henning luther_die lügen der tröster

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  • 7/22/2019 Henning Luther_Die Lgen der Trster

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    Henning

    Luther1947-1

    991

    I Fassadenwelt

    Wer ber gewisse Dinge den Verstandnicht verlieret, der hat keinen zu verlieren. 1

    In der als optimist isch geltenden Aufkl-rung erinnert LessingsEmilia Galotti an dieAbgrnde des Wahnsinns. Der hellsicht igeund mutige Verstand dem es an Einfhlungund Gefhl nicht mangelt, kennt Augenblickezumindest der Verzweiflung.

    Der hoffnungsvolle Aufklrer sieht nurgewisse Dinge, die ins Entsetzen und in dieVerzweiflung treiben. Wir die Desillusionier-

    ten unserer Tage knnten nicht nur mancheDinge, sondern zahllose Dinge nennen: Werhierber nicht den Verstand verliert, hat keinenzu verlieren. Und doch scheint dies nicht sooffensichtlich. Emil ia Galotti reibt sich an denvielen, die sich in ihrem Optimismus nichtbeirren lassen, die weitermachen, unerscht-tert, zuversichtlich. Und wir? Sind wir etwawahnsinnig geworden nach dem Ereignisdieses Jahrhunderts oder nach den Ereignissenzu Anfang dieses Jahres? 2

    Unser Leben scheint davon unberhrt.Privat haben wir uns eingerichtet, es geht so oder so voran.

    Wozu Seelsorge? Nun gut, da gibt es im-mer wieder einzelne, bei denen es nicht ganzso reibungslos klappt. Sie sind in Sackgassenund Krisen geraten, aus denen ihnen heraus-geholfen werden mu. [Es gibt immer wiedereinzelne,] die Beistand brauchen oder Trost.

    Die Lgen der Trster der Titel soll

    provozieren, herausrufen. Da Vertrstung

    Lge ist, die ber das Leiden schnell hinweg-redet, wissen wir. Aber kann auch Trost Lgesein? Kann Trost zur Vertrstung werden?

    Ich denke, Trost wird dann zur Lge, wennunser Blick sich beschrnkt auf unser indivi-duelles privates Leben und das ausblendet,was um uns herum geschieht und was nichtnur Emil ia Galotti um den Verstand gebrachthat.

    Mit anderen Worten: wenn die Trostlosig-keit dieser Welt, in der wir leben, die Trostlo-sigkeit aller Opfer der bisherigen und jetzigen

    Geschichte verdrngt bleibt.Diese Ausblendung der verzweifelten Si-tuation unserer Welt nenne ich Fassadenwelt.Wir basteln uns eine heimelige und gemtlicheKulisse, in der es sich mehr oder weniger gutleben lt, beruf lich, privat. Und denjenigen,die nicht ganz so gut zurechtkommen, sollenTherapie und Seelsorge auf die Beine helfen.

    Strukturen knnen nicht getrstet wer-den, diesen bemerkenswerten Satz fand ichin einer neueren Dissertation ber den Trostin der Seelsorge.3 Heit Seelsorge Trost frden Einzelnen in einer trostlosen Welt, dieungetrstet bleibt? Oder wird diese unsereWelt nicht fr t rostlos gehalten? Gilt nur dasLeben einzelner als trostlos, die den beruhi-genden Sinn ihres Lebens, die die Fhigkeit zugelingender Identitt verloren haben?

    Therapie und Seelsorge als Krisenbewl-tigung, die verlorenen Lebenssinn und Le-bensmut zurckgibt? Doch auf welchen Sinn

    1 G. E. Lessing, Emil ia Galotti IV/7.

    2 [scil . 1991].3 Ch. Schneider-Harpprecht, Trost in der Seelsorge, Stuttgart 1989, S. 121.

    Henning Luther

    Die Lgen der Trster

    Das Beunruhigende des Glaubens als Herausforderung fr dieSeelsorge

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    991kann diese Bewltigung aufbauen? Den Sinn

    unserer Kulissen- und Fassadenwelt? Knnteman etwa mit dem Blick hinter die Kulissenunserer Welt noch brauchbare Hilfe geben?Trost gilt als privilegiertes Geschft der Rel i-gion. In der modernen Gesellschaft, die dieDaseinssicherung der Einzelnen weithin be-herrschbar gemacht hat, jedenfalls beherrsch-barer als in frheren Zeiten, bleiben immerhineinige Restrisiken, mit denen wir wieJrgenHabermasformulierte im Rahmen der br-gerlichen Ideologie prinzipiell trostlos lebenmssen.4 Aber sind nur die persnlichenGrundrisiken des Lebens wie Krankheit, Todund Schuld Anla der Trostlosigkeit? Zeigtnicht der anamnetisch-solidarische Blick aufdie Opfer der Geschichte bis heute, da der

    Trostbedarf grer ist, als die Rede vom Rest-risiko suggeriert?

    Ist das nun d ie besondere Chance und Auf-gabe der Religion, insbesondere des christli-chen Glaubens, mit Sinnangeboten eben dochdiese von der Gesellschaft nicht zu leistende Kontingenzbewltigung zu bewerkstelligen?Bieten Religion und christlicher Glaube jenenTrost fr die individuel len Rest- und Grund-risiken des Lebens?

    Ich mchte dies bezweifeln und im fol-genden erlutern. Seelsorge, die Trost vermit-

    teln wil l durch die Behauptung von Sinn undBestrkung von Lebensgewiheit, ist immerin der Gefahr, der Fassadenwelt aufzusitzen.Das Dahinter einer trostlosen Welt, die umden Verstand bringt und in die Verzweiflungtreibt, bleibt ausgespart und verdrngt.

    Nach Auschwitz sollte auch fr die Seel-sorge gelten: Schon vor Auschwitz war esangesichts der geschichtlichen Erfahrungenaffirmative Lge, irgend dem Dasein positivenSinn zuzuschreiben. 5 Aber kann man mitdiesem Blick hinter die Kulissen unserer soschnen, geordneten Welt Seelsorge treiben?

    Was ist an diesem unverstellten, ungeschmink-

    ten Bild unserer Welt irgend trstlich? Eineschwierige Frage. Aber ist es nicht trostlos, dieTrostlosigkeit verdrngen zu mssen, sie nichtwahrhaben zu drfen? Hat nicht die nichtverbotene, die zugelassene Verzweiflung mehrTrost als die wortreichen Beteuerungen vonSinn, als die zahlreich angepriesenen Techni-ken der Lebensbewltigung und des Lebens-glcks? Was wre Glck, das sich nicht mean der unmebaren Trauer dessen, was ist? 6Trost, der die Trostlosigkeit der Geschichtebersieht und bersehen mu, ist trostlos.Glcklich sein heit, ohne Schrecken seinerselbst innewerden. 7 Gert nicht die Sinnsu-che und gar Glckssuche leicht schamlos?

    II Vergessen als Therapie?

    Die Konstruktion einer Fassadenweltfhrt zu einer Individualisierung des Leidens.Der psychologisierende Blick konstruiert dasLeiden als ein solches, das vorrangig demeinzelnen zuzuschreiben ist. Das therapeuti-sche Interesse zielt darauf, dem einzelnen [zuhelfen,] mit der Krise, an der er leidet, fertigzu werden. Unbercksichtigt bleibt allerdingsder geschichtlich-gesellschaftliche Rahmen,innerhalb dessen der einzelne Leiden empfin-det. Neuere systemisch orientierte Anstzeversuchen zwar diese Vereinzelung in der

    Therapie zu berwinden, die Konstrukt ioneines Rahmens, der suggeriert, da das Ganzeunserer Welt und unseres Lebens selber inOrdnung sei, wird davon aber nicht berhrt.Das zugrundeliegende, meist gar nicht bewutgemachte Denkmuster geht davon aus, dain einer akuten Krisen- und Leidenssituationdeutlich wird, da einzelne oder einzelneSysteme (wie bestimmte Familienkonstella-tionen) versagen und ihnen deshalb geholfenwerden mu, mit der Situation besser zurechtzu kommen. Besser zurechtkommen heitdarin, so mit der Situation zurechtzukommen,

    wie die Mehrheit der Menschen, die objektiv

    4 In Anbetracht der individuellen Lebensrisiken ist freilich eine Theorie nicht einmal denkbar,die die Faktizitten von Einsamkeit und Schuld, Krankheit und Tod hinweginterpretierenknnte; die Kontingenzen, die an der krperlichen und der moralischen Verfassung desEinzelnen unaufhebbar hngen, lassen sich nur als Kontingenz ins Bewutsein heben:mit ihnen mssen wir, prinzipiell trostlos, leben. (J. Habermas, Legit imationsprobleme imSptkapitalismus, Frankfurt a.M. 19732, S. 165.)

    5 Th. W. Adorno, sthetische Theorie, Gesammelte Schriften Bd. 7, Frankfurt a.M. 1970,S. 229.

    6 Th. W. Adorno, Minima Moralia, Frankfurt a.M. 1985, S. 266.7 W. Benjamin, Einbahnstrae, Gesammelte Schriften Bd. IV/1, Frankfurt a.M. 1980, S.113.

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    991 und subjektiv keinen Therapie- und Bera-

    tungsbedarf haben. Dieses Denkmuster ar-beitet unausgesprochen mit der Unterstellung,da das Ganze, d.h. der gesellschaftlich-geschichtlich vermittelte Rahmen unseresindividuellen Lebens gesund und in Ord-nung sei. Nur der einzelne oder einzelneSysteme knnen versagen das Ganze nicht.

    Wenn jemand nicht mehr weiter wei,wenn es bei ihm (oder ihr) nicht mehr soreibungslos klappt wie bei anderen, wird derdaraus erwachsende Orientierungs- und Sinn-verlust ihm persnlich als einzelnem zugeschrieben. Therapie hiee dann, demeinzelnen wieder Lebenssinn und Lebensmutoder Lebensgewiheit zurckzugeben. Dadas Ganze unsere Welt, wie wir sie bis heute

    kennen keinen Sinn hat, wird hierbei nichteinmal erwogen. Die Vermutung der Sinnlo-sigkeit gilt als krankhaft. Trotz mancher Kritikan der problematischen Unterscheidung vonKrankheit und Gesundheit wird weithin mitdieser naiv und selbstverstndlich hingenom-menen Unterscheidung operiert. Aber sindunsere Kriterien fr gesund und krank, frnormal und anormal wirklich so eindeutigund selbstverstndlich?

    Knnte es nicht sein, da die Rationa-litt unserer vorherrschenden Lebensweise

    und unserer gesellschaftlichen Ordnungen imGrunde Produktionen des Wahnsinns sind?Knnte es nicht sein, da der Wahnsinnige,der sich unseren blichkeiten und vorder-grndigen Selbstverstndlichkeiten entzieht,vernnft iger und humaner ist? Eine Welt,in der Auschwitz mglich war, die weiterhinKriege verursacht, die weiterhin Folterungenermglicht, als normal zu bezeichnen istdas nicht Wahnsinn? Der auf konkrete Hilfebedachte Therapeut, der konkrete einzelneMenschen in ihrer Krise und in ihrem Leidenvor Augen hat, wird einwenden, da solche

    eher philosophischen Spekulationen ber denSinn unserer Welt ihm in seiner konkretenVerantwortung kaum weiterhelfen. Im Ge-genteil, sie knnen Anla zu Depressionengeben, die anstatt das Leiden des einzelnen zumildern, es nur noch vergrern.

    Die Welt im ganzen Verbessern, liegt nichtin den Mglichkeiten der Therapie. Die The-rapie mu das ihr Mgliche tun: im Rahmendes Vorgegebenen und Mglichen ein Opti-mum an Leidens- und Krisenbewltigung zuerreichen.

    Das heit aber auch: Um eines angestreb-ten Therapieerfolgs [willen,] darf der vorge-

    gebene Rahmen der fr selbstverstndlichgehaltenen Welt die ich als Kulissenweltbezeichnet habe gar nicht in Frage gestelltwerden. Die Unterstellung von Sinn und dieAbwehr des Sinnlosigkeitsverdachts gehrenalso zu den Konstitutionsbedingungen indi-vidualisierender Therapie.

    Um vor dem Wahnsinn zu bewahren, ms-sen wir den Wahnsinn verdrngen, in demwir leben.

    Ohne Gewiheit von Sinn lt sich nichtleben, heit es. Also mu, wer therapeutischhelfen will, Sinn unterstellen und die akuteSinnkrise des Betroffenen auffangen helfen,indem er diesem [scil. dem Betroffenen] Le-benssinn wieder zugnglich [macht].

    Aber gibt es Sinn deshalb, weil wir ihn

    brauchen?Theologisch gesprochen: Ein Gott, den

    es gibt, weil wir ihn brauchen, ist ein Selbst-widerspruch.

    Die Lgen der Trster damit ist nicht nurder billige, oberflchliche, nicht sich auf dasLeiden der anderen wirkl ich einlassende Ver-such der abwehrenden Vertrstung gemeint,sondern jener Trostversuch, der den Blickhinter die Kulissenwelt, hinter die so scheinbarfraglose und selbstverstndliche Welt unsererNormalitt nicht zult. Trost wird da zur

    Lge, wo Sinn suggeriert wird und jeder An-flug eines Verdachts der Unsinnigkeit undSinnlosigkeit unserer Lebensverhltnisse ta-buisiert und verdrngt wird.

    Ein solcher Trostversuch ist konstitutiv aufdas Vergessen, Abschieben und Verdrngenangewiesen also Mechanismen, die indivi-dualpsychologisch gesehen als Indizien vonKrankheit und Fehlentwicklung gelten. Trostwird da, zur Lge, wo [er] Klage und Trauernicht zult oder nur in begrenztem, dosiertenMae.

    Ich will das Problem an einem Beispiel

    verdeutlichen, das ich einer Meldung in derZEIT vor gut einem halben Jahr entnehme.Die Zeitungsnotiz berichtet von einem NewYorker Psychotherapeuten, der seit Jahren un-ter anderem auch berlebende von Auschwitzbehandelt hat. Die Grundintention dieserBehandlung bestand im Sinne des Prinzipsvon Erinnern und Durcharbeiten in derbehutsamen Aufdeckung und Bearbeitungder traumatischen Erfahrungen in den La-gern. Die besondere Nachricht des Berichtsbestand nun darin; da der Therapeut nach

    jahrelanger Arbeit mit den Auschwitzopfernsich entschlossen hat, sein bisheriges Behand-

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    991lungskonzept aufzugeben. Er stellt fest, da

    die Kl ienten trotz oder wie er es sieht: wegen der intensiven therapeutischen Bemhungnicht den angestrebten Erfolg zeitigten nm-lich wieder arbeits- und liebesfhig zu wer-den und sich in den normalen beruflichenund gesellschaftlichen Alltag zu integrieren.Die Erinnerung an die Leiden in Auschwitzerneuere stndig den Schmerz und machedie Betroffenen unfhig, einigermaen un-beschwert und tatkrftig ein befriedigendesund auch ein Stck weit glckliches Leben zufhren. Deshalb hat dieser Psychoanalytikersich entschlossen, knftig in seiner Therapiedie Erinnerung an das schreckliche Leidenauszusparen, es nicht mehr zu thematisieren,sondern es bewut auszublenden.

    Ich will jetzt weniger diesen besonderenEinzelfall problematisieren und auch nichtnach der ethischen Legitimitt des Vorgehensfragen, sondern verallgemeinernd nach demdarin zum Ausdruck kommenden Grundmu-ster fragen, das wie ich denke in manchemTherapie- und Trostkonzept durchschimmert .Vergessen als Therapie: wenn und insofernder Blick hinter die scheinbar unproblemati-sche Alltagswelt unertrglich wird und unsdem Schock grausamer Sinnlosigkeit aussetzt,wird dieser Blick dahinter zugehngt und

    versperrt. Gut, im Interesse eines unbekm-merten, glatten und harmonischen Lebens istdiese Strategie des Vergessens sicher hilfreich.Aber: kann und darf sich Therapie nur an sol-chen Zielen orientieren, die erreichbar und be-wltigbar sind? Darf Therapie, wenn und weilsie fr den Schock des Blicks dahinter keinetrstende Antwort wei, diesen darum syste-matisch ausblenden und sich auf das Machbarebeschrnken?

    Verfhrt die Rede von Kontingenzbewl-tigung sowohl Religion wie auch Therapiedazu, die jeweiligen Kontingenzen und Krisen

    nach dem Ma des Bewltigbaren zurechtzu-stutzen? Ist hierbei nicht der Wunsch Vater desGedankens, der bestimmte Erfahrungen derRealitt, die sich nicht ins Schema des Bewl-tigbaren und Machbaren fgen, ausblendet?

    Aber so wird mancher einwenden sindnicht Verdrngung und Vergessen in manchenFllen wie das Beispiel [des] New York[erPsychoanalytikers] ja auch zeigt lebens- undberlebensnotwendig? Ist nicht im Interesse

    der Lebenstchtigkeit und eines begrenztenStck Lebensglcks die Strategie des Verges-sens fr die Betroffenen [] der humanereWeg?

    Einerseits wird man d iesem Einwand viel-leicht ein Stck weit zustimmen knnen. An-dererseits wird dieser Gewinn um den Preisder Lge erkauft. Ich denke aber, da dasDilemma nur deswegen entsteht, weil nur derleidende einzelne als zu therapierender in denBlick gert. Knnte es nicht sein, da dieanscheinend Gesunden, die keinen Leid undkeinen Schmerz empfinden, eher das Pro-blem sind, dem sich auch und vor allem dieTherapie widmen sollte, anstatt einzelne Lei-dende zu stigmatisieren? Trauer, Erinnerungan Schmerz und Klage aus therapeutischen

    Grnden zu verdrngen, hilft doch in ersterLinie einer Gesellschaft, die erinnerungslosund unfhig zu trauern ist, die gleichgltig biszynisch aufs bloe Weitermachen program-miert ist. Wenn Therapie zur Trauer und zurKlage ermutigt, dann nicht in erster Linie,um das Leid der betroffenen einzelnen nochzu vergrern und zu bestrken, sondernvor allem und vorrangig, um den sog. Unbe-troffenen, den scheinbar Gesunden Empfin-dungsfhigkeit fr Schmerz und Leid und dieFhigkeit zu trauern zu vermitteln. Dies setzt

    freilich einen Blickwechsel voraus: Pltzlichwerden die Normalen zum Problem.

    III Glaube als Trost?

    Gegen die These, da ein Trost, der derErfahrung von Sinnlosigkeit sich nicht stellt,zur Lge wird, scheinen sich nun aber theolo-gische Bedenken zu erheben. Vermittelt nichtgerade der Glaube jenen unerschtterlichenTrost, der aus der Gewiheit eines letztenLebenssinns erwchst? Es gibt eine Auffas-sung des Glaubens, die seinen Wert und seineFunktion darin sieht, da er dem Einzelnen

    trotz aller Erfahrung von Leiden und Trost-losigkeit ein letztes tragendes Gefhl einerLebensgewiheit vermittelt. So definiert etwaDietrich RsslerSeelsorge als Hilfe zur Le-bensgewiheit, sie soll die Lebensgewiheitstrken, frdern, erneuern oder begrnden 8.Rsslersetzt dabei voraus, da Lebensgewi-heit notwendig zum Bestand eines christlichenBegriffs menschlicher Existenz hinzuge-hrt und da aus einem Mangel an

    8 D. Rssler, Grundri der Praktischen Theologie, Berlin/New York 1986, S. 182.

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    991 Lebensgewiheit die Aufgabe der Seelsorge

    entsteht und begrndet wird 9. Seelsorge hatso Gewiheit ber den Grund meiner Exi-stenz 10, ferner Orientierung in einer chao-tischen Welt und schlielich Vertrauen indie Gemeinschaft zu vermitteln und zu be-frdern.11

    Tackebeschreibt im Anschlu an Hebr 4 Seelsorge als Einweisung in diese RuheGottes 12. Er berspielt zwar nicht das Leiden,es wird aber zugunsten einer letzten tragendenGewiheit und Lebensgeborgenheit unter-wandert: Die seelsorgerliche Konsequenz ausdem kreuzestheologischen Ansatz tritt dannhervor, wenn die Leidensfhigkeit Gottes,die al le Leiden der Menschheit unterwanderthat, als Geborgenheit erkannt wird, in der

    die Ruhe (Hebr 4) zu finden ist. 13Tackegreift explizit auf den Begriff des Trosteszurck, um die Grundintention von Seelsorgeals Glaubenshilfe zu beschreiben. Als Kenn-zeichen des Glaubenstrostes nennt TackeEi-genschaften und Merkmale wie Sinn, Stabilittund Halt; In Auslegung der ersten Frage desHeidelberger Katechismus Was ist deineinziger Trost im Leben und Sterben? erlutert er sein Trostverstndnis wie folgt:

    Das Wort Trost vertritt die Summe dessen,

    was der Mensch an Sinn, Halt und Hilfe in derFlchtigkeit seines Daseins ntig hat. ,Trost ist eine

    lebenswichtige Erfahrung menschlicher Existenz, die

    bliebe s ie trost-los aus s ich selber nicht bestehen

    knnte. Es ist das der Seelsorge erkennbare Defizit

    bzw. Integral menschlichen Lebens, was mit diesem

    Wort zur Frage steht und auf Antwor t drngt. ,Trost

    ist also in keinem Sinne ein geistliches Sonderangebot,

    kein Luxus religis anspruchsvoller Seelen. Sondern

    es geht um die Frage, wie der Mensch leben kann,

    woran er sich halten kann. Es ist die Frage nach dem

    Elementaren und nach der Stabilitt des menschlichen

    Daseins unter der Sinnkrise und im Erleiden der

    Verluste . ,Trost aber ist Symbolbegriff fr das

    Tragende und Verlliche, fr das, was heuteIdentittgenannt wird.14

    Meine kritische Rckfrage richtet sich nundarauf, ob der Begriff der Lebensgewiheitoder Beschreibungen der Wirkung des Glau-bens als zur Ruhe Gottes kommen, als Stabi-lisierung menschlichen Daseins, als Summevon Sinn, Halt und Hilfe als Erfahrungfr das Tragende und Verlliche angemes-sen und hinreichend die Glaubenserfahrungwiedergeben. Ist Glaube der Garant von Sinn?Ist Glaube eine Beruhigung? Gibt GlaubeGeborgenheit und Heimat inmitten einertrostlosen Welt? Und sind umgekehrt Ver-zweiflung und die Klage ber das anhaltendeLeiden und die Sinnlosigkeit dieser GeschichteAusdruck von fehlendem Glauben oder garUnglaube?

    Die Rede von Lebensgewiheit droht

    leicht undialektisch und ideologisch zu wer-den, so da bei aller Erwhnung auch desLeidens dieses im letzten Grunde denn dochrelativiert wird. Die Negativitt wird dannaufgefangen und aufgehoben von einer letztenAff irmation des Daseins. Meint Gott ver-trauen diese letzte beruhigende Ein- undZustimmung ins Dasein? Wird hier aber nichtdas Gottvertrauen zum (unkritischen) Welt-vertrauen? Fhrt der so verstandene Trost derLebensgewiheit nicht letztlich doch wiederzu einer Relativierung und Verharmlosung des

    Leidens? Dem einzelnen Leidenden wird da-mit zugleich implizit die Aufgabe aufgebrdet,in allem trotz aller gegenlufigen Erfahrungeinen wie unerkennbar auch immer Sinnzu sehen. Wem die umstandslose Affirmationdes Daseins nicht gelingen mag, den trifftnun auch noch das zustzliche Leiden an derUnfhigkeit, diesen Sinn, den die Trster be-haupten, nicht erkennen und nachvollziehenzu knnen.

    Trost als Einst immung in Lebensgewi-heit und die Affirmation des Daseins muaber vor allem scheitern, wenn wir die blo

    individuel le Perspektive verlassen. Sicher zeigtdie Frmmigkeitsgeschichte uns immer wiederMenschen, denen der Glaube in allem Leid

    9 Ebd.10 Ebd.11 Vgl. a.a.O., S. 184f.12 H. Tacke, Glaubenshilfe als Lebenshilfe. Probleme und Chancen heutiger Seelsorge,

    Neukirchen-Vluyn 21979, S. 237.

    13 Ebd.14 A.a.O., S. 229.

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    991und in aller Anfechtung trstl iche Gewiheit

    vermittelt hat. Ihr Leben wird durch den Glau-ben so etwas wie Sinn erfahren. Nur fragt sich,ob Sinn sich individuell realisieren lt, wennrings herum Menschen leben und sterben,unterdrckt und geqult werden; Angesichtsdes anhaltenden Leidens der Anderen wrees Zynismus, von Sinnhaftigkeit , von Lebens-gewiheit und Affirmation des Daseins zusprechen. Glaube als Trost verkommt hierzum Heilsegoismus.

    Ich sehe demgegenber das Entscheidendedes Glaubens nicht in dem beruhigenden Troststabilisierender Lebensgewiheit. Das Trst-liche des Glaubens besteht vielmehr in deranhaltenden Beunruhigung und Befremdungber unsere Welt. Nicht die Behauptung, da

    alles letztl ich und irgendwie schon in Ordnungsei, ist ein Trost dies ist vielmehr das Zu-rckstoen in die Trostlosigkeit unserer Ver-hltnisse, die alle Auswege versperrt. Trstlichist dagegen die Befreiung, nicht lnger lgenzu mssen, nichts lnger beschnigen undverteid igen zu mssen. In Klage und Ver-zweiflung l iegt mehr ehrliche Hoffnung als inBeteuerung von Sinn und Lebensgewiheit.Die Trauer hlt die Treue zum Anderen, zumBesseren, zum Ende des Leidens, den dieAffirmation des Daseins lngst verraten hat.

    Nur wer klagt, hofft.Eine Seelsorge ohne Trnen dementiertden Trost, den sie verspricht. Sie gert mitdem Zuspruch von Sinn, Halt, Beruhigung ingefhrliche, weil letztlich ununterscheidbareNhe zu den zynischen Realisten, die das Lei-den und der Schmerz der Anderen nicht mehrbetroffen macht und die ein Arrangement mitdieser Welt und ihrem Leben gefunden [ha-ben]. Ich denke aber, da Glaube aus diesemArrangement mit der Welt herausreit.

    IV Hiob und die falschen Trster

    Mancher wird beim Lesen des Titels mei-nes Vertrags Die Lgen der Trster anHiobs Freunde gedacht haben zu Recht.An den Rechtfert igungs- und Erklrungsver-suchen der Freunde Hiobs kann beispielhaftdeutlich werden, wo und wie Trost zur Lgewird, die, anstatt zu helfen, die Not und Ver-zweiflung nur vergrert.

    In den Gesprchen mit seinen Freundenklagt Hiob ber die Sinnlosigkeit und Unge-rechtigkeit seines Leidens. Er lt sich nichtsabhandeln von seiner emprten Klage. Seine

    Freunde wollen sich auf die Radikalitt derKlage Hiobs nicht einlassen. Im Namen der

    Frmmigkeit scheinen sie ihm sogar das Rechtzur Klage absprechen zu wollen. Sie vermei-nen, fromm und gottesfrchtig zu sein, wennund insofern sie dort einen Sinn behaupten,wo offensichtlich der Leidende einen solchenauch nicht ansatzweise zu erkennen vermag.Die verschiedenen Verteidigungs- und Sinn-deutungsreden der Freunde, die Hiob zu-rechtweisen und ihn zur Zustimmung in dieSituation bewegen wollen, vermgen den, derwie Hiob einen klaren Blick fr das Elend be-wahrt , nicht zu berzeugen, geschweige dennzu trsten. Ihr seid a llzumal leidige Trster.(Hi 16,2) Weil die Freunde die Unertrglich-keit des Leidens des Anderen nicht auszuhal-ten vermgen, die offenkundige Sinnlosigkeitdes Elends nicht ertragen knnen, versuchen

    sie, diese durch Erklrungsversuche abzumil-dern. Dabei drften sie eher sich selbst einenDienst erweisen wollen als dem leidendenAnderen. Das Angebot eines Sinns nimmtdem Erschreckenden des unsinnigen Leidsseine beunruhigende Schrfe und Hrte. Dieenervierende Klage des Hiob kann so ge-filtert und relativiert werden: Ja, aber! DieSinngebungsversuche haben wohl zuerst dieFunktion, die, die nicht unmittelbar betrof-fen sind, zu beruhigen. Es ermglicht ihnen,sich dem Leiden und dem Elend der Ande-

    ren nicht letztlich aussetzen zu mssen. IhrTrostversuch r ichtet sich gewissermaen aufsich selbst: Die Trster versuchen mit ihremDeutungsangebot sich selbst zu trsten.

    Dem Betroffenen aber sind sie gerade keinTrost. Leidige Trster -sagt Hiob weil siedas Leid nur noch vergrern.

    Zum Schmerz des erfahrenen Elends brdendie Trster nun noch die Aufgabe, eine Deutungzu akzeptieren und fr sich anwenden zu ms-sen, die zur Erfahrung gerade nicht pat.

    Hiob wehrt sich darum gegen diese Zumu-tungen seiner Freunde. Ihre Sinngebungsver-

    suche bleiben trostlos. Trost lge dagegen in derBereitschaft, die Verzweiflung und die Klage unzensiert anzuhren und sie nicht zuhemmen: ungehemmte, hemmungslose Klageals Quelle des Trostes. Hrt doch meinerRede zu und lat mir daseure Trstung sein!(Hi 21,2) entgegnet Hiob seinen ihn besnf-tigen und belehren wollenden Trstern. DerVerzweiflung und der Klage zuhren dies undnichts anderes als Trstung [gelten zu lassen],dies ist wahrlich eine Provokation fr die, diefr al les noch einen Sinn suchen mssen.

    Ertragt mich, da ich rede verlangtHiob von seinen Freunden: warum sollte

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    991 ich nicht ungeduldig sein? (Hi 21,3f)

    Die Klage und Verzweiflung zu ertragen,wre Trstung den Sinnsuchern freilich wredies Erschrecken und Beunruhigung: Kehrteuch her zu mir, ruft Hiob, ihr werdet er-starren und die Hand auf den Mund legenmssen. (Hi 21,5)

    Das Gesprch Hiobs mit seinen leidigenTrstern ist in eine Rahmenerzhlung [einge-bettet], deren theologische Deutung umstrit-ten und dunkel ist. Man kann darin einenberuhigenden Sinngebungsversuch sehen, derdie unerbittliche Radikalitt der Gesprchewiderruft. Der letzt lich gute Ausgang Hiobstarb alt und lebenssatt (Hi 42,17) scheintvershnlichere Zge anzudeuten. Doch istder sich Hiob offenbarende Gott der beru-

    higende Sinngeber? Ist seine Offenbarungnicht vielmehr die grandiose Verweigerungverstndlichen Sinns? Die einen deuten diesals Ausdruck der unvergleichlichen, radikalenAndersheit eines Gottes, vor dem der Menschnur zu verstummen habe. Aber der Gott derRahmenerzhlung emprt sich nicht berden klagenden Hiob, und er lobt gerade nichtdiejenigen, die, wie Hiobs Freunde, Sinn be-haupten und zur Affirmation des Elends an-stiften wollen. Im Gegenteil: Der sich denSinnforderungen verweigernde Gott steht auf

    Hiobs Seite. Die frommen Deutungs- undRechtfertigungsversuche der Freunde verwirftGott dagegen: Als nun der HERR dieseWorte mit Hiob geredet hatte, sprach er zuElifas von Teman: Mein Zorn ist entbranntber dich und deine beiden Freunde; dennihr habt nicht recht von mir geredet wie meinKnecht Hiob. (Hi 42,7)

    Von Hiob knnten wir lernen, nicht zuleidigen Trstern zu werden und Gott zumSinnbeschaffer zu machen, der uns beruhigt.Das Hiobbuch verwehrt uns die einfacheGleichung Gott und Sinn. Fr die Affir-

    mation unseres Daseins, so wie es war undist, lt [sich] der Gott des Hiobbuchs nichtge(mi-)brauchen.

    V Die Heimatlosigkeit der Glaubenden

    Die Enthaltsamkeit gegenber vertrsten-dem Sinn fhrt uns in die uerste Ausge-setztheit auf dieser Welt. Aber bietet nunnicht der Glaube uns vor dieser Erfahrung

    einen letzten Schutz und Geborgenheit, so dauns diese Welt denn doch bergende Heimatwerden kann?

    Leitet das Gottvertrauen uns nicht an zumWeltvertrauen?

    Entscheidende Zge der biblischen ber-lieferung besttigen uns diesen Wunsch, denGlauben als Hafen der Geborgenheit anzu-sehen, nun aber nicht. Zentrale Texte derjdisch-christlichen berlieferung zeigen unsden Glauben gerade nicht als etwas, das unszur Verwurzelung im Dasein (dieser Welt) ver-hilft , sondern als etwas, das uns herausfhrt,das uns in die Fremde und Fremdlingschaftund in die Entwurzelung der Heimatlosig-keit fhrt. Der jdische ReligionsphilosophEmmanuel Lev inas hat die Bewegung in die

    ungeschtzte Exterioritt zum Ausgangs- undKernpunkt einer Ethik gemacht, die sichder Verantwortung gegenber dem Anderenstellt.

    Entfremdung und Entwurzelung ge-winnen bei Levinaspositive Bedeutung imGegensatz zur Ontologie Heideggers, fr den dieVerwurzelung im Sein und die Beheimatungim Sein letzten positiven Sinn gewinnen.

    Die Bereitschaft zum Aufbruch, zum Aus-zug in die Fremde und zum Verlassen dervertrauten vterlichen Heimat kennzeichnet

    das Gottvertrauen des Abrahams, den Paulusim Rmerbrief als Vater unseres Glaubensbezeichnet. Levinassieht in der GeschichteAbrahams, der fr immer das Vaterland ver-lt, um nach einem noch unbekannten Landaufzubrechen, und der seinem Knecht gebie-tet, selbst seinen Sohn nicht zu diesem Aus-gangspunkt zurckzufhren 15, das Urbildgelingender Menschlichkeit im Unterschiedzum Mythos des in seine Heimat und damitzu sich selbst zurckkehrenden Odysseus,dem Urbild der herrschaftlichen, sich selbstbehauptenwollenden Subjektivitt der Neu-

    zeit. Menschlichkeit aber erwchst aus derBereitschaft, in die Fremde zu gehen, dasEigene und Vertraute der Heimat zu verlassenund sich der Erfahrung der Heimatlosigkeitauszusetzen, weil nur in dieser Bewegung derEgoismus und die Selbstbehauptung verlassenwerden. Der Auszug in die Fremde ist nmlichzugleich immer der Weg zum Fremden undzum Anderen. Wo das Ich demgegenber bei

    15 E. Levinas, Die Spur des anderen. Untersuchungen zur Phnomenologie und Sozialphilo-sophie, Freiburg/Mnchen 21987, S. 215f.

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    991sich bleibt, sich an einem sicheren Ort fest-

    setzt, setzt es sich gerade nicht dem Anderenin seiner radikalen Andersheit aus.

    Aufbruch und Wanderschaft beschreibenin der hebrischen Bibel ebenso zentrale Er-fahrungen des Volkes Israels wie das Motiv derHeimatlosigkeit und der Fremdlingschaft.

    Im Credo Israels wird erinnert an die Zeit,in der sie Fremdlinge waren im fremden gyp-ten. Und die Exoduserinnerung lehrt: Um derVerheiung Gottes wil len bricht das Volk auf,verlt die Fleischtpfe gyptens und begibtsich auf den Weg der Wanderung durch dieWste die Wste als Ort der ungastlichenHeimatlosigkeit.

    Fremdlingschaft und Exodus werden dannvor allem in der Zeit erneuter Heimatlosigkeit

    im Exil bezeugt und erinnert. Und weil dieseFremdlingschaft gegenber dem Wunsch nachBeheimatung und Beruhigung immer wiederin Vergessenheit zu geraten droht, erinnern dieGebote des Volks gerade hieran immer wieder.So heit es etwa 3. Mose 25, 23: Darum solltihr das Land nicht verkaufen; denn das Land istmein, und ihr seid Fremdlinge und Beisassenbei mir. Und der Psalmist betet im Bewutseindieser Heimatlosigkeit: Ich bin ein Gast aufErden (Ps 119,19)

    Wanderdasein und Fremdl ingschaft , die

    Erfahrung des Ausgesetztseins kennzeichnenaber auch und gerade die Glaubenserfahrun-gen der frhchristl ichen Gemeinde. Christenfhlen sich als Pilger, als peregrini, d. h. alsFremdlinge. Der Hebrerbrief beschreibt dieExistenz der Glaubenden als Leben unter derVerheiung einer Verheiung, die geradenicht beruhigt, sondern in Bewegung setzt.Die christl iche Gemeinde versteht sich darumals wanderndesGottesvolk, dem wie es im4. Kapitel heit die Ruhe Gottes verheienist, zu der es aber noch nicht gelangt ist. Gegendie falsche Ruhe steht die aufmunternde Ver-

    heiung, die in Bewegung setzt. Glaubendesind nach dem Hebrerbrief unterwegs. Siesind noch nicht zur Ruhe gekommen. DerOrt der Christen ist darum nicht drinnen, imgeschtzten Raum, der abgeschottet wird ge-genber der Welt drauen, mit a ll ihrem Leidund ihrer Ungerechtigkeit. Im Schlukapitelerinnert der Hebrerbrief an den, der auchnicht bei sich geblieben ist, der herabgestiegenist und ausgezogen zu den anderen: an Jesus,der drauen vor dem Tor gelitten hat. Nichtdrinnen bleiben, bei sich, sondern herausgehen

    aus sich, zu den Anderen, sich aussetzen,sich der Fremde und dem Befremdenden, ja

    der Entfremdung aussetzen dies ist die Be-wegung des wandernden Gottesvolkes. DerHebrerbrief schliet darum mit einer Auf-forderung, die zugleich die Hoffnung wach-hlt. Hebrer 13,13f heit es: So lat unsnun zu ihm hinausgehen aus dem Lager undseine Schmach tragen. Denn wir haben hierkeine bleibende Stadt, sondern die zuknft igesuchen wir.

    Wir haben hier keine bleibende Stadt, wirhaben hier keine Heimat, keinen Ort. DieOrtlosigkeit und Heimatlosigkeit auszuhalten,heit, in die U-topie gehen. Das beschtzendeLager verlassen, in dem uns vorschnelle Sinn-angebote abschirmen vor der Wahrnehmungdes befremdenden Leidens und Elends derAnderen, fhrt uns also in die utopische

    Dimension der Heimat- und Ortlosigkeit.Glaubende sind heimatlos, weil sie dem Ver-sprechen der Verheiung glauben.

    VI Seelsorgeals Solidaritt der Trostlosen

    Seelsorge wendet sich den Leidenden zu,den Anderen, fr welche die selbstverstndli-che Harmonie unserer Welt zerbrochen ist, dieherausgefallen sind und die der Einsamkeit desElends ausgesetzt sind. Seelsorge vollzieht nun

    die Bewegung nach, von der der Hebrerbriefspricht: das Lager verlassen, die geschtztenRume unserer fr selbstverstndlich genom-menen Alltagswelt aufgeben und sich demElend der Anderen, die drauen sind, aus-zusetzen. Seelsorge heit, sich auszusetzen.Oder mit Levinasgesprochen: In der Seelsorgewerden wir Geisel des leidenden Anderen.Insofern ist d ie seelsorgerliche Beziehung, diesich dem Elend des Anderen wirklich aussetzt,wirklich eine asymmetrische Beziehung frei-lich anders als dies blicherweise verstandenwird. Nicht der sog. Seelsorgebedrftige ist

    abhngig von den Kenntnissen, Fhigkeiten,Trostangeboten des Seelsorgers, sondern derSeelsorger (die Seelsorgerin) macht sich radikalabhngig von dem f lehenden Ruf des Anderenin seiner Not und seinem Leid. Das ist derTrost der Seelsorge: sich dem Elend vorbe-haltlos, ohne Einschrnkung auszusetzen. Inder Asymmetrie zugunsten des Anderen, dienicht bei sich bleibt und [den eigenen] Hilfs-mglichkeiten, entsteht so eine solidarischeNhe zum Anderen. Dies ist eine Solidaritt,die nicht auf der herablassenden Geste .des-

    sen beruht, der aufgrund seiner Strke einemSchwcheren hilft, sondern dies ist die Soli-

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    991 daritt der Schwachen und Trostlosen. Es ist

    die Solidaritt, die aus der Kommunikationder Trostlosen entsteht, aus der Kommunika-tion, d. h. aus der Teilung und Mit-teilung derTrostlosigkeit.

    Die Gefhrdung einer Seelsorge, die sichdem Elend aussetzt, besteht darin, zu meinen,dieser Ausgesetztheit nicht standhalten zuknnen, sie nicht ertragen zu knnen unddarum vorschnell reden, deuten, helfen, heilenzu mssen. Die seelsorgerliche Beziehungdroht dann umzukippen. Nicht mehr das Leidund die Not der Anderen steht dann im Vor-dergrund, sondern das, was wir knnen, waswir zu bieten haben. Mit diesem Rckzugauf unser Knnen und Vermgen, auf unsereBewltigungsstrategien entziehen wir uns aber

    dem Anderen und bleiben bei uns, anstatt unsauszusetzen und befremden zu lassen.

    Ertragt mich, da ich rede ruft derLeidende Kehrt euch her zu mir; ihr werdeterstarren und die Hand auf den Mund legenmssen. (Hi 21,3.5)

    Professionalisierung der Seelsorge bestndeweniger darin, besonders effektvolle Techni-ken der Leidensbewltigung zu kennen undgekonnt einzusetzen, sondern vielmehr in derEinbung in jene Selbstdisziplin, die sichdiese Flucht in den leidigen Trost verbietet.

    Professionell wird Seelsorge da, wo sieden alltgl ichen Verdrngungs- und Verharm-losungsmechanismen zu widerstehen vermag,wo sie die Tuschungen unserer Kulissenwelt,in der wir es uns bequem und gemtlich ge-macht haben, aufzureien wagt und den Blicknach drauen, ins Elend wagt und lehrt. n-dert sich mit dieser Beschreibung nicht auchder Adressat von Seelsorge: Werden nunmehrnicht auch vor allem die Satten und Gesunden,die, die zur Ruhe gekommen sind, seelsorge-bedrftig?

    Eine solche Seelsorge wrde freilich die

    individualistische Perspektive berwindenund ihre gesellschaftskritische Funktion wahr-nehmen: Erst in dieser im weitesten Sinne gesellschaftskritischen Perspektive knnteSeelsorge ihren theologischen Anspruch undGehalt einlsen, wenn anders Theologie alskritischer Kommentar zu unserer Welt, wiesie ist, verstanden wird.AdornosDiktum, daes kein richtiges Leben im falschen gebe,

    mu auch gerade fr eine theologisch verant-wortete Seelsorge gelten: Individuelle Heils-und Glcksversprechen, die das Leid und dieTrostlosigkeit der Welt insgesamt ausblenden,leugnen die Erlsungsbedrftigkeit unsererWelt. Sie sind leidiger Trost. Seelsorge solltemit den falschen Verlockungen in der Psycho-und Therapieszene unserer Tage nicht kon-kurrieren wollen.

    Trost ist im Neuen Testament darum stetszugleich immer Mahnung, Aufruf und Auf-forderung zum Aufbruch, zum Herausgehen.Trost beruhigt und besnftigt nicht, sondernlt aus dieser Welt herausziehen. Trost wird zurErmahnung, weil wir uns nicht mit dem, wasist und wie es ist, beruhigen lassen sollen. Trostist Trost nur in eschatologischer Perspektive. In

    der Treue zu jener Verheiung, da Gott wirdabwischen alle Trnen (Offb 21,4), wollen undknnen wir uns nicht abfinden und beruhigenber das fortdauernde Leid/Geschrei und denSchmerz; Trost lebt und zwar: nur ausHoffnung. Trsten heit, in dieser Hoffnungund Sehnsucht zu bleiben.

    Paulus verknpft in seinem Trostbrief (im1. Kap[itel] des 2. Kor[intherbriefs]) geradebeides miteinander: dem Leiden nicht aus-weichen, sondern sich ihm aussetzen unddieHoffnung: unsre Hoffnung steht fest fr

    euch, weil wir wissen: wie ihr an den Leidenteilhabt, so werdet ihr auch am Trost teilha-ben. (2 Kor 1,7)

    Diese Hoffnung setzt das Vertrauen nichtauf uns selbst, sondern auf Gott (2 Kor 1,9).

    Weil wir diesen Trost nicht verwalten kn-nen, sollte Seelsorge mehr zur Teilhabe amLeiden einben helfen, als mit vorschnellenHilfs- und Trostangeboten aus dieser Trb-sal hinwegreden. Nur der Trost, der dasNoch-Ausstehende der Verheiung festhlt,der Vertrauen nicht setzt auf das, was ist, son-dern [auf das,] was unsere Hoffnung ist, bleibt

    von falscher Vertrstung bewahrt. Der Trostder Seelsorge kann daher nur ein dia lektischersein. Auf den Trost, den die Relig ion zu bietenhabe, befragt, hat Levinaseinmal geantwortet und diese Antwort knnte auch der Seelsorgezum Nachdenken geben:

    Vielleicht ist nur eine Menschheit diesesTrostes wrdig, die sich seiner auch enthaltenkann. 16

    16 E. Levinas, Ethik und Unendliches. Gesprche mit Philippe Nemo, hg. v. P. Engelmann,Graz/Wien 1986, S. 92.

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    991Diskussionsthesen

    1. In welchem Wahrnehmungshorizont bewegt sich Seelsorge?Das Problem einer individualisierenden Seelsorge besteht darin, sich auf als bearbeitbarverstandene Einzelschicksale zu beschrnken und dabei den Blick auf den Zustand unsererWelt (Geschichte/Gesellschaft) auszublenden und zu verdrngen.Wenn Vergessen (Verdrngen) aber keine Form der Therapie sein kann, mu Seelsorgeden Horizont der Normalitt (Ulrich Beck) durchstoen und gesellschaftskritischdenken lernen.

    2. Christlicher Glaube vermittelt nicht in erster Linie Trost, Gewiheit und Beruhigung.Vielmehr unterbricht er die Normalitt unseres Lebens, ruft uns heraus, lt uns aufbrechen(Abraham) und die Heimat suchen (Hebr 13,13f). Glaubende richten es sich im Bestehendennicht huslich ein, weil sie der Verheiung trauen.Glaube fhrt in die Heimatlosigkeit in die Fremde und zu den Fremdlingen.Glaube hat keinen Wert, der sich therapeutisch funktionalisieren liee auch nicht den derSinnstiftung. Glaube heit nicht besser leben, sondern anders leben.

    3. Seelsorge setzt sich dem Leid und dem Elend der Anderen aus.

    Damit ist sie radikal abhngig vom (flehenden) Anruf des Anderen.Diese Asymmetrie entmachtet die Souvernitt der Helfer(innen). Sich aussetzen heit: indie Trostlosigkeit (Fremde) des Anderen gehen und sie mit ihm teilen.Seelsorge, die nicht zum leidigen Trost werden will, wird sich zum leidenden Anderenkehren mssen und die Hand auf den Mund legen. In dieser Treue zur Trauer bewahrtsie allein die Treue (Vertrauen) zur Verheiung.

    Francis Bacon: Studie nach Velazquez Portrait Papst Innocents X. Michael Royen: Tnzer