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HEGEL-STUDIEN In Verbindung mit der Hegel-Kommission der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften herausgegeben von FRIEDHELM NICOLIN und OTTO PÖGGELER Band 31 FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

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HEGEL-STUDIEN

In Verbindung mit der Hegel-Kommission der Rheinisch-Westfälischen

Akademie der Wissenschaften

herausgegeben von

FRIEDHELM NICOLIN und OTTO PÖGGELER

Band 31

FELIX MEINER VERLAG

HAMBURG

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Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar.

ISBN 978-3-7873-1495-9 ISBN eBook: 978-3-7873-2953-3 ISSN 0073-1578

© Felix Meiner Verlag GmbH, Hamburg 2016. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikro-verfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Gesamtherstellung: BoD, Norderstedt. Gedruckt auf alterungsbeständigem Werkdruckpapier, hergestellt aus 100 % chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany. www.meiner.de/hegel-studien

Inhaltlich unveränderter Print-On-Demand-Nachdruck der Originalausgabe von 1996, erschienen im Verlag Bouvier, Bonn.

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INHALT

ABHANDLUNGEN

OTTO PöGGELER (Bochum) Hegels Ästhetik und die Konzeption der Berliner Gemälde- galerie 9

ANDREAS GROSSMANN (Bochum) Weltgeschichtliche Betrachtungen in systematischer Absicht. Zur Gestalt von Hegels Berliner Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte 27

HEINZ EIDAM (Kassel) Die vergessene Zukunft. Anmerkungen zur Hegel-Rezeption in Cieszkowskis „Prolegomena zur Historiosophie" (1838) 63

Lu DE VOS (Löwen) Hegels Enzyklopädie 1827 und 1830: Die Offenheit des Systems? 99

BURKHARD LIEBSCH (Ulm) Probleme einer genealogischen Kritik der Erinnerung. Anmerkungen zu Hegel, Nietzsche und Foucault 113

LITERATURBERICHTE UND KRITIK

G. W. F. Hegel: El „Fragmento de Tubinga" (MARIANO ALVAREZ-

GOMEZ, Salamanca) 141

Myriam Bienenstock: Politique du jeune Hegel (ELISABETH WEISSER-

LOHMANN, Hagen) 143

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Bruno Coppieters: Kritik der reinen Empirie (FRANZ HESPE, Bergen) 148

Transzendentalphilosophie und Spekulation. Hrsg. v. W. Jaeschke (MIHäLY SZIVöS, Budapest) 151

Terry Pinkard: Hegel's Phenomenology: The Sociality of Reason (MARCOS BISTICAS-COCOVES, New York) 153

Andreas Luckner: Genealogie der Zeit (STEPHAN BAEKERS, Den Haag) 155

Reinhold im Lichte Kants und Hegels - Gerhard W. Fuchs: Karl Leonhard Reinhold; Pier Luigi Valenza: Reinhold e Hegel (MARTIN BONDELI, Bern) 159

Gabriella Baptist: II Problema della Modalitä nelle Logiche di Hegel (WILHELM METZ, Freiburg) 166

Petra Braitling: Hegels Subjektivitätsbegriff (FRIEDRICH HOGEMANN,

Bochum) 168

Angelica Nuzzo: Logica e Sistema sullTdea Hegeliana di Filosofia (WILHELM METZ, Freiburg) 172

Karen Gloy und Rainer Lambrecht (Hrsg.): Bibliographie zu Hegels „Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse" (HANS-CHRISTIAN LUCAS, Bochum) 173

Barbara Markiewicz: Lebende Bilder (JAN GAREWICZ, Warschau) 175

Angela Requate: Pragmatischer versus absoluter Idealismus (BRUNO COPPIETERS, Brüssel) 175

Hegel and Newtonianism. Ed. by Michael John Petry (WOLFGANG

BONSIEPEN, Bochum) 176

Louk Eduard Fleischhacker: Beyond Structure. The Power and Limitations of Mathematical Thougt in Common Sense, Science and Philosophy (ACHIM ILCHMANN, Lübeck) 186

Giovanna Pinna: L'ironia metafisica (PAOLO D'ANGELO, Messina) 189

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Eduard Gans: Chroniques franchises. Ed. par N. Waszek; E. Gans: Rückblicke auf Personen und Zustände (Lu DE Vos, Löwen) 191

Hans-Jürgen Gawoll: Nihilismus und Metaphysik (HANS-CHRISTIAN

LUCAS, Bochum) 193

B. Bianco, M. Longo, G. Micheli, G. Santinello e L. Steindler: L'etä hegeliana (PAOLO GIUSPOLI, Bochum/Perugia) 195

Stefan Koslowski: Idealismus als Fundamentaltheismus (TOBIAS

TRAPPE, Bochum) 199

Knut Wolfgang Nörr: Eher Hegel als Kant (R. CHENNOUFI, Tunis) 202

Idealismus mit Folgen. Die Epochenschwelle um 1800 in Kunst und Geisteswissenschaften. Festschrift zum 65. Geburtstag von Otto Pöggeler (CLEMENS MENZE, Köln) 203

Kommt das „Hegel-Jahrbuch" zu produktiver Ruhe? (HANS-CHRISTIAN

LUCAS, Bochum) 208

Jahrbuch für Hegelforschung. Hrsg, von Helmut Schneider (KATHARINA COMOTH, Köln) 213

Phänomenologie im Schatten Hegels - Walter Biemel: Gesammelte Schriften (OTTO PöGGELER, Bochum) 214

BIBLIOGRAPHIE

Abhandlungen zur Hegel-Forschung 1994 Zusammenstellung und Redaktion: ANNETTE SELL, Bochum 223

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OTTO PÖGGELER (BOCHUM)

HEGELS ÄSTHETIK UND DIE KONZEPTION DER BERLINER GEMÄLDEGALERIE

Als HEINRICH GUSTAV HOTHO 1835-38 Hegels Vorlesungen über die Ästhetik herausgab, hat er an einer Stelle Hegels Ausführungen auf den Vorlesungs- tag genau datiert. Danach sagte Hegel am 17. Februar 1829 über die Gemäl- degalerien: „Das zweckmäßigste für das Studium und den sinnvollen Ge- nuß wird deshalb eine historische Aufstellung sein. Solch eine Sammlung, geschichtlich geordnet, einzig und unschätzbar in ihrer Art, werden wir bald in der Bildergalerie des hier errichteten königlichen Museums zu be- wundern Gelegenheit haben, in welcher nicht nur die äußerliche Ge- schichte in der Fortbildung des Technischen, sondern der wesentliche Fort- gang der inneren Geschichte in ihrem Unterschiede der Schulen, der Ge- genstände und deren Auffassung und Behandlungsweise deutlich erkenn- bar sein wird."1 HOTHO machte so deutlich, daß Hegel vor der Eröffnung des Berliner Museums im August 1830 die Konzeption der Gemäldegalerie genau kannte. In der Tat sind die Zeugnisse darüber zahllos, daß Hegel sich sofort nach seiner Ankunft in Berlin die dortigen Kunstschätze ansah, daß er überdies mit jenen verkehrte, welche für die Anlage der Gemäldega- lerie bestimmend wurden - so mit CARL FRIEDRICH VON RUMOHR und GUSTAV

FRIEDRICH WAAGEN. Wenn Hegel von seiner Wohnung am Kupfergraben zur Universität ging, hatte er links neben sich auf der Spreeinsel den Neubau des Museums im Blick; trotzdem haben die Berliner es bis heute nicht für nötig gehalten, in der Trümmerstätte gegenüber dem Eingang zum Perga- monmuseum auf Hegels einstiges Haus am Kupfergraben hinzuweisen. Rechts sah Hegel das alte Zeughaus, und nach einer Wendung lagen Uni- versität, Akademie und Oper vor ihm. Wie die anderen europäischen Hauptstädte mußte nun auch die Hauptstadt Preußens, des neuen Mit-

1 Vgl. G. W. F. Hegel's Vorlesungen über die Ästhetik. Hrsg, von H. G. Hotho. Berlin 1835-38. 3. Band. 102. - Zum folgenden vgl. Kunsterfahrung und Kulturpolitik im Berlin Hegels. Hrsg, von O. Pöggeler und A. Gethmann-Siefert. Bonn 1983. - Der hier mitgeteilte Beitrag entstand inner- halb einer Kolloquiumsreihe der Fem-Universität Hagen, veranstaltet von A. Gethmann-Sie- fert.

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glieds der europäischen Pentarchie, sein Museum zu Kirche, Schloß und den älteren Bildungseinrichtungen stellen.

Hegel hatte sich in seiner Jugend dem neuen Bild Griechenlands zuge- wandt, das maßgeblich durch WINCKELMANNS Liebe zu den plastischen Ge- stalten entworfen worden war. Doch konnte HOTHO am Anfang des Ästhe- tik-Abschnittes Die Malerei Hegels Äußerung mitteilen, daß uns die Skulp- turwerke der Alten zum Teil kaltlassen; „einheimischer" werde uns so- gleich bei der Malerei. In der Malerei trat nun aber nicht nur RAFFAEL neben die griechischen Bildhauer; vielmehr konnte das Berliner Museum den Flügeln des Center Altars in der Gemäldegalerie einen zentralen Platz ge- ben. Hegel verglich diesen Altar mit dem Zeus von Olympia. Der Altar der Brüder VAN EYCK ist ein Allerheiligen- und Dreifaltigkeitsbild; Gott er- scheint nunmehr nicht als Herrschergestalt im Verein mit anderen Gestal- ten, sondern als ein Wir, das in der Gemeinde der Menschen, dem Reiche Gottes, wirkt. Hegel machte auf der Rückreise von Paris 1827 von Brüssel aus einen Abstecher nach Gent, um den dort verbliebenen Mittelteil dieses Altars zu sehen. Im Winter 1828/29 besuchte er noch während seiner Äs- thetik-Vorlesung, am 11. März 1829, die Aufführung von BACHS Matthäus- Passion, die sein Hörer FELIX MENDELSSOHN veranstaltete. Wie auf dem Mit- telstück des Center Altars, so steht auch in dieser Passionsmusik das „Lamm" Gottes im Mittelpunkt: JESUS löst mit seinem Selbstopfer das Opfer unschuldiger Tiere ab und kann so als Christus die neue, die christliche Ge- schichte beginnen. Malerei und Musik bezeugen diesen Neubeginn und treten als „romantische" Künste zusammen.2

Der Center Altar war als ganzer damals nur noch da in der kunsthistori- schen Rekonstruktion. Der Museumsdirektor WAAGEN hatte in einem ju- gendlichen Werk diese Rekonstruktion versucht; HOTHO, der dann sein Nachfolger werden sollte, trat später mit einem Album hervor, welches mittels der neuen fotografischen Möglichkeiten den Altar als ganzen vor Augen stellte. Hegel selbst mußte sich die Teile für die Anschauung noch in Gent und in Berlin zusammenholen. (Längst sind diese Teile wieder zu- sammengeführt worden, doch steht in der Kapelle des Stifterpaares in Gent nunmehr nur eine große, fotografieähnliche Reproduktion wie ein verblas- sendes Gespenst; um die Massenbesichtigung zu ermöglichen, steht der

2 Vgl. Vorlesungen über die Ästhetik. 3. Band. 38 f, 118. Zur Aufführung der Matthäus-Passion vgl. auch Hegel in Berichten seiner Zeitgenossen. Hrsg, von Günther Nicolin. Hamburg 1970. 392 ff. - Zum folgenden vgl. Gustav Friedrich Waagen: Über Hubert und Johann van Eyck. Breslau 1822. Hotho publizierte sein Eyck-Album 1861 nach den ersten Büchern über die altniederlän- dische Malerschule.

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Altar selbst in einer großen Kapelle am Turm von St. Bavo, und die Kunst hat endgültig über die Religion gesiegt.) In jedem Fall waren die alten Wer- ke als ganze oder eher in einzelnen Tafeln damals schon Gegenstand kunst- historischen und musealen Interesses geworden. In paralleler Weise wurde die Matthäus-Passion außerhalb des liturgischen Zusammenhangs kon- zertmäßig, nämlich in der Singakademie, aufgeführt. Die Frage stellt sich, welche Bedeutung die Berliner Gemäldegalerie überhaupt für Flegels Be- handlung der Malerei in seinen Vorlesungen über die Ästhetik hatte. Ehe wir uns dieser Frage zuwenden, soll jedoch vorweg gefragt werden, wie He- gels Philosophie der Kunst als Ästhetik sich in die Begründung einer Kunstwissenschaft einordnet.

I. Hegel und die Begründung der Kunstwissenschaft

Kunst im heutigen Sinn gibt es seit etwa 35 000 Jahren: der Mensch, der den Neandertaler ablöste, malte Bilder in Höhlen, verehrte Idole, hörte Stimmen in Schwirrhölzem, tanzte in Masken. Dieser Mensch könnte wohl auch noch durch die Straßen von New York gehen, ohne weiter aufzufal- len. Freilich ist die Höhle von Altamira kein Museum: die Bilder sind schlecht plaziert; sie sind etwa an der Decke über dem Kopf unbequem zu besichtigen, oft übereinandergemalt, so daß sie sich gegenseitig zerstören; die Höhle ist nicht nur finster, sondern an einer Stelle zu niedrig für einen stehenden Menschen. Worum ging es bei den Tierdarstellungen: um Jagd- zauber, um eine Bitte um Vergebung für die Verfolgung des Lebendigen? Sollte die Lebenskraft geehrt werden, die im Lebendigen in einer Eiszeit unter ungeheuren Verlusten doch überdauert? Als die Menschen im Neoli- thikum seßhaft wurden, verwandelte sich auch das, was wir Kunst nennen; noch GOETHE wollte sich nur von den dreitausend Jahren Rechenschaft ge- ben, die seit HOMER und dem Aufstieg der Hochkultur abgelaufen sind. Eine Kunstwissenschaft in unserem Sinn, der Komplex von Kunstge- schichte, Museum und Denkmalspflege, besteht seit etwa zweihundert Jahren. Er ist in wenigen Generationen überraschend schnell zu seiner heu- tigen Kompliziertheit aufgebaut worden. Natürlich hat er seine Vorläufer gehabt - im Hellenismus sowohl wie etwa im Barockzeitalter.

ERNST H. GOMBRICH hat 1977 beim Empfang des Hegel-Preises in Stutt- gart Hegel als den Vater der Kunstgeschichte vorgestellt. Nicht schon WIN- CKELMANNS Kunstgeschichte des Altertums, sondern erst Hegels Vorlesungen über die Ästhetik seien die Gründungsurkunde der neuen Kunstwissen- schaft. Diese Vorlesungen berücksichtigen wenigstens dem Ansatz nach in

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einer Weltgeschichte der Kunst alle Künste. Wer an Hegel anknüpft, braucht freilich nicht die Spekulationen und Voraussetzungen zu überneh- men, mit denen Hegel arbeitete.3 Was bei GOMBRICH Apercu bleibt, ist in der dreibändigen Dokumentation Kunsterfahrung und Kunstwissenschaft von HEINRICH LüTZELER in historischer und sachlicher Differenzierung breit aus- geführt worden. Es wird deutlich, daß Hegel und Hegelianer wie SCHNAASE

und HOTHO in der Tat, aber vorzeitig und deshalb unzulänglich eine Welt- geschichte der Kunst oder doch eine Geschichte der christlichen Malerei gewagt haben. Nachfolgende Generationen (etwa ANTON SPRINGER) haben dem Hegelianismus abgeschworen, doch lenkten z. B. die ikonographi- schen Interessen wieder zu Hegel zurück. Geisteswissenschaftler wie WIL-

HELM DILTHEY sahen sich noch nicht veranlaßt, auch ein Produkt der akade- mischen Tretmühle wie Hegels Ästhetik neu aufzuarbeiten. Heute aber gilt dieses Werk trotz seiner zeitgeschichtlich bedingten Verengungen und sei- ner rigorosen Systematisierungen als Ansatzpunkt für eine Besinnung auf die Kunst.

Nach Hegels Darlegung schließt sich die eine Kunst zu fünf repräsentati- ven Künsten auf. Diese Künste treten weltgeschichtlich von einer bestimm- ten Aufgabe her jeweils an ihrer Stelle als leitende Künste hervor. Entschei- dend für die Kunst ist es, den Altar, die heilige Mitte des Landes, auszuge- stalten. Das tut im Orient die Architektur mit Tempeltürmen und Pyrami- den, in Griechenland die Plastik im Inneren des Tempels, in der christli- chen oder „romantischen" Epoche die Malerei mit den Altartafeln und die Musik mit Passionen oder Oratorien und mit Opern im weltlichen Bereich. So konnte der Mythos, der von den Dichtem weitergebildet wurde, auch die Tempel und Statuen prägen; in Spätzeiten konnte die Satire sich gegen ihre Zeit wenden und Dichtung überhaupt zur Prosa übergehen. Wenn He- gel (wie sein Antipode SCHOPENHAUER) die Architektur als Gestaltung des Anorganischen faßt, dann macht LüTZELER ihm den Vorwurf, er wolle durch einen Weg nach innen von dieser untersten Kunst „idealistisch" auf- steigen zu höheren Künsten. Doch folgt Hegel hier dem Klassizismus, der die Architektur bei SCHINKEL oder noch bei SEMPER von der Gestaltung der Körperform her sieht. Demgegenüber ist es in der Tat angemessener, in der Architektur die Gestaltung des menschlichen Lebensraumes überhaupt zu

3 Vgl. Emst H. Gombrich: Hegel und die Kunstgeschichte. Stuttgart und Zürich 1977; zum folgen- den Heinrich Lützeler: Kunsterfahrung und Kunstwissenschaft. Freiburg/München 1975. Vgl. dazu auch Otto Pöggeler: Die Frage nach der Kunst. Freiburg/München 1984.170 ff. Zur Aktualität von Hegels Ästhetik vgl. Annemarie Gethmann-Siefert: Die Funktion der Kunst in der Geschichte. Bonn 1984.

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finden; bei diesem anderen Ansatz werden die „idealistischen" Vorausset- zungen Hegels aber zu etwas Sekundärem, auf das es nicht entscheidend ankommt.4 Wenn Hegel dem Vorderasiatischen das Indische zur Seite stellt, dann findet LüTZELER nur Blindheit etwa gegenüber den erotischen Motiven der bildenden Kunst Indiens. Doch Hegel sah noch gar nicht auf die bildende Kunst der Inder; er ging von der indischen Epik aus und führte darüber eine Kontroverse mit WILHELM VON HUMBOLDT. Hegels Ästhe- tik erscheint in LüTZELERS Dokumentation überhaupt als eine heteronome, weil sie die Kunst mit der Religion verflicht und schließlich philosophisch- spekulativ alle Motive, die zur Kunst führen, angeben zu können glaubt. Deshalb muß Hegel von einem Ende der Kunst sprechen, an dem alle we- sentlichen Motive oder bewegenden Kräfte herausgesungen und heraus- gestaltet seien. So stellt LüTZELER dieser Hybris eine Kunstphilosophie ent- gegen, die (bei WILHELM PERPEET) sich ohne Systemzwang am Phänomen orientiert, aber im Griechischen, Indischen und Chinesischen Traditionen mit unterschiedlichen Akzentsetzungen vorfindet und damit das Mensch- liche in geschichtliche Besonderungen einfügt.5

Hegel kann die Philosophie der Kunst Ästhetik nennen, weil er Kunst und Schönheit verbindet und damit Tendenzen aufnimmt, die in der Re- naissance begannen. Die Kunst wird auf das Schöne verpflichtet, dem Schönen aber das Erhabene und auch noch das Interessante oder gar das Häßliche zugerechnet. Das Schöne in der Natur wird zum bloßen Abglanz des Schönen, das vom Menschen im Werk eigens hervorgebracht wird. Eine Geschichte des Schönen führt zu unterschiedlichen Kunstformen und verortet somit vorweg jedes einzelne Kunstwerk. Kann diese Ästhetik aber noch einen Museumsdirektor leiten, der nicht gerade zu jenen zählt, wel- che in vorschnellen Aktualisierungen ihr Museum weltanschaulichen oder politisierenden Bestrebungen ausliefem? Wer auf der Autonomie der Kunst besteht, will Werke für das Museum rein nach der ästhetischen Qua- lität ankaufen und unabhängig bleiben von den wechselnden Strömungen der Geschichte und den Tendenzen des Tages. Ist es nicht eher der Geist KANTS (und SCHOPENHAUERS), der einen Museumsdirektor leiten kann? KANT suchte mit seiner Lehre vom Geschmack der Zuwendung zum Schö- nen in Natur und Kunst jene Autonomie zu geben, welche z. B. für die Ma-

4 Vgl. Heinrich Lützeler: Kunsterfahrung und Kunstwissenschaft. 807 ff. Vgl. zur Wesensbestim- mung der Architektur Dagobert Frey: Kunstwissenschaftliche Grundfragen. Baden bei Wien 1946 und Darmstadt 1972.93 ff.

5 Vgl. Heinrich Lützeler: Kunsterfahrung und Kunstwissenschaft. 1475 ff, 1500 ff. Vgl. auch Cle- mens Menze: Das indische Altertum in der Sicht Wilhelm von Humboldts und Hegels. In: Welt und Wir- kung von Hegels Ästhetik. Hrsg, von A. Gethmann-Siefert und O. Pöggeler. Bonn 1986,245 ff.

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thematik schon zweitausend Jahre früher erreicht worden war. KONRAD

FIEDLER, der Mäzen HANS VON MAREES und Freund ADOLF VON HILDEBRANDS,

hat diese Autonomie des Geschmacks neu begründet. Er sprach der An- schauung eine eigene Logik zu; diese Logik werde von der Kunst heraus- gearbeitet, wenn sie reine Formen suche. Anschauung und Kunst treten als etwas Eigenständiges der begrifflichen Arbeit des Verstandes gegenüber. Die Probleme einer dritten Kritik der Urteilskraft entfallen.6 FIEDLERS Dog- matismen (etwa die Zurückweisung der Gotik als einer bloßen Verirrung), aber auch noch die Illusionen über ein ABC des Sehens bei WöLFFLIN ma- chen deutlich, daß die autonome Ausrichtung auf die Formen geschicht- lich bedingt und eingeschränkt bleibt. So behält Hegels Ansatz, durch an- dere Akzentsetzungen korrigiert, schließlich doch sein Recht.

Die Notwendigkeit, Hegels Ästhetik vom Anschein einer heteronomen Kunstphilosophie zu befreien und mit den KANiischen Tendenzen zum Ausgleich zu bringen, zeigt sich der Sache nach immer wieder in der kon- kreten kunsthistorischen Arbeit. Repräsentativ kann z. B. eine Auseinan- dersetzung sein, die 1962 auf dem neunten Deutschen Kunsthistorikertag geführt wurde. Dort sprach GüNTER BANDMANN über „Das Kunstwerk als Gegenstand der Universalgeschichte", KURT BAUCH über „Kunst als Form".7 BANDMANN machte darauf aufmerksam, daß das reine Formense- hen eine Abstraktionsleistung des Kunstwissenschaftlers ist, die ihre Ana- logie in der Peinture pure und der gegenstandslosen Malerei habe, damit wesentlich „modern" sei. Wahrhaft verstanden werden könne ein Kunst- werk nur von den aufgespeicherten geschichtlichen Leistungen her, die in es eingegangen seien. ANTON VAN DYCKS Bildnis einer Genueserin aus der National Gallery in Washington setze voraus, daß die Jungsteinzeit das achsenbezogene Stehen, die altorientalische Hochkultur den repräsentati- ven Auftritt, die sekundäre Hochkultur das autonome, bewegliche Bild, die Antike und dann wieder die Renaissance die Säulenfront als Hoheits- form, Holland oder Flandern eine bestimmte Technik der Ölmalerei, einen Farbenkanon, das Motiv der Untersicht gefunden hatten. KURT BAUCH be- tonte demgegenüber, diese Ausrichtung auf geschichtliche Leistungen und deren Sinn stehe in der Gefahr, das Kunstwerk einem Zusammenhang zu unterwerfen, der ihm fremd bleibe und unabhängig von ihm gefertigt sei.

6 Vgl. Konrad Fiedler: Schriften zur Kunst. Eingeleitet von Gottfried Boehm. 2. Auflage Mün- chen 1991. Band 1.111 ff; zum folgenden Band 2. 294. Zur Diskussion des Ansatzes von Fiedler und Wölfflin vgl. Heinrich Lützeier: Kunsterfahrung und Kunstwissenschaft. 1022 ff.

7 Vgl. den Wiederabdruck der Vorträge bei Heinrich Lützeier: Kunsterfahrung und Kunstwissen- schaft. 1118 ff.

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Einer romanischen Basilika und einer gotischen Kathedrale könnte dersel- be symbolische Sinn zugesprochen werden; ob es sich bei einem Werk wirklich um große Kunst handle oder um einen Gebrauchsgegenstand für den Kult, ein Produkt bloß des guten Willens entscheide allein die Form. Die Form wird aber direkt das „Unerklärbare" genannt. Gehört sie dann nicht doch wieder in eine offene Geschichte, die auch Alternativen zuläßt?

Hegel kann weiterhin als Vater der Kunstgeschichte gelten. Doch muß man sehen, daß eine neue Generation der Söhne an ihm und seiner Schule ihren Vatermord verüben mußte, damit die Enkel zu Hegel zurückkehren konnten. So ist offenkundig geworden, daß Hegels Philosophie der Kunst logisch wie historisch ihre Lücken und Mängel hat. Hegels Logik sollte dem ursprünglichen Ansatz nach mit einer Lehre von den „Ideen" schlie- ßen. In Nürnberger Entwürfen stellte Hegel auch die Idee des Schönen zur Idee des Lebens. Doch die publizierte Wissenschaft der Logik bringt breite Ausführungen zu den Ideen des Lebens und des Erkennens, verkürzt die Erörterungen der Idee des Guten auf wenige Passagen, die Differenzierung der absoluten Idee auf wenige Sätze. Durch die teleologische Struktur wird die Idee des Guten nahe an die Idee des Lebens gerückt, und so muß die Geschichte, in deren wechselnden Situationen das Gute verwirklicht wer- den muß, als eine abgeschlossene erscheinen.8 In den großen geistesge- schichtlichen Vorlesungen folgte Hegel - in Konkurrenz mit SAVIGNY und SCHLEIERMACHER, zuletzt auch schon mit RANKE und GRIMM - den Erfahrun- gen. Offenbar vermochte der angebliche Systematiker diese Erfahrungen aber nicht kongruent zu systematisieren. In seiner Rechts- und Staatsphilo- sophie entfaltete er mit der abstrakten Rechtsförmigkeit und der Handlung der Moralität die Elemente der Sittlichkeit, um dann den exemplarischen Institutionen Familie, bürgerliche Gesellschaft und Staat vom äußeren Staatsrecht aus die Weltgeschichte anzuhängen. Die Ästhetik stellte zur Idee des Schönen die symbolische, klassische und romantische Kunstform als Geschichte, um dann zu den einzelnen Künsten überzugehen. Die Reli- gionsphilosophie ließ nach der Entfaltung des Begriffs der religiösen Erhe- bung die Reihe der bestimmten Religionen in einer offenbaren und absolu- ten Religion (der vernünftig interpretierten christlichen Religion) münden. Auch in den einzelnen Vorlesungsreihen (etwa in den Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte, die sich erst 1822/23 von der Rechts- philosophie lösten) experimentierte Hegel in unterschiedlichen Weisen.

8 Vgl. meine Kritik in: Hegel und die antike Dialektik. Hrsg, von M. Riedel. Frankfurt a. M. 1990. 59 ff. - Zum folgenden vgl. den Überblick über die 130 bekanntgewordenen und 90 erhal- tenen Nachschriften zu Hegels Vorlesungen im Band 26 der Hegel-Studien. Bonn 1992.

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Hegels Ästhetik behandelt die alteuropäische Malerei (die dann von sei- nem Schüler und Herausgeber HOTHO als christliche Malerei angesprochen wurde). Doch versieht Hegel seine Darstellung mit einem systematischen und weltgeschichtlichen Siegel: mochte es andere Traditionen der Malerei geben, so hatte doch nur diese Malerei herausgearbeitet, was die Malerei überhaupt dem Menschen als eine seiner eigentümlichen Errungenschaf- ten geben kann. Wenn heute ALEXANDER BELTING in seinem Buch Bild und Kult von 1990 eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst gibt, zeigt auch er, daß der christliche Glaube etwa seit 600 sich wie eine antike Religion ausgestaltete, aber vorzüglich mit Hilfe des gemalten Bildes. Der Übergang zur Kunst und damit die Selbstauflösung dieser Ausgestaltung der Religion erscheint als eine weitere Geschichte. Selbstverständlich ist dabei die alteuropäische Malerei als eine partiale Tradition gefaßt, die nicht das Siegel des weltgeschichtlich und systematisch Ausgezeichneten be- kommen kann. Von der Höhlenmalerei konnte Hegel nicht wissen; wohl hätte er fragen können, was mit CASPAR DAVID FRIEDRICH an Neuem herauf- kam, ob Ostasien nicht das Schreiben und Malen in einen anderen Kontext der Künste stellte, mit der Auszeichnung der Gartenkunst überhaupt vom europäischen System der Künste abwich.9 Wenn es auch nicht gelang, die Sammlung der Brüder BOISSER£E nach Berlin zu ziehen, so nahm Hegel das Berliner Museum mit seinen oberen Räumen als eine endgültige Darstel- lung der Geschichte der Malerei: neben den Italienern standen nun die al- ten Niederländer und die Deutschen als eine andere Linie des Malens. Was Hegel in seinen Vorlesungen behandelte, konnte man in exemplarischer Auswahl im Museum begehen und sehen.

II. Die Berliner Gemäldegalerie

Als Student wurde Hegel durch WINCKELMANN, HERDER und SCHILLER, aber auch schon durch den Freund HöLDERLIN eingenommen für das neue Vor- bild Griechenland. So konnte er in den „älteren Bildern", die er auch in sei- ner Heimat vorfand, nur „grinsende Karikaturen" finden. GEORG FORSTERS

Ansichten berichteten dem Hofmeister dann über den Kölner Dom, die Düsseldorfer Gemäldegalerie und die Londoner Shakespearegalerie.10

9 Martin Heidegger hat von Klee und der ostasiatischen Kunst her den Bildgedanken infrage gestellt; vgl. Otto Pöggeler: „Über die moderne Kunst". Heidegger und Klee's Jenaer Rede von 1924. Erlangen und Jena 1995.

10 Hierzu und zum folgenden vgl. im einzelnen Kunsterfahrung und Kulturpolitik im Berlin He- gels (s. Anm. 1), 361 ff.

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Hegels Ästhetik und die Konzeption der Berliner Gemäldegalerie 17

Hatte Hegel nicht die alten Bilder vor Augen, als er in seinen Frankfurter Aufzeichnungen von der schönen Büßerin Maria Magdalena sprach? Bei genauerem Zusehen zeigt sich freilich, daß Hegel allein vom neutestament- liehen Text ausgeht; deshalb weist er darauf hin, daß das Neue Testament nur dort vom Schönen spricht, wo es die schöne Handlung der Salbung Christi nennt. Erst Jahrzehnte später wird Hegel z. B. CORREGGIOS Darstel- lung der Maria Magdalena hervorheben. Wenn Hegel eine schöne Religion sucht, die nicht apolitisch bleibt, dann hat er die griechischen Götterstatuen im Blick, durch deren Gestaltung unter den Namen des Apoll und der Ve- nus das „Gefühl ewiger Jugendkraft und der Liebe" in die Herzen der Schauenden und Betenden einkehrt. Das sog. älteste Systemfragment, also die große Arbeit über Philosophie und Religion von 1800, läßt den Tempel die heilige Mitte des Landes ausgrenzen; in ihm kann die feierliche Prozes- sion zu Statuen hinfinden und in Hymnen zu den göttlichen Mächten auf- singen. Es ist deutlich, daß dieser Blick auf Kunst und Religion der Orien- tierung HöLDERLINS am Griechischen entsprach, aber ortlos in der eigenen, der modernen Zeit bleiben mußte.

Hegel wird das Athenäum gelesen haben, ehe er nach Jena ging. Hat er dann nicht auch, etwa mit AUGUST WILHELM SCHLEGEL, sich von der Kunst her an der „katholischen" Religiosität ausgerichtet? Jedenfalls verteidigt er wie SCHELLING die Katholizität der Religion, die bei den Griechen in der Mythologie lag, bei den neueren europäischen Völkern in der Ausgestal- tung der Religion etwa mittels der Malerei. Hegel geht aber offenbar von der Epik der ARIOSI, TASSO und von CERVANTES aus, wenn er die mittelalterli- chen Ritter und Märtyrer in den Blick nimmt.11 In Bamberg ließ er sich je- doch von Jena aus eine Mappe mit „Kupferstichen und Zeichnungen" nachsenden; die Geistesphilosophie baute auch die Malerei konkret in das System der Künste ein. Einen überwältigenden Eindruck von der Malerei bekam Hegel, als er in Heidelberg vor den Gemälden der Sammlung der Brüder BOISSEREE stand und zugleich die Aufführung alter Musik durch THIBAUT hören konnte. JOHANN VAN EYCK erscheint als Gründerfigur, doch wird ihm auch noch der Dreikönigsaltar des ROGIER VAN DER WEYDEN zuge- schrieben. In Berlin traf Hegel auf die Bemühung, mit Städten wie Paris gleichzuziehen und ein neues Museum aufzubauen. Gleich 1820 und 1821 fuhr Hegel in den Ferien nach Dresden (wohin er von Jena aus nicht ge- kommen war). Er sah die Antiken nach damaligem Brauch im Fackel- schein, und so konnte er sie durchaus neben die Heilige Nacht jenes CORREG-

11 Zum einzelnen vgl. Otto Pöggeler: Hegel und die Jenenser Romantik. In: Evolution des Geistes: Jena um 1800. Hrsg, von F. Strack. Stuttgart 1994.545 ff.

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GIO stellen, der bei Hegel in hoher Geltung geblieben war. Auch die Hollän- der machten offenbar einen starken Eindruck. Die Gedenkausstellung für den ermordeten GERHARD VON KüGELGEN zeigte Bilder, die für Hegel ein blasser Nachglanz der alteuropäischen Malerei blieben. Nicht anders konnte Hegel urteilen, als er später die Berliner Ausstellungen der Düssel- dorfer Schule sah.12

Zwischen den beiden Besuchen in Dresden hielt Hegel im Winter 1820/ 21 seine erste Berliner Vorlesung über Ästhetik. Er hatte schon in Heidel- berg für den Sommer 1817 eine Ästhetik-Vorlesung als dritte Vorlesung an- gekündigt, aber nicht gehalten. Im Sommer 1818 hielt er die Ästhetik-Vorle- sung wirklich, doch blieb sie wohl eher vorläufig. (Hegel scheint damals in der menschlichen Gestalt das entscheidende „Symbol" gefunden zu haben, also die Rede vom Symbolischen noch nicht der vorgriechischen Kunst Vorbehalten zu haben.) Die erste Berliner Ästhetik-Vorlesung zeigt dage- gen die vollständige und bleibende spätere Systematik. Bei den Ausfüh- rungen über die Malerei feiert Hegel die Italiener, z. B. die Sixtinische Ma- donna als adäquate Darstellung der „Mutterliebe". Die italienischen Bilder gäben nicht nur Seligkeit, sondern zugleich die Empfindung der Seligkeit; diese Empfindung verbleibe trotz aller Schmerzen und trotz der Trauer sehnsuchtslos in ihrer Heiterkeit. Hegel fühlt sich an den Gesang der Sän- gerin CATALANI erinnert, aber auch an DANTE, bei dem selbst die Verdamm- ten wie Selige erscheinen. Hegel vermerkt, daß die italienische Malerei et- wa bei den CARACCIS wieder zu mythologischen Themen greife. So stellt er ihr die niederländische Malerei gegenüber, die den „ganzen Kreislauf" der Kunst durchlaufe: vom umfassenden Ganzen der religiösen Bilder zu den Details, die selbständig werden, also zum Portrait, zum Genre, zum Land- schaftsbild, schließlich zum Stilleben mit seiner Musik der Farben. Hegel bejaht diesen Weg der Selbstauflösung der großen Kunst, der von den Hol- ländern durchgesetzt wurde, welche ihr Land dem Meer abringen und ihre Freiheit verteidigen mußten. Keineswegs will Hegel mit den „Herren VON

SCHLEGEL" und den „Altdeutschthümlern" „ein Bild um so höher schät- zen", „je älter" es ist „und je schlechter es gemalt ist". Die frühe Orientie- rung am byzantinischen Typus ist für Hegel bloßes Handwerk, noch nicht eigentlich Kunst; die Emanzipation des Bildes aus dem Kult ist nach seiner Auffassung in der Sache vorgezeichnet.

12 Vgl. Annemarie Gethmann-Siefert: Die Kritik an der Düsseldorfer Malerschule bei Hegel und den Hegelianern. In: Düsseldorf in der deutschen Geistesgeschichte (1750-1850). Hrsg, von G. Kurz. Düs- seldorf 1984. 263 ff. - Zu Hegels Reisen vgl. den Ausstellungskatalog Hegel in Berlin. Preußische Kulturpolitik und idealistische Ästhetik. Hrsg, von O. Pöggeler. Berlin 1981.

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Hegel systematisiert die Erfahrungen, die er in der Sammlung der Brü- der BOISSER£E, in der Dresdener Gemäldegalerie und in Berlin z. B. in der Sammlung SOLLY machte. Eher mit Befremden als mit Zustimmung notiert er die andere Ausrichtung der französischen Malerei, wo NAPOLEON sich selbst als heroische Gestalt dem Maler DAVID empfohlen hatte. Die ideale Malerei VON MENGS, GOETHES Empfehlung antiker Themen, Hofrat MEYERS

Kopie eines Gemäldes aus Herkulaneum mit Ariadne auf Naxos können nicht imponieren. Nur diese erste Berliner Ästhetik-Vorlesung bezeugt, daß Hegel nicht nur KüGELGENS Bilder, sondern auch die Bilder CASPAR DA-

VID FRIEDRICHS in Dresden gesehen haben muß. Sie erscheinen ihm als ge- wollte Regressionen ins Allegorische (man mag an den Tetschener Altar denken, der nicht den gekreuzigten Christus darstellt, sondern ein Kruzifix auf den Bergen, das durch Allegorien auf dem Rahmen unterstützt wird.)13

Auf weiteren Reisen baute Hegel seine Kenntnis der europäischen Museen aus. Schon 1822 reiste er über Braunschweig, Kassel, Köln und Aachen nach Brüssel, Antwerpen und Amsterdam. Zwei Jahre später spielte er in seinen Briefen aus Wien den gewachsenen Reichtum der dortigen Samm- lungen gegen die Armut in Berlin aus; damit aber wollte er nur die Berliner Gefährten zu gesteigerten Bemühungen provozieren. Rom, von NAPOLEON

ausgeplündert, war nicht attraktiv; 1827 sah Hegel Paris, nunmehr Haupt- stadt der zivilisierten Welt. Doch auf der Rückreise besuchte Hegel Gent und Brügge, denn die Wiederentdeckung der altflämischen Malerei war vorzüglich zur Berliner Angelegenheit geworden. Hegel ließ sich durch Freunde und Schüler leiten und stützen. FRIEDRICH FöRSTER begleitete ihn nach Dresden (sein Bruder Emst, später der Biograph von CORNELIUS, hielt sich aber fern). GANS und HOTHO bereiteten den Parisbesuch mit vor. JOHAN-

NES SCHULZE und Staatsrat SCHULZ gaben Ratschläge für die Besichtigung von Gemälden und Ausgrabungen. Hegel konnte seine Studenten auch hin weisen auf ein Gemälde, das bei seinem Schüler VON HENNING ZU sehen war; die Maler und Restauratoren XELLER, KöSTER und SCHLESINGER waren schon von Heidelberg und der Sammlung BOISSEREE her gute Bekannte. Bil- der zu sehen und zu sammeln war in Berlin zur Selbstverständlichkeit ge- worden (wie IMMERMANN das in den Epigonen geschildert hat).

Es war ALOYS HIRT, an dessen Person und an dessen Funktionen sich in Berlin die ältere und die jüngere Generation entzweiten. HIRT hatte als Rei-

13 G. W. F. Hegel: Vorlesung über Ästhetik Berlin 1820/21. Hrsg, von Helmut Schneider. Frank- furt a. M. 1995. Vgl. auch die Einleitung mit der Übersicht über Hegels Vorlesungen in der Editi- on der Hothoschen Nachschrift der Vorlesung von 1823 durch A. Gethmann-Siefert (in Vorbe- reitung).

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seführer in Rom GOETHE kennengelernt, dann als Architekturhistoriker die Theorie über die Entstehung des griechischen Tempels aus dem Holzbau vorgetragen. Er konnte schon 1797/98 in Berlin den Plan eines Museums als Antwort auf die Umgestaltungen in Paris einbringen. Nach den Befrei- ungskriegen kehrte das geraubte Kunstgut aus Frankreich zurück und mußte öffentlich gezeigt werden. Doch schlug SCHINKEL 1822/23 vor, nicht den alten Marstall zum Museum umzugestalten, sondern im Lustgarten auf der Spreeinsel zu bauen und so ein neues Museum zwischen Schloß und Dom auf der einen Seite, Zeughaus, Neuen Wache, Oper und Universi- tät auf der anderen Seite zu stellen. SCHINKEL gab dem Museum nicht nur die Hoheitsfront der Säulen, sondern auch die sakrale Kuppel. Doch war es immer noch HIRT, der 1827 über dem Eingang in großen Lettern die In- schrift anbringen ließ: „STUDIO ANTIQUITATIS OMNIGENAE ET AR- TIUM LIBERALIUM". Noch einmal wurde der didaktische Zweck in den Vordergrund geschoben: das Studium der Altertümer aller Art. Die Rede von den Freien Künsten zielte nicht auf die einstigen mittelalterlichen Dis- ziplinen, sondern auf den Unterschied zwischen Kunst und Handwerk. Die Akademie stieß sich am holperigen Latein; verärgert trat HIRT aus der Museumskommission aus. Doch stand die Bestimmung des Museums selbst in der Mitte des Streites: als HUMBOLDT Vorsitzender der Museums- kommission geworden war, konnte nicht länger davon die Rede sein, daß man zugunsten lehrhafter Zwecke die Antiken durch Gipsabgüsse vervoll- ständigte. WAAGEN und VON RUMOHR, für die Gemäldegalerie zuständig, setzten eine Repräsentation der Geschichte der Malerei über den klassizi- stischen Kanon hinaus durch; neben und vor der Belehrung forderte WAA-

GEN zuerst einmal den „ästhetischen Genuß". Die Wogen des Streites gin- gen hoch; Frau VON HENNING berichtete z. B. im September 1829 ihrem ab- wesenden Gatten aus einer Gesellschaft mit dem „scherzenden Hegel" nicht nur von der Schelte auf die „museische Inschrift", sondern auch von dem „schweinschen HIRT, der sich unterstehet zu sagen: Goethe wüßte nicht, was Gefühl und Liebe sei". Hegels Malerfreund XELLER bezog sich auf SCHLEGELS Wort, HIRT sei Hirt und Vieh in einer Person. Nach Hegels Tod explodierte der Streit zwischen HIRT einerseits, WAAGEN und VON RU-

MOHR andererseits in giftigen Pamphleten.14

Hegel hat seine Orientierung in Berlin auf einem Weg gefunden, der zwi- schen HIRT und seinen jüngeren Gegnern verlief, aber die neuen Tendenzen aufnahm. HIRT hatte in einem frühen Hören-Aufsatz das Charakteristische

14 Vgl. dazu Otto Pöggeler in: Kunsterfahrung und Kulturpolitik im Berlin Hegels, 359 ff; vgl. Eli- sabeth Ziemer: Heinrich Gustav Hotho 1802-1873. Berlin 1994.268.

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für die Kunst überhaupt reklamiert; FRIEDRICH SCHLEGEL griff ihn deshalb im Athenäum an und bezog das Charakteristische als das Interessante auf die neuere europäische Kunst. Hegel gab letztlich SCHLEGEL Recht, indem er eine spezifisch „romantische" Kunstform zur klassischen und symboli- schen stellte. Diese Position hielt Hegel aber nicht davon ab, sich durch HIRT 1824 bei der Reise nach Wien über Prag und über die Besichtigung der Fresken in Karlstein leiten zu lassen. Als HIRT 1831 seine Kunstbemerkungen auf einer Reise über Wittenberg und Meißen nach Dresden und Prag veröffent- lichte, griff HOTHO noch zu Lebzeiten Hegels in den Jahrbüchern für wissen- schaftliche Kritik die Auszeichnung der italianisierenden Bilder an; der klas- sizistische HIRT hatte offenere Augen für den „schönen" Stil der Parler-Zeit. Hegels Worte über das Berliner Museum begannen wie HIRTS Inschrift mit dem Studium, doch stellte Hegel dazu mit WAAGEN den „sinnvollen" Ge- nuß. Wahrscheinlich war WAAGEN schon in Heidelberg Hegels Schüler ge- worden. Im April 1823 lud Hegel WAAGEN ein, mit ihm exklusiv jene ägyp- tischen Altertümer zu sehen, die Preußen sich durch eine Expedition des Generals MINUTOLI verschafft hatte. Hegel konnte sich von der gemeinsa- men Besichtigung eine Belehrung versprechen, weil WAAGEN vorher in München über ägyptische Mumien und Altertümer gearbeitet hatte. Das Berliner Museum nahm dann nur die antike Skulptur und die neuere euro- päische Malerei auf; das Ägyptische wurde im Schloß Monbijou unterge- bracht. So blieb im Museum doch der Kanon in Geltung, der zu den Alten die Modernen stellte, während Hegels Ästhetik vor der klassischen und ro- mantischen Kunstform die symbolische einschob. WAAGEN hat seine uni- versale Kennerschaft auch als Direktor der Gemäldegalerie unter Beweis gestellt (z. B. in seiner Besprechung von SCHNAASES Weltgeschichte der Kunst). Doch lernte Hegel vor allem von WAAGENS jugendlichem Werk, der Schrift Über Hubert und Johann van Eyck von 1822. Hegel bekam die Schrift als Geschenk mit einer Widmung.15

WAAGEN betrachtete die Brüder VAN EYCK als Stifterfiguren der alten nie- derländischen Malerei. Mit VON RUMOHR geht er davon aus, daß die Erobe- rung Konstantinopels 1204 die neugriechischen Bilder in den Westen brachte und z. B. den Christustypus durchsetzte. In der Darstellung des Christuskindes seien die Maler frei gewesen, und so hätten die alten Nie- derländer dort nach der Natur gearbeitet. WAAGEN gibt damit Topoi vor, die auch in Hegels Vorlesungen leitend sind. Als VON RUMOHR 1827 den er-

15 Vgl. Otto Pöggeler: Kennerschaft versus Philosophie: Waagen und die Hegelianer (zusammen mit anderen Vorträgen zum 200. Geburtstag Waagens) im Jahrbuch der Berliner Museen. 37 (1995), 33-38.

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sten Band seiner Italienischen Forschungen publizierte, verarbeitete Hegel diese Forschungen in seiner letzten Ästhetik-Vorlesung. Es störte ihn nicht, daß VON RUMOHR, auch Verfasser eines Kochbuches, eine andere ästhetische Grundausrichtung hatte. Hegel lernte, wo etwas zu lernen war, und so be- richtet sein Sohn Karl: „Auch kam zu uns der berühmte Kunstkenner RU-

MOHR, der als Verfasser des Geistes der Kochkunst die Hausfrau in Verlegen- heit setzte, aber zu ihrer Beruhigung eigenhändig den Salat bereitete."16

Hegels letzte Ästhetik-Vorlesung hielt fest, daß die Neuentdeckung der niederländischen und deutschen Malerei eine Sache der letzten Jahrzehnte gewesen war. Die niederländisch-deutsche und die italienische Linie in der Geschichte der Malerei wurden klar unterschieden, und so konnte HOTHO

in seiner Edition diese beiden Linien gesondert zur Geltung bringen. Damit war nur wiedergegeben, was VON RUMOHR in der Gemäldegalerie durchge- setzt hatte - zusammen mit WAAGEN, der für die Stelle des Direktors der Gemäldegalerie nicht (wie v. RUMOHR) ZU exzentrisch war. Im zweiten Ge- schoß des Museums bildeten im Nordflügel die Brüder VAN EYCK, ANTONEL-

LO DA MESSINA und die BELLINIS einen Knotenpunkt, von dem die niederlän- disch-deutsche und die italienische Schule in unterschiedliche Richtungen abzweigten.

WAAGEN hat sich von seinen romantischen Anfängen wegentwickelt und als „Kenner" Neuentdeckungen gemacht, z. B. auch in der Geschichte der spanischen Malerei. HOTHO wurde sein „Assistent", d. h. stellvertretender Direktor, dann Direktor des Kupferstichkabinetts. Zwischen dem Kenner, der bald als Notizenkrämer abqualifiziert wurde, und dem spekulativen Geschichtsdeuter mußte es zu Reibereien kommen. Aber auch HOTHO

nahm auf, was an Zuschreibungsänderungen und Neuentdeckungen sich damals überstürzte. Er konnte in seiner Geschichte der christlichen Malerei von 1867 und 69 wenigstens bis ROGIER VAN DER WEYDEN führen, diesen aber schon entwicklungsgeschichtlich aufschließen. Beim Tode WAAGENS über- nahm HOTHO interimistisch auch die Direktion der Gemäldegalerie. Doch gab es längst Probleme: das Neue Museum nahm Licht weg; die kleinen Räume mußten zu größeren Einheiten zusammengefaßt werden, damit eine sinnvolle Hängung der Gemälde möglich wurde. Überhaupt mußte HOTHO zugeben, daß die alte historische Anordnung eine Vollständigkeit „an Werken aller Epochen und deren hauptsächlichen Meister" suggeriere, welche durch die Sammlung nicht eingelöst werden könne.17 Längst waren andere Tendenzen aufgetreten. So hatte FRIEDRICH THEODOR VISCHER schon

16 Vgl. Hegel in Berichten seiner Zeitgenossen (s. Anm. 2). 453.

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1844 in den Jahrbüchern der Gegenwart über Deutsche Kunstgeschichte ge- schrieben und diese als eine Sache der National-Ehre gefordert; SCHASLER

hatte WILHELM VON KAULBACHS Bilder im Neuen Museum mit ihrem hege- lianischen Bezug auf die Weltgeschichte als Übergang zum realistischeren Historismus gedeutet. Nach HOTHOS Tod setzte sich die Ausbildung neuer Perspektiven fort. JAN HUIZINGA fühlte sich beim Besuch einer Ausstellung altniederländischer Kunst in Brügge 1902 zum Kunsthistoriker berufen; aber bald ging ihm auf, daß das späte Mittelalter nicht die Gründung eines Neuen gewesen sei, sondern ein Absterben des Alten, das in der bildenden Kunst noch einmal groß hervortrat. Zur gleichen Zeit eröffnete BODE, von HOTHO energisch als Nachfolger aufgebaut, das neue Kaiser Friedrich-Mu- seum; die Renaissance wurde Vorbild, doch trat zu ihr REMBRANDT, dessen Nachtwache von Hegel noch nach der Größe in Fuß eingeschätzt worden war.18

Ein Berliner wie GOTTFRIED BENN sah 1955 in der geteilten Stadt ein unter- gegangenes „Angkor im Urwald", zu dem hin man Fahrten nur noch als Expeditionen unternehmen könne; in der Weimarer Zeit sei das „preußi- sche Berlin" das Maß der deutschen Städte gewesen, ein Konkurrent von Paris und London, der die „Mythe" weitertrug, die in Babylon begann.19

Der Luftbrückenpfeiler der Freiheit, die offene Wunde, die in der Teilung Europas und der Welt sichtbar aufbrach, sammelte sich auf sich selbst und die Geschichte hin. Am Tiergarten, unmittelbar an der Mauer und in mög- lichst großer Nähe zur alten Stadtmitte, entstand mit der Nationalgalerie von MIES VAN DER ROHE, der Philharmonie und der Staatsbibliothek SCHA-

ROUNS um die kleine Matthäi-Kirche herum ein neues Zentrum. Als zum 150. Todestag Hegels die Staatsbibliothek eine Ausstellung Preußische Kul- turpolitik im Spiegel von Hegels Ästhetik zeigte, konnte (anders als in den son- stigen Ausstellungen des Preußen-Jahres) auch ein Beiträger aus Polen ge- wonnen werden für das Kapitel „Ein Weg zur Freiheit: Polen". Der Hege- lianismus hatte Polens Weg zur Selbständigkeit eine Zeitlang stützen kön- nen. Doch was nach 1860 eingetreten war, zeigte sich erneut während der

17 Vgl. Elisabeth Ziemer: Heinrich Gustav Hotho 1802-1873. 325, 328. - Zum folgenden vgl. zu Wilhelm von Kaulbachs Weltgeschichtszyklus im Berliner Neuen Museum Werner Busch in: Welt und Wirkung von Hegels Ästhetik, 117 ff.

18 Hegel nimmt Rembrandt zurück in die Selbstverherrlichung holländischer Bürgerlichkeit; vgl. die Reisebriefe und Vorlesungen über die Ästhetik. 1. Band. 217. - Vgl. auch Otto Pöggeler: Preußische Kulturpolitik im Spiegel von Hegels Ästhetik. Opladen 1987.35 ff.

19 Vgl. Benns Text Urgesicht sowie den Beitrag von 1955: Berlin zwischen Ost und West. In: Gott- fried Benn: Gesammelte Werke. Hrsg, von Dieter Wellershof. Wiesbaden 1968. Band 5. 1279 ff, Band 7.1806 ff. Zum folgenden vgl. den Beitrag von Jan Garewicz im Ausstellungskatalog Hegel in Berlin (s. Anm. 12).

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Ausstellung: in Polen selbst wurden die Keime einer freiheitlichen Ent- wicklung noch einmal unterdrückt. Ausgelöscht werden konnten sie nicht mehr. Wenn nun die Mauer gefallen ist, dann sollten alle geschichtlichen Schritte und alle Erinnerungen bewahrt werden, die zur Gegenwart führ- ten.

Vordringlich bleibt es, der Mitte auf der Spreeinsel eine überzeugende neue Gestaltung zu geben. Doch müssen Gedanken an eine hybride Zen- tralisierung fernbleiben; längst hat sich eine Differenzierung durchgesetzt. Die „asiatischen'' Museen haben in Dahlem ihren legitimen Ort, und was am Tiergarten entstand, hat das Pathos der Bewahrung der Freiheit in wid- riger Zeit für sich. Natürlich ist es problematisch, daß die Gemäldegalerie innerhalb des Gesamtplans von GUTBROD drei Jahrzehnte nach der Natio- nalgalerie fertig wird - in einer Zeit schneller Entwicklungen der Architek- tur, in der Zeitungen das Adjektiv „bauhäuslerisch" gelegentlich als schlimmstes Schimpfwort verwenden. Es hat trotz aller Bedenken seinen guten Sinn, wenn in dieser Galerie vom Eingang aus sich wieder zwei Li- nien der Geschichte der Malerei abzweigen mit den Schwerpunkten bei den Italienern und den Niederländern. Natürlich bleiben Probleme, die durch einseitig festgehaltene Grundsätze nicht lösbar sind. Sollen z. B. die Bilder CASPAR DAVID FRIEDRICHS der alten preußischen Tradition nach bei den Schlössern und Gärten verbleiben oder einen Höhepunkt in den Ge- mäldesammlungen bilden? In jedem Fall muß Berlin durch die Gestaltung der neuen Museumslandschaft die geschichtliche Besinnung wachhalten, in der die Museumseröffnung vom 3. August 1830 ein wichtiger Schritt war. Hegel, aus dem deutschen Südwesten kommend, verpflichtete auch das neue Preußen darauf, den Staat von unten herauf aufzubauen: von je- ner Selbstverwaltung in den Kommunen und Korporationen aus, die sich in den mittelalterlichen Städten entfalteten.20 Die Malerei vor allem im Ge- folge VAN EYCKS konnte dann als Spiegelung von Anfängen gelten, welche die Einrichtung einer konstitutionellen Monarchie mit einer freien Über- nahme der Geschichte der Künste und Wissenschaften sowie des überlie- ferten christlichen Glaubens verbinden. Nicht von ungefähr war eine der

20 Über Hegel und Preußen vgl. Rolf Grawert und Otto Pöggeler in: Hegels Rechtsphilosophie im Zusammenhang der europäischen Verfassungsgeschichte. Hrsg, von H.-Ch. Lucas und O. Pögge- ler. Stuttgart 1986, 257 ff.

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letzten Arbeiten Hegels die Erörterung der englischen Parlamentsreform.21

Die Sammlung der Brüder BOISSEREE gelangte nach längeren Verhandlun- gen zur Enttäuschung Hegels nicht nach Berlin; vielmehr vermehrte sie die Münchener Sammlungen. Wien wie Dresden hatten sowieso ihre alten rei- chen Bestände. Was aber Berlin auszeichnete, das war die neue Universität, die mit den Museen auf archäologischem und kunsthistorischem Gebiet in eine enge Zusammenarbeit trat. So war es Berlin, wo seit den ersten Jahr- zehnten des neunzehnten Jahrhunderts in wenigen Generationen eine neue Wissenschaft der Geschichte der Kunst aufgebaut wurde. Hegel und seine Schule lenkten dabei, sicherlich noch in unzulänglicher Weise, den Blick auf die Kunst der Welt im ganzen. Nachdem man den Hegelianismus verworfen hatte, kehrte man unter neuen Bedingungen zu seinem Grund- anliegen zurück: Kunst antwortet immer auf bestimmte geschichtliche Aufgaben und ist deshalb von diesen her zu verstehen. (Wenn von Wien aus im späteren neunzehnten Jahrhundert neue und andere Anstöße sich durchsetzten, dann folgte man in der Geschichte der Kunst anderen Vorlie- ben - etwa der spätantiken Kunstindustrie oder byzantinischer Kunst.)

Nach langen Irrfahrten und Gefährdungen soll die Berliner Gemäldega- lerie ihren Platz am Tiergarten finden. Sicherlich wird man akzeptieren ler- nen, daß Berlin nicht wie Paris Zentrale eines Landes und zentralistisch auszugestalten ist; schon gar nicht kann man Berlin am Modell Roms mes- sen; auch Rom hat sich sehr spät als Hauptstadt eines vereinigten Landes durchgesetzt, war aber nie wie Berlin in den zwanziger Jahren ein Motor weiterer Industrialisierung. Wie die deutschsprachigen Gebiete sich gemäß ihrer Geschichte pluralistisch mit vielen Schwerpunkten gliedern, so mag auch die neue Hauptstadt Deutschlands mehrere Akzentsetzungen vertra- gen. Der Platz am Tiergarten, einmal an der Mauer als Zeichen freiheitli- cher Verhältnisse ausgestaltet, gehört bleibend zur Geschichte der Stadt. Das Schloß kann schwerlich diese Geschichte repräsentieren, da eine Linie von Kaiser WILHELM II. über HINDENBURG ZU HITLER kein reines Phantasiege- bilde ist. So bliebe der Aufbau des Schlosses letztlich belanglos. In War- schau, wo das Schloß beim Aufstand gegen HITLER dem Erdboden gleich- gemacht wurde, mußte dagegen dieses Schloß als Symbol des Widerstan- des und der nationalen Selbstbehauptung neu aufgebaut und ausgestaltet werden.

Die Gemäldegalerie kann dagegen mit anderen Einrichtungen für die Geschichte Berlins eintreten, erinnert sie doch an die mittelalterlichen Wur-

21 Vgl. Politik und Geschichte. Zu den Intentionen von G. W. E Hegels Reformbill-Schrift. Hrsg, von Christoph Jamme und Elisabeth Weisser-Lohmann. Bonn 1995.

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zeln unserer parlamentarischen Demokratie und zugleich an die religiöse Herkunft. Warum soll nur in Washington ein Regierungsberater daran er- innern, daß Hegel die geschichtliche Entfaltung der bürgerlichen Gesell- schaft zu einer relativ einheitlichen Weltzivilisation analysierte und zu- gleich auf eine neu gesehene Kunst, Religion und Wissenschaft verwies?22

Für das Interesse der Deutschen am eigenen Staat und an seiner Haupt- stadt kann immer noch die Weise, in der Hegel seine Wirkungsstätte Berlin betrachtete, lehrreich sein.

22 In einer fragwürdigen Weise ist Hegels Lehre vom Ende der Geschichte von der Thematik der „bürgerlichen Gesellschaft^ her wiederaufgenommen worden, als das kommunistische Im- perium zusammenbrach; vgl. Otto Pöggeler: Ein Ende der Geschichte? Von Hegel zu Fukuyama. Opladen 1995.