit suchen, das Gepäck zu deponieren, dass wir deshalb nicht sicher

sind, ob wir zwei oder drei Tage bleiben, dass wir uns wirklich für die Gegend inter-essieren, aber dass es schwierig ist jeman-den zu finden, der einem irgendeine Aus-kunft geben kann....!«Bö.» sagt sie. «Ich hole den Chef, der spricht Englisch.»Erzähle ihm dann noch mal alles. Diesmal in Englisch. Spreche zwar sicher viel bes-ser Englisch als Italienisch, aber er ver-steht trotzdem nicht viel mehr als die Frau, weil er nicht so gut Englisch spricht. Aber er hat mehr Geduld. Kennt dann auch immerhin einen Weg, gleich hinten am Camping.«Recht steil, aber gut zu gehen!», meint er. Frage ihn noch, warum man seiner Mei-nung nach in der Touristeninfo in Domo-dossola nur Italienisch spricht? «Bö?» sagt er. «Welcome to Italy!»

Sehen ihn dann später nochmals. Er führt hier auch das Restaurant. Auf der Karte gibt es zwar nur Fertigmenues, aber we-nigstens eine gute Auswahl. Bestellen zwei dieser Mikrowellengerichte. «No, no» erklärt er. «Die hat es nicht!» stellt sich dann heraus, dass er von den fünfzehn ge-zeigten gerade mal drei führt. Okay, eines ist recht annehmbar. Dafür werden wir uns zwei der speziellen Ice Tea genehmi-gen. Immerhin gibt es dafür eine Extra Ge-tränkekarte. «No! Schwarz- oder Kamillen-tee?» Wir nehmen zwei Bier. «Welcome to Italy!» raune ich Fabiola zu, als wir anstos-sen. «Tschingge!» meint sie. «Bö?» sage ich, und breite hilflos meine Hände aus.

«Welcome to Italy»

Foto: Flower-Art

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Man stelle sich einen wirklich stei-len Weg vor. Sodann male man

ihn sich in Gedanken noch etwas steiler aus. Okay? Gut: Dieser hier ist noch steiler! «Gut zu gehen», hat der Mann gesagt. Ja! Für Steinböcke. Ausserdem scheinen hier früher mal Riesen gelebt zu haben. Jeden-falls sind meine Beine für die Steinstufen immer zwanzig Zentimeter zu kurz. Da wir immer noch die wahnwitzige Idee haben, wir könnten das Val Grande vielleicht mit unserem ganzen Gepäck durchqueren, wollen wir heute mal einen Testlauf ma-chen. Wir haben einen Rucksack mit cir-ca zehn Kilogramm gefüllt und ich, der Mann, trage ihn auf dem Rücken. Wenn ich mir jetzt vorstelle, er wäre noch zehn Kilo schwerer weiss ich, dass ich sterben werde. Wobei das eigentlich keine Rolle

mehr spielt, denn ich bin jetzt schon tot. Schleppe mich Sysiphus gleich von einer Haarnadelkurve zur nächsten, denn ich bin überzeugt; irgendwann werde ich nach hinten fallen, den Berg hinunter kul-lern und dann kann ich wieder von vorne anfangen. Bis knapp zur Hälfte hilft das Testoste-ron, dann lass ich meine Männlichkeit fallen und nehme Fabiolas Angebot an, den Rucksack auch einmal zu tragen. Wo-bei ich das mehr an ihrer Gestik erkenne, denn das Blut pocht so laut in meinen Oh-ren, dass ich nichts Anderes mehr höre.Dass dann kurz danach noch ein freund-lich grüssender Walker mit Stöcken an uns vorbeitänzelt, um voll jugendlichem Elan hopsend in der unendlichen Fer-ne der vor uns liegenden Anhöhe zu ver-schwinden, ist meiner Potenz auch nicht

gerade zuträglich. Fabiola hält sich wacker und leidet stumm vor sich hin. «Es geht schon», verkündet sie bei einem kurzen Zwischenhalt. (Eigentlich sagt sie: Es...pfi-iiiiiiiiiiiiiiiiiiiii...geht...pfiiiiiiiiiiiiiiii....schon....häääääääääääääää!» )Trotzdem läuft sie noch ein gutes Stück weiter. Ist schon ein zähes Weib, dass mir da zugeteilt wurde.Für den letzten Abschnitt bin ich dann wieder zuständig. Geht schon ein klein wenig besser.Als wir oben sind, merken wir, dass wir noch nicht oben sind. Es geht weiter berg-an, aber bei weitem nicht so steil. Erst mal aber eine Pause. Der Blick nach beiden Seiten ist unbeschreiblich schön. Weit un-ter uns liegt Santa Maria Maggiore und weiter rechts Malesco, wo wir morgen hin wollen. Ausserdem bimmeln immer irgendwo Kirchenglocken. Es ist Sonn-tag und man ist katholisch. Also wird ge-läutet. Aber den ganzen Tag? «Das wür-de mich fertig machen» sag ich. «Hab ich auch gerade gedacht» rümpft sie die Nase. (Warum denken wir eigentlich stän-dig dasselbe?)Wenn es grade mal nicht bimmelbammelt ruft der Kuckuck. Habe ständig dieses dämliche italienische Volkslied im Kopf: «Guggu, guggu...lalalalalala». Wollen die mich wahnsinnig machen? «Hol’s der Kuckuck!» knurre ich. Auf ‹Capella de Lareccho› steht wie der Name schon sagt eine Kapelle. Aber ohne

Glocken. Juhu! Überhaupt kann man von hier das Geläute nicht mehr hören. Nur das Zirpen der Grillen und das Summen der Insekten. Die Luft ist grasgeschwän-gert und kräutergewürzt. Majestätisch

thronen um uns die Berggipfel. Die Ruhe greift liebevoll nach meiner Seele.«Hier könnte es Schlangen haben.» be-merkt Fabiola. Vielen Dank! Für Landschaftsfotos, meint sie dann, sei das Licht zu schlecht und für Makros der Wind zu stark. Und für was, bitteschön, hab ich das verdammte Zeugs hier hoch geschleppt?

Der weitere Weg ist nicht immer genau sichtbar, aber noch lange gut genug um ihn zu finden. Er führt durch eine fast ver-lassene Bergwelt. Nur hie und da passiert man ein ‹Rustico›. Ein paar scheinen noch benutzt zu werden, aber viele sind verfal-len. Überall scheint die Wildnis auf ständi-gem Vormarsch zu sein. Ein seltsames Ge-fühl von alleine sein erfasst mich. Nicht einsam, einfach nur alleine. Noch nicht so gewohnt, aber ein gutes Gefühl. «Hier soll-test du auf Schlangen achten!» warnt Fa-biola. Ja, Scheisse! Danke!Es ist nicht einfach zu beschreiben, was wir sehen. Felsbrocken, wie von Riesen-hand hingeworfen; Rinnsale, die sich durch mächtige Bachbeete schlängeln, so dass man nur vermuten kann, wie über-aus mächtig hier das Wasser zeitweise tobt. Sanftes Hinauf und Hinunter, unter-brochen von trutzigen Waldstückchen. Bäume, die ihre Wurzeln wie Klauen in den steinigen Boden schlagen. Blumen und Kräuter die Stolz ihre Köpfe zum Him-mel erheben und der herben Umwelt trot-zen. Ferne Gipfel, die alle ein Geheimnis zu bergen scheinen. Zeitentrückt, in sich ru-hend, uralt. Über unseren Köpfen braut sich etwas zusammen. Das schwülwarme Wetter

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Erster Versuch

Foto: Vergissmeinnicht

Foto: Mauerfuchs

Foto: Weissfleck-Widderchen

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scheint sich mit einem kräftigen Gewitter Luft machen zu wollen.Glücklicherweise erspähen wir weiter vor-ne ein Rustico, das bewohnt wirkt. Und richtig: Schon hören wir einen Hund bel-len. Und das Bellen kommt näher, sogar ziemlich schnell. Und da ist ja auch schon der Hund. Mit gesträubtem Nackenhaar. Wie nett! Ich will nicht in dieser Scheissödnis von ei-nem Scheissköter gebissen werden. Aber Fabiola schiebt sich vor mich, die Hun-deflüsterin. Weiss nicht, wie sie es schafft mit zähnefletschenden Bestien zu reden, als wären sie nette Schosshündchen, aber es funktioniert. Brutus sieht zwar immer noch etwas misstrauisch aus, aber er trot-tet in gebührendem Abstand neben uns her. Erinnert mich an eine Begebenheit vor ein paar Monaten, als ich gerade im Badezimmer war und von Fabiola gerufen wurde, ich soll mal schauen kommen, wir hätten Besuch. Stand, als ich die Türe öff-nete, einem höllenschwarzen, reisszahn-bestückten Riesenschäferhund gegen-über, der so gross war, dass ich ihm bei-nahe gerade in die Augen schauen konn-te. «Kuck mal, was ich draussen gefunden habe. Der hat sich wohl verlaufen.» Ver-kündete Fabiola freudestrahlend. Wie put-zig! Aber sie hatte ihn im Griff, genauso wie den Fido hier auf der Alm. Und jetzt ruft ihn auch sein Frauchen, die unter-dessen aus der Hütte getreten ist. Hatten insgeheim gehofft, wir könnten hier viel-leicht einen Moment unterstehen, da es inzwischen auch regnet. Aber der Mann,

der nun auch nach draussen kommt, wirkt nicht viel freundlicher als der Hund. «Zwei Touristen? Vom Blitz getroffen? Bö?» Das jedenfalls sagen seine Augen. So nicken wir nur und gehen vorbei. Etwas weiter unten finden wir dann ein verlassenes Rustico, wo wir abwarten können, bis das Unwetter abzieht. Der Abstieg ist dann zwar interessant und jede Mühe wert, aber doch ein we-nig lang. Wie üblich haben wir uns für den ersten Tag etwas viel vorgenommen, und dank einer verpassten Abzweigung wird es sogar noch etwas mehr. Wie man so sagt: Wir sind halt keine zwanzig mehr...wobei, wenn ich es recht überlege: Mit zwanzig hätten wir so was nie gemacht. Okay, vielleicht für einen Sack voll Gras. Aber wer muss schon auf einen Berg, um Gras zu kaufen? Jedenfalls haben wir in Malesco keine Au-

gen mehr für die Umgebung, sondern nur noch für die Pizzeria auf der anderen Strassenseite. Kaum haben wir uns unter’s Dach gesetzt, dreht irgendwo jemand den Hahn auf und der Himmel fällt klatschend auf die Strasse. Sehen nur mit einem Auge

hin, denn wir sind mit zwei riesen Pizzas und einer Schüssel Fritten beschäftigt. Fa-biola schafft grade mal die Hälfte, besteht aber darauf, dass sie sich die andere ein-packen lässt. «Was willst du mit einer hal-ben, kalten Pizza?» frage ich. Sie wird sie später essen, meint sie. Oder morgen früh.«Und wo willst du sie über Nacht las-sen?» «Im Zelt.» Ich will keine stinkige Piz-za in unserem Zelt!» «Hab dich nicht so. Sie ist ja eingepackt.» «Das zieht Ameisen an.» «Ach, was. Wir stecken sie ganz nach unten.»Natürlich nehmen wir die Pizza mit. Kurz vor dem Camping zieht sie Fabiola dann wortlos aus meinem Rucksack und wirft sie in einen Mülleimer. Verstehe einer die Frauen.Das Restaurant am Zeltplatz hat geschlos-sen, eine Stunde früher als gestern. Wer hätte es gedacht. Kaffe und Grappa fällt aus. Welcome to Italy.«Hier solltest du auf

Schlangen achten!» warnt Fabiola. Ja, Scheisse!

Danke!

Foto: Vergangene Zeiten

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Zweiter VersuchMalesco ist ein malerischer Ort,

mit vom Alter krumm gewor-denen Häusern, und Gassen, die nach einfachen Leuten, ehrlicher Arbeit aber auch ein wenig nach Hexenverbrennung riechen. Der Wegweiser zur Touristeninfo führt den Unkundigen geradewegs durch die Häuserreihen, die sich neugierig nach unten neigen, und lässt ihn dann bei der nächsten Abzweigung stehen. «Soll er doch selber weiter suchen. Bö?» Mit Hilfe einer netten, älteren Dame kom-men wir dann doch an’s Ziel. Das heisst: Wir finden das Büro, aber es ist geschlossen. Noch besser: Es hat nur am Wochenende

geöffnet. Toll! Erst mal zum Einkaufsladen und Wegzehrung besorgen. Wissen zwar noch nicht wohin wir heute gehen, aber irgendwohin auf jeden Fall. Haben die ab-surde Idee, dass der Bus, der an den Rand des Val Grande fährt, und auf der Wan-derkarte eingezeichnet ist, auch wirklich fährt. Dabei sollte doch jedem vernünfti-gen Menschen klar sein, dass dies nur ab Mitte Juli bis August gilt. «Touristen? Bö? Bus? Bö? Val Grande? Bö? Tranquillo.» Die italienische Art ist ansteckend. Wir genies- sen es, endlich mal freundliche Leute zu treffen, lachen mit dem Verkäufer, begrüs-sen die Gemütlichkeit und das fröhlich

vollgestopfte Durcheinander in den Rega-len. Vor dem Geschäft kommen wir mit ei-nem alten Mann in’s Gespräch. Erzählt uns ein wenig aus seinem Leben, dass er lan-ge in der Schweiz gearbeitet hat, in Locar-no. Und sein Sohn führt ein Fotogeschäft im nächsten Ort. Schaut mich dann ganz ernst an und sagt: Ich soll gut auf Fabio-la aufpassen! Sie sei ‹una brava›! Natürlich muss ich mir das dann den Rest der Reise immer wieder anhören.Ohne Bus bleibt uns nichts anderes übrig, als wieder von hier unten zu starten. Wir kommen also auch heute nicht bis zum ei-gentlichen ‹Val Grande›, nur nahe heran,

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denn wir müssen ja auch wieder zurück zum Camping.Die Natur arbeitet schnell, wenn man sie lässt. Vor fünfzig Jahren waren hier noch viele der Almen bewirtschaftet. Jetzt sind es nur noch ein paar wenige. Verlassene und halb verfallene Steinbauten zeugen vom unaufhaltsamen Fortschritt. Brenn-nesseln, Ginster, Enzian, wilder Origano und Anemonen erobern Stück für Stück die ihnen entrissenen Gebiete zurück. In den zerbröckelnden Mauern hausen jetzt Eidechsen und Schlangen. Gleichmütig betrachten die Berggipfel das Geschehen. In ihrer Zeitrechnung ist unsere Geschich-te nicht mehr als eine Episode. Fabiola entdeckt ihre erste Viper, aber sie ist tot (Gott sei Dank).Wir sind alleine hier oben, das heisst: Nicht ganz! Ein Lamm gesellt sich zu uns. Keine Ahnung, woher es gekommen ist. Da ist weit und breit keine Herde. Es wäre wahr-scheinlich klug, es einfach stehen zu las-sen, aber das ist leichter gesagt als getan. Es folgt uns auf Schritt und Tritt und lässt ausserdem alle paar Augenblicke ein er-bärmliches Blöcken hören. Also lassen wir es erst mal mitlaufen. Unten, bei ‹Grotte›, ver-meinten wir gestern das Bimmeln von Glöck-chen zu vernehmen. Vielleicht werden wir es da los? Fehlanzeige. Heute ist die Alm ausge-storben. Blödes Schaf! Blödes Schweizer Ver-antwortungsbewusst-sein. Warum können wir nicht wie die Italiener sein: «Ein Lamm? Bö?»«Tu was!» sagt Fabiola. Gut, aber was? Wir kön-nen das Lamm nicht mitnehmen. Ich seh’ mich schon mit dem Tier durch Malesco pil-gern. Wenn sie schon Touristen ignorieren, wie wird das wohl bei einem Schaf sein. Okay, vielleicht weil man es essen kann. Es trägt eine Nummer am Ohr, die 13!! Warum nicht gleich 666?«Trag’s da drüben zu den Hütten hoch!» schlägt Fabiola vor. Scheisse! Das Lamm soll leben und ich soll sterben? Das sind mindesten zweihundert Höhenmeter.Schaue in meiner Not auf mein Handy,

und stelle erfreut fest, dass es Empfang hat. Aber wen soll ich schon anrufen? Ir-gendeine Notfallnummer. Doch welche Notfallnummern gibt es hier? (Ja, ja, ich weiss! Wie blöd muss man sein, in unweg-samem Gelände herumzusteigen und nicht mal die Notfallnummer zu kennen?) Versuche es mit 117, vielleicht ja auch hier die Polizei? Aber da höre ich nur einen un-definierbaren Ton und dann das Besetzt-

zeichen. 118 möglicherweise? Da meldet sich jemand, soweit ich verstehe die Berg-wacht, würde aber nicht darauf schwören. Schon mal in einer Sprache telefoniert, die du eigentlich nicht sprichst? So ganz ohne Gestik? Man hat mir zwar während unse-rer Reise mehrfach attestiert wie gut ich italienisch sprechen würde, aber das liegt daran, dass es für die Leute hier schon

an ein Wunder grenzt, wenn jemand et-was anderes als seine Muttersprache be-herrscht. Wozu auch? Man kann sich ja in Italienisch unterhalten. «Grazie tanto..» «Oh, sie sprechen gut ita-

lienisch.» «Signora, due birre, per favore!» «Wow, sie sprechen fliessend italienisch.» «No,no,no. Questo no! Ma l’altro!» He, sie sprechen perfekt italienisch!» «Minchia!» «Und Sizzilianisch auch!»Aber am Telefon? Da kann man sich nicht den Satz, den man sagen will, schon zehn Minuten vorher zurechtlegen. Bemühe mich redlich. Keine Ahnung, ob er mich versteht, doch dann sagt er: «Okay!». Dann fällt er raus. Ruft mich aber zurück, und erklärt mir ge-duldig, dass er mein Problem einer an-deren Stelle weitermelden wird, und die mich dann zurückrufen werden. Warten einige Minuten, dann klingelt das Handy erneut. Eine Frau fragt mich, welcher Art meine Verletzung sei, und ob sie mir einen Rettungswagen schicken soll. Dann bricht auch dieser Kontakt ab. Aber auch ich habe eine Rückwahltaste. Diesmal meldet sich eine männliche Stimme. Er kennt mei-nen Fall nicht, und ich erkläre ihn erneut, in einer Art Esperanto aus Italienisch, Eng-lisch und Französisch. «Solo un momen-to Signore...» spricht’s und fällt raus. «Riii-inngring...»: Der nächste Anruf. «Wo mein

Auto steht?» will er wissen. «Ich habe kein Auto, ich habe ein Schaf! Un piccolo animale! Un bööh, bööh!» Jetzt hat er’s verstanden. Er legt auf, und keiner ruft mehr an.Weiss auch nicht, was ich genau erwartet habe. Eine Nummer für Schafsproble-me? Das dargebotene Huf? Ich jage das Lamm ein Stück über eine Brücke, und dann machen wir uns schleu-nigst vom Acker. «Schafs-mörder!» sagt Fabiola. Die Stimmung ist ein we-nig angespannt und aus-serdem macht sich eine ge-wisse Müdigkeit breit. Es ist der dritte Reisetag. Drit-te Reisetage sind für uns was für andere das verflix-te siebte Jahr. Sollten wir je beschliessen, uns schei-

den zu lassen, wird es an einem dritten Reisetag sein. Der Rest ist Schweigen, Grappa und eine Friedenspfeife vor dem Zelteingang.

Es trägt eine Nummer am Ohr, die 13!! Warum nicht

gleich die 666?

Foto: Aufstieg von Malesco

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Heute geht’s zurück nach Domo-dossola. Wir wollen das Val Gran-

de umrunden und nach Mergozzo. Da gibt es, laut Reiseführer, drei Camping-plätze und eine Touristeninformation. Zu-dem beginnt gleich hinter dem Ort ein Wanderweg, der hoch zum Val Grande führt. Diesmal entdecken wir in der Bahn-hofshalle von Domodossola ein Hinweis-schild mit einem Koffer drauf. Also gibt es doch eine Gepäckaufbewahrung? «Nein, gibt es nicht.» knurrt der Mann am Schal-ter genervt. «Es gibt bloss das Schild.» Aha! Was soll ich da sagen? Bö?Also wieder ein Stadtbummel mit Gepäck, denn der Zug Richtung Mailand kommt erst in zwei Stunden. Wir könnten auch den Bummler über Premossello nehmen, aber der fährt erst später. Ausserdem ha-ben wir irgendwo gelesen, dass es rat-sam sei nach Verbania zu reisen, und von da zurück nach Mergozzo. ‹Bessere Ver-bindungen!› Alles Lüge, wie wir später feststellen. Treten raus auf den Vorplatz, und der Mann vom ersten Tag peilt mich an und fragt nach einem Euro für Kaffee. «Hast du

auf mich gewartet?» frage ich lachend. Er lacht nicht, schnappt sich den Euro und verschwindet in der Menge. Naja, viel-leicht ein Geist, der mich prüfen soll?!Als sich der Zug dann in den Bahnhof schleppt, sind wir nicht sicher, ob wir auf dem richtigen Perron stehen. Erstens ist

nirgends etwas angeschrieben, und zwei-tens könnten dies auch Wagen sein, die zum Abbruch gefahren werden. Nein, nein: Dies ist der Interregio nach Milano,

wenn er es denn bis dahin schafft. Wir sind jedenfalls froh, dass wir früher aussteigen werden. An den Fenstern hängen Gardi-nen, an denen man sich wohl ernsthafte Krankheiten holen könnte, und die Pols-ter riechen nach alten Fürzen. Aber ausser uns scheint das niemanden zu stören; of-fensichtlich ist man sich das hier gewohnt. Also stört es uns auch nicht mehr.Der Bahnhof Verbania liegt nicht in Verba-nia sonder ein paar Kilometer ausserhalb. Wir erkundigen uns am Schalter nach ei-nem Bus nach Mergozzo. Gibt es nicht; das heisst: Es gäbe einen Bus nach Verba-

nia und von da einen anderen nach Mer-gozzo, aber das sagt man uns nicht, denn wir haben ja auch nicht danach gefragt. Selber schuld! Mit dem Zug sieht es nicht viel besser aus. Wir könnten von hier aus zurück nach Premosello fahren und da auf den Bummler warten, der von Domo-dossola kommt. Das ist der, den wir nicht genommen haben, um schneller hier zu sein. Aber es gibt einen Fussweg, nicht sehr weit, immer dem See entlang, und er fängt irgendwo da unten an, irgend-wo da... oder vielleicht auch dort drüben? Beamte in Italien werden schon sehr früh daraufhin ausgebildet, Touristen mög-lichst feindselig zu begegnen. Gib nicht zuviel Preis, mach wenn immer möglich nur vage Andeutungen, sei auf keinen Fall höflich oder sogar hilfsbereit, lass sie spü-

ren, dass sie lästig sind und wimmle sie so schnell wie möglich ab. Ansonsten könn-ten sie, was Gott verhüten möge, irgend-wann wieder kommen. Die hier haben ihre Sache gut gemacht! Wir finden den Weg nicht! Ein freundlicher Passant hilft uns dann weiter. Spricht sogar ein we-nig Deutsch, denn er hat in der Schweiz gearbeitet. Wir folgen einer stark befahrenen Stras-se. Die Temperatur liegt bei gemessenen dreissig und gefühlten fünfzig Grad, und wir würden bestimmt eine Schweissspur auf dem Asphalt hinterlassen, würde sie nicht augenblicklich wieder verdunsten.

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Dritter Versuch

Wer hat gesagt, Italien sei schön?

Foto: Kleiner Schillerfalter

Foto: Zwergtaucher

Foto : Lago die Mergozzo

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Wer hat gesagt, Italien sei schön? Itali-en ist dreckig, stinkig, laut und heiss wie die Hölle! Aber dann: Eine halbe Stunde vom Bahnhof entfernt, stossen wir auf einen Campingplatz. Das gelobte Land! Ein Ort wo Bier und Duschwasser fliesst! Okay, die Schalterbeamtin hat nur unse-re Rucksäcke, die aufgeschnallte Ausrüs-tung und den Zeltsack gesehen. Wie hät-te sie ahnen können, dass wir nach einem Camping suchen? Und schliesslich haben wir ihn ja auch so gefunden, wo liegt das Problem?Die Frau an der Rezeption betrachtet uns kritisch. «Ja, sie hätten schon noch freie Plätze», meint sie zögerlich und zeigt uns auch gleich auf dem Plan wo die billigsten zu finden sind. «Und wo liegen die teu-ren?» frage ich provokativ. Direkt am See! Und das für zwanzig Euro, inklusive Du-sche und Waschraum. «Den nehmen wir!» sage ich. He, wir sehen vielleicht aus wie die letzten Tramps, aber wir sind Schwei-zer Tramps. Ätsch!Das wischt alle Vorbehalte vom Tisch. Die Frau informiert uns jetzt professio-nell und in gutem Deutsch über die Re-geln auf dem Zeltplatz, wir bekommen ein Band, dass wir tragen sollen, damit

jeder gleich sehen kann, dass wir hier-her gehören.( Natürlich streifen wir es da-nach möglichst schnell wieder ab). Dazu gibt es eine ‹Paycard›, womit man überall auf dem Gelände bezahlen kann - Fabio-la, Ger und eine ‹Paycard›; eine gefährliche Kombination.

Wir wundern uns immer noch über die kompetente, unitalienische Bedienung, als wir auch schon sehen weshalb das hier so ist: Wir haben Italien verlassen und sind in Deutschland gelandet! Nun ist es nicht so, dass wir Deutsche nicht mögen! Im Gegenteil: Eigentlich lie-ben wir die Deutschen! Wir hatten letztes Jahr eine Superzeit im Harzgebirge. Wir geniessen die direkte, deutsche Art. Ha-ben nette deutsche Kollegen. Wir lieben im Fernsehen die deutschen Nebensen-der. Fabiola liebt Andreas Kieling. Ich liebe

deutsche Würste aber: Wie soll ich es sa-gen? Deutsche Touristen lieben wir nicht! Der deutsche Tourist ist so was wie der Kö-nig Midas unter den Reisenden: Alles was er anfasst wird deutsch. Die Sprache, das Essen, die Ordnung, das Angebot im Ein-kaufsladen; wo der Deutsche hinkommt, bring er Deutschland gleich mit. Natürlich darf man das nicht verallgemeinern, aber ich tue es trotzdem, weil es einfach so ist! Gleich am Eingang kommen uns die ers-ten Badenixen entgegen. Wer stellt Bikinis in solchen Grössen her? Es braucht schon ein gewisses Mass an Dreistigkeit, um Bade-Ascessoirs zu fabrizieren, mit deren Stoff man auch einen mittelgrossen Zep-pelin bespannen könnte. Trotzdem sieht es auch jetzt noch so aus, als hätte man ein Spannset verwendet, um die bunten Fetzen um die voluminösen Leiber zu bin-den. «Hier könnte ich auch einen Bikini tra-gen!», meint Fabiola gerade, als sich schon wieder die Sonne verdunkelt, weil sich ein Riesenweib in unsere Richtung bewegt:

Aber wir sind Schweizer Tramps. Aetsch!

Foto: Stockente

Foto: Südliches Ambiente

Foto nächste Seiten: Val Grande

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Mindestens ein Meter Neunzig und auch beinahe so breit. Dazu von Kopf bis Fuss braun wie eine Laugenbrezel, das Haar aufgestylt und eine Marilyn Monroe Son-nenbrille im Gesicht. Und was hat sie sich für ein Muster für ihren Zweiteiler ausge-sucht? Quergestreift! Die zelebriert es! «Geh einen Bikini kaufen!» murmle ich Fabiola zu, aber sie macht es dann doch nicht. Trick hat nicht funktioniert. Unten am See liegen noch zwei dieser- wie soll ich sagen- vollschlanken, sehr selbstbewussten Damen. «Trägt die ein Höschen?» frag ich Fabiola. Unmöglich auszumachen.Der Leser darf mich jetzt nicht falsch ver-stehen: Ich bin in keiner Weise ein Fan von dürren Klappergestellen. Nicht jede Frau braucht Cindy Crawfort zu sein, im Gegen-teil: Es lebe die Individualität! Aber das hier? Das ist dazu geeignet in einem Kind oder Heranwachsenden ein lebenslanges Trauma auszulösen. Das ist Kate Moss in umgekehrter Form! «Schatz, cremst du mir mal den Rücken ein?» «Die Zeit hab ich jetzt nicht! In einer Stunde will ich schwimmen gehen.»Der Zeltplatz ist so was wie ein Disney - Land für Camper: Restaurant, Shopping, Bar, Lounge am See, Schwimmbad (nicht im See), Beachvolley, Fussballplätze, da-

neben der Golfplatz, diverse Waschgele-genheiten, in jeder Zeltreihe gibt es be-fahrbare Wege, die tatsächlich mit Stras-senschildern markiert sind. Man findet eine Animationshalle und einen Clown, der die Kinder zu den Veranstaltungen lo-cken soll und, und, und. Dazu steht hier ein ganzes Dorf von kleinen Bungalows, die man mieten kann. Wir sind auf dem Fünfsterne Camping gelandet. Fühlen uns komisch, nicht schlecht oder gut, einfach komisch. Das ‹Val Grande› scheint in weite Ferne entrückt. Wir sehen zwar die Berge

noch, aber irgendwie haben wir uns hier verlaufen. Dafür ist unser Platz riesig. Und das in je-der Beziehung! So gross wie er ist, könn-ten wir unser Zelt locker zehnmal darauf stellen. Und der See; absolut traumhaft! Wir sind etwas abseits des Badestrands und haben eine kleine Bucht, beinahe für uns alleine. Es sind noch nicht so viele Leute hier, das kommt erst noch. Während der Saison sind die Plätze alle belegt, und man muss ein Jahr früher buchen, wenn man einen kriegen will.

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Little Falke in CampinglandFabiola steht am See und wartet auf Moti-ve, und so bin ich mal kurz auf mich allei-ne gestellt. Nutze dies, um unseren Lager-platz zu erkunden. Erst folge ich noch brav den Kieswegen, aber schon bald laufe ich einfach quer über die Rasenstücke. Letztes Jahr, an der ehemaligen Gren-ze von Ost- und Westdeutschland, hiess campieren: Eine Wiese, mit etwas Glück ein Gasthaus in der Nähe und Sanitäre An-lagen, die zwar immer sauber waren, aber zum Teil noch nicht viel von der ‹Wende› profitiert hatten. Und dies hier ist wohl der Grund dafür: Die Deutschen expandieren lieber nach Süden als nach Osten. Hier, in diesem umzäunten deutschen Eiland in-mitten von Norditalien, existiert keine Kri-se. Weder eine deutsche Ost-West noch eine italienische Finanzkrise. Hier gibt es Gelati, Sekt an der Bar, Spiel und Spass für die Kinder. Wenn einem was fehlt, geht

man in den Shop und bezahlt mit der Pay-Card. So wird auch zugleich die Illusion ver-mittelt, dass das alles nichts kostet. Hier ist man frei von allen Alltagssorgen, und man hat ein bisschen was von jeder Art Urlaub: Sonne, Wasser, Strand, Ausgang, Partyfee-ling, Kinder los sein, Lagerfeuerromantik (Na,ja: Gaskocherromantik), Fitnesspark, Ferien in den Bergen, Dazugehören (sym-bolisiert durch die Armbänder), im Süden sein, ein wenig auf «lockerer Italiener» machen, und das alles abgegrenzt vom Rest der Welt: Der kleine Garten Eden. Die ganz Mutigen mieten sich auch mal ein Rad, und besuchen einen der umliegen-den Orte, aber das kommt selten vor. Als wir später, nach dem Besuch von Mergoz-zo (zu Fuss eine halbe Stunde entfernt), unserem Zeltnachbarn erzählen, dass wir da drüben waren, fragt er uns entgeistert: «Gelaufen!!!!?????»

Und das ganze funktioniert: Jedermann kann hier für ein paar Tage, oder Wochen, seinen kleinen persönlichen Traum von Urlaub träumen. Vielleicht ist es ja das, was korpulente deutsche Frauen dazu bringt, ihre üppigen Naturalien mit Stoff-fetzchen zu behängen und ihren String Tanga zwischen den Backen verschwin-den zu lassen: Sie träumen den ‹Heisse Strandmieze› Traum. Schon beinahe furchtsam betrete ich den Toilettenraum. Alles blitzblank in gleissen-dem Neonlicht. Wie stramme Bedienstete reihen sich die Pissoirs an der gekachelten Wand. «Benutze mich!» sagen sie. In den Kabinen echte Toiletten. Nicht diese Steh-clos, die man hierzulande allenthalben antrifft. (Die ich übrigens nicht ausste-hen kann. Tragen Italiener nie kurze Ho-sen? Oder geniessen sie es, wenn es ihnen beim Pinkeln an die nackten Beine spritzt?

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Oder mache ich da was falsch? Müsste ich mal fragen, aber wen? «Entschuldigen sie: Könnten sie mir vielleicht sagen, wie man hier am besten pisst?» Nein, geht nicht!)Ich trete näher an die Pissoirs, und alle be-ginnen zu spülen. Alle! Mache es gleich nochmals. Tatsächlich; wenn einer zur Toilette geht, läuft überall munter Wasser. Ueberlege mir, ob ich nun von Schüssel zu Schüssel springen, und überall kurz urinie-ren soll, lasse es dann aber doch bleiben. Es gibt keine konventionellen Toiletten-papierrollen. Stattdessen findet man klei-ne Papierspender, wo man das Abwisch-vergnügen Blatt für Blatt geniessen kann.

Dies scheint aber auch schon zu Kontro-versen geführt zu haben, wie ich draussen auf einem Hinweisschild lese: ‹Zu viel Kin-der spielen mit Papier und werfen!› Ueberhaupt ist es ein Genuss, die ver-schiedenen Anschläge zu lesen. Da er-fährt man zum Beispiel, dass es ‹Hünden› verboten ist an den Strand zu gehen. Oder es gibt ‹Hahnchen mit Kartoffen!›.Werde das Gefühl nicht los, mich in einem Freilufthotel zu bewegen. Ich betrachte den langhaarigen, schlecht rasierten, leicht angegrauten Freak in sei-nem verschwitzen T-Shirt im Spiegel. «Du bist eine Schande für diesen Ort!» denke

ich. «Geh dich mal ordentlich waschen, mach den Bart ab und lass dir die Haare schneiden.» War das wirklich ich? Leich-te Panik ergreift mich! Ich muss hier weg. Gleich nachher, wenn ich mir im Shop et-was zu trinken gekauft habe, werde ich Fa-biola davon in Kenntnis setzen. Aber viel-leicht könnten wir zuvor im Restaurant noch etwas essen. Und danach eine Ge-lati, und Expresso und Grappa. Und noch eine heisse Dusche in sauberer Umge-bung, und ein Bad im schwimmbadwar-men See, und noch einmal, nur ein einzi-ges mal, auf die wunderbare Sitztoilette.

Neue Hoffnung

Heute ist der Tag des Aufbruchs. Wir wer-den nach Mergozzo gehen, die Touristen-information aufsuchen, eine kompeten-te Person antreffen die uns alle Möglich-keiten aufzeigt, wo man hier sein Gepäck lassen könnte, um eine Val Grande Durch-querung zu machen. Sie wird irgendei-ne Sprache sprechen, die wir verstehen und wir werden am nächsten Morgen unser Zelt zusammenpacken und unser Wunschziel avisieren. Und dann werden wir ein paar Tage im Val Grande unter-wegs sein, denn dazu sind wir ja eigent-lich hierher gekommen. «Do you speak english?», frage ich die Frau hinter dem Schreibtisch. «Yes!» sagt sie. Bingo! Merke dann allerdings ziemlich schnell, dass sie nicht «Ja» gesagt hat, son-dern mir lediglich das einzige englische Wort präsentierte, welches sie beherrscht. Vom Val Grande weiss sie gar nichts. Doch, ja, natürlich. Sie weiss, dass es da ist. Aber sonst weiss sie nichts. Leider hat sie auch nichts schriftliches darüber. Aber eines

weiss sie: Es ist gefährlich. «Pericoloso!» warnt sie immer wieder. «Danscheruss!» Ah, sie kennt noch ein englisches Wort. Jetzt sind wir echt frustriert! Brauchen jetzt erst mal ein Bier. Erste Idee: Zurück zum Luxus-Camping, Spaghetti Pesto und Wiener Schnitzel, schwimmen im See und Grappa an der Bar, bis die Pay-Card ver-sagt. Wildnis unbezwingbar, Val Gran-de Story vom Tisch und dann zurück in die Schweiz. Bö! Ein paar Schluck weiter dann die nächste: Nochmals auf eigene Faust versuchen. Wir finden auf der Kar-te ein Dorf direkt an der Grenze des Natio-nalparks gelegen: Premosello. Da werden wir hin gehen, und wir werden auch eine Schlafgelegenheit finden. Irgendwie wird es doch möglich sein, in diese verdamm-ten Berge zu kommen. Und tatsächlich: Wir entdecken eine Ad-resse! Zwar nicht in Premosello, aber in Colloro, einem Nachbardorf das laut Karte sogar innerhalb der Abgrenzung liegt. Mit Hilfe einer der netten Damen an der Cam-

ping Info bestellen wir da, in einem Bed and Breakfast, ein Doppelzimmer. Aller-dings für die übernächste Nacht, denn der Wetterbericht sagt für die folgenden zwei Tage schlechtes Wetter voraus, und solan-ge bleiben wir hier, auf dem Camping. He, die haben Sitztoiletten! Und ausserdem gibt es gleich nebenan ein grosses Ried-gebiet, ein Naturreservat das wir noch er-kunden wollten und auch die Stadt Verba-nia hätten wir gerne noch besucht. So ein Luxuscamping ist wie eine Droge: Ist man erst mal angefixt ist es schwer, wieder davon los zu kommen. Es hätte immer so weiter gehen können. Irgend-wann wäre Fabiola, hundertdreissig Kilo schwer, im Minibikini am Strand gelegen, durchgebräunt und prall wie eine Bock-wurst. Und ich daneben, in knielangen Hosen und Adiletten, hätte den See be-trachtet und meinem Bauch beim wach-sen zugesehen.

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Da der nächste Morgen kühl und regnerisch anfängt, befinden wir,

dass dies ein guter Tag für einen Stadt-bummel wäre. Bis nach Verbania sind es ja auch nur fünfzehn Minuten zu Fuss, wie wir von der jungen Bardame wissen, mit der wir jeweils am Morgen, mit Hilfe von Händen und Füssen, ein wenig quatschen. Nun hat die Sache aber einen Haken: Ita-liener scheinen nie zu laufen. Schon als kleine Knirpse setzt man sie, noch bevor sie gehen können, auf irgend ein Gefährt mit Steuerrad. Und das ändert sich nie. Von der Wiege bis zur Bahre: Fahre, Itali-ener, fahre. Darum ist es ihnen auch un-möglich irgend eine Strecke in Fussschrit-ten abzumessen. Wenn es mit dem Auto zehn Minuten dauert, wie lange braucht man denn da zu Fuss? Fünf Minuten län-ger? Bö?Jedenfalls erreichen wir nach besagten fünfzehn Minuten gerade mal den Rand des ersten Vororts. Bis dahin gibt es auch einen Fussweg. Er endet dann am Rand der Hauptstrasse. Zack! Niemand geht zu Fuss nach Verbania!! Natürlich: Weit ober-halb der Stadt verläuft ein ‹Sentiero› für verrückte Touristen und abtrünnige Ein-heimische. Aber hier unten? Ein Fussweg in die Stadt? Wofür? Wir folgen also der Strasse. Zu Anfang lässt man uns noch ei-nen Grasstreifen, der dann aber je näher wir der Stadt kommen, dünner und dün-ner wird. Dafür wird der Verkehr dichter und dichter. Hunderte von eiligen Süd-ländern rasen an uns vorbei, nicht ohne uns entgeistert anzustarren. Dazwischen, noch viel schlimmer, Holländer mit ihren verdammten Wohnwagen. Der Linienbus passiert uns ungerührt, ungebremst und so nah, dass wir das Weisse in den Au-gen der Passagiere sehen können. Fabio-la sagt seit geraumer Zeit kein Wort mehr. Schritt für Schritt folgt sie dem Randstrei-fen, wie eine Todgeweihte, die sich in’s Un-vermeidliche schickt. Nur einmal bleibt sie kurz stehen und dreht sich um. «Scheisse!» bellt sie. «Wir wollten in die Wildnis und jetzt werden wir hier von irgend so einem blöden Bus überfahren!» Und sie macht keinen Spass: Sie glaubt das wirklich, das kann ich sehen. Okay, so unrecht hat sie nicht. Würde ich hier versuchen per An-halter zu fahren, wäre die Hand weg, be-vor ich den Daumen hochhalten könnte,

oder anders ausgedrückt: Wären die Autos junge hübsche Frauen, wäre mir eine sol-che Nähe peinlich. Ich bräuchte nur einen Schraubenzieher waagrecht nach aus- sen zu halten, und hunderte von Autos hätten einen Lackschaden. Und jetzt müs-sen wir auch noch die Strassenseite wech-seln. Wie Hasen auf der Flucht überqueren wir Haken schlagend die Fahrbahn. In der Mitte erwartet uns die Leitplanke. Dies ist definitiv kein Wanderweg. So muss sich ein Cowboy fühlen, der mitten in einer Kuhherde vom Pferd fällt. Aber wir sind drüben. Leider merken wir dann, dass es doch die falsche Seite ist. Also nochmals dasselbe in Grün. «Zurück nehmen wir ein Taxi!» verkündet Fabiola in einem Ton, der keinen Widerspruch duldet. Ehrlich ge-sagt: Ich bin auch nicht böse, als wir end-lich den Stadtrand von Verbania erreichen und eine etwas ruhigere Strasse rechts ab-zweigt. Eine Stunde war das! Und wir sind noch nicht mal im Zentrum. Ich mag die Dame an der Bar. Sie ist, so zu sagen, eine der nettesten Menschen die wir bis anhin getroffen haben. Aber wäre sie jetzt hier, ich würde sie gnadenlos über die Strasse jagen: Hin und zurück und hin und zurück! Aber was kann sie schon dafür? Fragt man einen Kubaner nach der besten Winter-kleidung? Oder holt man sich Bademode Tips bei einem Inuit? Weshalb sollte man dann eine Italienerin nach einem Fussweg fragen? Selber schuld, blöder Schweizer!Das Lokal an der Strasse kommt uns ge-rade recht. Die durchwegs junge Bedie-nung in salopper Kleidung, die Einrich-tung einfach aber geschmackvoll. An den Tischen sitzen ausschliesslich Italiener. Es gibt keine Karte. Die Kellnerin erzählt gleich am Tisch, was die Küche heute so zu bieten hat. Wir bestellen Primi und Se-condi, und kriegen Essen für vier Personen und einen Hund. Und es ist gut. Gut, gut, gut! Das beste Essen, das wir vorher oder nachher auf dieser Reise hatten. Italien ist grossartig!Verbania ist einen Ausflug wert. Die al-ten, ausgetretenen Gassen sind eng und scheinen nach oben hin zusammen zu wachsen. Haus an Haus stehen grosszü-gige Stadthäuser neben ärmlich schma-len, rissigen Behausungen. Es riecht etwas modrig, der Geruch vom See, der sich in Jahrhunderten in diese klobigen Mauern

gefressen hat. Sie haben es schon drauf, dieses Gemisch von unordentlicher Nach-lässigkeit und liebevoller Ausschmück-ung. Immer verstehen sie es, das Ganze in einem harmonischen Bild zu vereinen, und es entsteht ein Gefühl von Entspannt-heit: La dolce vita! Das macht ihnen keiner nach.Ein Rastaman steuert auf uns zu. Gross wie Goliath und schwarz wie die Nacht, von Kopf bis Fuss Grün-Gelb-Rot gekleidet. Er begrüsst uns überschwänglich, behängt Fabiola mit Muschelketten und fragt nach unserer Herkunft. ‹Die Schweiz?› Da hat er schon Musik gemacht in Zürich und Bern. Er will wissen, wie viele Kinder wir haben und drückt uns dann für alle unse-re Verwandten Glücksbringer in die Hand. Elefanten und Schildkröten aus Plastik. «But don’t sell it. Don’t sell it!» Sagt er im-mer wieder. Na, schön - wem sollten wir schon einen Plastikelefanten verkaufen? Dann erzählt er, er wäre ein sehr glückli-cher Mann, weil seine Freundin gerade ein Kind bekommen hat, aber das kostet halt alles einen Haufen Geld, und ob ich nicht ein wenig Bares für ihn hätte, hun-dert Euro oder so? Will ihm fünf Euro ge-ben, aber sein Blick spricht Bände. So we-nig, für das viele Glück, dass ich dir gerade geschenkt habe? «Give me twenty!» meint er. Und ich gebe es ihm, wie hypnotisiert. Jah, Rastafari! Bob Marley for ever! Der Typ versteht sein Handwerk. Kaum ist der Zas-ter in seiner schon gut gefüllten Bauchta-sche verschwunden verlässt er uns, und stürzt sich auf sein nächstes Opfer, das er mit Segen bringenden Plastiktieren über-schüttet. Schön blöd sind wir. Schön blöd! Aber Fabiola trägt die Ketten immer noch. So gesehen haben wir einfach ein paar Souvenirs gekauft. Zurück geht’s dann mit dem Bus. Erst aus dieser Perspektive wird uns bewusst, wie nahe am Tod wir wirk-lich waren. Geh’ auf Eisbärenjagd, bezwin-ge den Mount Everest, schwimme mit Hai-en oder reite alleine durch die Wüste Gobi, aber wandere nie an einer italienischen Strasse!Treffen dann später am See noch ein wit-ziges holländisches Paar. Sie sind weit ge-reist und haben viel Interessantes zu er-zählen. Schon dafür hat es sich gelohnt, noch etwas länger zu bleiben.

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Gratwanderung

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Der nächste Tag beginnt wetter-mässig nicht besser als der vorhe-

rige. Dunkle Wolken verdecken die Sicht auf die Berge und es nieselt.

Trotzdem machen wir uns auf in’s Ried. Der auf der Eingangstafel versproche-ne Aussichtspunkt entpuppt sich als et-was morscher Hochsitz. Fabiola setzt sich trotzdem drauf und montiert ihr Stativ. Al-les, was man von hier aus sieht ist dichtes Schilf. «Was willst du hier fotografieren? Da siehst du nie was.» bemerke ich. «Es braucht nur etwas Geduld!» tadelt sie.«Hier sieht man nie was!» verkündet sie nach zehn Minuten Geduld. «Lass uns ge-hen!» Das ist der feine Unterschied zwi-schen einem Laien und einem echten Pro-fi. Es klart jetzt auf, und die Sonne drückt immer stärker. Die Sumpflandschaft um uns herum beginnt zu dampfen und aus-gehungerte Mücken stürzen sich in Scha-ren auf die willkommene Brotzeit. Nur noch selten raschelt der Wind im Schilf. Kleine Waldstücke wechseln sich ab mit ausgedehnten Moorfeldern. Überall sind Vögel zu hören, über uns kreisen Rauch-schwalben. Dann frischt der Wind wieder etwas auf und wie zum Tanz wiegen sich die hohen Rispen, und ihre Blätter geben den Takt an, leise, wie das Schnarren einer weit entfernten Ratsche.

Hinter einem feuchtwarmen Wäldchen treffen wir auf den Lago Maggiore. Einer Postkarte vom Mittelmeer gleich präsen-tiert er sich uns. Der jetzt stetige Wind sorgt für eine richtige Brandung, die sich über den kleinen, romantischen Sand-strand ergiesst. Möwen kreischen am Him-mel und am anderen Ufer leuchten weisse Häusersilouetten im gleissenden Sonnen-licht. Mittagszeit an der Adria - nur die En-ten und Schwäne passen nicht recht dazu.

Irgendwann türmen sich dann aber im Westen die Regenwolken, und wir ma-chen uns auf den Rückweg. Einen Mo-ment lang scheint die Luft still zu stehen, aber dann giesst es auch schon Bindfä-den und der Wind rüttelt kräftig an den Bäumen. Wir beeilen uns aus dem Wald

zu kommen. Wie aus dem nichts taucht plötzlich eine Schlange vor mir auf und verschwindet eben so has-tig und leise im nahen Ge-büsch. Ich habe sie gesehen! Ich, nicht Fabiola, die Schlan-genbeschwörerin. Sage ihr, wie schade es ist, dass sie sie nicht anschauen konnte, und sie versichert mir, dass es ihr nichts ausmacht, und sie sich für mich freut und es schon in Ordnung wäre, dass sie sich mir und nicht ihr ge-zeigt hat und: Dass ich jetzt die Klappe halten solle, weil sie mich sonst umbringen würde. Als kleine Entschä-digung können wir nach-

her noch eines der kleinen Wildkanin-chen beobachten, die es hier überall zu geben scheint, sogar auf dem Camping-platz. Es handelt sich um eine verwilderte Form des Hauskaninchens welche sich, al-lem Anschein nach, dem Leben in Freiheit wunderbar angepasst hat.Aber die Schlange habe ich gesehen. Sag-te ich das schon? Wir kommen ziemlich nass beim Camping an. Noch schnell was essen und Grappa an der Bar. Erzählen unserem Barmann, dass wir von hier weiter nach Colloro reisen. «Colloro?» fragt er. «Werry Puttyfull! Werry, werry Puttyfull!» Nun gehts aber ab in’s Zelt, zumal unter-dessen ein heftiger Sturm über den See braust.

Zu früh um zu schlafen, zu unwirtlich um raus zu gehen... auch Regentage haben ihre Vorteile!

Exkursion

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Foto: Unser ständiger Begleiter: Buchfink

Foto : Wildkaninchen

Foto: Baumweissling

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Eine in der Nacht gebrochene Zelt-stange erinnert uns, dass es nun

wirklich höchste Zeit ist zusammen zu packen. Wir haben in den letzten Tagen einen Fussweg entdeckt, der direkt vom Cam-ping zum Bahnhof führt. So können wir diesmal die Strasse vermeiden. Zwei Züge sollen in der nächsten Stunde nach Premosselo fahren. Der erste kommt aber nicht. «Wieso? Bö?» Niemand scheint es zu wissen. «Vielleicht wegen dem Giro!?» meint der Mann vom Reinigungs-dienst. Die Tour kommt heute genau hier durch. Da wird schon mal eine Strasse ab-gesperrt, oder ein Bahnübergang. «Das ist Italien!» sagt er. Er weiss aber, dass der nächste Anschluss bestimmt kommt, und erklärt uns auch gleich, nach wie vielen Stationen wir aussteigen müssen. Kaum zu glauben: Der Mann der die Toilet-ten putzt ist die best informierte Person auf diesem Bahnhof, und bei weitem die freundlichste. In Premosello ist das Volksfest schon vor-bei. Hier war die Tour gestern zu Gast. Überall hängen noch die Flaggen und Fähnchen in grün -weiss -rot.Wir merken schnell, dass wir hier bei ande-

ren Leuten sind. Man lächelt uns freund-lich zu, gibt uns bereitwillig Auskunft. Der schon etwas ältere Wirt zeigt sich hilfsbe-reit, als wir nach einer Einkaufsgelegen-heit fragen, und er spricht sogar ein we-nig Englisch! Der sollte in einer Touristen-info arbeiten! Hier ist es keine Schande, einen Rucksack zu tragen. Die Leute lieben die Berge, und sind stolz auf sie. Endlich fühlen wir uns richtig wohl: Bella Italia!Ein schlacksiger, junger Typ mit längeren Haaren und Dreitagebart bietet an, uns nach Colloro hoch zu fahren. (Und das in fliessendem Englisch! Hey, der sollte auf einer Touristeninfo arbeiten!) Wir lehnen dankend ab. Wir Vollidioten! Die ersten Dreiviertel des Aufstiegs be-streiten wir auf dem alten Sentiero. Wäre er noch steiler, bräuchten wir ein Seil. Schon nach der fünften Steinstu-fe schiesst mir das Blut in die Ohren, so dass ich denke, es müsste raus spritzen. Fabiola ergeht es nicht besser: Das einzi-ge Geräusch das ich von ihr höre, ist ein besorgniserregendes Japsen. Später lese ich, dass früher die Frauen von Colloro zweimal täglich auf diesem Weg runter ins Tal stiegen, beladen mit Futter für ihr Vieh, welches da unten in Ställen gehalten wurde. Donnerwetter! Was müssen das für Weiber gewesen sein und: Donnerwetter! Was bin ich für eine weiche Sau!Wir wechseln schliesslich auf die Strasse. Die hat wenigstens Kurven!Als wir Colloro erreichen dünkt es uns, wir würden gleichsam das Herz des Ossola-tals betreten. An solchen Orten lebte sie wohl, die Volksseele. Einfache Leute, der Natur verbunden, ständig um’s überleben kämpfend.Gegen die Launen der Natur, die unerbitt-liche Härte der Bergwelt, die von Nord-westen einfallenden Walliser, die Faschis-ten und die Nazis - allem haben sie die Stirn geboten. Aber dem letzten Feind vermochten sie nicht Paroli zu bieten: Die Moderne fiel unbarmherzig und gnaden-los über die Menschen dieser stillen Ge-gend her und verfolgte sie auch noch bis in die hintersten Winkel. Der Raubtierka-pitalismus macht keine Gefangenen. Was sich nicht fügt ist dem Untergang ge-weiht ! Die Dörfer entvölkern sich, Tradi-tionen gehen verloren, und damit auch

das Wissen um ein einfaches, aber oft zu-friedeneres Leben. Wenn sie auch ein sehr hartes Dasein hatten: Die Leute von Collo-ro wussten, wo sie hin gehörten. Wer kann das heute noch von sich behaupten? Man sieht sie noch: Alte, ein wenig ge-beugte Männer und Frauen. Die Haut wie Leder. Die runzligen Gesichter haben har-te Konturen, aber es fehlen nie die Lach-

Und noch ein Versuch

Fotos: Colloro

Absolut empfehlenswert!

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fältchen. Gleichsam wie in Reservaten sit-zen sie in den Gasstätten von Premossello und sehen dem Verschwinden ihrer Welt zu. Bald werden auch sie verschwunden sein. Das Bed and Breakfast ist noch geschlos-sen, aber wir können unser Gepäck de-ponieren. So starten wir gleich mal einen ersten Ausflug in die Natur. Ein Kastanien-wald bietet Schutz vor der flimmernden Hitze. Ein mächtiger Felssturz ist hier einst ins Tal gedonnert. Wie ein steinerner Fluss ergiessen sich die Felsbrocken über den Steilhang. Sie erinnern daran, dass auch Berge sterben müssen. Nur viel langsamer.Weiter oben treffen wir auf eine blühen-de Frühlingswiese. Der saure Boden lässt die Blumen in intensiven Farben erblü-hen. Die Luft ist erfüllt vom Summen un-zähliger Insekten, und überall flattern Schmetterlinge.Weit unten liegt das Ossolatal, und hoch am Himmel kreisen zwei Adler . . . So hat-ten wir uns das eigentlich vorgestellt.Im Bed and Breakfast werden wir herzlich empfangen. Pia hat einige Zeit in Berlin gelebt und spricht sehr gut Deutsch. Wir bekommen ein heimeliges Zimmer im un-teren Stock mit separatem Eingang. Prüfe erst einmal das Bett. Mit fremden Betten ist das so eine Sache. Wir hatten mal eines, in einem recht kost-spieligen Hotel in Davos, wo sich jede Be-wegung im Nebenzimmer nach einer mittleren Orgie anhören musste.Aber dieses hier ist okay. Auch der Rest vom Zimmer: Ideal! Tischchen zum Schrei-ben, Waschgelegenheit, Platz für’s Gepäck

und schlicht und gemütlich eingerichtet.Später lernen wir Luca kennen, Pias Part-ner. Sie führen dieses Haus gemeinsam. Luca war früher Profifotograf in Mailand. Irgendwann entschied er sich auszustei-gen und hierher zu ziehen. Er ist Wander-führer und war in seiner Jugend, oder ist es noch, ein echter Globetrotter. Er erzählt uns amüsante Anekdoten aus seinem Rei-seleben, und es wird ein vergnüglicherAbend.

Wir fühlen uns sehr wohl. Man vermittelt uns den Eindruck, willkommen zu sein. und wir geniessen es.Hier könnten wir auch unser Gepäck deponieren, wenn wir doch noch eine Durchquerung des Val Grande wagen würden. So sollte Tourismus doch sein: Gegensei-tiger, respektvoller Umgang. Es gibt im-mer viel, was man von einander lernen kann, und man merkt schnell, dass man, wo man auch hingeht, verwandte Seelen trifft.Am nächsten Morgen steigen wir hoch zur «Alpa della Colma». Es ist steil, aber wir sind uns das ja inzwi-

schen gewohnt, haben wir gemeint. Auf halbem Weg sind wir uns bereits einig, dass dies unsere letzte Wanderung sein könnte. Und ich meine nicht die letzte im Val Grande. Die Letzte! Ein alter Mann, mit einem Gesicht das den knorrigen Kastanienbäumen in nichts nachsteht grüsst uns im Entgegenkom-men mit den Worten: «Piano, piano a le Montagne!» Er erinnert damit an ein Sprichwort: «Chi va piano, va sano e lon-tano!» So etwa: «Wer langsam geht, bleibt heil und kommt weit!» Das kommt uns sehr gelegen, weil wir jetzt Einen auf vernünftige Wanderer ma-chen können. Unsere Langsamkeit ist nur die Folge unseres profimässigen Voraus-denkens. Blöd nur, dass unsere Lungen so pfeifen.Weit, weit, weiiiiiiiiiiiiit oben sehen wir eine Steinhütte. «Ob da die ‹Alpa› ist?» fra-ge ich Fabiola, halb hoffnungsvoll, weil man von da aus bestimmt auf die ande-re Seite sieht, halb verzweifelt, weil ich es ganz sicher niemals bis da oben schaffen werde. «Vielleicht.» meint sie gleichmütig. Aber ich weiss, dass sie kurz vor dem Kol-laps steht. Warum, warum müssen wir wandern? Hät-te es Bahn fahren nicht auch getan? Ich meine, was könnte man in Städten nicht alles fotografieren! Aber nein: Es müssen Tiere sein. Und nicht einfach irgend wel-che Tiere: Wildtiere! Nun, mal abgesehen davon, dass man die eigentlich nie sieht sind sie, wie der Name ja schon sagt, wild! Will sagen: Sie sind nicht meine Freunde! Ich meine: Häschen, Rehlein, Füchschen, putzige Mäuse; aber warum Wildschwei-ne und Vipern? Und überhaupt...!Hier brechen die Gedanken ab, da ich jetzt auch noch die letzen Reserven dazu brau-che, einen Fuss vor den anderen zu set-zen. Die Hütte kommt dann doch näher, wobei: Scheint näher zu kommen.

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Ich sehe mein obligate Schlange und Fabiola nur gerade mal den Schwanz

Foto : So riecht der Sommer

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Seltsamerweise bleibt sie nach jeder Kur-ve gleich weit entfernt. Mittlerweile spielt es aber nicht mehr so eine Rolle, denn die fantastische Landschaft schlägt uns in ih-ren Bann. Man läuft zwischen diesen Stei-nen und Felsbrocken und atmet Echtheit. Es dünkt mich, ich würde das erste mal seit langer Zeit auf richtigem Boden lau-fen; nicht auf einem von Menschen tot getretenen Pfad. Der Weg windet sich re-spektvoll durch die Erhabenheit der Land-schaft. Hier gelten die alten Gesetze noch. Die Menschen, die hier lebten, haben die Natur nicht ausgenutzt, sondern sie sich zu Nutzen gemacht. Dies ist ein feiner, aber tragender Unterschied. Es muss nicht

immer schädlich sein, wenn der Mensch in die Natur eingreift. Das Einzige was zählt, ist seine Gesinnung. Jedes Tier, ja jede Pflanze kann ein Stück Umwelt zerstören. Aber in der Regel gleicht sich das immer wieder aus. Nur wo der Mensch, meist aus Gier oder Angst, mutwillige Zerstörung angerichtet hat, kommt das Ganze aus dem Gleichgewicht. Wir bräuchten keine Umweltschutzorganisationen, würden wir einfach nur respektvoll handeln.Oben erwartet uns dann das Highlight unserer bisherigen Reise. Und es wird es auch bleiben: Der Blick ins Innere des «Val Grande!» Als würde man mitten in die Stil-le sehen. Es sind noch wenige andere Leute auf der «Colma». Man grüsst sich, aber sonst wird

nicht viel gesprochen. Es wäre hier auch fehl am Platz, zu beredt ist das Schweigen.Natürlich müssen wir auch wieder runter, geht dann aber eigentlich recht gut. Ich sehe meine obligate Schlange und Fa-biola nur gerade mal den Schwanz. Das tut mir sehr, sehr leid; wirklich!Ich entdecke dann später noch mal eine und ich zeige sie Fabiola. Und weil ich sie gesehen habe, kann sie Fabiola auch an-schauen. Sie fragt dann, ob sie versuchen soll, sie zu fangen, was ich natürlich ver-neine, da dies verboten ist, und ich, Scheis- se nochmals, nicht will, dass sie eine Schlange fängt. Auch wenn das eine Nat-ter ist und nicht giftig: Es ist eine Schlange!

Als wir schliesslich unten ankommen, sind wir schon recht stolz auf uns. Wir haben eine Unmenge Höhenmeter in einer rela-tiv normalen Zeit überwunden und sind nicht tot. Wir vermeinten zwar ab und an zu spüren, wie sich unsere Seelen vom Körper lösten, aber wir haben noch nicht das Licht am Ende des Tunnels gesehen. Und eines war es ganz bestimmt: Beein-druckend und unglaublich faszinierend. Diese Berge sind voller Kraft und von ein-zigartiger Schönheit. Es war gut, hierher zu kommen. Um uns für die erbrachte Leistung gebüh-rend zu belohnen, gönnen wir uns ein

Nachtessen im einzigen Restaurant des Dorfes. Zwei Martinis, eine Schüssel Salat, eine Flasche Mineral, zwei Bier und zwei riesige Pizzas für insgesamt dreiundzwan-zig Euro. Wir vermuten, die Bedienung habe sich verrechnet. «No, no!» meint sie.

Das wäre schon richtig so. Wir denken an unseren ersten Reisetag zurück, wo wir in Zürich einen kurzen Aufenthalt hatten, und diesen für eine Einkehr in einem nahe gelegenen Bistro nutzten.Wir wollen jetzt nicht sagen wo, aber es war nur ein ‹Sprüngli› vom Bahnhof entfernt.Man hätte hier ‹Croissant›, wurden wir be-lehrt, als wir Kaffee und Gipfeli bestellten. Okay? Wir bekamen also zwei Tassen Kaf-fee und zwei ‹Croissant›, die wie Gipfe-li aussahen. Geschmeckt haben sie auch gerade so, und der Kaffee war eben Kaf-fee. Dafür kam uns dann der Preis etwas französisch vor: Satte sechzehn Franken! Merde alors!! Dafür hätten wir hier viele ordinäre Gipfeli kaufen können.

Tags darauf dann das definitive Aus für die Val Grande Durchquerung: Das Wet-ter wird drehen. Gewitter und viel Regen sind für die nächsten Tage angesagt. Jetzt könnte diese Wanderung wirklich gefähr-lich werden (Pericoloso! Danscheruss!!!). Wildwasser können ansteigen und Teile des Fussweges führen direkt durch Bach-beete. Das «echte» Val Grande bleibt uns verschlossen. Ein wenig wie Moses durf-ten wir ins gelobte Land hineinsehen aber es nicht betreten. So machen wir noch eine Fototour. Fabiola sieht eine Schlan-ge, die ich nicht sehe! Besser gesagt, sie kriecht ihr beinahe über die Füsse. Jetzt ist sie endlich zufrieden. Noch einmal die sommerliche Wärme ge-niessen, die geräuschvolle Stille der Berg-welt. Summen, Rascheln, Knacken, Rau-schen, Plätschern und das alles in perfek-ter Harmonie. Wellness auf höchster Ebe-ne und Solarium frei Haus. Aus - Zeit im wahrsten Sinne des Wortes. Morgen brechen wir unser Projekt ‹Val Grande› ab und reisen nach Hause. Aber ein Stück von unserem Herzen wird hierbleiben. Und vielleicht werden wir zurückkommen.

Chi va piano, va sano e lontano

Foto : Aufstieg zur Alpa della Colma

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Was keiner wagt . . .

. . . das sollt ihr wagen. Was keiner sagt, das sagt heraus.Was keiner denkt, das wagt zu denken. Was keiner anfängt, das führt aus.Wenn keiner ja sagt, sollt ihr’s wagen. Wenn keiner nein sagt, sagt doch nein.Wenn alle zweifeln, wagt zu glauben.Wenn alle mittun, steht allein.Wenn alle loben, habt Bedenken. Wo alle spotten, spottet nicht.Wo alle geizen, wagt zu schenken. Wo alles dunkel ist, macht Licht.

Franz von Assisi

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Go-Wild 2/2011 23

Manchen Lesern mag unsere Geschich-te etwas seltsam vorkommen. Wenn man vor hat, ein bestimmtes Gebiet zu berei-sen, könnten sie denken, sollte man sich schon ein wenig besser vorbereiten. Wäre es nicht sinnvoll, schon im Voraus eine ge-eignete Lokalität zu buchen, von wo aus man die geplante Durchquerung starten könnte? Das ist wahr, aber nicht der Sinn unserer Reisen. «Go Wild» heisst ja nicht einfach: «Geh in die Wildnis»! Sondern viel eher: «Geh einfach mal drauf los!» Na-türlich planen wir so weit als nötig. Aber nicht zu weit! Viele Gespräche, Begeg-nungen, Gedanken und Eindrücke wären uns entgangen, hätten wir unsere Reise durchorganisiert. Zugegeben: Im Nach-hinein hätten wir diesmal vielleicht ein wenig besser nachforschen müssen, und die Sache mit den unbekannten Notfall-nummern ist unverzeihlich. Ja! Wir wissen

es! Aber wir hatten eine coole Zeit. Wir ha-ben eine Geschichte erlebt, interessante Menschen getroffen, ein Stück Natur er-fahren und viel gelacht. Fabiola hat ihre Schlangen gesehen und ich wurde nicht gebissen. Und wenn wir auch nicht im Herzen des ‹Val Grande› waren: Den Zau-ber dieses kleinen Stückchens Wildnis ha-ben wir gespürt. Wenn ihr euch Fabiolas Fotos anschaut, könnt ihr ihn auch ein wenig erahnen.

Es hat etwas gedauert, bis dieses Heft druckreif war, und das hat seinen Grund: Wir haben in der Zwischenzeit den Wohn-sitz gewechselt. Dabei ging es darum günstiger zu leben, weil wir uns im nächs-ten Jahr intensiver um das Reisen küm-mern wollen. Und auch sonst geht es zur Zeit etwas turbulent zu und her. Es wird einige Veränderungen für uns geben und wir sind auch schon ziemlich aufge-regt. Wir haben vor Nordwärts zu ziehen, bis oben nach Grönland. Oder man könn-te weniger pathetisch ausgedrückt sa-gen: Fabiola will nach Grönland und ich muss mit. Wir sind noch nicht sicher, wie es mit unseren Heften weiter geht. Aber auf jeden Fall soll es ein Buch geben und wir hoffen auf viele Tier- und Naturfotos. Wie auch immer werden wir Wege finden, euch auf die eine oder andere Art über un-sere Aktivitäten zu informieren, damit ihr uns weiter auf unseren Entdeckungsrei-sen begleiten könnt. Bis dahin ein herzliches «Go - Wild!»

Fabiola Hope und Ger Falke

Résumé

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go- wild Fotos: Fabiola Hope Konzept: Igeeli

Text & Karikaturen: Ger Falke Druck: swissdigiprint

Kontakt: [email protected]