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journal interculture Online-Zeitschriſt für interkulturelle Studien jahr 2012 jahrgang 11 ausgabe 1 herausgeber jürgen bolten stefanie rathje url interculture-journal.co Interkulturalität verstehen: Ansätze aus den Bereichen Manageent, Training, Didaktik und Linguistik Understanding interculturality: Approaches om management, training, didactics and linguistics Jorge Peña, Cristina Ramalho Management im lateinamerikanischen Stil. Auf der Suche nach dem Rhythmus der Region Latin American management style. In search for a region‘s rhythm Jonas Polfuß Kritischer Kulturassimilator Deutschland für chinesische Teilnehmende Critical culture assimilator Germany for Chinese participants Waltraud Timmermann Beziehungen. Ein Educast-Projekt und sein interkulturelles Lernangebot Relationship. An educasting project and its potential for intercultural learning Elsayed Madbouly Selmy Die interkulturelle Systemgrammatik – Voraus- setzungen, Erkenntnisinteresse und Vorgehensweise e intercultural formal grammar – requirements, aims and procedures Christian Wille, Julia de Bres, Anne Franziskus Interkulturelle Arbeitswelten in Luxemburg. Mehrsprachigkeit und kulturelle Vielfalt am Arbeitsplatz von Grenzgängern Intercultural work environments in Luxembourg. Multilingualism and cultural diversity among cross-border workers at the work-space

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j o urna linterculture

Online-Zeitschri� für interkulturelle Studien

jahr 2012

jahrgang 11

ausgabe 17�

herausgeber jürgen bolten

stefanie rathje

url interculture-journal.com�

Interkulturalität verstehen: Ansätze aus den Bereichen

Managem�ent, Training, Didaktik und Linguistik

Understanding interculturality: Approaches from management,

training, didactics and linguistics

Jorge Peña, Cristina RamalhoManagement im lateinamerikanischen Stil. Auf

der Suche nach dem Rhythmus der RegionLatin American management style.

In search for a region‘s rhythm

Jonas PolfußKritischer Kulturassimilator Deutschland für

chinesische TeilnehmendeCritical culture assimilator Germany

for Chinese participants

Waltraud TimmermannBeziehungen. Ein Educast-Projekt und sein

interkulturelles LernangebotRelationship. An educasting project and its

potential for intercultural learning

Elsayed Madbouly SelmyDie interkulturelle Systemgrammatik – Voraus-

setzungen, Erkenntnisinteresse und Vorgehensweise

The intercultural formal grammar – requirements, aims and procedures

Christian Wille, Julia de Bres, Anne Franziskus

Interkulturelle Arbeitswelten in Luxemburg. Mehrsprachigkeit und kulturelle Vielfalt am

Arbeitsplatz von GrenzgängernIntercultural work environments in Luxembourg.

Multilingualism and cultural diversity among cross-border workers at the work-space

herausgeberjürgen bolten (jena) stefanie rathje (berlin)

wissenschaftlicher beiratrüdiger ahrens (würzburg) m�anfred bayer (danzig) klaus p. hansen (passau) jürgen henze (berlin) bernd m�üller-jacquier (bayreuth) alois m�oosm�üller (m�ünchen) alexander thom�as (regensburg)

chefredaktion und web-realisierung m�ario schulz

editing diana krieg

kontaktfachgebiet interkulturelle wirtschaftskom�m�unikation (iwk) universität jena ernst-abbe-platz 8 07�7�43 jena [email protected]

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Vorwort der HerausgeberEditorial

ArtikelArticles

Jorge Peña, Cristina RamalhoManagement im lateinamerikanischen Stil. Auf der Suche nach dem Rhythmus der RegionLatin American management style. In search for a region‘s rhythm

Jonas PolfußKritischer Kulturassimilator Deutschland für chinesische TeilnehmendeCritical culture assimilator Germany for Chinese participants

Waltraud TimmermannBeziehungen. Ein Educast-Projekt und sein interkulturelles LernangebotRelationship. An educasting project and its potential for intercultural learning

Elsayed Madbouly SelmyDie interkulturelle Systemgrammatik – Voraussetzungen, Erkenntnisinteresse und VorgehensweiseThe intercultural formal grammar – requirements, aims and procedures

Christian Wille, Julia de Bres, Anne FranziskusInterkulturelle Arbeitswelten in Luxemburg. Mehrsprachigkeit und kulturelle Vielfalt am Arbeitsplatz von GrenzgängernIntercultural work environments in Luxembourg. Multilingualism and cultural diversity among cross-border workers at the work-space

Stefanie Rathje, Jürgen BoltenVorwort der HerausgeberEditorial

i n ha l t c o n t e n t

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RezensionenReviews

Alexandra StangJuch, Susann (2012): „Interkulturelle Kooperationskompetenz: Entwicklung und Gestaltung der Interaktion in interkulturel-len Unternehmenskooperationen“

Alexandra StangBarmeyer, Christoph I./ Bolten, Jürgen (2010): Interkulturelle Personal- und Organisationsentwicklung: Methoden, Instrumente und Anwendungsfälle.

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Vorwort der Herausgeber

Editorial

Stefanie Rathje

Professorin für Unternehmensfüh- rung und Kommunikation, Hoch-schule für Technik und Wirtschaft Berlin (HTW)

Jürgen Bolten

Professor für Interkulturelle Wirtschaftskommunikation an der Friedrich-Schiller-Universität Jena

Vorwort der HerausgeberDie 17. Ausgabe von interculture j o ur-na l beschäftigt sich mit dem Verständ-nis von Interkulturalität in den Berei-chen Management, Training, Didaktik und Linguistik.

Jorge Peña und Cristina Ramalho ana-lysieren im ersten Artikel „Management im lateinamerikanischen Stil. Auf der Suche nach dem Rhythmus der Region“, inwieweit man von einem lateiname-rikanischen Managementstil sprechen kann. Am Beispiel des Konzepts der Hazienda werden Änlichkeiten der in Lateinamerika verbreiteten Manage-mentpraktiken herausgearbeitet.

Jonas Polfuß stellt im zweiten Artikel einen Kulturassimilator für chinesische Teilnehmende mit Deutschland als Ziel-land vor. In insgesamt sieben Fallbei-spielen werden authentische Situationen beschrieben. Der Hintergrund der je-weiligen Situation wird aus chinesischer und deutscher Perspektive interkulturell beleuchtet und die Anwendbarkeit die-ser Trainingsform für das interkulturelle Lernen diskutiert.

Waltraud Timmermann beschreibt im dritten Artikel „Beziehungen. Ein Educast-Projekt und sein interkultu-relles Lernangebot“ am Beispiel eines deutsch-chinesischen Podcasts Potenti-ale und Risiken für den interkulturellen

Unterricht. Zusätzlich wird auf Basis dieser Diskussion ein Unterrichtsvor-schlag skizziert.

Elsayed Madbouly Selmy stellt im vierten Artikel Voraussetzungen für eine interkulturelle Systemgrammatik vor. An Hand des grammatikalischen Transfers zwischen dem Deutschen und Arabischen erläutert Selmy hierfür mögliche Vorgehensweisen und Er-kenntnisinteressen.

Christian Wille, Julia de Bres und Anne Franziskus beleuchten im letzten Artikel interkulturelle Arbeitswelten in Luxem-burg. Dabei konzentrieren sie sich auf den Aspekt der Mehrsprachigkeit und die kulturelle Vielfalt am Arbeitsplatz von Grenzgängern.

Abgerundet wird die Ausgabe durch zwei aktuelle Rezensionen. Alexand-ra Stang rezensiert sowohl das Buch „Interkulturelle Kooperationskompe-tenz: Entwicklung und Gestaltung der Interaktion in interkulturellen Unter-nehmenskooperationen“ von Susann Juch als auch den Sammelband „Inter-kulturelle Personal- und Organisations-entwicklung: Methoden, Instrumente und Anwendungsfälle“ von Christoph I. Barmeyer und Jürgen Bolten.

Zugleich erscheint die 17. Ausgabe von interculture j o urna l sowohl in einem neuen Design als auch auf einer

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neuen technischen Plattform. Dank der Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) wurde im vergangenen Jahr ein neues Layout entwickelt und die Migration der alten Ausgaben auf das neue System vorge-nommen. Hierdurch wird sowohl die Auffindbarkeit der Artikel als auch die Suchfunktionen wesentlich verbessert. Zusätzlich steht ab sofort ein standar-disiertes Begutachtungssystem für neu eingereichte Artikel zur Verfügung.

Die Herausgeber bedanken sich an dieser Stelle bei allen Autorinnen und Autoren und freuen sich auf zahlreiche weitere Beiträge für zukünftige Ausga-ben des interculture j o urna l .

Stefanie Rathje (Berlin) und Jürgen Bolten (Jena) im August 2012

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EditorialThe 17th edition of interculture j o ur-na l deals with the understanding of interculturality in the areas of manage-ment, training, didactics and linguistics.

In the first article „Latin American ma-nagement style. In search for a region’s rhythm“ Jorge Peña and Cristina Ramal-ho examine the potential subsistence of a Latin American management style. Looking at the example of the ,hazienda‘ concept they discuss similarities among existing management practices in Latin America.

In the second article, Jonas Polfuß presents a cultural assimilator for Ger-many targeted at Chinese participants. Seven case studies describe authentic situations of German everyday life and analyze the background of each situ-ation from a Chinese and a German perspective, allowing for a discussion of the applicability of this training tool for intercultural learning.

In her article „Relationship. An edu-casting project and its potential for intercultural learning“ Waltraud Timmermann describes opportunities and risks of intercultural teaching using the example of a German-Chinese podcast. On the basis of her analysis she developes a concept for an intercultural teaching session.

The fourth article by Elsayed Madbouly Selmy presents requirements for an in-tercultural formal grammar. The author discusses its potential aims and procedu-res based on his analysis of grammatical transfer between the German and the Arabic language.

In the last article, Christian Wille, Julia de Bres and Anne Franziskus examine intercultural working worlds in Luxem-bourg, exploring the aspect of multi-lingualism and cultural diversity at the workplace of cross-border workers.

This edition is completed by reviews of two new publications. Alexandra Stang presents her view on the book „Interkulturelle Kooperationskompe-tenz: Entwicklung und Gestaltung der Interaktion in interkulturellen

Unternehmenskooperationen“ by Susann Juch as well as the anthology „Interkulturelle Personal- und Or-ganisationsentwicklung: Methoden, Instrumente und Anwendungsfälle“ by Christoph I. Barmeyer und Jürgen Bolten.

The editors are proud to announce a visual and technical relaunch of intercul-ture j o urna l . Thanks to the generous support of the German Research Foun-dation (DFG), 17th edition appears in a fully modernized design and has been migrated during the last year to a supe-rior technical platform improving signi-ficantly its visibility and search engine exposure as well as search functions. In addition, the new technical design will provide an automated professional review process for new articles.

The editors would like to thank all authors for their contributions to this is-sue and strongly encourage new authors to submit their manuscripts for future publication in interculture j o urna l .

Stefanie Rathje (Berlin) and Jürgen Bolten (Jena), August 2012

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1. Einleitung

Seit der Jahrtausendwende lässt sich in Kreisen lateinamerikanischer Wissen-schaftler ein anhaltendes Unbehagen gegenüber dem sogenannten westlichen Managementstil2 konstatieren. Zum einen bezieht sich die Kritik auf die

geografischen Grenzen und die Reich-weite des vorgeschlagenen Modells. Zum anderen wird die Frage aufge-worfen, wie sich lokale Gewohnheiten auf die Implementierung des Modells auswirken und welche Folgen das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Managementstile in den Unternehmen

Jorge Peña

Dr., wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fachbereich Interkulturelle Wirtschaftskommunikation an der Friedrich-Schiller-Universität Jena

Cristina Ram�alho

Training und Coaching in Inter-kultureller Kommunikation

Abstract (Deutsch)

In diesem Artikel soll auf der Basis einer ausführlichen Literaturrecherche analysiert werden, inwieweit es angemessen wäre, von einem lateinamerikanischen Manage-mentstil zu sprechen. Wenngleich es kaum Studien gibt, die Managementpraktiken in den einzelnen Ländern Lateinamerikas vergleichend analysieren, so finden sich in der Literatur Ähnlichkeiten in der Beschreibung von Unstimmigkeiten zwischen in Lateinamerika verbreiteten Managementpraktiken und der Schlüssigkeit der Modelle, die transnationale Unternehmen anwenden. Diese Ähnlichkeiten in lateinamerika- nischen Ländern1 werden dann durch das gemeinsame Konzept der Hazienda erklärt.

Stichworte: Arbeitskultur, Lateinamerika, Werte in der lateinamerikanischen Arbeits-welt, Management in Lateinamerika

Abstract (Englisch)

This article discusses the existence of a Latin American management model, performing a literature review to illustrate the state of this discussion in the Latin American con-text. Despite the lack of empirical studies analysing comparative management practices in each of the countries of the study area, the literature showed great similarities in the description of interference between Latin American management style and the logic of models developed by transnational corporations. The similarities between Latin Ameri-can countries would be created by common historical and cultural links: the concept of the hacienda.

Keywords: work culture, Latin America, Latin American work values, Latin Ameri-can management

Managem�ent im� lateinam�erikanischen Stil. Auf der Suche nach dem� Rhythm�us der Region

Latin American management style. In search for a region’s rhythm

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vor Ort zeigt.Wichtige Impulse für die Beantwortung diesen Fragen bietet vor allem Darío Rodríguez (2002). Weitere wichtige Aufschlüsse geben Calderón-Moncloa / Viardot 2009, Chu / Wood 2008, Elvira/ Dávila 2005.

2. Die Hazienda und ihre Rolle beim� Entstehen einer lateinam�erikanischen Ar-beitskultur Die Untersuchungen, die sich mit dem Thema Arbeitskultur in Lateinamerika befassen, haben zumeist eines gemein-sam: Sie beschreiben ein unvollständiges Modell, das im Wandel begriffen und hybrid ist, da es ständigen Spannungen zwischen lokalen Praktiken und dem gemeinhin als Vorbild propagierten westlichen Managementmodell un-terliegt (Calderón-Moncloa / Viardot 2009, Chu / Wood 2008, Elvira/ Dávila 2005, Rodríguez 2002).

Wenn das westliche Managementmo-dell, so wie es von Rodríguez verstanden und beschrieben worden ist, in latein-amerikanischen Ländern zum Einsatz kommt, werden regelmäßig ähnliche Schwierigkeiten festgestellt. Diese könn-ten ihren Ursprung in einer Institution haben, die an einem bestimmten Ort in allen Ländern der Region implemen-tiert war: der Hazienda3.

Der chilenische Soziologe Darío Ro-dríguez, der gemeinsam mit anderen chilenischen Wissenschaftlern, eng mit den Modernisierungsprozessen in lokalen und nordamerikanischen Unternehmen mit Sitz in Chile vertraut ist, betrachtet die Hazienda als den Ur-sprung eines Managementstils, der sich hinsichtlich seiner Werte deutlich vom westlichen Modell unterscheidet.4

Rodríguez stellt fest, dass das soge-nannte westliche Managementmodell bis vor kurzem weltweit exportiert wurde. Dies geschah in der Regel ohne tiefer gehende Reflexion darüber, ob es überhaupt als kulturübergreifendes Modell betrachtet werden kann oder ob es nicht vielmehr Ergebnis konkreter historischer und kultureller Entwick-lungen einer oder mehrerer Regionen

ist. Schwierigkeiten, die beim Einsatz des westlichen Modells in Lateinamerika auftraten, werden seiner inadäquaten Umsetzung zugeschrieben. Das Modell selbst blieb dabei von der Kritik ausge-nommen. Rodríguez greift die Gründe, die für einen erfolglosen Einsatz des Modells verantwortlich gewesen sein sollen, auf ironische Weise auf: Für das Scheitern seien die Rasse5, die Unter-entwicklung der Region, die fehlende Bildung sowie die Tatsache, dass die Spanier und nicht die Angelsachsen Lateinamerika kolonialisiert hätten, ursächlich (Rodríguez 2002:274).

Erst als das sogenannte japanische Modell in den 1980er Jahren Aufsehen erregte (Rodríguez 2002:274), begann man die jahrzehntelange Dominanz des westlichen Modells zu hinterfragen. Die Konfrontierung mit diesem Modell eröffnete zwei neue Aspekte: Erfolg-versprechende Praktiken werden in anderen Ländern scheinbar unreflektiert imitiert und es begann eine Debatte über die Notwendigkeit, der Anpas-sung von Managementstandards an das jeweilige kulturelle Umfeld. Erhofft wurde das Ideal von hoher Effizienz im Arbeitsprozess, welches die kulturelle Prägung nicht außer Acht lässt (Ro-dríguez 2002:274). Von diesem Gedan-ken geleitet, unternimmt Rodríguez den Versuch, die Existenz eines modo de ser latinamericano, einer spezifischen lateinamerikanischen Existenzweise zu begründen. Laut Rodríguez handelt es sich bei seinen Überlegungen dazu um eine Arbeitshypothese, die unter Experten in Argentinien, Chile, Mexiko und Paraguay schon großen Zuspruch erfahren habe (Rodríguez 2002:275).

Rodríguez’ Modell basiert auf vier Schlüsselkonzepten: paternalismo (Pa-ternalismus), respeto (Respekt), descon-fianza (Misstrauen) und individualismo (Individualismus). Hierbei wird von einem starken Einfluss der Agrarkultur, welche die Region bis vor kurzem noch stark bestimmt hat, ausgegangen (Ro-dríguez 2002:275ff ).

Paternalismo: Dieser Wert wird als per-sönliche Beziehung zwischen Vertretern

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unterschiedlicher Hierarchieebe-nen beschrieben. Die in der sozialen Hierarchie niedriger stehende Person kann damit rechnen, von dem ihr übergeordneten Vertreter einer höheren Hierarchieebene beschützt zu werden und bietet diesem im Gegenzug seine Loyalität an. Dieses Konzept hat seinen Ursprung in der Hazienda. Die kultu-relle Entwicklung des paternalismo in der Hazienda wird von Rodríguez nicht beschrieben, doch lassen sich dazu in der zeitgenössischen Literatur ausführli-che Erklärungen finden.

Das Phänomen der Unterordnung der landwirtschaftlichen Arbeitskräfte unter einen patrón (also einen Landherrn) wird von Historikern als subordinación ascética bezeichnet. Bei dieser sogenann-ten asketischen Unterordnung gibt der Arbeiter seine Freiheiten zugunsten der Unterstützung durch einen Schutzherrn auf und erhält die Möglichkeit, in der Hierarchie der Hazienda aufzusteigen. Er ist im Gegenzug seinem Patrón zum Gehorsam verpflichtet (Rojas 2005:7).

Dieses Phänomen darf nicht losge-löst von seinem wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entstehungskontext betrachtet werden. Die iberischen Eroberer gingen in ihrem vormodernen Denken davon aus, dass Nichtstun bes-ser sei als Arbeit – eine symbolträchtige Haltung, die die Privilegierten von den Nichtprivilegierten unterschied (Sala-zar/ Pinto 2002:163ff ).

Diese Arbeitsmoral führte zusammen mit dem raschen Verschwinden einhei-mischer Völker in Lateinamerika dazu, dass der Mobilisierung von Arbeitskräf-ten in der Region eine besondere Bedeu-tung zukam. Da im Zeitraum zwischen der Kolonialisierung im 16. Jahrhundert bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht nur die personellen, sondern auch die fi-nanziellen Mittel knapp wurden, setzten die Landherren anstelle von finanziellen Anreizen auf Strafmaßnahmen.

Geschildert wird diese Praxis etwa in der argentinischen Literatur des 19. Jahrhunderts, konkret in den novela gauchesca, die dem Milieu der Bauern, den Gauchos, entstammt und in welcher neben Verfolgung die Bestrafung in

Form von gewaltsamen Einzug zur Armee oder auf Haziendas beschrieben wird.6

Auch in Chile existierten vergleichbare Strafmaßnahmen. Dem chilenischen Historiker Gabriel Salazar zufolge war es seinerzeit unter den Eliten des Landes allgemeiner Konsens Arbeitskräfte nicht durch attraktive Vergütungen zu gewinnen und zu halten, sondern mittels politischer und wirtschaftlicher Kontrollmechanismen zum Arbeiten zu verpflichten (Salazar / Pinto 2002:166).

Diese Strafmaßnahmen waren in La-teinamerika nicht die einzige Methode, um Arbeitskräfte zu mobilisieren. In Chile entwickelte sich beispielsweise parallel zur subordinación ascética das Phänomen der inquilinaje, welches Ähnlichkeiten mit dem europäischen Lehnswesen des Mittelalters aufweist. Hierbei gewährte der Landherr freien Bauern, sich auf seinem Land niederzu-lassen und in kleinen Parzellen Subsis-tenzwirtschaft zu betreiben, wenn sie im Gegenzug für ihn arbeiteten. Damit machte er sie zu seinen inquilinos, zu einer Art Lehnsmännern oder Vasal-len. Dadurch konnte der Besitzer sein Land effektiv nutzen und sich – ohne finanzielle Mittel dafür aufzubringen – die erforderlichen Arbeitskräfte für landwirtschaftliche Tätigkeiten, die er selbst nicht alleine hätte bewerkstelligen können, beschaffen.

Die Tatsache, dass in Lateinamerika bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts kaum Geld im Umlauf war7(Abbildung 1. S. 14), führte dazu, dass Arbeit in der Re-gion in erster Linie mit Lebensmitteln oder auch gemeinschaftlichen Feiern (festines) entgolten wurde (Salazar / Pinto 2002:164f.). Ein Beispiel dafür ist die sogenannte minga auf der Insel Chiloé im Süden Chiles, welche ihren Ursprung in einer indigenen Tradition hat und aus heutiger Perspektive als gemeinschaftliche Nachbarschaftshilfe verstanden werden könnte. Bei dieser traditionellen Form der Gemeinschafts-arbeit gibt der begünstigte Nachbar, sobald die Arbeit beendet ist, eine Feier zu Ehren seiner Helfer. In der Hazien-da stellten diese Feierlichkeiten meist das Ende einer Arbeitsphase, z. B. der

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Weinlese oder Ernte, dar. Sie können als zusätzliche Leistungen zu den formlos vereinbarten Zahlungen und Gefällig-keiten für die inquilinos bzw. saisonalen Arbeitskräfte verstanden werden.

Die chilenische Redewendung Lo comido y lo bailado no me lo quita nadie, die sinngemäß so viel bedeutet wie: Das Essen und Tanzen lasse ich mir von niemandem nehmen und wahrscheinlich ein Relikt aus der Zeit der Hazienda ist, beschreibt nicht nur die symboli-sche Vergütung der Arbeit durch Essen und Feiern, sondern auch das allseitige Einverständnis damit. Außerdem griff der Landherr in Form der subordinación ascética auf dieselbe Methode wie bei der Beschäftigung der Arbeitskräfte zurück (Salazar / Pinto 2002:164ff ). Niedrige Löhne wurden durch soziale Leistungen wie gute Behandlung der Arbeiter, Essen und Feierlichkeiten aus-geglichen. Ähnliche Methoden können bis in die Gegenwart, zum Beispiel bei der Schafschur in Patagonien, beobach-tet werden.

Der Führungsstil, der heutzutage in La-teinamerika dominiert, wird von Elvira und Dávila als paternalista benevolente, als wohlwollender Paternalismus, be-schrieben und stimmt in seinen Merk-malen mit der Rolle des Landherren bei der subordinación ascética überein. Der Vorgesetzte ist demnach in Lateinameri-ka persönlich dazu verpflichtet, den ihm unterstellten Mitarbeitern in vielfältiger Weise Schutz zu gewähren, was teilweise so weit geht, dass er für die persönlichen Bedürfnisse der Arbeiter einsteht. Dies erinnert an die Rolle eines Vaters, der sich nachgiebig und mit moralischer Unterstützung um seine Kinder küm-mert und diese versorgt. Somit wird der Begriff Familie auch als eine Metapher verwendet, um die Art und Weise zu beschreiben, wie ein Unternehmen geführt wird (Elvira / Dávila 2005:30).

In mexikanischen Unternehmen findet man heute nichtmonetäre Vergütungs-systeme, die auf Kooperation und Loyalität abzielen und mit den Prakti-ken in der Hazienda vergleichbar sind, wobei im Unterschied zu damals die Leistungen heute eher teure Autos, Ge-bühren für renommierte Privatschulen

oder Mitgliedschaften in Fitnesscentern umfassen. Solche Vergütungssysteme wirken weitaus motivierender auf die Mitarbeiter, als rein monetäre, wie sie in westlichen Gesellschaften üblich sind (Elvira / Dávila 2005:37). Letztere wer-den in Lateinamerika der Vetternwirt-schaft verdächtigt und gelten somit als inakzeptabel. Diejenigen Zusatzleistun-gen, die hingegen einen Zusammenhang mit der Hierarchieebene und deren Statussymbolen aufweisen, scheinen bei weitem erfolgreicher zu funktionieren (Elvira / Dávila 2005:37).

Elvira und Dávila sehen das Hauptziel der lateinamerikanischen Arbeitnehmer darin, das Überleben ihrer Familien zu sichern. Sie betonen, dass auch dieses Phänomen seinen Ursprung in der Region hat und zudem durch die Arbeitsgesetzgebung in Lateinamerika unterstützt wird, die darauf abzielt, den Arbeitnehmer in wirtschaftlichen Krisen zu unterstützen. Man kann davon ausgehen, dass in solchen Krisen zuvorderst dem eigentlichen Lohn die Gefahr der Entwertung droht, nicht aber den meist steuerfreien Zusatzleis-tungen, wie sie von den großen Unter-nehmen angeboten werden (2005:37). Vor diesem Hintergrund erscheint die subordinación ascetica als ein traditionel-les, in der Region verwurzeltes System, das durchaus imstande ist, sich zu verän-dern und sich an neue Gegebenheiten anzupassen.

Dem aufkommenden Populismus (populismo)8 in Lateinamerika kam

Abb. 1: Marke (ficha) aus einer mexikanischen Hazienda des 19. Jahrhundert. Quelle: http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Ficha_por_1_Mecate_de_Chapeo_de_la_Hacien-da_Dziuch%C3%A9,_Yucat%C3%A1n_(01)(anverso_y_reverso).jpg.

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eine Funktion zu, die bis heute einige Ähnlichkeiten mit den Anstellungs-, Führungs- und Vergütungssystemen aus Zeiten der Hazienda aufweist. Dessen negative Auswirkungen werden noch heute von den Verwaltungen transnatio-naler Firmen angeprangert.

„Dieser Populismus ist ein Phänomen, welches zuvor traditionell geprägte Trans-formationsgesellschaften charakterisiert, die sich in einem nicht-linearen Prozess des Wandels befinden. In Lateinamerika schafft man vergangene Systeme, wie hier ein Prinzip der Landbewirtschaftung, nicht ab, sondern man lässt verschiedene nebeneinander existieren“ (Gonzales 2007:78).

Die populistische Form der Führung verfolgt auf einer symbolischen Ebene die Idee, für die bäuerlichen Migranten, das heißt die ehemaligen campesinos, die sich im neuen politischen und wirt-schaftlichen Gefüge der Städte zurecht-finden müssen, eine sie repräsentierende Vaterfigur zu schaffen. Diese symboli-sche Vaterrolle, der compadrazgo, dient dazu, ein Sicherheitsgefühl zu erzeugen, indem es die väterliche Führungsperson mit der breiten Masse verbindet. Diese Rollenverteilung weist nach Meinung der Autoren große Ähnlichkeiten mit der Figur des Landherrn bei der subor-dinación ascética in der Hazienda auf (Gonzales 2007:80).

Respeto: Respekt ist ein weiterer Wert, den Rodríguez für typisch lateiname-rikanisch hält. Ohne ihn würde der Paternalismus nach den Worten des Autors wohl eher einer Knechtschaft gleichen (2002:275). Aus einer histo-rischen Sichtweise, die von Rodríguez zwar nicht behandelt wird, seine Argu-mentation aber zusätzlich untermauert, könnte man behaupten, dass der respeto eine Art Geschäftsbeziehung zwischen dem Landherren und den ihm in der sozialen Hierarchie untergeordneten Bauern darstellt, welche den Beteiligten ein Gefühl von einer Beziehung auf Augenhöhe vermittelt. Mit anderen Worten: „Er lässt das Leben in der Hazienda und das Fehlen von finanziel-len Mitteln nicht als Armut erscheinen, sondern eher als Möglichkeit Vieh-zucht zu betreiben und sich eine kleine

Existenz aufzubauen“(Rojas 2005:7). Dieser Lesart nach handelt es sich bei der subordinación ascética nicht um eine reine Ausbeutung ohne Aussicht auf Verbesserung, sondern um ein Mittel zum Zweck, eine Art Tauschgeschäft, in Zuge dessen die inquilinos ihre Freiheit aufgeben und im Gegenzug Schutz bekommen sowie sich Aufstiegschan-cen innerhalb der Hazienda erhoffen können.

Desconfianza: Laut Rodríguez ist desconfianza (Misstrauen) ein weiteres typisches Merkmal des lateinamerika-nischen Seins. Er beschreibt die campe-sinos, welche bis ins 20. Jahrhundert die Mehrheit der Gesellschaft ausmachten, als von Haus aus misstrauisch. Die Auswirkungen sollen sich bis heute zei-gen. Mit Verweis auf Niklas Luhmann macht Rodríguez darauf aufmerksam (Rodríguez 2002:267), dass Vertrauen eine Investition in die Zukunft darstellt, welche auf vergangenen Erfahrungen basiert. Mit anderen Worten: auf der Basis von Misstrauen kann kein neues Vertrauen entstehen. Dieses Defizit an wechselseitigem Vertrauen erklärt den fast schon rituellen Charakter, den Geschäftsessen in der Region einneh-men können. Es gehört sich, sich über verschiedenste Themen auszutauschen und nicht nur über rein Geschäftliches zu sprechen, um damit notwendiges Vertrauen für einen Geschäftsabschluss herzustellen (Osorio 2011).

Individualismo (Individualismus): Rodríguez geht davon aus, dass der lateinamerikanische Arbeiter individu-alistisch ist, wenngleich eine derartige Ausrichtung des Wertegefüges in primär katholisch geprägten Gesellschaften, wie der lateinamerikanischen, zunächst nicht zu erwarten sei. Die wachsende Bedeutung des individualismo im Wer-tekanon der Bevölkerung ist Rodríguez zufolge durch das steigende Bildungs-niveau in der Region bedingt. Je höher das Bildungsniveau, desto höher ist der Wert von Individualismus (Rodríguez 2002:276).

Rodríguez lässt keinen Zweifel daran, dass in den 1990er Jahren in Lateiname-rika ein gesellschaftlicher Wendepunkt eingetreten ist. In dieser Zeit erlebte die

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Region einen Paradigmenwechsel von einem stark durch den Staat regulierten (nach innen orientierten) Entwick-lungsmodell – hin zu einem (nach au-ßen orientierten) Entwicklungsmodell, welches eher auf die Privatwirtschaft fixiert ist.

Im Verlauf der 1930er bis 1980er Jahre dominierten staatliche bzw. vom Staat gelenkte Unternehmen, die ihre Beleg-schaft meist auf Lebenszeit anstellten. Diese Unternehmen stellten Arbeiter ein, die zuvor in der Landwirtschaft tätig waren und die paternalistische Ver-haltensweisen der vorindustriellen Zeit gewohnt waren (Gonzales 2007).

Ab den 1990er Jahren führte die Öffnung der internationalen Märkte in Lateinamerika zu einer wirtschaftli-chen und gesellschaftlichen Krise. Die Arbeiter profitierten von dieser Ver-änderung, auch wenn diese zu Lasten der Arbeitsstabilität ging. Das alte Modell hatte ausgedient, weil neben den traditionellen geringeren Gehäl-tern seit den 1990er Jahren noch große Arbeitsunsicherheit herrschte. Um zu überleben war es notwendig, eine größere Bereitschaft zu Arbeitsmobilität durch dauerhafte Qualifikation bzw. neue Vermittlungsfähigkeit zu zeigen. Diese Mobilität legitimierte dann eine Erhöhung der Gehälter.

Seit dieser Zeit gibt es kaum noch Unternehmen, die ihren Mitarbeitern wie in der Vergangenheit Arbeitsstellen auf Lebenszeit garantieren können. Das führte dazu, dass sich das Festhalten an den patriarchalischen Elementen in den neueren Generationen auflöste (Ro-dríguez 2002:289).

Nach Rodríguez‘ Ansicht generierte die Krise der 1990er Jahre zwei Ar-beitertypen. Auf der einen Seite den sogenannten trabajador antiguo (alter Arbeitertyp), der einen geringeren for-mellen Bildungsstand aufweist und an einen paternalistisch geprägten Arbeits-stil gewöhnt ist. Dieser Typus legt gro-ßen Wert auf soziale Leistungen sowie Beständigkeit, wohingegen er techno-logischen Innovationen misstraut und diese als Bedrohung für seine Arbeit empfindet. Der trabajador nuevo (neuer

Arbeitertyp) ist initiativfreudig und erwartet nicht nur Anweisungen, ist for-mell gebildeter und steht technischen Herausforderungen aufgeschlossen gegenüber. Des Weiteren ist er vielseitig einsetzbar und plant seine individuelle berufliche Laufbahn. Er bevorzugt die rein finanzielle Vergütung gegenüber der Bezahlung durch Zusatzleistungen (Rodríguez 2002:287).

Dieser Generationswechsel vom alten zum neuen Arbeitertyp könnte ein Hinweis darauf sein, dass die auffälligen Differenzen zwischen dem westlichen Managementsystem und lateinamerika-nischen Praktiken bzw. Gewohnheiten bald der Vergangenheit angehören könnten.

Dabei gilt es indes, die Wandlungsfähig-keit von Kulturen und die Geschwin-digkeit, mit der sich solche Prozesse vollziehen, nicht zu überschätzen. Man sollte daher eher davon ausgehen, dass sich einige „Unzulänglichkeiten“ als wandlungsresistent erweisen und ungeachtet entsprechender Reform-bemühungen Bestand haben können. Auch wenn moderne Begrifflichkeiten eingeführt werden, bleiben die sich da-hinter verbergenden Vorgehensweisen im Management an sich gleich.

Dieses Phänomen wird von Chu und Wood als formalismo bezeichnet. Chu und Wood beschreiben es als koloniales Erbe, das durch das Aufstellen strenger Regeln gekennzeichnet ist, welche dann in der Anwendung von niemandem beachtet und damit regelmäßig verletzt werden. Die erwünschten Verände-rungen werden nur dem Anschein nach angenommen. Das tatsächliche Verhalten verläuft hingegen entlang der gewohnten, aber ungeschriebenen Regeln (Chu/ Wood 2008).

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3. Welche Unternehm�en prägen den lateinam�erikani-schen Managem�entstil? In seiner Beschreibung des japanischen Managementmodells macht Darío Ro-dríguez darauf aufmerksam, dass dieses nur ein theoretisches und abstraktes Abbild der Realität darstellt und mögli-cherweise circa 30% aller Unternehmen in Japan betrifft, vor allem die großen und bekannten (Rodríguez 2002:274).

Von dem gegebenen Modellcharakter und dem eher geringen Umfang seiner und bekannten (Rodríguez 2002:274). Von dem gegebenen Modellcharakter Anwendung ausgehend, sollte man sich fragen, welche Akteure dem vermeint-lichen lateinamerikanischen Manage-mentmodell ihren Stempel aufdrücken.

Auffällig ist die sogenannte economía informal9 (informeller Sektor), welche einen sehr hohen Anteil der Wirt-schaftskraft in lateinamerikanischen Ländern einnimmt.

Nur 5,5% der lateinamerikanischen Unternehmen erfüllen die rechtlichen Auflagen, und von diesen sind fast alle entweder transnational bzw. landesweit agierende Unternehmen oder staatliche Unternehmer und Dienstleister. Die verbleibenden 94,5% der Unternehmen sind die weniger formellen pequeñas y medianas empresas (PyMES), die kleinen und mittleren Unternehmen (Calderón-Moncloa / Viardot 2009: 21f.).

In São Paulo, dem industrialisiertes-ten und globalisiertesten Bundesstaat Brasiliens, hatten z. B. in der Mitte der 90er Jahre nur 4% aller Unternehmen eine eigene Personalabteilung (Wood 2004:73). Bei der ersten Registrierung der PyMES in Chile im Jahr 2009 wur-de erfasst, dass von den 744.186 formal registrierten Unternehmen gerade einmal 8.000 große Unternehmen sind. Das heißt wiederum, dass 99% der chi-lenischen Unternehmen in die Katego-rie der PyMES fallen. Diese bestehen im Durchschnitt seit 10,6 Jahren, wohinge-gen die großen Firmen durchschnittlich 17,6 Jahre alt sind. Etwa 60,5% der großen und nur 4,1% der kleinen Unter-nehmen werden von einem Geschäfts-führer geleitet. Die restlichen Firmen werden vom Inhaber (davon 68% ohne Universitätsabschluss) geführt (Orella-na 2009).

Beim Erheben dieser Daten in anderen lateinamerikanischen Ländern wür-de ebenso deutlich werden, dass die administrativen Formalitäten bei den meisten Unternehmen in der Region sehr gering sind. Das heißt, es gibt kaum professionelle Rekrutierungsprozesse oder Vergütungssysteme. In jedem Fall erweist sich der Anspruch, das Manage-ment professioneller zu gestalten, fast schon als lächerlich, da der größte Teil der Unternehmen (in Chile z. B. 81,9%) Mikrounternehmen mit durchschnitt-lich zwei Mitarbeitern sind. Die großen Unternehmen in Chile haben hingegen im Durchschnitt 256 Mitarbeiter (Ore-llana 2009).

Es ist unumgänglich, die Frage nach den Traditionen oder Akteuren, die für ein lateinamerikanisches Managementmo-dell stehen könnten, zu stellen. Thomaz Wood nähert sich seinem Artikel „Ges-tión de recursos humanos en Brasil: ten-siones e hibridismo“ dem Thema anhand des Zentrum- und Peripheriekonzeptes. Laut Wood wird dieses Zentrum Brasili-ens von multinationalen und staatlichen Unternehmen sowie großen nationalen Privatgruppen gebildet. Diese Unter-nehmen sind im Allgemeinen komplex und multidimensional strukturiert und verwenden im Personalbereich moder-ne Methoden, wie Headhunter und

Abb. 2: Formelle und informelle Unternehmensform in Lateinamerika. Quelle: In Anlehnung an Calderón-Moncloa / Viardot 2009:21f.

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Assessment Center. In der Peripherie herrschen eher kleine industrielle Unter-nehmen vor, die veraltete Technologien und Methoden verwenden und die sich oftmals nicht an Arbeitnehmerrechte halten (Stichwort Sweatshop). Anstatt ein Personalmanagement zu entwickeln, arbeitet der Großteil dieser Unterneh-men aus einer personalwirtschaftlichen Perspektive, welche die Arbeitskräfte eher unter dem Kostenaspekt sieht. Außerhalb der Peripherie findet Wood in Brasilien ein informelles System vor, das 40% der Wirtschaft ausmacht. Hierbei handelt es sich um einen Sektor, in dem es weder Arbeitsverträge noch regelmäßige Gehälter oder Zusatzleis-tungen gibt, von einem Personalsystem oder Karriereplanung ganz zu schweigen (Wood 2004:74ff.).

Den Überlegungen Woods zufolge müsste man also eher die Unternehmen im Zentrum, d. h. die Probleme und Herausforderungen der großen Un-ternehmen, anstatt die der Peripherie analysieren, um Untersuchungen zum lateinamerikanischen Managementstil anzustellen. Und auch wenn die großen Unternehmen eine Minderheit darstel-len, sind es deren gesammelte Erfahrun-gen, die – mit einem gewissen Grad an Verzögerung und mit einigen Anpas-sungen in Bezug auf Unternehmens-größe und Anwendbarkeit – von der sogenannten Peripherie aufgenommen werden (Wood 2004:76). Calderón-Moncloa und Varliot weisen darauf hin, dass ein umgekehrter Austausch, also von der Peripherie ins Zentrum, auch stattfinden kann.

Sie stellen außerdem fest, dass die sogenannte informalidad (Informali-tät) selbst in den formell organisierten Unternehmen und lokalen Nieder-lassungen der transnationalen Firmen allgegenwärtig ist; das heißt, persönliche Kontakte werden vorgezogen. Etablierte Normen werden zugunsten des eigenen Interesses vernachlässigt und es wird Einfluss auf Netzwerke und Kontakte ausgeübt, um davon zu profitieren. Dieses Phänomen wird von Calderón-Moncloa und Vardiot als feudalismo organizacional y valores de mafia (eine patriarchalische Organisation mit ma-

fiosen Werten) bezeichnet (Calderón-Moncloa / Viardot 2009:21f.).

Die Autoren klagen auch darüber, dass diese beschriebenen Strukturen von vielen lateinamerikanischen Akademi-kern gar nicht wahrgenommen werden und nennen als Grund dafür die ceguera transcultural, die transkulturelle Blind-heit. Diese führt in ihren Augen dazu, dass Methoden nordamerikanischer Business Schools übernommen werden, die weder über das nötige Interesse noch die Konzepte verfügen, andere lokale Praktiken einzubeziehen (Calderón-Moncloa / Viardot 2009:16).

4. Sym�ptom�e des Nicht-Funktionierens: Widersprü-che beim� Einsatz westlicher Managem�entm�ethoden

Das lateinamerikanische Management-modell wird von den meisten der hier zitierten Autoren als ein Modell cha-rakterisiert, das sich in der Entwicklung befindet und zwischen lokalen Traditi-onen und globalen Impulsen schwankt. Im folgenden Abschnitt sollen diese Spannungen ausführlicher diskutiert werden.

Personalbeschaffung: Nach Elvira und Dávila wurden die Praktiken der Personalbeschaffung in Lateinamerika ausführlich, aber vor allem mit Bezug auf die Rolle von Persönlichkeitsmerk-malen und äußerem Erscheinungsbild untersucht. Die Persönlichkeit der Mit-arbeiter ist ein entscheidendes Element bei der Auswahl von Personal, da es sehr wichtig scheint, dass ein Mitarbeiter zu einem harmonischen Arbeitsklima beiträgt und gut mit seinen Vorgeset-zen kooperiert. Loyalität, Vertrauen, Flexibilität und betriebswirtschaftliche Effizienz beruhen auf empathischen persönlichen Beziehungen (Calderón-Moncloa / Viardot 2009:16). In Lateinamerika steht die Vermeidung von Konflikten und Konfrontationen, nicht nur mit den Vorgesetzen sondern auch im Umgang mit den Kollegen, im Vordergrund. Es wird ein direktiver Führungsstil angenommen, bei dem die Führungskraft außerdem bei Konflikten

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Stellenanzeigen – bei der Suche nach Führungskräften oder Angestellten in repräsentativen Tätigkeiten, wie Sekre-tärinnen, Verkäufern oder Rezeptionis-ten – unter dem Deckmantel der buena presencia auf (Abbildung 3).

Überspitzt gesagt, werden bei der Ver-teilung von Führungsaufgaben fachliche Fähigkeiten vernachlässigt und das Erscheinungsbild bzw. soziale Herkunft (als Faktor sozialer Netzwerke) über-durchschnittlich hoch bewertet. Bei der Einstellung von Führungskräften wird der Faktor der buena presencia oft ande-ren Faktoren, wie fachlichen Fähigkei-ten, Kenntnissen, Qualifikationen oder Noten vorgezogen.

Dies geschieht in der Regel in der Hoffnung, die sozialen Netzwerke des Mitarbeiters im Interesse des Un-ternehmens nutzen zu können. Die Vermutung ist, dass das Vertrauen eine so wichtige Rolle in wirtschaftlichen Be-ziehungen spielt, dass sie dann zu Lasten der Vielfältigkeit in Unternehmen geht. Dieses Vertrauen in der Berufswelt zeichnet sich u. a. dadurch aus, dass man sich kennt und die gleichen Werte teilt. Hier spielen auch Dinge wie Vettern-wirtschaft, Religionszugehörigkeit und die Zugehörigkeit zu der gleichen Gesellschaftsschicht eine große Rolle (Rodríguez 2003).

Im Fall der chilenischen Elite wird die Mehrzahl der Führungskräfte meist aus einem kleinen Kreis an Auserwählten, wie Absolventen bestimmter Universitä-ten (die häufig den Besuch privilegierter Privatschulen voraussetzen) oder auch oftmals Mitgliedern kirchlicher Zirkel, von den Jesuiten bis hin zu Opus Dei, ausgewählt11. Somit scheint die buena presencia als Zeichen der Zugehörigkeit zu auserwählten Zirkeln, in denen die Elite reproduziert wird, legitimiert zu sein und hat in dieser Form nichts mit Eliteallüren, ideologischer Blindheit oder Rassendiskriminierung zu tun.

Es handelt sich hierbei um ein kompli-ziertes Thema, da ohne Zweifel schwie-rig auszumachen ist, welches primäre Motiv einer Einstellung zugrunde liegt: das Erscheinungsbild (und in dem Sinne die soziale Herkunft) oder die fachliche

zwischen den Konfliktparteien ver-mittelt (Elvira / Dávila 2005:39). Das hier beschriebene System, welches als complejo de armonía (Harmoniekom-plex) bezeichnet werden kann, bildet also zwei Verhaltensweisen aus:

■ Einerseits die subordinación ascética, die ihren Ursprung in der Hazienda hat und imstande ist, mit dem inqui-lino ein Individuum zu entwickeln, das frei von jeglicher Rebellion ist.

■ Andererseits unterstützt der po-pulismo mit seiner versöhnlichen Politik eine paternalistische Führung (Gonzales 2007:95, Rojas 2005:7).

Buena presencia (Gutes Auftreten): Äußerlichkeiten scheinen bei der Personalbeschaffung in Lateinamerika und besonders in Chile ein wichtiges Kriterium zu sein (Elvira / Dávila 2005: 34). Häufig taucht dieser Faktor in

Abb. 3: Quelle: Las Últimas Noticias, Seite 27. URL: http://www.lun.com/Pages/NewsDetail.aspx?dt=2011-11-16&PaginaId=27&bodyid=0.10

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Eignung. Optimistische Stimmen gehen davon aus, dass in einem Skalensystem der Faktor der „sozialen Diskriminie-rung“ höchstens 20 von 85 Punkten ausmacht, wohingegen der Bildung 65 Punkte zukommen. Demnach wäre der Faktor Bildung weitaus wichtiger als der der sozialen Herkunft (Rodríguez 2003).

Diese Daten geben Anlass zur Ver-mutung, dass die Gesellschaft immer demokratischer wird und sich die soziale Ordnung nicht mehr so sehr an der Herkunft, sondern eher am persön-lichen Verdienst orientiert. Dennoch bestätigen Untersuchungen zur chile-nischen Elite eher das Gegenteil, und für die eher pessimistischen Stimmen des Landes ist diesbezüglich keine Verbesserung absehbar (Consorcio de Universidades Estatales de Chile 2011). Sie gehen davon aus, dass die traditi-onellen Universitäten ihren Platz als Ort der Elite an sogenannte Elitecol-leges, Privatuniversitäten und weitere exklusive soziale (u. a. auch religiöse) Kreise verloren haben. Somit muss ein Elitestudent in diesem Sinne nicht mehr zwangsläufig eine gute Aufnahmeprü-fung an Universitäten ablegen, da ihm in jedem Fall ein Platz an einem der exklusiven Bildungsinstitute als Teil eines übergreifenden elitären Bildungs-system sicher ist. Die Verlierer dieser Entwicklung sind diejenigen Familien, die ihre sozialen Aufstiegschancen in der Bildung sehen, da – wie man hier se-hen kann – viele weitere Faktoren einen Einfluss auf die soziale Mobilität haben (Consorcio de Universidades Estatales de Chile 2011).

Die Bedeutung und das enorme Poten-zial sozialer Netzwerke in der Region werden z. B. anhand der Aussage deut-lich, dass Loyalität in mexikanischen Unternehmen eine sehr große Rolle spielt. Die Führungskräfte wüssten ganz genau, dass ihre Unternehmen mehr auf die sozialen, familiären bzw. staatlichen Beziehungen als auf die Unterstützung durch das nationale Finanzsystem ange-wiesen sind (Elvira / Dávila 2005:32). Auch wenn diese sozialen Netzwerke in Unternehmen tatsächlich eine stra-tegische Rolle übernehmen können,

besteht auch die Gefahr, dass sie nahezu krankhafte Verhaltensweisen mit sich bringen. Somit überrascht es nicht, dass das Zurückhalten kritischer Informa-tionen weit verbreitet und moralisch vertretbar ist, solange es die Interessen des Einzelnen oder seiner Untergruppe schützt. Dieses Phänomen resultiert aus dem Dilemma zwischen der Loyalität zur formalen Unternehmung und der Loyalität zur Primärgruppe (Calderón-Moncloa / Viardor 2009:19). Laut Elvira und Dávila bevorzugen Latein-amerikaner in Konfliktsituationen eher Solidarität zu ihren Primärgruppen als die Befolgung abstrakter Vertragsklau-seln (Elvira / Dávila 2005).

Vergütung: Welches Vergütungssystem die Mitarbeiter in Lateinamerika am meisten motiviert, lässt sich nicht ver-allgemeinernd klären. Der in Brasilien lebende uruguayische Akademiker Alfredo Behrens bestätigte in einem Interview mit América Economía, dass Anreize, die sich auf die persönliche Leistung beziehen ein Vergütungstyp seien, der vielleicht für 5% der latein-amerikanischen Arbeitskräfte passend scheint. Laut seiner Aussage würde sich die Mittelschicht, welche er auf 30% des Arbeitsmarktes schätzt, wohl an ein rein finanzielles Vergütungssys-tem gewöhnen, auch wenn diese sich damit nicht unbedingt wohl fühle. Die restlichen Arbeitnehmer (65%) würden sich dem widersetzen. Ein Wandel zum monetären Vergütungssystem könne weitaus unproblematischer funktionie-ren, würde man kulturelle Unterschiede beachten. Er schlägt vor, dass man mehr auf die Gruppe als Ganzes eingehen und nicht so sehr auf finanzielle Anreize set-zen solle. Also könnte man die Anreize eher auf die Anerkennung innerhalb der Gruppe ausrichten (Almeida 2011).

In völliger Übereinstimmung damit kann man in Lateinamerika bei Ange-stellten eine Präferenz von Systemen mit festen Gehältern gegenüber variablen feststellen. Die Mehrzahl der Versuche Vergütungssysteme, die auf variablen Gehältern basieren, einzuführen, fand in den transnationalen Unternehmen und einigen wenigen großen Unterneh-men statt. Die meisten dieser Bemü-

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hungen stießen offensichtlich nicht auf besonders große Akzeptanz. Dies liegt daran, dass die faktischen Möglichkei-ten, Verantwortungen, die sich direkt auf die Leistungen niederschlagen, zu übernehmen, in stark hierarchisch strukturierten Unternehmen kaum vor-handen sind (Elvira / Dávila 2005:38). Sowohl die Ergebnisse als auch mög-liche Indikatoren für die Steigerung der Produktivität nach der Einführung variabler Vergütungssysteme, sind noch unklar.

Teamarbeit: In Lateinamerika findet man eine generell sehr positive Ein-stellung gegenüber Teamarbeit vor, da persönliche Kommunikation und Empathie in der Region als bedeut-same Tugenden gelten, die ein gutes Arbeitsklima ermöglichen. Bedin-gungen wie flachere Hierarchien oder Verantwortungsabgabe, die die Team-arbeit erleichtern, sind jedoch schwer einzufordern. Vorgesetzte tun sich sehr schwer damit, Information und Wissen mit den ihnen untergeordneten Mitar-beitern zu teilen (Calderón-Moncloa/ Viardot 2009:20). Außerdem ist die Kommunikation im Unternehmen in der Regel sehr hierarchisch strukturiert. Da die Verantwortung dafür allem Anschein nach bei den zentralen, charis-matischen Machtfiguren liegt, werden die Bemühungen der Manager, die Machtdistanz zwischen Vorgesetzten und Untergeordneten zu minimieren, erschwert (Elvira / Dávila 2005:31). Laut Elvira und Dávila gibt es jedoch eine Ausnahme von dieser Tendenz, nämlich die Gruppe der Führungskräfte des mittleren Managements und auf-wärts. Hier ist die Fähigkeit, aber auch der notwendige Ehrgeiz vorhanden, um Entscheidungen zu übernehmen und in Teams zusammenzuarbeiten. Dies könnte auch ein generationsbedingtes Phänomen sein, welches eventuell mit dem von Rodríguez angegebenen stei-genden Bildungsniveau zusammenhängt (Rodríguez 2002:276).

Subunternehmertum: Eine weitere Maß-nahme des modernen Managements, die in Lateinamerika zu Konflikten führt, ist das Subunternehmertum. Wie schon erwähnt, sind die Löhne in der Regi-

on traditionsgemäß eher niedrig und werden deshalb durch Zusatzleistungen erweitert. Aus diesem Grund weigern sich lateinamerikanische Arbeiter häufig gegen Subunternehmen, da diese keine sozialen Zusatzleistungen bieten, die ihr niedriges Gehalt aufbessern würden. Des Weiteren leiden die Aufstiegschan-cen, die Stabilität und das Gefühl der Betriebszugehörigkeit darunter (Elvi-ra/ Dávila 2005:39) – alles Faktoren, die von dem trabajador antiguo – sehr geschätzt werden.

Fortbildung: Abgesehen von wenigen Ausnahmen, sind Begriffe wie Trai-ning oder Personalentwicklung in der Region eher unbekannt, was als Folge eines kaum entwickelten Personalma-nagements in Lateinamerika angesehen werden kann. Dazu kommt ein Man-gel an geeigneten Angeboten, da viele Bildungsprogramme, die in entwickelten westlichen Staaten konzipiert wurden, nicht zu den regionalen Eigenheiten passen und letztlich abgelehnt werden (Elvira / Dávila 2005:36).

Mobilität: Die Wichtigkeit der Fami-lie in der Region führt dazu, dass der weltweite Einsatz lateinamerikanischer Führungskräfte niedrig ist. Somit wird die geografische Ausbreitung von em-presas multilatinas (internationale Un-ternehmen aus Lateinamerika) – sei es durch Direktinvestitionen im Ausland oder nur Investitionen im eigenen Land – erschwert. Das rein finanzielle Entgelt scheint den Wert, der der Familie und dem sozialen Umfeld zukommt, nicht kompensieren zu können. Als Beispiel: Das durchschnittliche Monatsgehalt eines Geophysikers in Chile nach zwei Jahren Betriebszugehörigkeit beträgt 3.200 US$. Ein Ingenieur hingegen verdient unter gleichen Bedingungen 2.100 US$. Dennoch scheint das höhe-re Gehalt des Geophysikers die schlech-ten Arbeitsbedingungen (in isolierten Gegenden und fern vom gewohnten sozialen Umfeld) auf dem Gebiet nicht wettzumachen. Wenn man die Mit-arbeiter vor die Entscheidung stellt, entweder in der Hauptstadt Santiago zu bleiben oder mit dem doppelten Gehalt außerhalb zu arbeiten, bevorzugen die meisten die erste Option (Rodo 2011).

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Im klaren Gegensatz zur fehlenden Mobilität von Führungskräften oder höheren Angestellten steht die Dunkel-ziffer der illegalen Migration tausender Lateinamerikaner, die versuchen über Mexiko in die USA zu gelangen oder auch der Migration aus Uruguay und Argentinien nach Europa. Ohne Zweifel sind dies Extremfälle, die im Gegen-teil zu beispielsweise den genannten Führungskräften, einen höheren Grad an Flexibilität im Hinblick auf ihre geographische Mobilitätsbereitschaft aufweisen. Was auch immer die Gründe für oder gegen eine Migration sind, ist es nicht von der Hand zu weisen, dass die Ursachen, die den Unterschied zwischen dem einen und dem anderen Extrem ausmachen, in der Region ver-kannt werden.

5. Schlussfolgerung

Im Artikel wurde gezeigt, dass sich die lateinamerikanische Kultur von einer auf Landwirtschaft basierenden Arbeitskultur weiterentwickelt hat. In der jüngsten Vergangenheit ist diese

Arbeitskultur systematischer geworden und hat an Komplexität gewonnen. Das Ausmaß der Entwicklung hält sich jedoch in Grenzen, wenn man beachtet, dass der Großteil der Bevölkerung noch in einem informellen wirtschaftlichen Kontext lebt und arbeitet.

Auch wenn in der Region ein intellektu-elles Unbehagen herrscht, besteht noch viel Forschungsbedarf im Hinblick auf die unterschiedlichen Praktiken, die in der Region vorzufinden sind. Ganz kon-kret fehlt es an vergleichenden Studien, die die Unternehmer und Arbeiter stark einbeziehen würden. Wichtig erschien es zu beschreiben, wie die Interaktion zwischen Kern und Peripherie bei der Gestaltung bzw. Entwicklung eines Mo-dell für die ganze Region oder einzelnen Länder funktionieren würde.

Somit erweist sich selbst nach der vorangegangenen Analyse die Frage als riskant, ob die hier beschriebenen Span-nungen herangezogen werden können, um das regionale Management dennoch als homogene Einheit zu charakterisie-ren.

Ausgewählte Merkm�ale des Managem�ents in Lateinam�erika

RekrutierungIn der Regel sucht man den besten Kandidaten unter eigenen Bekannten. Nur große Unternehmen greifen bei wichtigen Posten zu Anzeigen oder Rekrutierungsmaß-nahmen. Sehr oft sind die Loyalität und die Beziehungen des Kandidaten (eine Art Mitgift) wichtiger als Noten, Titel oder Qualifikationen.

Karriereplanung Man belohnt vor allem die Loyalität gegenüber den Vorgesetzen, Dienstalter statt Produktivität.

Beziehung Persönlich. Freundlich.

ArbeitsverpflichtungPaternalismus. Beziehung zwischen Vertretern unterschiedlicher Hierarchieebenen. Die in der sozialen Hierarchie niedriger stehende Person kann damit rechnen, von dem ihr übergeordneten Vertreter einer höheren Hierarchieebene beschützt zu werden und bietet diesem im Gegenzug seine Loyalität an.

Kom�m�unikation Sehr hierarchisch und anweisungsorientiert.

VerantwortungDiffuse Verantwortung. Im Zweifelsfall ist der Chef bzw. Abteilungsleiter immer verantwortlich. Kaum Delegation von Seiten der Chefetage und kaum eigene Ver-antwortung seitens der Mitarbeiter.

Mitbestim�m�ung Mitbestimmung ist nicht erwünscht. Die Verantwortung wird selten delegiert.

Motivation Ältere Mitarbeiter bevorzugen öffentliche Anerkennung von Loyalität und Dienstal-ter, jüngere Generationen eher Geld statt Anerkennung.

Hierarchie Diffus definiert, aber extrem ausgeprägt falls es Zweifel gibt.

Abb. 4: Ausgewählte Merkmale des Managements in Lateinamerika. Quelle: Eigene Angaben in Anlehnung an Rodríguez 2002 und Elvira / Dávila 2005.

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Aus der untersuchten Literatur geht jedoch hervor, dass kaum nationale Unterschiede bestehen, wenn es um die Existenz eines spezifischen Ma-nagementmodells geht. Alles deutet darauf hin, dass es in Lateinamerika trotz seiner geografischen, historischen und sprachlichen Unterschiede eine enorme Ähnlichkeit bei den Schwie-rigkeiten gibt, die bei der Anwendung des westlichen Managementmodells auftreten. Wir haben in diesem Artikel das Konzept der Hazienda eingeführt, um das gemeinsame Erbe der subordina-ción ascética als vereinendes Element der Region zu verstehen.

6. Literatur

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Endnoten

1. Lateinamerika ist ein politisch-kulturel-ler Begriff, der dazu dient die spanisch- und portugiesischsprachigen Länder Amerikas von den angloamerikanischen Ländern Amerikas abzugrenzen. Zu Lateinamerika gehören die Länder Argentinien, Bolivien, Brasilien, Chile, Costa Rica, Dominika-nische Republik, Ecuador, El Salvador, Guatemala, Honduras, Kolumbien, Kuba, Mexiko, Nicaragua, Panama, Paraguay, Peru, Puerto Rico, Uruguay und Venezuela.

2. Das Modell des westlichen Manage-ments ist eine abstrakte Konstruktion, die der chilenische Soziologe Darío Rodríguez in Anlehnung an die Werke Webers, Taylors und Fayols vorgeschlagen hat (Rodríguez 2002:274).

3. Die Bezeichnung Hazienda (hacienda) stammt aus dem Andalusischen; vermutlich wurde sie zum ersten Mal im 16. Jahrhun-dert in Nueva España (Mexiko) verwendet und hat sich von dort aus im Laufe des 17. Jahrhundert in ganz Lateinamerika verbrei-tet. Bei einer Hazienda handelt es sich um eine spezielle Form landwirtschaftlicher Zusammenarbeit, welche das wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben in der Region rund 400 Jahre lang bestimmt hat.

4. Rodríguez’ Werk kann als echter Klassiker für die Intellektuellen der Region bezeichnet werden, da es in zahlreichen Aufsätzen zum Thema Management in Lateinamerika aufgegriffen wird (Rodríguez 2002).

5. La raza lässt sich nur ungenügend als Rasse ins Deutsche übersetzen. Um die Ironie von Rodríguez zu verstehen, muss man wissen, dass das Konzept Rasse in Lateinamerika als ethnische Zugehörigkeit – nämlich Indianer, Schwarzer oder Spanier – bis in die Mitte des 20. Jahrhundert in einer Art allgemeinen Wissens als Synonym minderwertiger Gruppierungen galt. Dem gegenüber als hochwertige Gruppierungen galten vor allem die angelsächsische Kultu-ren. Ein verbreiteten Scherz aus dieser Zeit sagte, dass die Länder Lateinamerikas schon länger “reiche Länder” wären, wenn sie von Engländer oder Deutschen statt von Spanier entdeckt worden wären.

6. Zum Beispiel der Roman „Der Gaucho Martín Fierro” von José Hernández, Argen-tinien 1872, schildert diese Zustände.

7. Sowohl in den Haziendas als auch in den Minen in Chile war es bis zum letzten Drittel des 20. Jahrhunderts üblich, das

Gehalt in sogenannten fichas (Marken) ausgezahlt zu bekommen, um damit in den Geschäften des Arbeitgebers einzukaufen (Salazar / Pinto 2002:164f ).

8. Populismus (el populismo) bedeutet die Entstehung von Beteiligung größerer Massen am politischen Leben, sei es durch politische Parteien oder andere Organisati-onen, wie Gewerkschaften. Es entstand in Lateinamerika um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert.

9. Als economía informal werden gewinn-bringende Aktivitäten verstanden, die ohne arbeits- oder handelsrechtliche Grundlage erfolgen (Wood 2004:76).

10. Die staatliche Bank Chiles (BancoE-stado) machte im Jahr 2011 Werbung mit der Botschaft, dass es nicht von Bedeutung ist, ob jemand Anhänger von Colo (Colo-Colo), der populärsten (proletarischen) Fußballmannschaft oder zu jung ist, um bei ihnen ein Konto zu eröffnen. Dies soll zu verstehen geben, dass ein Schwarzhaari-ger mit rundem Gesicht (wie die meisten Nachfahren der Ureinwohner Chiles) und Anhänger einer Fußballmannschaft mit einem indigenen Namen sagt, dass die Kunden dieser Bank nicht wegen ihres Aussehens oder Alters diskriminiert werden. Elitebanken in Chile eröffnen hingegen in der Regel problemlos Kontos für Studie-rende von Fachrichtungen wie Medizin, Jura oder Ingenieurswesen. Die junge Frau in der Anzeige wird eher als alternativdar-gestellt und gilt nicht als klassische Vertre-terin der genannten Studiengänge. Direkte Übersetzung: Hay un banco al que sólo le importa que tu vida sea mejor. – Es gibt eine Bank, die es nur interessiert, dass dein Leben besser wird. En 4 años, 4 millones de CuentaRUT. – In 4 Jahre 4 Millionen neue Kontos. No les importó si soy del Colo. – Es spielte keine Rolle, ob ich Anhänger von Colo bin. No les importó si soy joven. – Es spielte keine Rolle, ob ich jung bin.

11. In den wichtigsten und erfolgvers- prechendsten Studiengängen an der Uni-versidad Católica und der Universidad de Chile – Bau- und Wirtschaftsingenieurswe-sen – haben fast zwei Drittel der Studenten ihren Schulabschluss an kostenpflichtigen, privaten Schulen gemacht und auch etwa 85% der Geschäftsführer unter 40 Jahren sind ehemalige Schüler dieser Universitäten (Rodríguez 2003).

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Jonas Polfuß

Doktorand der Sinologie und Dozent für Interkulturelle Kommunikation am Institut für Sinologie und Ostasienkunde an der Westfälischen Wilhelms-Uni-versität Münster

Abstract (Deutsch)

Der vorliegende Artikel stellt einen Kulturassimilator für chinesische Teilnehmende mit Deutschland als Zielland vor. In sieben Fallbeispielen werden authentische Situ-ationen aus dem chinesisch-deutschen Alltag vorgestellt, die von den Teilnehmenden mithilfe von jeweils vier Antwortmöglichkeiten zu interpretieren sind. Die Antworten werden sodann einzeln erläutert. Anders als in der üblichen Ratgeberliteratur schließt hieran noch eine kritische Betrachtung der Beispiele und der Erklärungen an. Der Hintergrund der jeweiligen Situation wird aus chinesischer und deutscher Per-spektive interkulturell beleuchtet und die Anwendbarkeit der Trainingsform für das interkulturelle Lernen diskutiert. Die Untersuchung trägt dem wachsenden Bedarf an interkultureller Orientierung für chinesische Studierende in Deutschland Rechnung. Sie berücksichtigt auch den Wandel (alltags-)kultureller Gewohnheiten sowie die häu-fig vernachlässigten Phänomene der Hyperkorrektur durch interkulturelles Training.

Stichworte: Kulturassimilator Deutschland, chinesische Studierende, interkulturelles Training, interkulturelle Ratgeberliteratur

Abstract (English)

This article introduces a culture assimilator for Chinese participants whose country of destination is Germany. Authentic situations of Chinese-German everyday life are presented in seven case examples, which are to be interpreted by the participants with the help of four possible answers. In the next step, the answers are explained in detail. Unlike in typical self-help literature, the examples and explanations are then followed by a critical discussion. The background of each situation is analyzed interculturally from both Chinese and German perspectives and the applicability of this training method for intercultural learning is assessed. The present study meets the growing demand for the intercultural orientation of Chinese students in Germany, taking into account the changing (every-day) cultural habits and the frequently ignored phenomena of hypercorrection through intercultural training.

Keywords: culture assimilator Germany, Chinese students, intercultural training, intercultural self-help literature

Kritischer Kulturassim�ilator Deutschland für chinesische Teilnehm�ende Critical culture assimilator Germany for Chinese participants

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1. Einleitung

1.1. Chinesische Studierende in Deutschland

Chinesische Studierende stellen in Deutschland die größte Gruppe ausländischer Studierender dar, für das Jahr 2010 wurden 22.779 gezählt, was 12,6 % der Gesamtanzahl ausmacht (DAAD 2011:331). Die Abbruchquote von Studierenden aus dem Ausland ist in den letzten Jahren zwar gesunken, liegt mit 50 % aber weiterhin sehr hoch (ebd.:502). Deutschland ist bei Studie-renden aus China unter anderem aus dem Grund beliebt, weil hier keine oder nur geringe Studiengebühren erhoben werden. Der Studienort hält aber auch unerwartete Schwierigkeiten für chine-sische Studierende bereit. Viele müssen sich von der englischen auf die deutsche Sprache umstellen, es gilt ebenso, die im Vergleich mit den chinesischen Verhält-nissen ungewohnte Selbstständigkeit an der deutschen Universität zu meistern. Das soziale Leben muss neu strukturiert werden und darüber hinaus können finanzielle Probleme das Studentenle-ben erschweren. An einigen Universitä-ten gibt es mittlerweile Programme für Studierende aus dem Reich der Mitte, in denen den Neuankömmlingen zum Beispiel durch Tutorenbetreuung per-sönliche Hilfestellung angeboten wird. Ferner bemühen sich die Robert Bosch Stiftung und das Deutsche Studenten-werk seit dem Jahr 2010 mit einem Trainee-Programm darum, Chinesinnen und Chinesen das Studium in Deutsch-land zu erleichtern. Ein konkretes Ziel von diesen und ähnlichen Program-men besteht darin, die Sensibilität für kulturelle Unterschiede zu erhöhen. Dass es Studierenden aus China noch immer schwer fällt, sich in Deutschland einzuleben, lässt sich auf sprachliche wie auch auf interkulturelle Hürden zurück-führen. Sie bedauern etwa, dass es sehr schwer sei, Freundschaften mit Deut-schen aufzubauen. Mangelnde soziale Kontakte zu Muttersprachlern können mitunter dazu führen, dass das Deutsch-Niveau der chinesischen Studierenden nach wenigen Monaten in Deutschland niedriger liegt, als bei der Ankunft, da

man sich davor in China noch inten-siver mit der Sprache des Ziellands beschäftigt hatte. Dies hat wiederum negative Folgen für das Studium, die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben und gegebenenfalls Nebentätigkeiten in Deutschland.

Neben der Betreuung durch Tutoren oder Tutorinnen und der Teilnahme an interkulturellen Seminaren besteht eine Möglichkeit, sich auf die Kultur des Stu-dienortes vorzubereiten, darin, Ratge-berliteratur zu konsultieren. Schriftliche China-Ratgeber für Deutsche verfügen bereits über eine längere Entwicklungs-geschichte, die im Folgenden über-blickshaft besprochen wird.

1.2. Interkulturelle Ratgeber für China und Deutschland

Seit den 1990er-Jahren wurde eine Rei-he von Ratgebern für Deutsche verfasst, die planen, nach China zu reisen, um dort zu studieren, kurz- und langfristig als Angestellte zu arbeiten oder ein eige-nes Unternehmen zu gründen. Es gibt Ratgeber, die innerhalb von nur 30 Mi-nuten einen Überblick für den Ausland-seinsatz geben möchten ( Jing 2006), aber auch spezialisierte Handbücher, die auf bestimmte Aspekte wie etwa Mar-keting in China eingehen (z. B. Tank 2006). In einer vergleichenden Analyse einer Auswahl an China-Ratgebern wurden bereits diverse Gemeinsamkei-ten und Problemfelder aufgezeigt, die dieser Literatur innewohnen (Poerner 2009). Auch sind in den letzten Jahren zahlreiche akademische Arbeiten zum Thema verfasst worden, die Einzelaspek-te von deutsch-chinesischen Koopera-tionen behandeln oder den Fokus auf bestimmte Märkte oder Produkte legen (Shi 2003, Dünn 2007, Kreilinger 2010, u. a.).

Die Ratgeber für wirtschaftliches Engagement in China beschreiben in der Regel bestimmte Teilbereiche der chinesischen Geschäfts- und Alltags-kultur. Die Lektüre soll der Leserschaft ermöglichen, einen ersten Eindruck zu gewinnen, und sie in die Lage versetzen, mit verbreiteten Kulturunterschieden umzugehen, etwa Konflikte zu ver-

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meiden oder zu lösen und Beziehun-gen erfolgreich zu managen. Je nach Ausprägung des Ratgebers gilt es, durch die Beherrschung interkultureller Soft Skills beruflich und wirtschaftlich erfolgreich zu agieren. Der Wert dieser Ratgeberliteratur wird unterschiedlich eingeschätzt. Die Qualität kann ent-sprechend den Erfahrungen der Schrei-benden und der Aktualität der Informa-tionen deutlich variieren. Aufgrund der Konkurrenz zwischen verschiedenen Büchern liest man nicht selten in der Einleitung, wodurch sich das vorliegen-de Werk von anderen hervorhebe, ob-wohl sich die Grundstrukturen letztlich sehr ähneln.

Was das interkulturelle Training im Selbststudium und in Seminargrup-pen betrifft, hat sich gezeigt, dass die Verwendung von Fallbeispielen in sogenannten Kulturassimilatoren die interkulturellen Fähigkeiten deutlich verbessern kann.3 Damit wird der Leserschaft und – bei Anwendung im Unterricht – den Studierenden eine Reihe von Lösungsmöglichkeiten angeboten, die in verschiedenem Maß vielversprechend sind, um eine interkul-turelle Problemsituation zu meistern. In China-Ratgebern wird diese Methode bisher seltener gewählt. Beruflich in China (Thomas/ Schenk / Heisel 2008) ist eine sehr nennenswerte Ausnah-me.4 Wie der Titel andeutet, geht es vornehmlich darum, Nicht-Chinesen und insbesondere Deutsche auf einen beruflichen Aufenthalt in China vorzu-bereiten. Die Szenen erscheinen sehr re-alistisch und die Lösungsmöglichkeiten regen zum Nach- und Umdenken an, anstatt den interkulturellen Zeigefinger zu erheben. Ähnliches lässt sich auch für das jüngst erschienene Buch Fit für Stu-dium und Praktikum in China feststel-len (Weidemann / Tan 2010), das sich vornehmlich an deutsche Studierende richtet, die einen Aufenthalt im Reich der Mitte planen.

In die andere Richtung, das heißt für chinesische Studierende, Angestell-te und Wirtschaftsakteure, die nach Deutschland kommen, ist bisher weit-aus weniger gearbeitet worden.

Die stetig wachsende Zahl der Studie-renden aus China an deutschen Univer-sitäten sowie die steigende Attraktivität des deutschen Lebens- und vor allem Wirtschaftsstandorts sprechen jedoch dafür, interkulturelle Ratgeber und Trainingsmaterial mit dem Ansatz des Kulturassimilators auch für das Stu-dium und Leben in Deutschland zu erarbeiten. Die umfangreiche China-Ratgeberliteratur für Deutsche mit ihren Vorzügen und Entwicklungsfel-dern kann dafür als lehrreiches Beispiel dienen.5

1.3. Kulturassim�ilator Deutschland für chinesische Teilnehm�ende

Im vorliegenden Artikel wird ein Kulturassimilator für Chinesinnen und Chinesen vorgestellt, die während des Studiums in China mit Deutschen zu tun haben oder – und darauf liegt der Schwerpunkt – in Deutschland studie-ren. Eine solche Arbeit liegt in deut-scher Sprache noch nicht vor, auch eine chinesische Arbeit, die diesem Ansatz folgt, ist dem Autor nicht bekannt.6

Die Situationen, die dem Training zugrunde liegen, stammen in leicht abgewandelter Form aus Interviews mit 15 chinesischen Studierenden, die in Deutschland zwischen zwei Monaten und acht Jahren für Studium und Arbeit verbracht haben. Es wurden diejenigen Situationen für die Fallbeispiele ausge-wählt, die mehrfach von den Interview-ten angesprochen wurden und auch mit den eigenen Erfahrungen des Autors in Deutschland und China übereinstim-men. Weitere Interviews und Umfragen wurden durchgeführt, um die Ergeb-nisse der Einzelinterviews zu bestätigen und den erstellten Kulturassimilator zu testen. Den Interviewten – chine-sischen und deutschen Studierenden, Lehrenden und Angehörigen der freien Wirtschaft – sei an dieser Stelle herzlich für ihre Offenheit, Geduld und konst-ruktive Kritik gedankt.7

Die sieben Fallbeispiele mit Anhang lassen sich grob anhand der Beteiligten unterscheiden, mit denen die Studie-renden aus China interagieren. In den

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ersten vier Situationen handelt es sich um deutsche Studierende (2.1.-2.4.), in den folgenden zwei Szenen um deutsche Lehrende (2.5.-2.6.) und in der letzten Situation um den Vertreter eines deut-schen Unternehmens (2.7.).

Zum einen besteht das Ziel dieser Untersuchung darin, Angehörigen der chinesischen Kultur den Einstieg in den deutschen Kulturraum zu erleichtern. Zum anderen zielen die kritischen Bemerkungen im Anschluss an die Fallbeispiele mit Erklärungen darauf ab, den wissenschaftlichen und praktischen Wert dieser Form des interkulturellen Trainings zu diskutieren. Bereits hier sei darauf hingewiesen, dass sich in Kultu-rassimilatoren und Ratgebern gewisse Verallgemeinerungen nicht vermeiden lassen. Wenn also auf den nächsten Seiten von Gewohnheiten der Deut-schen oder der Praxis in China die Rede ist, gibt dies lediglich die begründete Hoffnung wieder, mit der Beschreibung einen großen Teil der angesprochenen Gruppe oder Region zu erfassen. Im Fazit des Artikels werden die Konse-quenzen derartiger Pauschalisierungen für das interkulturelle Lernen erneut aufgegriffen.

2. Kulturassim�ilator

2.1. Das schwierige Party-Gespräch

2.1.1. Situation

Nur wenige Wochen, nachdem die chinesische Germanistik-Studentin Jun in Deutschland angekommen ist, wird sie von einer Kommilitonin zur Einwei-hungsfeier eines Freundes eingeladen. Auf der Feier unterhält sie sich in klei-ner Runde mit neuen Bekanntschaften. Noch bevor sich Jun näher vorstellen kann, befragt sie eine Studentin zur Situation der Menschenrechte in China. Da ihr das Thema beim Kennenlernen auf einer Party unpassend erscheint, versucht Jun, das Gespräch in eine an-dere Richtung zu lenken. Ein außenpo-litisch besonders interessierter Student interpretiert das jedoch als Verteidigung der Lage in China – er pocht darauf, das

Ganze nun gemeinsam auszudiskutie-ren. Jun wird die Situation zunehmend unangenehm, bis sie sich unter einem Vorwand entschuldigt und verschwin-det. Der nächsten Einladung zu einer Party folgt Jun aufgrund der schlechten Erfahrung nicht mehr.

2.1.2. Erklärungsversuche

a) Jun ist auf der Feier nicht willkom-men, weil sie nicht direkt von den Gastgebern eingeladen wurde und kaum jemanden der Gäste kennt. Das kritische Gesprächsthema ist nur ein Vorwand, um Jun dies vor Augen zu führen.

b) In Deutschland ist es sehr üblich, sich über die Diskussion kritischer Themen kennenzulernen. Wenn man den gleichen Standpunkt hat, kann man eine Freundschaft ein-gehen, wenn dies nicht der Fall ist, bricht man das Gespräch ab.

c) Bei einer studentischen Feier über politische Fragen zu streiten ist in Deutschland durchaus normal. Dass viele Deutsche die chinesische Regierung ablehnen, hängt auch mit der sehr kritischen China-Berichter-stattung in Deutschland zusammen.

d) Studierende aus China werden in Deutschland häufig für Spione gehalten, weshalb man mit Fragen zur Regierung herausfinden will, ob man es mit einem Spitzel zu tun hat oder nicht.

2.1.3. Bewertung

Zu a) Einladungen über Bekannte sind nichts Ungewöhnliches in Deutschland; dass dies die Moti-vation für die kritische Diskussi-on darstellt, erscheint demnach unwahrscheinlich.

Zu b) In Deutschland zeigt sich in Gesprächen wie diesem grund-sätzlich ein stärkeres politisches Bewusstsein als in China, kritische Themen sind in der Tat ein Teil der Diskussionskultur – besonders in Kreisen politisch interessierter Studierender. Man

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muss aber keinesfalls immer die gleiche Meinung haben, um sich mit jemandem anzufreunden.

Zu c) Kritische Themen in Bezug auf China sind in den deutschen Me-dien sehr präsent, in der Schul-ausbildung spielt China hingegen kaum eine Rolle. Das wirkt sich auch auf die China-Bilder der deutschen Studierenden aus. Dies erscheint in Kombination mit dem ersten Teil von b) als Antwort stimmig.

Zu d) Tatsächlich gibt es einige deut-sche Medien, die diesen Ein-druck vermitteln wollen, doch führt dies noch nicht zu einem generellen Misstrauen gegenüber allen Studierenden aus China. Dass auf einer studentischen Party versucht wird, chinesische Spione zu enttarnen, kommt sicher nur äußerst selten vor.

2.1.4. Lösungsansätze

Oft bemerken chinesische Studierende in Deutschland, dass ihre kritischen Gesprächspartner nicht ausreichend informiert seien, während die deutsche Seite bemängelt, dass die chinesische nicht kritisch genug sei. Für die be-schriebene Situation auf der Party ist es für die chinesische Seite wichtig zu wis-sen, dass derartige Fragen in der Regel nicht persönlich gemeint sind. Häufig handelt es sich einfach um Neugierde der Deutschen, zu erfahren, wie es in China wirklich ist, und nicht darum, das chinesische Gegenüber zu kränken, obwohl dies bei diesen Themen leicht passieren kann.

Manche der chinesischen Befragten gaben an, in solchen Gesprächen bestimmte Phrasen als Antworten zu verwenden, um nicht zu sehr auf eine unliebsame Thematik eingehen zu müs-sen. Andere bevorzugten, sich an die deutsche Diskussionskultur anzupassen, die kritischen Themen zu diskutieren und sich zu bemühen, dabei auch auf die Wissenslücken der deutschen Ge-sprächspartner hinzuweisen.

In jedem Fall bietet es sich an, derartige Gespräche nicht per se als ein persön-liches Streitgespräch zu interpretieren. Grundsätzlich ist es in Deutschland kein Problem, den Gesprächspartner freundlich darauf hinzuweisen, dass man (in einer bestimmten Situation) nicht gerne über politische Angelegen-heiten sprechen möchte.

2.1.5. Besprechung des Beispiels

Nicht nur von chinesischer Seite wird die direkte Art der Deutschen beklagt, doch kann diese in deutsch-chinesischer Kommunikation besonders leicht zu Konflikten führen. In China sind beim Kennenlernen aus deutscher Sicht vermeintlich triviale oder auch zu intim erscheinende Fragen nach Alter, Fami-lienstand, Beruf, Verdienst u. ä. üblich, mit denen Interesse für das Gegenüber gezeigt wird. Dagegen versucht man in Deutschland beim Kennenlernen von ausländischen Bekanntschaften oft, dieses Interesse auszudrücken, indem man die eigenen Kenntnisse zum Heimatland des Gegenübers vorstellt. Das geschieht in China auch, doch werden Deutsche dort vornehmlich für den Fußball, VW und Bier gelobt, während Chinesen und Chinesinnen in Deutschland – unter anderem aufgrund der eben genannten Einflüsse durch die Medien – häufiger auf kritische Themen angesprochen werden.8 Für die chinesi-sche Seite kann eine solche Frage bereits einen Gesichtsverlust bedeuten, wie im Fallbeispiel deutlich wird.

Dass in Deutschland die Mainstream-Medien häufig über aus deutscher Sicht suboptimale Verhältnisse in China berichten, ist das Ergebnis einer Unter-suchung der Heinrich-Böll-Stiftung mit dem Titel Die China-Berichterstattung in den deutschen Medien (Richter / Gebauer 2010).9 Freilich liegen oftmals nicht nur verschiedene Kommunikati-onsmuster und (durch Medien beein-flusste) Bilder der Fremde zwischen den Gesprächsteilnehmenden vor, sondern sind auch unterschiedliche, divergieren-de Wertevorstellungen anzutreffen, die in solchen Situationen zu Konflikten führen können. Die Aufgabe eines inter-kulturellen Ratgebers wird hier jedoch darin gesehen, Kommunikation zu er-

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leichtern und gegenseitiges Verständnis zu fördern, und nicht darin verstanden, politische Meinungen zu bilden oder zu verändern.

2.2. Die Einladung zum� Glühwein

2.2.1. Situation

Nach einem gemeinsamen Seminar geht Hong mit seinen neuen Kommilitonen auf den Weihnachtsmarkt, um noch einen Glühwein zu trinken. Hong bietet an, die anderen Studierenden einzula-den, doch fragen die ihn verwundert: „Was gibt es denn zu feiern?“ Hong ist durch die Frage verwirrt und weiß nicht, was er darauf antworten soll. Die Studierenden bezahlen den Glühwein dann alle getrennt. Zuhause angekom-men, fragt Hong seinen deutschen Zim-mernachbarn, wo, wann und wie man in Deutschland andere einlädt.

2.2.2. Erklärungsversuche

a) In Deutschland bezahlen immer alle getrennt ihre Rechnung. Das gilt für einen Restaurantbesuch von einem Pärchen wie auch für ein gemeinsa-mes Getränk in der Gruppe.

b) Wenn jemand neu in einer Gruppe ist, dann wird diese Person beim ers-ten Treffen immer von den anderen eingeladen. Dies als Neuankömm-ling selbst zu übernehmen wäre unhöflich gegenüber der Gruppe.

c) In der Regel bezahlt man in größe-ren Gruppen wie der im Beispiel genannten einzeln. Wenn es einen besonderen Anlass gibt, beispiels-weise einen Geburtstag oder eine bestandene Prüfung, dann lädt manchmal auch eine Person die Gruppe zu einem Getränk ein.

d) Man kann die anderen in solch einer Situation einladen, wenn mehrere Runden Glühwein für alle gekauft werden. Wenn dann alle einmal für die Gruppe bezahlen müssen, ist es gerecht aufgeteilt.

2.2.3. Bewertung

Zu a) In Deutschland wird häufig getrennt bezahlt, gegenseitige Einladungen sind aber auch keine Seltenheit. Grundsätz-lich kann man in Deutschland problemlos einzeln mit der Bedienung abrechnen, wenn man in der Gruppe in eine Bar oder in ein Restaurant geht. Bei einem romantischen Dinner würde eine getrennte Abrechnung meist unpassend wirken.

Zu b) Es gibt keine festen Regeln dieser Art. In Unternehmen gibt man jedoch manchmal einen Ein-stand. Das heißt, dass – ganz im Gegensatz zur Erklärung b) – der Neuankömmling die neue Kol-legschaft zu einem kleinen Snack oder Umtrunk einlädt, damit sich alle besser kennenlernen können. Unter Studierenden ist das in der Universität aber nicht üblich. In einer studentischen Wohngemeinschaft könnte es hingegen dazu kommen.

Zu c) Diese Antwort spiegelt recht genau die Praxis in Deutschland wider. Es kann hier sogar passie-ren, dass man von den Bekannten direkt aufgefordert wird, einen auszugeben, also aufgrund eines freudigen Ereignisses die anderen auf ein Getränk einzuladen.

Zu d) Es ist zwar keine grundsätzliche Regel, kommt aber ebenso häufig vor, dass man sich mit dem Bezahlen wie beschrieben ab-wechselt, wenn mehrfach etwas in der Gruppe gekauft wird. Die Antworten c) und d) sind beide passend.

2.2.4. Lösungsansätze

Wie die Bewertungen gezeigt haben, ist es nicht ganz einfach, sich in der jeweiligen Situation richtig zu verhalten. Hinzu kommt, dass diese Gewohnhei-ten von Person zu Person unterschied-lich sein können. In Deutschland – wie auch andernorts – kann man mitunter

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auf sehr spendable oder sparsame Mit-menschen treffen.

Wenn man sich nicht ganz sicher ist, wer nun bezahlen wird, spricht nichts dagegen, jemanden aus der Gruppe da-nach zu fragen. Falls man vermutet, ein-geladen zu werden, aber nicht fordernd erscheinen möchte, kann man mit dem Herausholen der Brieftasche andeuten, selbst bezahlen zu wollen. Die einla-dende Person wird dann die Einladung noch einmal deutlich formulieren. Die in China üblichen (gespielten) Streite-reien um das Bezahlen der Rechnung sind in Deutschland nicht verbreitet.

Die hier angegebenen Hinweise geben einen Leitfaden an die Hand, um sich in der ersten Zeit in Deutschland zu ori-entieren. Mit der Zeit entwickelt man meist auch selbst ein Gefühl, wie man sich in solchen Situationen angemessen verhält.

2.2.5. Besprechung des Beispiels

Ein gemeinsamer Besuch eines Restau-rants oder Cafés kann in Deutschland und China eine wichtige soziale Funk-tion erfüllen. Insbesondere in China wird ein gemeinsames Essen gerne dafür genutzt, um sich besser kennenzulernen, bevor man zum Geschäftlichen oder Be-ruflichen übergeht. Völlig unangemes-sen wäre es in China, dass die deutsche Seite die Rechnung ganz oder nur in Teilen übernimmt, wenn die chinesische als Gast- oder Arbeitgeber auftritt. Im freundschaftlichen Kreis kommt es mit-unter zu lebhaften Diskussionen oder sogar kleinen Rangeleien darüber, wer nun die Bezahlung übernimmt, obwohl letztendlich gewiss geschaut wird, dass die Rechnung auf lange Sicht ausgegli-chen bleibt.

Mittlerweile ist es in China unter jungen Leuten auch üblich, getrennt zu bezahlen, was als AA zhi 制 bezeichnet wird. Jedoch wird dann nicht getrennt mit der Bedienung abgerechnet. Vielmehr bezahlt zuerst eine Person aus der Gruppe. Erst im Anschluss werden die Kosten aufgeteilt und an das Gruppenmitglied zurückgezahlt (vgl. Kuan / Häring-Kuan 2010:227f.). Im beruflichen Kontext und im offiziellen,

gesellschaftlich stärker normierten Rah-men wird aber weiterhin für die gesamte Gruppe bezahlt.

Wegen der unterschiedlichen Ge-wohnheiten in Ost und West kommt es bisweilen zu Verwirrung bei chine-sischen Studierenden, die gerade in Deutschland angekommen sind. Das Beispiel entstammt einem Interview mit einer chinesischen Studentin. Noch komplizierter wird es, wenn sich eine Deutsche mit China-Erfahrungen an das chinesische Model anpassen will, die Chinesin aber bereits die deutschen Regeln anwendet. Gerade diese Formen der Kontrakorrektur sollten frühzeitig thematisiert werden, da sie leicht zu Missverständnissen führen können.10

2.3. Die Verabredung zum� gem�einsam�en Lernen

2.3.1. Situation

Meimei hat ihre Freizeit während der ersten Monate in Deutschland vor allem mit den anderen Chinesinnen im Wohnheim verbracht. In der Mensa kommt sie dann eines Tages mit der deutschen Sinologie-Studentin Jana ins Gespräch. Die beiden verstehen sich trotz kleinerer Verständigungsprobleme auf Anhieb sehr gut. Jana erzählt Mei-mei von ihren vielen Prüfungen, Meimei schwärmt vom chinesischen Essen, das sie irgendwann zusammen kochen sollten. Jana schlägt abschließend vor, sich am gleichen Tag der nächsten Woche zum Lernen zu treffen, halb zwei sei doch eine gute Zeit dafür. Bevor sie getrennte Wege gehen, tauschen die beiden Handy-Nummern aus. Jana verabschiedet sich mit den Worten „Bis nächste Woche Mittwoch dann“ und ergänzt einige Sätze, von denen Meimei nur „...sonst melde ich mich noch ein-mal...“ deutlich verstehen kann. Meimei wartet nun ein paar Tage darauf, dass Jana den Termin nochmals bestätigt, wie es in China auch üblich wäre.

Da sie bis Dienstag nicht angerufen hat, geht Meimei davon aus, dass Jana wegen der Prüfungen zu beschäftigt ist. Als am Mittwoch um viertel vor zwei ihr Tele-fon klingelt und Jana ungeduldig fragt,

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wo sie denn bleibe, bekommt Meimei einen kleinen Schock. Warum hatte Jana sich denn nicht mehr gemeldet?

2.3.2. Erklärungsversuche

a) Jana hat unerwartet doch noch Zeit für ein Treffen gefunden und ge-hofft, Meimei würde wieder zufällig in der Mensa sein. Der Prüfungs-stress führt dazu, dass sie am Telefon etwas gereizt klingt.

b) Jana hat mehrfach versucht, bei Meimei anzurufen, diese aber nicht erreichen können. Sie ist dann davon ausgegangen, dass es bei dem Termin bleiben wird.

c) Eigentlich hat Jana keine Lust auf das Treffen mit Meimei, will aber nicht unfreundlich sein. Mit dem späten Anruf versucht sie, ihr schlechtes Gewissen zu beruhigen, ohne dass sie sich noch mit Meimei treffen muss.

d) In Deutschland besitzt im Normal-fall auch eine einmalige Terminab-sprache Gültigkeit, wenn niemand den Termin frühzeitig absagt oder verlegt. Jana hat sich danach gerich-tet.

2.3.3. Bewertung

Zu a) Aus Janas Anruf geht eindeutig hervor, dass sie von der gemein-samen Verabredung ausgegangen ist, ein Zusammenhang mit irgendeiner Prüfung ist hier nicht erkennbar.

Zu b) Da Meimei die ganze Woche auf den Anruf gewartet hat, erscheint es unwahrscheinlich, dass Jana sie mehrfach verpasst haben könnte. Wäre Jana davon ausgegangen, dass der Termin feststeht, hätte sie ohnehin nicht mehr bei Meimei anrufen müssen.

Zu c) Angesichts der Tatsachen, dass Meimei und Jana sich so gut verstanden haben und die Verab-redung Janas Vorschlag gewesen ist, klingt es wenig plausibel, dass

Jana das Treffen nun auf diese Weise absagen könnte.

Zu d) In der Tat sind Abmachungen dieser Art in Deutschland ausrei-chend, um als feste Verabredung zu gelten. Sobald Treff- und Zeitpunkt abgesprochen sind, müssen Termine normalerweise nicht nochmals bestätigt werden.

2.3.4. Lösungsansätze

Das Missverständnis im Fallbeispiel beginnt mit Janas Erklärung beim Abschied. Offenbar hat sie lediglich gesagt, dass sie sich nochmals melden werde, wenn etwas dazwischenkomme. Meimei hat dies in der Aufbruchsstim-mung nicht richtig verstanden und ist dann von der chinesischen Gewohnheit ausgegangen, Terminabsprachen immer zu bestätigen. Um eine derartige Ver-wirrung zu vermeiden, reicht vermutlich die Kenntnis aus der Antwort d). Im Zweifelsfall kann in Deutschland ein Termin nach einer Vereinbarung wie der im Fallbeispiel als abgemacht gelten. Wer sich nicht ganz sicher ist, sollte am besten noch einmal nachfragen, damit niemand umsonst warten muss.

2.3.5. Besprechung des Beispiels

Die Deutschen sind berühmt und berüchtigt für ihren Hang zur Pünkt-lichkeit (Gelfert 2005:35). Auch ihre Vorliebe, Aktivitäten in Beruf und Freizeit mit Terminen zu versehen, wurde vielfach bemerkt (Schroll-Machl 2011:121ff.). Für interkulturelle Begegnungen zwischen deutscher und chinesischer Seite hat dies auch und insbesondere in der Geschäftswelt eine große Bedeutung. Unterschiedliche Vorstellungen von Zeitplänen und Terminen bergen ein Konfliktpotenzial, was in der Ratgeberliteratur zu Recht betont wird (Zinzius 2007:125, Kotte/ Li 2008:84ff., Rothlauf 2009:358f., u. a.).

Im privaten Bereich kommt es ebenso zu Missverständnissen, die gerade im Pro-zess des Kennenlernens negative Folgen haben können. Es ist keine Seltenheit, dass deutsche Studierende während der ersten Monate in China aufgrund eines

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nicht bestätigten Termins vergeblich auf ihre Verabredung warten (vgl. Weide-mann / Tan 2010:94ff.). Gerade bei in-formellen Treffen stellt eine erste, noch vage Vereinbarung keine unumstößliche Abmachung dar.

Erwähnung verdienen in diesem Zu-sammenhang die Antworten einiger chinesischer Interviewter. Chinesische Studierende, die erst seit kurzem in Deutschland waren, wiesen mehrfach verwundert darauf hin, dass die Deut-schen es doch in Wahrheit nicht immer so genau mit der Pünktlichkeit nähmen.

Die unbewusste Beeinflussung durch eine ursprünglich fremde Alltagskultur stellte eine chinesische Interviewpartne-rin fest, die viele Jahre in Deutschland gelebt hatte. Als sie einige Wochen in der chinesischen Heimat verbrachte, begannen ihre Freundinnen sie mit ihrer dort befremdlichen Eigenschaft aufzu-ziehen, auch in der Urlaubszeit für alles und jeden Termine festlegen zu wollen.

Ein chinesischer Interviewter, der ebenfalls einige Jahre fernab der Heimat Peking verbracht hatte, bekam den in China durch die steigende Mobilität verstärkten Trend, Termine zu bestäti-gen, zu spüren, als er sich während eines Heimataufenthalts mit Vertreterinnen einer Universität treffen wollte. Er wartete erst vergeblich am vereinbarten Treffpunkt und rief dann die chinesi-schen Kolleginnen an. Diese erklärten ihm, dass er sich noch einmal hätte melden sollen. Auf seine Erwiderung, er sei doch auf dem Weg von Deutschland nach China gewesen, hieß es, dass man heutzutage doch auch unterwegs mit dem Handy E-Mails versenden würde.

2.4. Der wortkarge Assistenz-lektor

2.4.1. Situation

Huang Wei studiert an einer kleinen Fremdsprachen-Universität in Nordchi-na die deutsche Sprache und gehört zu den besten Studierenden. Viele Deut-sche gibt es an der Universität nicht, weshalb sich Huang Wei besonders freut, als er hört, dass ein Student aus Köln als neuer Assistenzlektor an die

Universität kommen wird. Erst drei Wochen nach dessen Ankunft findet Huang Wei endlich die Möglichkeit, den Deutschen anzusprechen. Dafür hat er einige höfliche Sätze auf Deutsch vorbereitet, die er nun feierlich und ein wenig aufgeregt vorträgt. Er stellt sich dem neuen Assistenzlektor vor, geht kurz auf seinen Hintergrund ein und fragt dann freundlich, ob man sich nicht als Sprachpartner gegenseitig beim Lernen helfen könne. Der Deut-sche antwortet nur mit einem knappen „Nein, gerade nicht“ und lässt Huang Wei enttäuscht stehen. Der macht sich zurück auf den Weg ins Wohnheim, wo er seinen chinesischen Kommilitonen aufgebracht von der reservierten Abfuhr erzählt. Alle fragen sich nur eines: Was war mit dem Deutschen los?

2.4.2. Erklärungsversuche

a) Der Assistenzlektor hat an diesem Tag offenbar keine gute Laune. Darüber hinaus hat er schon so viele Anfragen von Studierenden bekom-men, dass er langsam davon genervt ist.

b) Da er gerade erst in China angekom-men ist und zuvor noch nicht dort war, leidet der Assistenzlektor an der Zeitumstellung und hat sich zudem noch nicht richtig im chinesischen Umfeld eingelebt.

c) Huang Wei hat sich bei seiner Vorstellung sprachlich nicht klar genug ausgedrückt, der Deutsche hat nur wenig davon verstanden, will aber nicht unhöflich sein und dem Gesprächspartner dies direkt sagen.

d) In Deutschland reicht in solchen Situationen eine kurze Antwort. Höflichkeiten werden zwischen Fremden nicht ausgetauscht, wenn man kein Interesse an einem Ange-bot wie dem im Fallbeispiel hat.

2.4.3. Bewertung

Zu a) Schlechte Laune als Grund für die knappe Antwort, die auch in Deutschland unhöflich erschei-nen würde, klingt sehr plausi-bel. An kleinen Universitäten

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sind ausländische Studierende für Sprachtandems zwar sehr begehrt, in nur drei Wochen sollte der Deutsche aber noch nicht übermäßig viele Anfragen erhalten haben.

Zu b) Drei Wochen nach dem Orts-wechsel spielt die Zeitumstellung in der Regel keine große Rolle mehr. Je nach Vorbereitung und Einstellung kann die Phase des Einlebens von Deutschen in Chi-na aber auch länger andauern.

Zu c) Da der chinesische Student zu den besten der Universität gehört und genug Zeit hatte, sich auf das Gespräch vorzubereiten, sollte die inhaltliche Botschaft ange-kommen sein, wenngleich sie vielleicht nicht in akzentfreiem Deutsch vorgetragen wurde.

Zu d) Es stimmt, dass man sich in Deutschland gelegentlich mit wenigen Freundlichkeiten be-gnügt und ein Nein unvermittelt formuliert werden kann. Eine so dürftige Antwort wie die des As-sistenzlektors, der entweder nicht in bester Stimmung war, sich noch nicht ganz eingelebt hat oder schlichtweg nicht zu den höflichsten Zeitgenossen gehört, ist aber keinesfalls die Regel.

2.4.4. Lösungsansätze

Wer sich selbst schon einmal darauf begeben hat, weiß sicher, dass die Suche nach einem guten Sprachtandem sehr mühsam sein kann. Unterschiedliche Interessen und Lernmethoden können dazu führen, dass es einige Zeit dauert, bis sich die richtige Konstellation gefun-den hat. Hier lohnt es sich aber, Geduld zu haben. Wenn man auf jemanden wie im Fallbeispiel trifft, sollte man sich das Desinteresse des Gegenübers nicht zu Herzen nehmen. Es werden sich bestimmt noch andere finden, mit denen man gemeinsam lernen kann. Mittlerweile gibt es zur Not auch Online-Angebote, die einen elektroni-schen Sprachaustausch ohne räumliche Bindung ermöglichen, wie zum Beispiel The Mixxer – Language Exchange Com-

munity for Everyone vom Dickinson College (Online abrufbar unter URL: http://www.language-exchanges.org).

Wie schon in der Bewertung d) erklärt wurde, können Deutsche manchmal aufgrund ihrer direkten Art, eine Ableh-nung zu formulieren, kühl oder un-höflich wirken. Dies ist in den meisten Fällen ebenso wenig persönlich gemeint wie das Kritische in der deutschen Dis-kussionskultur. Einige der chinesischen Befragten erklärten, sich anfangs an der direkten Art der Deutschen gestoßen zu haben, nach einer Zeit aber auch die Vorteile des schnellen Auf-den-Punkt-Kommens schätzen gelernt zu haben. Andere gaben an, sich auch nach mehre-ren Jahren in Deutschland nicht daran gewöhnt zu haben.

2.4.5. Besprechung des Beispiels

Kaum ein deutsch-chinesischer inter-kultureller Ratgeber verzichtet darauf, die unterschiedlichen Umgangsfor-men zu behandeln, die im Fallbeispiel angesprochen werden (Thomas/ Schenk/ Heisel 2008:90ff., Kuan / Häring-Kuan 2010:208f., Weidemann/ Tan 2010:153ff., u. a.). Insbesondere im interkulturellen Vergleich fällt der Gegensatz zwischen der Direktheit in der deutschen und dem Umweghaften in der chinesischen Ausdrucksweise auf (für eine grafische Umsetzung siehe Liu 2009:11f.).

Natürlich wäre es zu viel der Pauschali-sierung zu behaupten, Chinesinnen und Chinesen könnten nicht Nein sagen. Eine Ablehnung ohne jede Umschweife auszudrücken kann aber aus chinesi-scher Perspektive zu einem Gesichts-verlust des Bittstellenden führen (vgl. Zinzius 2007:43ff.). Aus diesem Grund würde man sich in China in einer mit der Sprachtandem-Suche vergleichbaren Situation darum bemühen, das Gesicht der Fragenden zu wahren, indem man eine tröstende Erklärung oder eine freundliche Entschuldigung ergänzt. Dies kann wiederum leicht zu anderen Missverständnissen führen, wenn Deut-sche die chinesische Art des indirekten Ausdrückens nicht zu deuten wissen.

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In diesem Kontext ist dann eine verbreitete Form der Überkorrektur zu beobachten, wenn Ausländer die in Deutschland verbreitete Direktheit in übertriebenem Maß anwenden. Hier kann es leicht zu Konflikten kommen, falls die deutsche Seite eigentlich ein hohes Maß an Höflichkeit von der chinesischen erwartet. Weiterhin kann auch hier die Kontrakorrektur eine Rolle spielen, sollten beide Seiten sich jeweils an die andere Kultur anpassen wollen: die deutsche also übertrieben vorsichtig und die chinesische übermä-ßig direkt auftritt. So würden sich beide Seiten gleichermaßen wundern, was sie interkulturell denn falsch gemacht haben könnten.

2.5. Das Geschenk nach der Vorlesung

2.5.1. Situation

Ma Guang studiert an einer deutschen Universität im zweiten Semester VWL. Von seinem ersten Heimaturlaub in China bringt er reichlich Geschenke mit, die er an die neuen Bekannten und Freunde in Deutschland verteilen möchte. In einem Gespräch mit ihm hat einer seiner deutschen Professoren von chinesischem Tee geschwärmt, sodass Guang eine Packung von der besten Sorte für ihn mitgebracht hat. Schaden könne so eine kleine Aufmerk-samkeit ja nicht. Die Tee-Packung sieht sehr edel aus und Ma Guang freut sich schon auf das begeisterte Gesicht des Beschenkten. Nach dem Unterricht, als die meisten Studierenden bereits den Seminarraum verlassen haben, geht er zum Professor, um das Präsent zu überreichen. Der Professor lächelt jedoch nur etwas gezwungen und schaut verlegen zu den im Raum verbliebenen Studierenden hinüber. Er murmelt eini-ge Worte des Dankes, möchte das Ge-schenk aber partout nicht annehmen. Ma Guang ist verdutzt und nimmt das Geschenk wieder mit. Als er am Nach-mittag am Büro des besagten Professors vorbeikommt, klopft er kurzerhand an, um es noch einmal zu versuchen. Jetzt sieht der Professor schon freundlicher aus und nimmt den Tee tatsächlich an. Er bittet Ma Guang dann jedoch

nachdrücklich, ihm keine weiteren Geschenke mehr zu machen. Ma verlässt das Büro verunsichert.

2.5.2. Erklärungsversuche

a) Geschenke werden in Deutschland in der Regel nur unter vier Augen überreicht, weil die Atmosphäre dann persönlicher ist und auch kein Neid entstehen kann.

b) Geschenke für Professorinnen und Professoren sind in Deutschland nicht üblich. Speziell vor den Augen der anderen Studierenden könnten die Beschenkten befürchten, dass da-durch ein falscher Eindruck entsteht.

c) Der Professor sieht das Geschenk als willkommene Bestechung. Er möch-te es annehmen, will aber sicherge-hen, dass es keine Zeugen gibt, die ihn belasten könnten. Im Büro fühlt er sich unbeobachtet.

d) Der Professor ist in Wahrheit gar kein Freund von chinesischem Tee. Er nimmt ihn schlussendlich nur deshalb an, weil dem Studenten dies offenbar sehr wichtig ist.

2.5.3. Bewertung

Zu a) Diese Gewohnheit ist in Deutschland so nicht verbreitet. Intime Geschenke zwischen Vertrauten werden wohl seltener in der Öffentlichkeit überreicht, dies trifft aber nicht auf die Per-sonen im Beispiel zu.

Zu b) Es ist korrekt, dass Geschenke an Professoren im Betreuungs-verhältnis in Deutschland eher unüblich sind. Genau genommen können Geschenke an verbeam-tete Professoren sogar rechtlich problematisch sein, da sie – je nach Umfang, Situation und Regelung der Universität – als Bestechung gewertet werden könnten. Es ist nicht auszuschlie-ßen, dass die möglichen Beob-achter den Beschenkten an diese Tatsache erinnert haben.

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Zu c) Leider kommt es auch in Deutschlands Universitäten zu Fällen von Bestechung. Ob eine Packung Tee ausreicht, um einen Professor zu bestechen, ist aber sehr fraglich. Seine drin-gende Bitte, ihm keine weiteren Geschenke zu machen, spricht ebenso dafür, dass der Professor nicht bestechlich ist.

Zu d) Nichts weist darauf hin, dass der Professor seine Vorliebe für chi-nesischen Tee nur vorgetäuscht haben sollte. Demgegenüber ist es vorstellbar, dass er den Tee am Ende angenommen hat, um den Studenten nicht zu enttäuschen. Diese letzte Erklärung klingt zusammen mit Bewertung b) als Antwort plausibel.

2.5.4. Lösungsansätze

Wie in Bewertung b) geschrieben steht, ist die Annahme von Geschenken in dieser Situation aus rechtlicher Sicht schwierig. Das Überreichen könnte also negative Konsequenzen für die Beschenkten haben. Ohnehin sind Geschenke an Lehrende in Deutschland grundsätzlich weit weniger verbreitet, als das in Chinas Schulen und Universi-täten der Fall ist.

Eine Möglichkeit für Studierende, die in Deutschland ohne Bestechungsin-teressen ihrer Dankbarkeit Ausdruck verleihen und weder sich noch das beschenkte Lehrpersonal in eine kritische Situation bringen möchten, besteht darin, ein Geschenk erst nach Beendigung des Betreuungsverhältnisses zu überreichen. Als Privatperson hat niemand etwas zu befürchten, wenn ein derartiges Präsent überreicht wird.

Für die Situation des Fallbeispiels böte es sich alternativ an, die gesamte Grup-pe auf eine Tasse Tee einzuladen, wenn sie denn nicht zu groß ist. Gelegentlich bringen in der letzten Sitzung vor Weih-nachten die Studierenden Gebäck mit, um sich im Unterricht auf die Feiertage einzustimmen. Dies könnte eine gute Gelegenheit sein, um den Tee mit den Studierenden und dem Professor zu teilen.

2.5.5. Besprechung des Beispiels

Die Geschenkkultur in China ist sehr ausgeklügelt, was sich auch darin zeigt, dass sie in der Ratgeberliteratur ausführ-lich besprochen wird ( Jing 2006:77f., Zinzius 2007:104ff., Kotte/ Li 2008:15, u. a.). Anlässe, Gegenstände und Rituale der Geschenkkultur können sich stark unterscheiden. In Deutschland zählt beispielsweise das Auspacken in Gegen-wart der Schenkenden noch zum Ritual, in China ist dies hingegen seltener der Fall – es wird dort eventuell als un-kultiviert betrachtet (z. B. Kotte / Li 2008:15).

Das Beispiel stammt aus einem Inter-view mit einem chinesischen Studenten. Ein anderer Interviewter berichtete da-von, dass er kurz nach seiner Ankunft in Deutschland zu einer Feier der Studen-ten in der Nachbarwohnung eingeladen wurde. Als Geschenk brachte er eine Flasche Sonnenblumenöl mit, was zu einiger Belustigung führte. Dies ist in China, wie neuerdings auch etwa Milch, ein beliebtes Geschenk, in Deutschland hingegen recht ungewöhnlich. Umge-kehrt wären das in Deutschland übliche Brot und Salz bei einer Einweihungs-feier in China keine klar verständliche Gabe.

Das Fallbeispiel stellt selbst für Deut-sche eine komplizierte Situation dar. Sie entstammt einem Bereich der Alltags-kultur, der auch aus deutscher Sicht nicht klar ausformuliert ist. Es kommt im Alltag natürlich vereinzelt vor, dass eine derartige Aufmerksamkeit über-geben wird, was dieses Verhalten nicht bewerten soll. Ohne dem Professor des Fallbeispiels Bestechlichkeit vorwerfen zu wollen, wäre es konsequenter gewe-sen, das Geschenk auch im Büro nicht anzunehmen. Denn wenngleich ver-mutet wird, dass er sich damit lediglich freundlich gegenüber dem chinesischen Studenten zeigen wollte, sendete seine Aktion doch irritierende Signale.

Die Worte eines Ratgebers müssen hier sehr vorsichtig gewählt werden. Eine unmittelbare Handlungsanweisung lässt sich für derartige Situationen nicht geben, da von Fall zu Fall entschieden werden muss. Je nach Zielgruppe müsste

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zuvor auch recherchiert werden, welche Geschenke im jeweiligen Bundesland und an der jeweiligen Universität erlaubt sind, womit noch nicht geklärt wäre, ob die beschenkte Person sich tat-sächlich über solche Aufmerksamkeiten von Studierenden freut.

2.6. Die Professorin im� WG-Zim�m�er

2.6.1. Situation

Nach ihrem ersten Jahr als Master-Studentin in Deutschland stellt Aihua einen Kontakt zwischen ihrer Profes-sorin in China und ihrer deutschen Betreuerin, Professorin Schmidt, her. Sie einigen sich darauf, dass die chinesische Professorin Jing für einen kurzen For-schungsaufenthalt nach Deutschland kommen wird. Da Professorin Schmidt jedoch unerwartet ein neues Projekt übernehmen muss, das viel Zeit in An-spruch nehmen wird, überlässt sie Aihua die Verantwortung für die Organisation des Forschungsaufenthalts. Aihua kennt sich nicht allzu gut mit der Universitäts-administration aus, möchte aber auch nicht ihre deutsche Betreuerin belasten. Sie versucht bei der Planung ihr Bestes, kommt aber nur schleppend voran. Ihrer Professorin gegenüber gibt sie sich dennoch optimistisch. Wenige Wochen vor der geplanten Ankunft merkt Aihua, dass sie ohne Hilfe von Professorin Schmidt keines der begehrten Zimmer im Wohnheim für ausländische Gäste bekommen kann. Ihre deutsche Profes-sorin ist jedoch einige Tage nicht zu er-reichen. Als sie wieder im Haus ist und den notwendigen Antrag unterschrie-ben hat, erfährt Aihua, dass kein Zim-mer mehr im gewünschten Wohnheim frei ist. Ein Hotelzimmer, so erklärt ihr dann Professorin Schmidt, könne sich das Institut beim besten Willen nicht leisten. Ohnehin sei sie davon ausgegan-gen, dass die Reise von der chinesischen Seite finanziert werde. Ihr tue das Ganze nun auch wirklich sehr leid, sie könne aber nichts machen. Aihua ist am Boden zerstört. Ihr bleibt nichts anderes übrig, als die Professorin vorerst in ihrem WG-Zimmer unterzubringen und selbst bei einer Freundin zu übernachten. Was war denn bloß schiefgegangen?

2.6.2. Erklärungsversuche

a) An vielen deutschen Universitäten müssen Aufenthalte wie im Beispiel sehr langfristig geplant werden. Wer zu spät einen Gastaufenthalt oder die Finanzierung dafür plant, muss damit rechnen, dass das Vorhaben aus administrativen Gründen schei-tert.

b) Professorin Schmidt ist von An-fang an davon ausgegangen, dass Professorin Jing bei Aihua wohnen würde. Aus diesem Grund kann sie überhaupt nicht verstehen, warum plötzlich ein Hotelzimmer benötigt wird. Die Finanzen sind nur eine Ausrede.

c) Gastforschende aus dem Ausland müssen in Deutschland ihre Reise und Unterbringung immer selbst bezahlen. Es gibt keine Förderungen oder Budgets dafür.

d) Professorin Schmidt hat überhaupt kein Interesse am Besuch der chine-sischen Professorin. Sie hat gehofft, dies mit der Abgabe der Organisati-on deutlich gemacht zu haben. Die Weigerung, das Hotel zu bezahlen, ist der Beweis dafür.

2.6.3. Bewertung

Zu a) Diese Erklärung ist völlig korrekt. Für das Scheitern im Fallbeispiel gibt es aber noch einen weiteren, wohl noch wichtigeren Grund.

Zu b) Eine Gastprofessorin bei einer Studentin unterzubringen wäre äußerst ungewöhnlich, es sei denn, man hätte dies vorher so geplant, was die Studentin dann natürlich gewusst hätte.

Zu c) Dies stimmt in dieser Form nicht. Deutsche Universitä-ten finanzieren durchaus den Aufenthalt von ausländischen Forschenden. Auch gibt es dafür verschiedene staatliche Förde-rungen – etwa vom Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD).

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Zu d) Nichts deutet darauf hin, dass die deutsche Professorin grundsätzlich kein Interesse am Besuch gehabt haben könnte. Ihr Interesse scheint aber begrenzt gewesen zu sein, ansonsten hätte sie sich wohl stärker für den Gast eingesetzt. Dass im Fallbeispiel der Aufenthalt so unglücklich verlaufen ist, liegt aber größten-teils an der Kommunikation der Beteiligten.

2.6.4. Lösungsansätze

In der Bewertung d) wurde erklärt, dass vor allem die Kommunikation für das Scheitern des Gastaufenthalts verant-wortlich ist. Angesichts der Informati-onslage aus der Situationsbeschreibung hätten die deutsche Professorin und die chinesische Studentin sich besser absprechen müssen. Fraglos hätte die Deutsche die Organisation besser be-treuen können, hier seien aber vor allem Hinweise für die Studentin mit der schweren Aufgabe gegeben.

Ein grundsätzlicher Ratschlag für eine derartige Organisationsaufgabe besteht darin, die Planung möglichst transpa-rent zu halten und Probleme früh und offen anzusprechen. In Deutschland wird in der Regel erwartet, dass man sich bei Schwierigkeiten an die Verant-wortlichen in höherer Position wendet, während dieses kritische Feedback in China auch als Kritik an den Anweisun-gen von oben gedeutet werden könnte. Zudem wäre es für die chinesische Stu-dentin ratsam gewesen, der deutschen Professorin zu erklären, was ein Gast aus China erwartet, wenn er nach Deutsch-land kommt. Dies war der Deutschen offensichtlich nicht klar. In Deutsch-land ist es nicht verbreitet, Gäste so umfassend wie in China zu betreuen. Nicht zuletzt sei auf das International Office oder Auslandsamt hingewiesen, über das alle großen Universitäten in Deutschland verfügen. Hier erhält man leicht nützliche Tipps für den Austausch und die Unterbringung von Gastforschenden.

2.6.5. Besprechung des Beispiels

Gastfreundlichkeit wird sowohl in China als auch in Deutschland groß-, jedoch nicht immer gleich geschrieben. Während man in Deutschland selbst bei Gästen eine gewisse Selbstständigkeit voraussetzt, sich diesen auch nicht zu sehr aufdrängen möchte, gehört eine enge Betreuung in China traditionell zum guten Ton (z. B. Kuan / Häring-Kuan 2010:210ff.).

Ein klassisches Beispiel der interkultu-rellen Fehlkommunikation in Bezug auf Gastfreundschaft erzählt von einem chinesischen Gast, der am deutschen Flughafen vergeblich auf die Abholung wartet. Beide Seiten waren von der eigenen Gewohnheit ausgegangen. Mittlerweile kommt es immer seltener zu solchen Missverständnissen, da der Austausch zwischen Ost und West stark zugenommen hat. Das obige Fallbei-spiel stammt jedoch aus einem Bericht jüngeren Datums, wenngleich es leicht abgeändert wurde.

An chinesischen Universitäten erscheint es oft selbstverständlicher, sich um ausländische Gäste zu kümmern, da die dortige Betreuungskultur grundsätzlich ausgeprägter ist. Auch kann die Organi-sation zumindest aus der Perspektive der Gäste manchmal weniger bürokratisch als in Deutschland vonstattengehen. Erwähnenswert ist an dieser Stelle noch der im Beispiel anklingende Aspekt der Finanzierung des ausländischen Besuchs. An chinesischen Universitä-ten ist es aufgrund der oben genannten Esskultur sehr üblich, für offizielle Gäste – je nach Anlass und Bedeutung der De-legation – ein großes bis pompöses Ban-kett zu organisieren. Auch bei kleineren Anlässen bittet man gerne zu Tisch und lädt die Gäste wie selbstverständlich ein. In der Regel zahlt dies das Institut beziehungsweise die Universität, wobei meist einfach im Nachhinein eine Rechnung eingereicht wird.11 Bei Kon-ferenzen kommt es auch oft vor, dass sich an den wissenschaftlichen Teil noch ein touristisches Programm anschließt, das ebenfalls die Gastgeber finanzie-ren. Diese Gastfreundlichkeit kann zu großen Kopfschmerzen auf deutscher Seite führen, wenn dann ein Gegen-

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besuch ansteht. In Deutschland ist es bekanntlich weitaus schwieriger, diese Aktivitäten zu finanzieren, weshalb hier Professorinnen und Professoren sogar in die eigene Tasche greifen, um ihren Gästen aus China das Gefühl zu geben, ebenso willkommen zu sein.

2.7�. Das Bewerbungsgespräch m�it Tücken

2.7�.1. Situation

Chen hat erst vier Bewerbungen für ein Praktikum verschickt, da kommt schon die erste Einladung zum Bewerbungs-gespräch per E-Mail. Als er seinem Flurnachbarn Jan davon erzählt, bietet der ihm an, das Gespräch gemeinsam zu proben. Chen freut sich über die Hilfe und am nächsten Abend üben sie zusammen. Jan gibt Chen anschließend sehr ausführliche Tipps, wie man sich in Deutschland verhalten solle, obwohl er nicht wie Chen VWL studiert. Er erklärt, dass vor allem Chens zurück-haltende Art nachteilig sein könne. Er solle doch selbstbewusster auftreten, ruhig auch kritische Fragen stellen. Darüber hinaus sei es angebracht, die eigenen Stärken hervorzuheben, die höflichen Floskeln könne er sich hin-gegen sparen. Chen freut sich über die praktischen Hinweise und verinnerlicht sie in den nächsten Tagen. Am Tag des Bewerbungsgesprächs fühlt er sich gut vorbereitet. Das Gespräch läuft nicht schlecht, doch als er zwei Tage später einen Anruf bekommt, weiß er nicht, wie ihm geschieht. Der Bereichslei-ter, den er beim Vorstellungsgespräch kennengelernt hat, erklärt ihm, dass man sich für einen anderen Bewerber entschieden habe. Chens Qualifikati-onen seien zwar optimal für den Job, sein aggressives Auftreten beim Treffen habe hingegen keinen guten Eindruck hinterlassen. Chen verabschiedet sich höflich, legt auf und seufzt voller Ent-täuschung. Hätte er etwa nicht auf Jan hören dürfen?

2.7�.2. Erklärungsversuche

a) Chens Qualifikationen sind nicht ausreichend für die Praktikumsstelle, der Mitarbeiter am Telefon möchte

dies jedoch nicht direkt aussprechen. Diese Ausreden sind in Deutschland nicht ungewöhnlich.

b) Da Jan nicht wie Chen VWL stu-diert, sind seine Hinweise nicht hilf-reich. In Deutschland unterscheiden sich die Bewerbungsgespräche und -verfahren in verschiedenen Bran-chen vollständig voneinander.

c) Jans Tipps sind zwar grundsätzlich richtig, er hat aber nicht daran gedacht – und sich nicht vergewis-sert – wie Chen sie umsetzen würde. Im Bewerbungsgespräch tritt Chen dann leider zu aggressiv auf, was eigentlich nicht seine Art ist.

d) Chen ist für die Praktikumsstelle gänzlich überqualifiziert. Der Be-reichsleiter ist durch Chens überra-gende Fähigkeiten eingeschüchtert und will sich keine Konkurrenz ins Haus holen.

2.7�.3. Bewertung

Zu a) In Deutschland kommt es bei Ablehnungen häufig vor, dass bestimmte Phrasen als Gründe genannt werden. Diese sind aber in der Regel positiv oder neutral. Drastische Kritik wie im Beispiel als Ausrede zu wählen wäre sehr ungewöhnlich.

Zu b) Zwar gibt es je nach Branche und Fach gewisse Unterschiede in den Bewerbungsverfahren deutscher Unternehmen und Organisati-onen. Grundsätzliche Hinweise für das Bewerbungsverhalten können aber durchaus für ver-schiedene Bereiche hilfreich sein.

Zu c) Diese Begründung trifft aller Wahrscheinlichkeit nach zu. Sich für ein Bewerbungsgespräch völlig zu verstellen scheitert in den meisten Fällen. Anpassung ist zwar möglich und sinnvoll, hierfür sollte aber professionelle Hilfe genutzt werden.

Zu d) Diese Erklärung ist wie auch die Begründung a) unwahrschein-lich. Kaum ein Bereichsleiter

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(eines intakten Unternehmens) wird einen fähigen Praktikanten ablehnen, weil er um seine Positi-on fürchtet.

2.7�.4. Lösungsansätze

In Deutschland und China finden sich mitunter große Abweichungen in der Bewerbungskultur, die bereits teilwei-se im Beispiel angesprochen wurden. Verallgemeinernd ist festzustellen, dass in China traditionell Bescheidenheit, Höflichkeit und positive Bestätigung im Vordergrund stehen. Demgegen-über kann in Deutschland tatsächlich auch ein sehr selbstbewusstes Auftreten erwünscht sein. Genaue bis kritische Fragen zu Position oder Unternehmen sind ebenso auf beiden Seiten möglich. So könnte der potenzielle Arbeitgeber beispielsweise fragen: „Sie haben sich bestimmt schon über unser Unter-nehmen informiert, wie könnten wir unseren Internetauftritt Ihrer Meinung nach verbessern?“ Hierauf darf und sollte man mit konstruktiven Verbesse-rungsvorschlägen reagieren.

Es ist jedoch zu beachten, dass es ein ak-zeptiertes Maß gibt, das einzuhalten ist. Wer zu provokativ fragt oder antwortet, wirkt aggressiv, wer sich zu selbstbe-wusst gibt, kann arrogant erscheinen. Das macht auch in Deutschland keinen guten Eindruck. Da solche feinen Un-terschiede nicht leicht zu erkennen sind, bietet es sich gerade für ausländische Studierende in Deutschland an, einen Kurs für die Bewerbungsvorbereitung zu belegen. Diese werden an vielen Universitäten kostenlos für Studierende angeboten. Auch die Agentur für Arbeit hat Kurse dazu im Programm. Sich den Rat von anderen, erfahrenen Studieren-den einzuholen kann ebenfalls hilfreich sein. Dabei sollte man sich idealerweise an solche wenden, die fachlich einen ähnlichen Hintergrund haben. Auch empfiehlt es sich, den Rat von mehreren einzuholen, um einen möglichst ausge-glichenen Eindruck zu erhalten.

Was die Nachbereitung eines erfolglo-sen Bewerbungsgesprächs angeht, lohnt es sich manchmal, per E-Mail oder am Telefon freundlich nachzufragen, woran man gescheitert ist. In der Regel werden

dazu nämlich bei Absagen keine so kla-ren Angaben wie im Beispiel gemacht. Nicht immer erhält man eine Antwort, wenn man sich danach erkundigt, doch einen Versuch ist es in jedem Fall wert.

2.7�.5. Besprechung des Beispiels

Im Fallbeispiel zeigt sich eine deutliche Form der Überkorrektur, die bereits in Bezug auf die deutsche Direktheit angesprochen wurde.12 Besonders bezeichnend ist dabei der gut gemein-te, aber letztendlich wenig hilfreiche Rat zur interkulturellen Anpassung. Der Ratschlag, sich selbst offensiver zu vermarkten, wird nicht ausreichend begleitet, die Umsetzung scheitert an der spärlichen Kontextualisierung.13 Der chinesische Student wird sicher-lich aus seinem deutschen Umfeld die Eigenschaften kennen, zu denen ihm der Kommilitone geraten hat. Wie sie im Kontext eines Bewerbungsgesprächs genau umzusetzen sind, wird aber nicht erklärt. Ein vergleichbares Phänomen für das Verhalten von Deutschen in China besteht zum Beispiel darin, dass deutsche Studierende im chinesischen Sprachunterricht die Idealformen der verbalen Höflichkeit erlernen. Manche berücksichtigen jedoch nicht, wie diese im Alltag umzusetzen sind, dass etwa Begriffe wie Dankeschön oder Belo-bigungen weniger eingesetzt werden als in Deutschland. Im chinesischen Supermarkt oder Restaurant wirkt diese überbordende Sprache der Ausländer dann etwas befremdlich auf die chinesi-sche Seite.

Was das im Fallbeispiel thematisierte Phänomen der Selbstdarstellung anbe-langt, ist zu beachten, dass sich in China Elemente des westlichen Personalma-nagements Schritt für Schritt durchset-zen. Vor allem in westlichen Unterneh-men ist dieser Stil prägend, aber auch in chinesischen Einheiten sind Einflüsse davon spürbar. Nichtsdestotrotz sind weiterhin die oben erwähnten Unter-schiede zu beobachten, die gerade in interkulturellen Bewerbungsgesprächen deutlich werden.

Im Interview beklagte sich beispiels-weise ein chinesischer Student über ein Bewerbungsgespräch in der Gruppe

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mit Bewerberinnen und Bewerbern aus Deutschland. Als größten Dorn im Auge beschrieb er die überhebliche Art der deutschen Konkurrenz, die in China so unvorstellbar sei.

Von einer übersteigerten Anpassung auf chinesischer Seite berichtete eine deut-sche Personalerin. In Bewerbungsver-fahren mit chinesischen Teilnehmenden habe sie regelmäßig eine hohe Aggressivität beobachten können, die sie anfangs – auch aufgrund ihrer gegenteiligen Erwartungshaltung – sehr verwundert habe. Im Gespräch unter vier Augen habe sie dann meist reali-siert, dass die aggressive Art nur eine strategische Darbietung gewesen sei.

Das Fallbeispiel des Bewerbungsge-sprächs zählt ebenso zu einer Situations-gruppe, die auch für Deutsche nicht mit wenigen Allgemeinheiten zu erklären wäre. In Deutschland gibt es nicht ohne Grund ein zunehmendes Angebot an Seminaren für das Bewerbungstraining. Dass dieser Bereich für ausländische Teilnehmende eine noch größere He-rausforderung darstellt, muss deshalb nicht betont werden. In Fällen wie diesen ist es demnach auch die Aufgabe eines interkulturellen Trainings, andere, weiterführende Ratgeber zu empfehlen.

3. Fazit

3.1. Inhaltliche Bem�erkungen

Die sieben vorgestellten Fallbeispiele, die aus Interviews mit chinesischen Studierenden abgeleitet wurden, versammeln zahlreiche Themen, die auch in interkulturellen Trainings ohne spezifisches Zielland behandelt werden. Hierzu gehören etwa das Einordnen in Hierarchien (2.7.), der Umgang mit sensiblen Gesprächsthemen (2.1.) sowie Ausprägungen von Gastfreundschaft (2.2., 2.7.) und Geschenkkultur (2.2., 2.5.). Auffällig, wenngleich nicht über-raschend, ist zudem, dass sich in den genannten Beispielen viele der Aspekte wiederfinden, die ebenso in Ratgebern und Kulturassimilatoren für deutsche Teilnehmende mit China als Zielland behandelt werden. Andersartigkeit in der Selbstdarstellung (2.1., 2.7.), ver-

schiedene Formen der Meinungsäuße-rung (2.1., 2.4., 2.6.) sowie Unterschiede in der zeitlichen Planung beziehungs-weise in der Haltung gegenüber Termi-nen (2.3., 2.6.) bereiten offensichtlich nicht nur der deutschen Seite im Um-gang mit der chinesischen, sondern auch vice versa interkulturelle Schwierigkei-ten. Zuletzt verdient noch Erwähnung, dass sich nahezu alle der hier im Umfeld der Universität vorgestellten Fallbei-spiele ohne Weiteres auf die Situation in einem Unternehmen übertragen ließen. Die Kommunikationsstrukturen und Konfliktpunkte unterscheiden sich hier und dort kaum, da sie nicht grundsätz-lich institutionell begründet, sondern vornehmlich personen- und beziehungs-gebunden sind.

3.2. Methodische und didak-tische Überlegungen

Bezüglich des Aufbaus und der Anwen-dung des Kulturassimilators lässt sich anhand der gegebenen Fallbeispiele und Erläuterungen das Folgende resümieren: Der bereits erwähnte Vorteil der Ein-bindung der Leserschaft gegenüber dem bloßen Vorstellen von Inhalten in der üblichen Ratgeberliteratur bestätigt sich auch im vorliegenden Exemplar. Der Großteil der chinesischen Befragten gab an, durch die Beschäftigung mit den Fallbeispielen zum Nachdenken angeregt geworden zu sein und gute Hinweise für ähnliche Alltagssituatio-nen erhalten zu haben. Eine Auswahl an Antworten, so wurde mehrfach erklärt, ermögliche tatsächlich die aktive Teil-nahme an den beschriebenen Fällen.

Die Besprechung von wirklichkeitsna-hen, aktuellen Situationen hat zweifellos den Vorteil, nah an das interkulturelle Geschehen heranführen zu können. Dass es sich dabei nur um Einzelsitu-ationen handelt, kann indes auch als Kritikpunkt angeführt werden. Obwohl im vorliegenden Kulturassimilator – wie oben erwähnt – versucht wurde, typi-sche Situationen aufzugreifen und dar-zustellen, stellt sich die Frage, inwiefern diese weiter zu verallgemeinern sind. Gibt es nicht doch von Fall zu Fall und Mensch zu Mensch unterschiedliche Herangehensweisen, die zu bevorzugen

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sind? Ist das Beispiel auch in ein oder zwei Jahren noch aktuell? In einigen Bewertungen und Lösungsansätzen des vorliegenden Kulturassimilators wurde deshalb darauf hingewiesen, dass es nicht immer einfach und manch-mal sogar schadhaft ist, (zu) generelle Handlungsanweisungen zu geben. Aus wissenschaftlicher und didaktischer Per-spektive ist dieser Hinweis unverzicht-bar. In der Ratgeberliteratur, die sich auf dem Markt gegen andere Anbieter behaupten muss, könnten solche Ein-schränkungen jedoch als Eingeständnis wirken. Dies mag der Grund dafür sein, dass man diese Relativierungen in der kommerziellen Literatur selten ent-deckt.

Besonders interessant sind die in den Erklärungen mehrfach angesprochenen Formen der Über- und Kontrakorrek-tur. Sie sind vornehmlich die Folge übermäßiger oder ungenügend beglei-teter Anpassung, die auch das unreflek-tierte Training mit einem Kulturassi-milator hervorrufen kann. Aus diesem Grund sollten diese problematischen Korrekturen in jedweder Ratgeberlite-ratur angemessen erörtert werden. Dass Hinweise dazu kaum den Weg in die handelsüblichen Ratgeber finden, mag einerseits daran liegen, dass die erhöhte Komplexität den Zugang zur Thematik erschweren kann. Andererseits müss-te die Ratgeberliteratur damit auch Selbstkritik üben, wenn sie auf derar-tige Negativfolgen des interkulturellen Trainings einginge. Beides könnte sich wiederum nachteilig auf den Verkauf eines Buchs auswirken. Gerade bei chinesisch-deutscher Kommunikation sollte aber dennoch darauf hingewiesen werden, da diese Korrekturen leicht zu interkulturellen Missverständnissen führen können, wie die obigen Fallbei-spiele gezeigt haben.

3.3. Abschließende Em�pfeh-lung

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Kulturassimilatoren im Allgemei-nen und der vorgestellte Kulturassimi-lator für Deutschland mit chinesischen Teilnehmenden im Besonderen einen guten Einstieg in eine noch fremde

Kultur darstellen können. Schwächen des Ansatzes und der Arbeitsweise kön-nen jedoch in mangelnder Aktualität und eingeschränkter Generalisierbar-keit sowie interkulturellen Konflikten durch Über- und Kontrakorrekturen liegen, wird der Kulturassimilator ohne Betreuung genutzt. Ein diesbezüglicher Hinweis für die Leserschaft sollte nicht fehlen, kann aber nicht vollständig ausschließen, dass es zu Fehleinschät-zungen oder suboptimalen Ergebnissen im Selbststudium kommt.

Der Kulturassimilator ist und bleibt eine der wenigen schriftlichen Trai-ningsmethoden, die eine aktive Teilnah-me der Teilnehmenden ermöglichen; dennoch lassen sich einige Nachteile gegenüber dem interkulturellen Lernen im Seminar aufzeigen. Empfehlenswert ist es daher, diese Form des Trainings unter fachkundiger Leitung durchzu-führen. Diese besteht idealerweise aus einem chinesisch-deutschen Team, das die vorgestellten Fallbeispiele kontextu-alisiert, die Lerninhalte gegebenenfalls aktualisiert und den interkulturellen Anpassungsprozess begleitet. Erst durch eine qualifizierte Seminarleitung ist zu gewährleisten, dass ein Kulturassimila-tor zu optimalen Lernerfolgen führt.

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46 interculture j o urna l 1 1 / 1 7 ( 2 0 1 2 )

Endnoten

1. Die DAAD-Untersuchung Datenre-port Bildungsinländer 2011 geht auf die Situation von „Bildungsinländern“ und „Bildungsausländern“ in Deutschland ein, die erste Gruppe beschreibt die Studieren-den, die schon in Deutschland ihr Abitur gemacht haben. Die im vorliegenden Artikel angegebene Zahl bezieht sich auf die „Bil-dungsausländer“.

2. Die Bezugsgruppe sind die Absolventin-nen und Absolventen der Bildungsausländer 2008, bei den Bildungsinländern liegt die Abbruchquote für den betrachteten Zeit-raum bei 41 %.

3. Zu der Geschichte, den Einsatzfeldern sowie einigen Stärken und Schwächen dieser gelegentlich auch als (Inter-)Cultural Sensi-tizer beschriebenen Trainingsmethode siehe Bergemann / Sourisseaux (2003:255ff.).

4. Der gesamten Beruflich in ... – Reihe von Vandenhoeck & Ruprecht liegt dieser Ansatz des interkulturellen Trainings zugrunde.

5. Für einige der chinesischen Interessier-ten würde natürlich die Übersetzung des Materials in die englische oder chinesische Sprache notwendig sein.

6. Forschungsbeiträge, die das studenti-sche Leben in Deutschland aus der Sicht chinesischer Studierender untersuchen, gibt es durchaus, z. B. Wang / Yu (2010) und Yan (2007).

7. Mein ganz besonderer Dank gilt Zhu Liangliang, Zhu Qiang und Wang Han, die mir geholfen haben, die chinesische Perspektive noch besser zu begreifen. Auch Julia Hubschmid und Kerstin Storm sei hier vielmals für ihre kritische Lektüre und kons-truktive Besprechung des Artikels gedankt.

8. Ab und an werden Deutsche in China auch unerwartet auf Hitler angesprochen, wobei dies weniger als Kritik gemeint ist (Weidemann / Tan 2010:133ff.).

9. Für eine Untersuchung, die zu ähnli-chen Ergebnissen kommt, siehe Gui (2008).

10. Susanne Günthner hat sich schon sehr früh mit Adaptionsprozessen und Hyper-korrekturphänomenen im deutsch-chinesi-schen Kontext beschäftigt (Günthner 1993, 1999, 2001). In dem hier vorliegenden Beitrag wird sprachlich unterschieden in eine Überkorrektur, als einseitige Über-treibung der fremden Verhaltensweise zu Zwecken der Anpassung, und eine Kont-

rakorrektur, als (übertriebene) Anpassung von zwei Beteiligten aus unterschiedlichen Alltagskulturen im Umgang miteinander, die sich durch den Versuch der Anpassung zusätzlich voneinander entfernen.

11. Diese Ausgaben, die bei der Betreuung und Unterhaltung von Gästen anfallen, werden im Chinesischen zhaodaifei 招待费 genannt.

12. Auf das Phänomen der an Selbster-niedrigung grenzenden Bescheidenheit im modernen Chinesisch ist unter anderem Gu (1990) eingegangen. Aus jüngerer Zeit ist in diesem Zusammenhang die Arbeit „Kultur-spezifisches“ Kommunikationsverhalten? Eine empirische Untersuchung zu aktuellen Ten-denzen in chinesisch-deutschen Begegnungen von Liu (2010) zu erwähnen. Unterschiede der Bewerbungskultur in Ost und West wurden von Chen (2003) untersucht.

13. Vgl. Günthner (1999:260f. und 2001:26f.)

47�

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Waltraud Tim�m�erm�ann

Dr. habil., hat als DAAD-Lektorin an führenden chinesi-schen Universitäten u. a. in der Lehrerausbildung gearbeitet. Im Studienjahr 2010 / 2011 hielt sie sich, gefördert durch den DAAD, als Gastwissenschaftlerin an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Fachgebiet Interkulturelle Wirtschaftskommunikation, auf und befasste sich mit der interkul-turellen Videoarbeit

Abstract (Deutsch)

Interculture TV ist ein didaktisches Videoprojekt des Fachgebiets Interkulturelle Wirtschaftskommunikation der Friedrich Schiller-Universität, Jena. Das Projekt stellt audiovisuelles Lehr- und Lernmaterial, das von Studierendengruppen produziert worden ist, zur freien Verfügung. Dieser Artikel konzentriert sich auf ein deutsch-chinesisches Teilprojekt von dieser Plattform: Drei Videos zum Thema Beziehungen (zwischen Chef und Angestelltem, Kind und Eltern und zwischen Freunden) zeigen fiktionale Szenen aus dem Alltags-leben, wobei jeweils eine deutsche und eine chinesische Fassung einander gegenüber gestellt werden. Auf den folgenden Seiten werden Potential und Risiken solchen Materials für den interkulturellen Unterricht diskutiert und ein Unterrichtsvorschlag skizziert.

Stichworte: Audiovisuelle Internetressourcen, produktive Videoarbeit, rezeptive Vi-deoarbeit, interkulturelles Lernen

Abstract (English)

Interculture TV is an educational videocast project initiated by the Department of Intercultural Studies and Business Communications at the Friedrich Schiller Univer-sity, Jena. The project provides open access to audio-visual teaching / learning materials produced by student work groups. This article concentrates on a German-Chinese subproject from this platform: Three videos on the topic relationships (between boss and employee, child and parents and between friends) present fictional scenes from everyday life, each clip contrasting a Ger-man and a Chinese version. The following pages will discuss potential and risks of this type of material for intercul-tural instruction and outline a proposal for classroom teaching.

Keywords: Audio-visual internet resources, creative video project, video reception, intercultural learning

Beziehungen. Ein Educast-Projekt und sein interkulturelles LernangebotRelationship. An educasting project and its potential for intercultural learning

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1. Einleitung

Der Film scheint das ideale Medium für den (interkulturellen) Landeskundeun-terricht und das interkulturelle Training zu sein. Indem er visuell-räumliche, zeitliche und sprachliche Informationen verbindet, vermittelt er eine dichtere und lebendigere Vorstellung von der fremden Kultur, als andere Medien dies tun könnten. Dies gilt insbesondere für narrative Filme, die mit ihrem fiktiven Rezeptionsangebot den Betrachter emo-tional stark ansprechen und anschei-nend mühelos in eine fremde Realität führen können.

Allerdings gehört es zur Aufgabe der didaktischen Filmarbeit, den Lerner/ Trainee zu einem genaueren und re-flektierteren Sehen zu führen als beim alltäglichen Medienkonsum. Dazu sind einerseits audiovisuelle Medien nötig, die in Umfang und Komplexität individuelles oder angeleitetes Lernen ermöglichen; andererseits müssen geeignete Lehr- und Arbeitsmethoden angewendet werden, die für moderne interkulturelle Lernziele taugen. Zu diesen Lernzielen zählen insbesondere der Aufbau eines offenen dynamischen Kulturverständnisses und einer flexiblen Handlungskompetenz in interkultu-rellen Situationen. Zu vermeiden ist gleichzeitig, dass die im Film gezeigten Inhalte verfestigte und stereotypisie-rende Vorstellungen von der fremden Kultur hervorrufen.

Kurze Filme, die für das interkulturelle Lernen geeignet sind, will das Educast-Projekt Miteinander – Schlüsselbegriffe und Themen der interkulturellen Kom-munikation des Fachgebiets Interkul-turelle Wirtschaftskommunikation (IWK) der Friedrich-Schiller-Univer-sität Jena zur Verfügung stellen (Bolten 2009). Die Bezeichnung Educast (dazu ausführlich Zorn et al. 2011), die für diese von Studierendengruppen produ-zierten Videos verwendet wird, verweist auf mediale und didaktische Eigenschaf-ten. Es geht um Videocasts mit Lehr-filmcharakter. Über Interculture TV auf YouTube stehen die einzelnen Episoden dem User zu informellem Lernen und

dem Unterrichtenden als Lehrmaterial zur Verfügung.

Gegenstand des vorliegenden Arti-kels ist das Teilprojekt Beziehungen, das 2010 von der IWK Jena und der Deutsch-Abteilung der Beijing Foreign Studies University (BFSU) realisiert wurde. Dafür haben studentische Gruppen in Jena und in Peking koope-rativ und kontrastierend drei Videoclips entwickelt, die allein mit dem Mittel der szenischen Darstellung arbeiten.1 Im Folgenden wird – nach einer Vorstel-lung des Projektes – dieses interessante Rezeptionsangebot Gegenstand einer genaueren Analyse sein. Einbezogen werden dabei die Ergebnisse von Be-fragungen und Diskussionen, die mit Gruppen von chinesischen und deut-schen Studierenden über zwei der drei Educast-Episoden geführt wurden.2 Den Abschluss bilden Hinweise zur didakti-schen Nutzung der Filme im Unterricht.

2. Das Projekt Beziehun-gen und sein m�ediales und didaktisches Konzept

Am untersuchten Projekt waren Stu-dierendengruppen der BFSU in Peking und der IWK in Jena beteiligt, die sich – vornehmlich auf dem Weg der E-Mail-Kommunikation – zunächst auf das gemeinsame Generalthema Bezie-hungen verständigten. Danach wurde dieses Thema konkretisiert und auf drei Alltagssituationen heruntergebrochen, die weitgehend dem Lebensbereich der jungen Leute entsprechen. Bei der Entwicklung waren nach Auskunft des studentischen Leiters für die chinesische Filmgruppe drei Prinzipien leitend:

„(1) Die Szenen sollen repräsentativ und kulturell „typisch“ sein, um die wichtigsten kulturellen Unterschiede direkt darzu-stellen (dazu haben die Deutschen und die Chinesen schon eine andere Meinung, was eigentlich zwischen ihnen „unter-schiedlich“ ist. Das war für mich schon sehr interessant.); (2) Die Szenen sollen so inhaltsreich und umfassend sein, damit möglichst viele Informationen innerhalb kurzer Zeit präsentiert werden können; und zum Schluss (3) die Praktizierbarkeit der zu filmenden Szenen.“ (Guo 2011)

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Das Ergebnis sind Szenen, die – mit Einschränkungen für das dritte Thema – als alltäglich in beiden Kulturkreisen (und wahrscheinlich auch in vielen anderen Ländern) gelten können: Ein Kind muss seinen Eltern eine schlechte Note zur Unterschrift vorlegen und verschiebt sein Geständnis auf das Frühstück vor dem Schultag; ein junger Angestellter bittet den Chef kurzfristig um ein paar unangemeldete Urlaubsta-ge, die ihm aber nicht gewährt werden; ein junger Mann will seinen Freund, der Single ist, mit einer netten Frau aus sei-nem Bekanntenkreis bekannt machen.

Diese Szenen wurden in China und in Deutschland unabhängig weiter aus-gearbeitet und in einer Art Drehbuch grob skizziert. Auf dieser Basis impro-visierten die Darsteller frei, so dass die Rollenspiele trotz der szenischen Vorgaben noch einen guten Teil Frische und Authentizität enthalten. Aufnahme und Schnitt übernahmen Medienfach-leute der beiden Universitäten, um ein technisch ansprechendes Produkt für die Internetveröffentlichung zu garan-tieren. Es entstanden so Realisationen, die deutlich deutsche beziehungsweise chinesische Charakteristika zeigen. Kontrastierend aneinandergesetzt geben sie einen Eindruck von Kulturunter-schieden.

Diese Klassifizierung der Unterschiede ist mit Absicht vage formuliert, da es an diesem Punkt sicher nicht um die Entgegensetzung von chinesischer und deutscher Kultur im Sinne homogener Nationalkulturen geht. Zugrunde gelegt wird vielmehr ein erweiterter und offe-ner Kulturbegriff, nach dem das Indi-viduum in seiner Lebenswelt Teil einer Vielzahl von unterschiedlichen Kollek-tiven ist und damit durch verschiedene kommunikative Register einer Vielfalt von Subkulturen gerecht werden muss; andererseits integriert eine Nationalkul-tur eine Vielzahl solch unterschiedlicher Kollektive und ist damit notwendig he-terogen und der Entwicklung unterwor-fen (vgl. dazu den Educast Kultur von Interculture TV: http://www.youtube.com/watch?v=s18m4I-xZTk).

Diese grundlegende Voraussetzung zeigt sich zum Beispiel sehr deutlich an den

chinesischen Videoszenen: Sie führen in das Mittelschicht-Milieu der Städte, das nicht für ganz China steht. Darüber hinaus werden die gezeigten Lösungen auch von den befragten chinesischen Studierenden, obwohl diese dem städti-schen Milieu entstammen, sehr unter-schiedlich bewertet.

Dem offenen und dynamischen Kul-turkonzept entspricht, dass im Projekt Beziehungen die Videoarbeit nicht von inhaltlichen Vorgaben zu vermeintlich repräsentativen Aspekten der beiden Gesellschaften ausgingen, sondern dass den Gruppenteilnehmern die Ent-scheidung überlassen wurde, was sie für wichtig und für kennzeichnend hielten. Dem didaktischen Zweck entsprechend wurde allerdings die Dauer der Videos begrenzt. Die vorgelegten Filme sind jeweils keine 5 Minuten lang und gestal-ten nur eine Kommunikationssituation. Damit sind sie recht schnell zu rezipie-ren und auch flexibel als Unterrichtsma-terial zu verwenden.

Die produktive Videoarbeit der Ar-beitsgruppen und die Bereitstellung der Filme ist allerdings nur die erste Etappe des Projekts. In der weiteren Perspektive sollen Dozenten eingeladen werden, ihre Didaktisierungen und Unterrichts-ergebnisse zu den Videos auf eine noch einzurichtende Lernplattform mit Web 2.0-Qualität hochzuladen; Lerner können ebenfalls zusätzliches Materi-al und nach Möglichkeit auch eigene Filme beisteuern. Auf diese Weise soll ein Angebot für Lehrende und Lernen-de entwickelt werden, sich am Diskurs über Kultur(en) aktiv zu beteiligen und Sichtweisen auch aus dem eigenen Kul-turraum beizutragen (vgl. Bolten 2009).

Für die Lehre könnte ein Zusatznutzen daraus entstehen, dass eine solche Lern-plattform auch kulturelle Prägungen von Lernszenarien und Unterrichtsme-thoden widerspiegelt und sich daraus ein interkultureller didaktischer Diskurs entwickelt.

Das beschriebene Programm entspricht dem Konzept interkulturellen Lernens, das Bolten (2010) in einer Matrix zu

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den interkulturellen Lernzielen syste-matisiert vorgestellt hat (Abb. 1). Darin werden diese Lernziele in Beziehung zu Inhalten und Interaktionsformen erfasst. Bolten begreift interkulturel-les Lernen danach als ein komplexes Lernfeld, das inhaltlich neben dem kulturspezifischen Bereich auch einen allgemeinen („kulturunspezifischen“) Bereich (mit Sensibilisierung der Wahr-nehmung, Beschäftigung mit Konzep-ten wie Fremd- und Selbstbild, Stereo-typ und Vorurteil usw.) umfasst. Als drittes kommt die Entwicklung inter-kultureller Kommunikationskompeten-zen hinzu. Für einen Lerngegenstand, der wie das interkulturelle Lernen Wis-sen, Kompetenzen und Einstellungen umfasst, müssen Arbeitsweisen angebo-ten werden, die zur Ausbildung dieser Lernzieldimensionen taugen. Deshalb sollten unterschiedliche Interaktionsfor-men zur Anwendung kommen: Bolten unterscheidet die vermittlungszentrierte Instruktion („learning by distributing“), die lerner- und problemorientierte Interaktion sowie ein ergänzendes kolla-borierendes Lernen. Letzteres bezeich-net selbstbestimmte und informelle Lernerfahrungen, die Lehrende und Lerner verschiedener Kulturen bei der gemeinsamen Arbeit an einem Projekt gewinnen.

Das Projekt Beziehungen ist danach inhaltlich kulturspezifisch und metho-disch interkulturell-kollaborativ ange-legt. Bei der Produktion der Videos ar-beiten in den Filmgruppen Teilnehmer aus verschiedenen Ländern persönlich zusammen; in der geplanten anschlie-

ßenden Internetkommunikation ist das gemeinsame Tun medial vermittelt. Beide Aktivitätsphasen werden so durch dasselbe Prinzip der „methodischen Interkulturalität“ bestimmt (Bolten 2009:152) und sollen Ort interkulturel-len Lernens sein.

3. Frem�d- und interkul-turelle Lerneffekte durch die produktive Videoarbeit

Schnell (2003:193ff.) kennzeichnet die produktive Videoarbeit treffend als Mittel, das die Fähigkeiten zur Explo-ration, zur Artikulation, zur Reflexion und zum kritischen Mediengebrauch entwickeln hilft. Diese Zielfähigkeiten sowie der Projektcharakter, die zumeist nötige Gruppenarbeit und insbesondere die Verbindung von praktischem Tun und Reflexion in solchen Projekten bieten viele Anknüpfungspunkte für interkulturelles Lernen (dazu umfassen-der Timmermann 2012).

Produktive Videoarbeit kann einen interkulturellen Lerneffekt vermitteln, auch wenn sie sich – wie im Projekt Beziehungen – mit der eigenen Kul-tur beschäftigt. Die Konzipierung der Szenen erfordert Beobachtungen und reflektierende Beschäftigung mit eigenkulturellen Erscheinungen sowie die Entscheidung, was im eigenen Lebensumfeld als charakteristisch empfunden wird und wie es Vertretern anderer Kulturkreise vermittelt werden kann, ohne Stereotypen oder Vorurteile zu zementieren – oder diese bewusst in

Interaktionsform�en

Learning by distributing Learning by interacting Learning by intercultural collarboration

Inha

lte

interkulturell interkulturalität thematisie-ren/ analysieren Interkulturalität initiieren

interkulturelle Zusammen-arbeit realisieren/ moderieren

kulturspezifisch Kulturspezifisches Wissen vermitteln

Kulturspezifische Erfahrungen initiieren

kultur- unspezifisch

Verständnis für Fremd- verstehprozesse vermitteln

Allgemeine Fremderfahrun-gen ermöglichen

Abb. 1: Matrix der Unterrichtsziele. Quelle: Bolten 2010:400.

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Kauf zu nehmen. Dies beschäftigte auch die Arbeitsgruppe in Peking:

“Bei der Be- und Verarbeitung des Drehbuchs haben wir – die chinesischen Lehrerinnen und Studenten – mehrmals getagt und darüber gestritten, wie „typisch chinesisch“ die darzustellenden chinesi-schen Protagonisten präsentiert werden sollen. Mancher war der Meinung, dass wir beim Filmmachen die chinesische Art und Weise mit Absicht unterstreichen dürfen, auch Übertreibung war dabei akzeptabel, um einen besseren kulturellen Vergleich zu erzielen. Andere wollten aber nur von den Tatsachen ausgehen und waren für originalgetreues Filmmachen. Für die letzteren gab aber ein anderes Problem: unter ihnen konnte man sich nicht einig werden, wie die Tatsachen in China aussehen, weil jeder seine eigene Meinung und eigenen Erfahrungen im Leben gewonnen hatte. Zum Ende hatten alle den absichtlich übertreibenden und daher stereotypischen und bei manchen Stellen auch negativ scheinenden Filmstil geduldet.“ (Guo 2011)

Das Video wird so, wie Beers (2001) formuliert hat, zu einem persönlich bedeutsamen „object-to-think-with“, d. h. zu einem Katalysator für die Aus-einandersetzung mit Kultur. Diese führt zu einer Stärkung des Bewusstseins über die eigne Kultur und über Kultur als allgemeines Phänomen, was beides wiederum die Auseinandersetzung mit fremden Kulturen befördern kann. Im Unterschied zum Lehrerfortbildungs-projekt, das Beers vorstellt, verzichtete das Projekt Beziehungen auf die Einbe-ziehung theoretischer Texte. Hier war es der didaktische Anspruch, ein adäquates Video für die Rezipienten aus dem fer-nen Land zu machen, der die Reflexion in Gang setzte.

4. Das Rezeptionsangebot der Educasts

Die Filme zu Beziehungen bedienen sich allein des Mittels der szenischen Darstellung. Dem Betrachter wird so eine quasi-realistische Szene aus der fremden Kultur vorgestellt, ohne dass das Gezeigte kommentiert würde. Ein solch offenes Rezeptionsangebot (Bauer 2010:380) kann lebendig und motivie-rend wirken, es ist aber auch anfällig für

Fehldeutungen, wenn der Betrachter nicht über das nötige landeskundli-che und kulturelle Vorwissen und die passenden kognitiven Schemata verfügt (Bolten 2007:29ff.).

Ausgehend von dieser Überlegung wurden die Szenen Beziehungen in der Familie und Beziehungen unter Freun-den in deutsch-chinesischen Studenten-gruppen, in rein chinesischen Gruppen und in einem deutschen Seminar zur Diskussion gestellt.

Die Videocasts wurden jeweils nur ein-mal vorgeführt, wobei die Studierenden zunächst die chinesische Szene sahen und diskutierten, dann die deutsche. Diese Reihenfolge entspricht dem Rezeptionsangebot, das der User über YouTube vermittelt bekommt. Die Be-trachtung jeder Szene wurde von Aufga-benbögen begleitet. Darin wurden die Vertreter der jeweils gezeigten Kultur gebeten, stichwortartig aufzuschreiben, worum es in der Szene geht, wie die Beziehung der agierenden Personen zu-einander ist, ob das Dargestellte für ihre Kultur typisches Verhalten zeigt, was ein Fremder daraus über die Kultur lernen kann und welche Hintergrundinforma-tionen eventuell nötig sein könnten, um das Gezeigte besser zu verstehen. Bei der Betrachtung des fremdkulturellen Films wurde abweichend in der zweiten Hälfte des Fragebogens gefragt, ob man das Dargestellte für die Zielkultur für ty-pisch hält, was man aus dem Film über die Kultur gelernt hat, welche Fragen man gerne zum Film stellen würde und was einem zusätzlich an Interessantem aufgefallen ist.

Zweck des Fragebogens war, Eindrücke für die jeweils anschließende Diskussion festzuhalten und diese damit vorzu-bereiten. Die sehr frei moderierten Diskussionen wurden aufgenommen und später inhaltlich zusammengefasst, ebenso die Antworten auf den Fragebö-gen.

Die Videos provozierten immer, so kann man übergreifend feststellen, einen lebhaften Austausch. In gemisch-ten Diskussionsgruppen ging es dabei vornehmlich um Erklärungen zur eige-nen Kultur, in den homogenen (chinesi-

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schen) Gruppen um die Frage, inwie-weit die Darstellung der eigenen Kultur angemessen sei. Überhaupt schien das Reden über die eigene Kultur leichter zu fallen als das Fragenstellen zur fremden Kultur. Dies lässt sich auch erwarten, da die Aufnahme von Informationen aus den Filmen vom Vorwissen gesteuert wird. Teilweise wurden Aspekte in der fremden Szene aus diesem Grunde auch nur unzureichend wahrgenommen oder unzutreffend beurteilt.

4.1. Beziehungen in der Fam�i-lie: Die schlechte Note:

http://www.youtube.com/watch?v=6frkn9ZJngM&feature=channel&list=UL

Die chinesische Szene baut auf Elemen-ten auf, die nachweislich kennzeichnend für die chinesische Gesellschaft (vor al-lem in den Städten) sind: Die Ein-Kind-Familie ist die dominante Familienform für die heutigen Schüler und Studenten, und die Betonung des schulischen Erfolgs in China sowie der sich daraus ergebende Leistungsdruck sind in der chinesischen Fachdiskussion und in der öffentlichen Diskussion ein zentrales Thema. Die chinesischen Studierenden bestätigten diesen letztgenannten Punkt und sagten, dass Schulprobleme wie im Film oft Anlass zu Auseinanderset-zungen in den Familien seien. Auch für deutsche Betrachter dürfte diese Information nicht neu sein, da über das chinesische Erziehungs- und Bildungs-wesen recht häufig in der deutschen Presse berichtet und diskutiert wird (zuletzt im Zusammenhang des Buches von Amy Chua 2011: Die Mutter des Erfolgs).

Weniger bekannt dürfte in Deutschland dagegen sein, dass Schulversagen in China einen persönlichen Gesichtsver-lust der Eltern bedeutet. Dieses Phäno-men steht im Kontext des chinesischen Gesicht-Konzeptes, es reflektiert auch die traditionell starke Einbindung der Individuen in die Familie (Ho 1996) und die konfuzianisch geprägte Tradi-tion, nach der den Eltern eine beson-dere Verantwortung für die schulische und akademische Bildung der Kinder zukommt (Wu 1996).

Dieses Detail des Films, das die chine-sischen Kommilitonen einstimmig als treffend bezeichneten, wurde in einer Diskussion auch durch Hinweis auf in-stitutionelle Gepflogenheiten erläutert: Offene Ranglisten über Prüfungsergeb-nisse und regelmäßige Elternversamm-lungen schaffen eine große Transparenz über das Leistungsniveau aller Schüler. Vor diesem Hintergrund wird der Ge-sichtsverlust verständlich. Entsprechend vermissten die chinesischen Studie-renden zur deutschen Szene genauere Aufklärung über das deutsche Bewer-tungssystem und die Einbeziehung der Eltern in die Arbeit der Schule.

In eine ähnliche Richtung ging die Frage einer Studentin, ob die Frau in der deutschen Szene berufstätig sei. Dahinter steht die Erfahrung, dass in chinesischen Familien die Ehefrau sich in einer Zwickmühle zwischen Berufstä-tigkeit und Betreuung des (schulpflich-tigen) Kindes befindet. Die der Mutter zukommende besondere Verantwortung für den Schulerfolg wird ja auch in der chinesischen Szene gestaltet, indem die Mutter Arbeiten macht, die sie zu Hau-se erledigen kann. Die Frage verweist darauf, dass auch diese Studentin den Grund für unterschiedliches Verhalten hier nicht in der Mentalität, sondern primär in den konkreten Voraussetzun-gen der fremden Gesellschaft sucht.

Andere Elemente der Szene wurden von den chinesischen Studierenden kontrovers diskutiert. Während die im Film gezeigte Rollenverteilung von Mann und Frau von den chinesischen Studierenden insgesamt als realistisch aufgefasst wurde, war das hierarchische Verhältnis zwischen Eltern und Kind umstritten: Einige erklärten es für tradi-tionell und immer noch typisch, andere für traditionell und überholt.3 Strittig blieb auch, ob das demütige Verhalten des Kindes heute so noch üblich sei, und weitergehend, ob es typisch für Mädchen sei. Der studentische Leiter der chinesischen Filmgruppe berichte-te, dass man das Verhalten des Kindes angepasst habe, nachdem man für die Darstellung nicht den ursprünglich ge-planten männlichen Darsteller, sondern eine Kommilitonin gefunden habe. Ei-

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nige Studentinnen widersprachen aber, dass in den modernen Familien in der Stadt noch solche geschlechtsspezifi-schen Unterschiede im Rollenverhalten der Kinder verbreitet seien.

Insgesamt bestätigen diese Differen-zierungen, dass bei einer Verwendung des Videos im Unterricht unbedingt ergänzende und relativierende Ma-terialien eingesetzt werden müssen, die ausweisen, dass das Gezeigte ein teilweise repräsentativer, teilweise auch zufälliger Ausschnitt ist, aus dem allein nicht auf die Vielfalt der Verhaltenswei-sen in einer fremden Kultur geschlossen werden kann. Nur so ist es möglich zu verhindern, dass das Gesehene undif-ferenziert Bilder über das fremde Land und seine Menschen festschreibt, etwa die Vorstellung unmenschlicher lei-stungsfanatischer Eltern in China, wie sie zuweilen von den hiesigen Medien entworfen wird.

Das in der deutschen Szene dargestell-te eher partnerschaftliche Verhältnis zwischen den Elternteilen und zwischen Eltern und Kindern wird von deutschen Betrachtern als normal, von Chinesen als typisch für den westlichen Umgangs- und Erziehungsstil angesehen. Die Familie mit drei Kindern ist zwar nicht repräsentativ für deutsche Verhältnisse,3

erscheint den chinesischen Studie-renden, die zumeist als Einzelkinder aufgewachsen sind, aber offenbar als faszinierend.

Interessant sind die Bewertungen des gezeigten Verhaltens. Von deutscher Seite wurde die Beziehung in der chinesischen Familie gelegentlich als autoritär und kalt beurteilt, wobei die fürsorglichen Gesten, die von Chinesen als wichtig betrachtet werden, nicht gewürdigt wurden, wie das Abholen des Kindes von der Schule, die Sorge um das Frühstück und das Engagement der Mutter, die im Beruf zurücksteckt, um das Kind zu beaufsichtigen. Von chinesischer Seite wurde das Verhalten der deutschen Kinder gelegentlich als respektlos, das Verhalten der Eltern gegenüber den Kindern als zu nachgie-big betrachtet. Hier wurden im lebhaf-ten und scheinbar gleichberechtigten Diskurs die Hinweise auf pädagogisches

Einwirken und das Setzen von Grenzen nicht erkannt.

Aus didaktischer Sicht und im Hinblick auf interkulturelle Lernziele scheint die Beschäftigung mit Verhaltensweisen in komplexen Situationen wie die in den Szenen gezeigten eine sehr lohnende und vielschichtige Aufgabe. Um sie didaktisch befriedigend zu lösen, ist ebenfalls erläuterndes Zusatzmaterial (im vorliegenden Fall etwa zu Erzie-hungszielen und Erziehungsstilen) nötig. Solche Informationen können die Beobachtung und Interpretation von Verhaltensweisen vertiefen, indem sie sie abstrahierend kommentieren. Ein Vi-deoclip wie der vorliegende aber ist das geeignete Mittel, um die konkrete Seite der Verhaltensweisen auch emotional und sinnlich erfahrbar zu machen.

Die Diskussionen bestätigten des Weite-ren die Erwartung, dass Filme beiläufig viele interessante Informationen vermit-teln (Schlickau 2000:3, Bauer 2010). So waren die Beobachter interessiert an Details wie dem Frühstück, der Essecke und der Kleidung (Schuluniform) im fremden Land.

Punktuell ergaben sich aber aus den Details auch neue und weiterführende Diskussionsthemen. So irritierte der Abschiedskuss des Ehepaars in der deut-schen Szene einige chinesische Kom-militonen, da ein solches Verhalten vor Kindern in China unüblich sei und der Körperkontakt in chinesischen Familien auch zwischen Eltern und Kindern weit-gehend vermieden werde. Daraus ent-fachte sich in einer Gruppe eine längere Diskussion, welche Bedeutung solche Gesten für die sozialen Beziehungen in der westlichen Familie haben, welche Bedeutung ihnen in modernen chinesi-schen Familien zukommt und wie dort, jenseits dieses Mittels, Zuneigung und Fürsorge ihren Ausdruck finden.

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4.2. Beziehungen unter Freunden: Matchm�aking:

http://www.youtube.com�/watch?v=8akP2aNyNsI&feature=channel&list=UL

Das Video Beziehungen unter Freunden hat, anders als das zuerst besprochene, eine Handlungsweise zum Inhalt, die in China ganz übliche Praxis, aber in Deutschland doch eher ungewöhn-lich und als vermeintlicher Eingriff in die Intimsphäre wenig akzeptiert ist: das Bekanntmachen eines einsamen Freundes / einer einsamen Freundin mit einem potentiellen Partner. An der deutschen Szene lässt sich hier eine Strategie verfolgen, die der ablehnenden Sichtweise entspricht: Das Angebot des Bekannten erfolgt vorsichtig und fast beiläufig, eingebettet in ein längeres Gespräch zu anderem Inhalt, und der Bedachte wehrt ab: „Du willst mich doch nicht etwa verkuppeln!“

Während das Video über die schlechte Note – ganz gemäß der generellen The-menstellung – im Wesentlichen zu einer Diskussion über die Beziehungen Eltern – Kinder führte, wurde beim Gespräch über die vorliegende Szene das Thema Beziehung unter Freunden stark von den Themen Heirat, Partnersuche und Partnerwahl überlagert. Vermutlich ist ein Einsatz des Videos besonders dann interessant, wenn, wie im Vergleich Deutschland - China, diesbezüglich große Unterschiede zu beobachten sind.

So sind in China Heirat und Famili-engründung die Regel; sie entsprechen dem Wunsch der meisten jungen Leute und ihrer Familien, und dieser Wunsch wird normalerweise auch zügig reali-siert. Ist der ideale Zeitpunkt für die Partnerwahl verpasst, nimmt die Zahl der potentiellen freien Partner stark ab. Spätestens zu diesem Zeitpunkt wird das Matchmaking zu einer Maßnahme der Freunde, Kollegen, des Betriebs oder auch natürlich der Eltern. An dieser Aufzählung der Vermittler zeigt sich, dass die Heirat nicht, wie in Deutsch-land, Privatsache ist, sondern eine Angelegenheit des erweiterten persön-lichen Umfelds und ganz besonders der Familie. Heirat, Gründung einer

eigenen Familie und Fortsetzung der Fa-milienlinie gehören nach konfuzianisch geprägter Weltsicht zu den traditionel-len Pflichten eines jeden (Ho 1996).

Weitere Anschlussthemen für die Be-arbeitung des Videos sind die Partner-suche und die Liebesheirat. Letztere gehört nicht nur zum idealen Selbstbild der Deutschen, sondern auch der jungen Chinesen. Allerdings machten die Studentinnen signifikante Einschrän-kungen:

“In China ist das Leben wichtig. Wenn es genug Geld zum Leben gibt und eine Wohnung usw., dann ist es gut. Es ist ganz normal, dass die Leute zusammen leben, auch ohne sich zu lieben.”

“Ich werde natürlich nach meiner Liebe suchen, aber wenn ich z. B. schon 33 bin und ich habe noch keinen passenden Part-ner gefunden, dann werde ich es auch so machen [d. h. auf Vermittlung setzen und ggf. einen „Kompromisspartner“ heira-ten]. Ich will nicht das ganze Leben allein leben, ich will auch ein Kind haben.”

Die Videoszene führt so also in einen Themenkreis ein, der zum Standardre-pertoire der Deutschlehrbücher gehört und an dem jugendliche Lerner beson-ders interessiert sind.

Ein weiterer sehr interessanter Punkt, der nicht im Zusammenhang mit dem Hauptthema steht, aber sehr schön eine Alltagskonvention zeigt, ist das Verhal-ten beim Zahlen im Restaurant / in der Kneipe, das in beiden Szenen dargestellt ist: Getrenntes Zahlen in Deutschland und der Schaukampf in China, wer die Rechnung übernimmt.

5. Zusam�m�enfassung und Ausblick auf eine Didak-tisierung der Videos

Die Diskussion der Videos hat die Vorteile des Mediums bestätigt: Die Filme bieten viel Stoff zum persönlichen Entdecken und können ein vielfälti-ges Spektrum von landeskundlichen Themenbereichen eröffnen, die im Sinne einer Leutekunde (Krumm 1992) ins Alltagsleben der fremden Kultur führen. Der besondere Nutzen von szenischen Educasts liegt darin, dass sie

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eine Schicht sichtbar machen, die über andere Medien nicht zu erfassen ist; es werden konkrete Verhaltensweisen von Menschen in komplexen Situationen sichtbar, wohingegen etwa Texte zum selben Problembereich immer abstrak-ter Natur sind und damit „(zwangs-läufig) Kategorisierungen, Deutungen und Interpretationsvorgaben“ (Bauer 2010:380) ins Spiel bringen. Die Aus-schnitthaftigkeit der Filme bietet zudem ein Rezeptionsangebot, anhand dessen Fragen nach Motivation und gesell-schaftlicher Bedingtheit von Verhaltens-weisen aufgeworfen werden können.

Gleichzeitig muss den Betrachtern der Clips aber bewusst gemacht werden, dass der erste Eindruck oberflächlich sein kann und das Beobachtete deshalb eher als Arbeitshypothese denn als Faktum zu behandeln ist. Der Aus-schnitt, den die Filme zeigen, beinhaltet Handlungsmöglichkeiten, die der Rela-tivierung und Ergänzung bedürfen und nicht in stereotypisierender Weise für die fremde Kultur genommen werden dürfen. Spontane Empathie, die sich anhand der Szenen entwickelt, kann dabei ein guter Start sein, sie sollte aber in ein begründetes Verständnis fremd-kultureller Zusammenhänge und ihrer „Tiefenstruktur“ (Bolten 2007:25f.) überführt werden. Aufgabe des didak-tischen Arrangements muss es dabei sein, die Auseinandersetzung mit dem Gesehenen und die Diskussion darüber zu garantieren.

Die Fremdsprachen- und Mediendidak-tik (vgl. die ausführliche Darstellung bei Brandi 1996) hat dazu insbesondere zwei methodische Ansatzpunkte heraus-gearbeitet: Die Präsentationsform und die Einbettung der Filmrezeption in einen umfassenden Lernprozess.

Nach Art der Präsentation des Videos lassen sich grundsätzlich drei Mög-lichkeiten unterscheiden, die von der Materiallage abhängen und auf unter-schiedliche Weise die Aufmerksamkeit des Betrachters lenken können: Die Präsentation des gesamten Videos, die Präsentation eines reduzierten Rezepti-onsangebots (Konzentration auf Schlüs-selszenen, Arbeit mit Standbildern, Arbeit mit der isolierten Bild- oder

Tonspur) und die kontrastierende bzw. vergleichende Präsentation von Sze-nen aus verschiedenen Filmen. Für die vorliegenden Videos ist aufgrund des begrenzten zeitlichen und inhaltlichen Umfangs vornehmlich an die Präsentati-on des gesamten Clips zu denken.

Bei der Platzierung des Videos im Lern-prozess geht es wesentlich darum, wie die Betrachtung vorbereitet wird, durch welche Arbeitsformen die Rezeption be-gleitet und wie sie nachbereitet wird.

Wenn, ähnlich wie in den oben be-schriebenen Diskussionsrunden, Vertreter der involvierten Kulturkreise zusammen kommen können, brauchen die Videos wenig Vorbereitung und können gut in der einleitenden Phase eines Unterrichtsprojektes eingesetzt werden. Fragen, Erklärungen und Diffe-renzierungen sind durch die Konstellati-on der Gesprächsteilnehmer weitgehend garantiert. Beobachtungsbögen können zur strukturierten Beobachtung und zur Vorbereitung der Diskussion hilfreich sein. Die Fragen und Ergebnisse, die dieser Austausch erbracht hat, werden dann zum Ausgangspunkt für genauere landeskundliche Recherchen. Dabei sollten, neben der Sach- und Fachlitera-tur, auch Presseartikel, Ratgeberliteratur und -websites usw. einbezogen werden, da sie einen Einblick in die öffentliche Diskussion der Zielkultur geben.

Sind der direkte Austausch mit Ver-tretern der Zielkultur und die daraus resultierenden Korrektiv-Möglichkeiten nicht gegeben, sollten die Videos nicht unvorbereitet verwendet werden, um einer eindimensionalen Aufnahme entgegenzuwirken. Eine Möglichkeit ist die Vorschaltung einer Bearbeitung eigenkultureller Erfahrungen.

Im Kontext des Clips über das Vor-stellen einer potentiellen Partnerin könnte dies gut durch die Vorgabe der Ausgangssituation geschehen, zu denen die Lerner Lösungen im Rollenspiel erarbeiten und diskutieren sollen. Ent-sprechend der Zielkultur der jeweiligen Unterrichtseinheit wird dann nur diese Szene ausgewählt und das Gespräch der beiden Freunde in seinem Verlauf analysiert.

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Beim Video über die schlechte Note bieten sich gegenseitige Partnerinter-views oder Befragungen von Personen außerhalb der eigenen Gruppe zum The-ma an.4 Dabei ist es möglich, wahlweise verschiedene Aspekte (etwa gesellschaft-licher Stellenwert von Bildung, Ver-antwortung der Eltern für den Schu-lerfolg, Kooperation von Schule und Elternhaus, Konfliktbehandlung von schulischen Problemen, Erziehungsstile usw.) durch den zugrunde gelegten Fra-genkatalog zu fokussieren. Der Intervie-wplan sollte sich nicht nur auf äußere Erscheinungen konzentrieren, sondern auch Fragen nach der Motivation und der Zweckhaftigkeit von Verhaltenswei-sen enthalten. Die Zusammenstellung der Ergebnisse wird erwartungsgemäß zeigen, dass auch die eigene Gesellschaft eine Vielfalt von Auffassungen bereit-hält, die erfragten Begründungszusam-menhänge können erhellen, dass solche Alternativen nicht willkürlich, sondern hinterfragbar und wenigstens teilweise nachvollziehbar sind.

So wird in doppelter Hinsicht eine Basis geschaffen: Die Lerner können die Einsicht in die Vielschichtigkeit der eigenkulturellen Auffassungen auf die Betrachtung des fremdkulturellen Vi-deos transferieren und sie sind sachlich vorbereitet, Übereinstimmungen und Unterschiede zu den zuvor zusammen-gestellten Erfahrungen zu benennen, Erklärungen zu versuchen und Fragen zum Gesehenen zu stellen.

Damit ist des Weiteren wiederum die Recherche zum Sachthema (hier z. B. Erziehungsstile) oder zur zielkulturellen Diskussion dieses Themas vorberei-tet. Wenn die Beschäftigung mit den eigenkulturellen Konzepten zum Thema aus der Einleitungsphase darüber hinaus in einem produktiven Videoprojekt fortgeführt werden kann, schließt sich der Kreis auch medial.

Richtig verwendet sind die Videoszenen also kein Lerngegenstand, anhand des-sen primär Merkmale der fremden Kul-tur festgestellt und memoriert werden, sondern ein Gegenstand der Diskussion und der weiterführenden Recherche, an dem der interkulturell kompetente, d. h. vor allem auch flexible Umgang

mit einer vielfältigen und sich ständig verändernden fremden Kultur trainiert werden kann. Denn wichtiger als die nur bedingt verbindliche Information über die fremde Kultur ist die Kompe-tenz im Umgang mit dem Fremden, die immer wieder hilft, sich auf neu auftau-chende fremdkulturelle Erfahrungen selbständig einzustellen. In der Konse-quenz dieser Überlegung liegt das Ziel, dass ein interkultureller Lernprozess in Zukunft nicht mehr (nur) vom Unter-richtenden inszeniert, sondern durch einen direkten oder medial vermittelten Dialog der Vertreter der Kulturen selbst verwirklicht wird.

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Endnoten

1. Es handelt sich (Stand: Februar 2012) um zwei Videos zu den Begriffen Kultur und Interkulturalität, einem ähnlich wie Beziehungen konzipierten Video zum Thema Kritik äußern – auf Kritik reagieren aus deutscher und chinesischer Perspektive sowie fünf Videos zur Methodenlehre der Interkulturellen Kommunikation. Genauer beschrieben und analysiert ist dieses Ange-bot bei Timmermann (2011).

2. Die Verfasserin bedankt sich bei Frau Zhang Wei für kollegiale Unterstützung bei Diskussionsrunden in Peking, bei Herrn Guo Jiaqi für Auskünfte über die Filmarbeit in China, beim Medienzentrum der Univer-sität Jena für die Aufnahme einer Diskus-sionsrunde in Jena und insbesondere bei allen Studierenden, die an den Diskussionen teilgenommen haben.

3. Zu den gegenwärtig praktizierten Erziehungsstilen in China vgl. etwa Chen 2005:97ff.

4. Wie solche Befragungen methodisch-didaktisch zu begleiten sind, kann an dieser Stelle nicht ausgeführt werden. Verwiesen sei auf die umfangreiche Literatur zur Inter-viewmethode vgl. z. B. Detjen 2005, Wicke 1995, Becker 1991, Becker 1988.

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Elsayed Madbouly Selm�y

Ass. Prof. an der Deutsch Päda-gogischen Fakultät / Ain-Shams-Universität / Kairo

Abstract (Deutsch)

Beschreibungen der verschiedenen Sprachen sind grundsätzlich unvollständig bzw. lückenhaft. Das liegt an der Komplexität des Phänomens Sprache, aber auch an dem Entwicklungsstand und dem Umfang der einzelnen Linguistiktraditionen, die diesbezüglich etliche Unterschiede aufweisen. Daher kann der Blick auf andere Spra-chen / Sprachbeschreibungen auf die Lücken bzw. Unzulänglichkeiten der einzelnen Sprachbeschreibungen auf-merksam machen. Das bildet den Ausgangspunkt der interkulturellen Systemgrammatik. Wenn Sprachen / Sprachbeschreibungen aufein-ander bezogen werden, kann das eine vervollständigende Funktion für die beteiligten Sprachbeschreibungen haben. Man kann Phänomene bzw. Probleme aufdecken, die in der vorhandenen grammatischen Beschreibung nicht erfasst sind bzw. nicht existieren, und / oder adäquatere Erklärungsmuster für gemeinsame Phänomene oder Lösungen für Problembereiche finden. Dieser Beitrag will die Voraussetzungen der interkultu-rellen Systemgrammatik und an Hand des grammatischen Transfers zwischen dem Deutschen und Arabischen ihre Vorgehensweisen und Erkenntnisinteressen vorstellen.

Stichworte: Interkulturell, Grammatik, interlingual, kontrastive Linguistik

Abstract (English)

Descriptions of various languages are fundamentally incomplete and fragmentary. This is due to the complexity of language, and also to the extent and level of development of linguistic traditions that have quite a few differences among them. Therefore, the views of other languages and / or language descriptions may draw attention to the gaps or inadequacies of the individual language descriptions. This is the starting point for inter-cultural formal grammar. When languages and / or language descriptions are related to each other both descriptions may gain and become more comprehensive. Problems or phenomena not represented in existing grammatical descriptions may be uncovered and / or more adequate explanations for similar phenomena or solutions to problem areas can be found. This paper will present the requirements of intercultural formal grammar and show its procedures and aims on the basis of grammatical transfer bet-ween German and Arabic.

Keywords: Intercultural, grammar, interlingual, contrastive linguistics

Die interkulturelle System�gram�m�atik – Voraussetzungen, Erkenntnisinteresse und Vorgehensweise

The intercultural formal grammar – requirements, aims and procedures

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1. Gegenstand und Ziele

Linguistiktraditionen in den verschiede-nen Kulturen weisen Unterschiede be-züglich ihres Entwicklungsstandes und ihres Umfangs auf (Raster 2008:117). Das hängt u. a. vom gesamtkulturellen Kontext, insbesondere dem Vorhanden-sein einer wissenschaftlichen Tradition und von dem Sprachtyp mit seinen Systemeigenheiten und zur Beschrei-bung gehörenden Kategorien zusam-men. Aber auch die Befangenheit in der eigenen Linguistiktradition kann jedes Entwicklungspotenzial eindämmen und es sogar in einen fest vorgeschriebenen Rahmen stecken. Heutzutage erleich-tern bestehende Kontakte zwischen Linguistiktraditionen, genauer gesagt zwischen ihren Vertretern, den stän-digen Austausch zwischen ihnen und sorgen für die Anhebung ihres Niveaus, auch wenn dabei die europäische / westliche Linguistik als Geberlinguistik eine Vorrangstellung genießt. Theore-tische Ansätze wie beispielsweise die generative Grammatik oder die Valenz-theorie gehören jetzt zum linguistischen Allgemeingut und beschäftigen die Linguisten verschiedener Kulturen.

Der Nutzen von dem Austausch lingui-stischer Erkenntnisse über die Einzel-sprachen ist aber noch unerschöpft. Erklärungsmodelle und -instrumenta-rien stehen in einem proportionalen Verhältnis zum Entwicklungsstand einer Linguistiktradition, sodass ihre Unzulänglichkeiten eine lückenhafte Einzelsprachbeschreibung zur Folge haben können. Die Anwendung von bezüglich einer Sprache gewonnenen Erkenntnissen auf eine andere kann zur Behebung solcher Lücken beitragen. Gerade in diesem Punkt offenbaren sich die Versäumnisse der kontrastiven Lin-guistik. Bei Sprachvergleichen werden nämlich identische Phänomene einan-der gegenüberstellt, um Gemeinsamkei-ten und Unterschiede herauszufinden. Möglichkeiten der Erweiterung oder Modifizierung der einzelsprachlichen Beschreibungen werden dabei nicht in Erwägung gezogen. Eigentlich kann das Aufeinanderbeziehen von Sprachen mit neuen Erkenntnissen verbunden sein, indem man in den betreffenden

Sprachbeschreibungen eventuelle Lük-ken aufdeckt oder die Adäquatheit der Erklärung von Phänomenen überprüft. Mit der interkulturellen Systemgram-matik (ISG) wird in diesem Beitrag ein Modell für den zwischensprachlichen Austausch von linguistischen Erkennt-nissen in den Bereichen Morphologie und Syntax vorgestellt, und gezeigt, wie die in Bezug auf eine Sprache gewon-nene Erkenntnisse zur Gewinnung von neuen Erkenntnissen in einer anderen verwendet werden können. In der Mor-phologie und in der Syntax kommen die Spracheigenheiten am stärksten zum Tragen, und das kann den Transferpro-zess in diesen Bereichen erschweren. Anhand von deutsch-arabischen / arabisch-deutschen Beispielen werden daher die Vorgehensweisen beim Trans-fer von morphologischen und syntakti-schen Erkenntnissen demonstriert und die Unwegsamkeiten besprochen. Die ISG verstehe ich als einen Baustein zur Weiterentwicklung der interkulturellen Linguistik, die sich mit der Interkultu-ralität der Linguistik selbst befasst und die gegenseitige Wahrnehmung und den möglichen Transfer zwischen ihnen zu ihrem Untersuchungsgegenstand macht (siehe hierzu Selmy 2011:264ff. ). Der Zusatz System zu Grammatik schafft eine Abgrenzung zu anderen Konzepten von interkulturellen bzw. „kulturkon-trastiven” (Ehnert 1988, Kniffka 1993, 1995:37) Grammatiken, die als „Verste-hens- und Handlungsgrammatik(en)” (Ehnert 1988:303) in interkulturellen Begegnungen konzipiert sind.

2. Voraussetzungen und Erkenntnisinteresse der ISG

Die Beschreibung jeder Sprache ist nur als eine vorübergehende Momentauf-nahme zu betrachten und in der Regel lückenhaft. Eine Tatsache, die Hum-boldt (1998:176) schon lange betont hat. Für ihn ist die Darstellung der Form irgendeiner Sprache „niemals ganz voll-ständig”. Daher sollen „Sprachforscher“ stets darum bemüht sein, „den Geheim-nissen der Sprache nach(zu)spüren und ihr Wesen zu enthüllen” (ebd.). Auch Kaznelson (1974) sieht die „evidente“ bzw. „äußere” Grammatik einer Sprache,

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die sich auf die äußeren Formen bezieht, als die Spitze eines „Eisberg(s), dessen größter Teil unter dem Wasser liegt” (Kaznelson 1974:103). Die „syntakti-schen Verbindungen” und die „Seman-tik der Wörter” implizieren „grammati-sche Signale” (ebd.:98), die Kaznelson „latente“ bzw. „innere“ Grammatik nennt. Die evidente Grammatik ist nach Kaznelson ein „unvollständiges … Ab-bild” der latenten (ebd.:116), denn sie spiegelt „die nichtevidenten Kategorien der Sprache und die übrigen Elemente der latenten Grammatik” nicht wider (ebd.:103). Daher ist jede grammatische Beschreibung einer Sprache unvollstän-dig. Kaznelson stellt die Grammatik-forschung vor die Daueraufgabe, mehr vom Eisberg an die Wasseroberfläche zu bringen. Als Ursachen der grundsätzli-chen Unvollständigkeit grammatischer Beschreibungen von Sprachen sind vor allem folgende zu nennen: Die kom-plexe Natur sprachlicher Phänomene erschwert eine erschöpfende Erfassung. Der Entwicklungsstand der jeweiligen Linguistiktradition und die Unzuläng-lichkeiten vorhandener Erklärungsmo-delle und -instrumentarien sind weitere Barrieren bei der Beschreibung einer Sprache. Zuletzt ist die Betriebsblind-heit der Linguisten in Bezug auf ihre Muttersprache zu nennen. Hier kann die Befangenheit in der eigenen Lingui-stiktradition schuld sein. Aber auch die „größere Nähe […] zu den beobachteten Phänomenen” kann „den Blick verstel-len” oder lässt ihnen bestimmte „Ei-genschaften” verborgen bleiben (Raster 2008:66f.). Gabelentz hat schon auf diese Problematik hingewiesen. Er hat beobachtet, „wie schwer sich oft die be-sten Köpfe von den muttersprachlichen Vorurtheilen [sic!] losringen, wie aber dann, wenn dies gelungen, aus den ent-legensten Gebieten herüber auf heimi-sche Spracherscheinungen Licht fallen kann” (zitiert nach Liang 2006:41). Der Blick über die eigene Linguistikgrenze und die Bezugnahme auf die Erkennt-nisse anderer Sprachbeschreibungen ermöglicht also neue Blickwinkel auf die eigene Sprache und eröffnet somit neue Wege der Erkenntnisgewinnung, beson-ders wenn man bedenkt, dass Sprachen generell nicht völlig gleich funktio-

nieren, aber etliche Gemeinsamkeiten erkennen lassen. Diesbezüglich hat man in der Prager Schule die Vorteile der Sprachvergleiche zu schätzen gewusst. Zu den Methoden einer systematischen Analyse einer Sprache gehört nach Mathesius (1964b:306) „comparison of languages of different types without any regard to their genetic relations”. Ziel solcher Vergleiche ist, „die charakteristi-schen Züge des analysierten Sprachbaus plastisch hervorzuheben und ihre wech-selseitigen Beziehungen zu behandeln” (Mathesius 1929:435). Genau an diesem Punkt setzt eine ISG an. Zwei Sprachen werden aufeinander bezogen, indem sie wechselseitig die Rolle der „Metasprache” (Raster 2002:62) bzw. „Kontrastsprache” (Raster 2001:11), d. h. die Sprache, auf deren Folie die andere Sprache betrachtet wird, über-nehmen. Da werden die sprachlichen Erscheinungen der beteiligten Sprachen interrelational untersucht. Außerdem werden die Beschreibungsmodelle und -kategorien einer Sprache und die in Be-zug auf sie gewonnenen grammatischen Erkenntnisse auf die andere angewendet bzw. übertragen. Diese Vorgehens-weise kann „Aufschlusswert” (Raster 2002:79) haben, also neue Erkenntnisse über eine oder beide einbezogenen Sprachen schaffen, die „durch eine systeminterne Analyse“ der beteilig-ten Sprachen „allein nicht oder kaum erkannt werden können” (ebd.:62). Neu können diese Erkenntnisse in zweierlei Hinsicht sein:

■ In den untersuchten Sprachen kön-nen Phänomene bzw. Probleme auf-gedeckt werden, die in der vorhan-denen grammatischen Beschreibung nicht erfasst sind bzw. nicht existie-ren. Das geschieht nach dem Vorbild einer der beteiligten Sprachen, d. h. ein Phänomen ist ein Bestandteil der Grammatik einer Sprache, aber in der einer anderen nicht. Oder durch das Aufeinanderbeziehen der betreffenden Sprachen wird man auf Phänomene / Probleme aufmerk-sam, die die grammatischen Be-schreibungen dieser Sprachen bisher nicht berücksichtigt haben.

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■ Die oben angesprochene Unvoll-ständigkeit grammatischer Darstel-lungen von Sprachen bezieht sich nicht nur auf noch nicht erfasste bzw. verdeckte Phänomene, sondern auch auf nicht erschöpfende und daher mangelhafte Erklärung der erkannten Phänomene. Die gram-matische Beschreibung desselben Phänomens in den verschiedenen Sprachen kann je nach Sichtweise und Grammatiktradition variieren. Man wird also beim Betrachten des einen Phänomens in zwei Sprachen eine Fülle von grammatischen Er-kenntnissen darüber gewinnen, die verschiedene Aspekte beleuchten. Daraus kann sich ein adäquateres Erklärungsmuster für das Phänomen ergeben, oder Lösungen für Pro-blembereiche gefunden werden.

3. Gram�m�atiktransfer zwischen dem� Deutschen und dem� Arabischen

Für die ISG ist die Sprachspezifik, die sich in formalen Eigenschaften und demzufolge in andersartigen Beschrei-bungsmodellen und -kategorien wider-spiegelt, sehr vorteilhaft, was die Gewin-nung neuer Erkenntnisse angeht. Die Sprachspezifik zeigt sich am meisten in den Bereichen der Phonologie, Mor-phologie und Syntax. In der Phonologie hat die Prager Schule durch Sprach-vergleiche hervorragende Erkenntnisse gewinnen können (siehe hierzu u. a. Mathesius 1929, 1935/36, 1964). Im morpho-syntaktischen Bereich sind mir zwei Beiträge bekannt, in denen in Bezug auf eine Sprache gewonnene Er-kenntnisse auf eine andere angewendet werden. Harweg (1990) zieht über die Analyse der Entsprechungen deutscher Präpositionen im Chinesischen neue Interpretationsmöglichkeiten der deutschen Präpositionen in Erwägung. Mit Zuhilfenahme der Erkenntnisse der indischen Grammatik im Bereich der Wortarten versucht Raster (2001) im Deutschen die Rückführung der Prä-positionen auf Präverbien zu beweisen. Daraus zieht er Schlussfolgerungen in Bezug auf die Wortklasse der Präposi-tionen im Deutschen. Im Folgenden

gebe ich einige Beispiele für mögliche Transfers zwischen dem Deutschen und dem Arabischen im Bereich der Mor-phologie und der Syntax. Sie werden das ganze Spektrum aller möglichen Untersuchungsbereiche einer ISG nicht abdecken, wohl aber zeigen, wie interkulturell-grammatische Transfers aussehen können.

Hoffmann (1996:147ff., 2003:80ff./ 127ff.) unterscheidet zwischen zwei syntaktischen Prozeduren: Die „Inte-gration”, aus der Einheiten unterhalb der Satzebene resultieren, und die „Synthese”, deren Ergebnis Sätze sind. In Sätzen mit Verben markiert das finite Verb das Prädikat, und so kann man die zwei für eine Satzkonstitution notwendigen Glieder eindeutig diffe-renzieren. In verblosen Nominalsätzen im Arabischen dürften die Herstellung des Satzcharakters und die Markie-rung der zwei Glieder problematischer sein. Daher gibt es Regularitäten, die eine Satzkonstitution garantieren. Die Quintessenz dieser Regeln ist: Man soll „die für die Satzkonstitution relevanten zwei Konstituenten ausreichend […] markieren, eine integrative Interpreta-tion der Beziehung zwischen ihnen … verhindern und die synthetische nahe … legen” (Selmy 2007:69). Das erreicht man durch bestimmte Eigenschaften der Subjekt- und Prädikatsgröße im Hin-blick auf die In- bzw. Determiniertheit, durch die Wortstellung (Voranstellung des Prädikats), durch den Einsatz von trennenden Elementen wie Satzzeichen oder von prosodischen Mitteln. In den deutschen finitverblosen zweigliedrigen Strukturen lassen sich ähnliche syntak-tische Mechanismen feststellen (ebd.: 70ff.). Inhaltlich enthalten solche Struk-turen eine vollständige Prädikation. Über einen Gegenstand wird nämlich eine Aussage gemacht. Syntaktisch wer-den die zwei Prädikationsgrößen ausrei-chend markiert wie im Arabischen: 1. Die für die Realisierung der zwei Grö-ßen verwendeten Sprachmittel lassen keine integrative Interpretation zu, z. B. Niemand da, Sonntage Schautage. 2. Bei syntaktischer Ambiguität greift man auf die Wortstellung zur Vereindeutigung zurück, z. B. die Voranstellung der Prä-positionalphrase in Im Tarifstreit im öf-

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fentlichen Dienst Sondierungsgespräche verhindert eine attributive Auslegung. 3. Man setzt trennende sprachliche Ele-mente ein, z. B. Atomtransporte bisher ohne Zwischenfälle, oder Satzzeichen, z. B. Unser Ziel: zufriedene Kunden. Vor dem Hintergrund der verblosen Nominalsätze im Arabischen kann man also in den finitverblosen zweigliedri-gen Strukturen im Deutschen formal gesehen vollständige Sätze sehen: Inhaltlich drücken sie Aussagen aus, die kontextlos verständlich sind und syntaktisch weisen sie Parallelen zu den arabischen verblosen Nominalsätzen auf. Die verbzentrierte Syntaxbrille im Deutschen betrachtet sie eher als ellipti-sche Strukturen, in denen das Verb sein ausgelassen ist; obwohl die elliptische Erklärung in mancher Hinsicht nicht aufrechtzuerhalten ist, beispielsweise lassen einige Sätze nicht eine sein-, sondern eher eine werden- oder gilt als-Interpretation zu, wie in Namenskauf von Hochs und Tiefs immer beliebter, Serie von Demonstrationen in USA gegen Irakkrieg Wiederholungen der ersten. Manche Strukturen lassen sich kaum auf verbale zurückführen, wie Heiße Bitte, kalter Dank. Sprachhisto-risch ist der verblose Satztypus schon lange belegt. Auch nach Paul (1959:41) hat man in älteren Sprachperioden die Kopula selten gebraucht. Nach der verbalen Überflutung, wohl unter dem lateinischen Einfluss, ist der Gebrauch der Kopula häufiger geworden, jedoch haben sie in erster Linie grammatische Funktionen inne und noch dazu eine Trennfunktion zwischen den Satzkon-stituenten (Paul 1959:41, Zifonun et al. 1997:441). Mathesius (1964b) geht dahin, dass es kaum eine Sprache gibt, die nur über „one sentence pattern” (ebd.:317) verfügt, denn in fast allen Sprachen „basic” und „occasional sentence types” (ebd.:318) zu finden sind. Verblose Sätze, die nach Mathesius nicht die ihnen gebührende „systematic attention” (ebd.) bekommen haben, gehören in einigen Sprachen zu den Grundformen, in anderen jedoch zu den okkasionellen. Man könnte also für das Deutsche die Existenz von verblosen Sätzen annehmen, und zwar als okka-

sionelles Satzmuster neben den verbalen Grundmustern.

Die Wortarten-Diskussion im Deut-schen blickt auf eine lange Geschichte zurück (siehe hierzu u. a. Bergenholtz / Schaeder 1977). Abgesehen von weni-gen ungeklärten Fragen hat man durch morphologische, syntaktische und semantische Herangehensweisen eine ausdifferenzierte Wortartenklassifika-tion aufstellen können. Im Arabischen dagegen sieht es karg aus. In dem drei-gliedrigen Wortartensystem, nämlich Þism (Nomen), fiÝl (Verb) und Îarf (Partikel), werden, mit Ausnahme der Verben, heterogene Wörter, was ihr syn-taktisches Verhalten betrifft, einer Klasse untergeordnet. Hassan (1998:86ff.) bemängelt diese Dreiteilung der Wort-arten und setzt sich für die Anwendung anderer Kriterien ein, um eine differen-ziertere, den Eigenschaften der Wörter gerechtere Klassifikation zu erreichen. Das Ergebnis seiner Ausführungen war ein Sieben-Wortklassen-System, das ne-ben Þism (Nomen) und fiÝl (Verb) auch Òifa (Adjektiv), ÃamÐr (Pronomen), Ûarf (Adverb), ÞadÁh (Funktionswort, dar-unter u. a. Präpositionen und Konjunk-tionen) und ÌawÁlif (Gefühlswörter, darunter u. a. Interjektionen und Wör-ter des Lobes und Tadels). Ich finde das Wortartensystem im Arabischen noch ausbaufähig. Hier könnte eine Über-tragung der deutschen Feststellungs-kriterien der Wortarten, besonders der syntaktisch orientierten, im Arabischen ein differenzierteres, nicht unbedingt mit dem des Deutschen identisches Wortartensystem ergeben.

Mit dem Hinweis von Polenz (1963) auf die Funktionsverbfügungen, u. a. auch Funktionsverbgefüge, Streckfor-men, hat die deutsche Grammatik-schreibung ein Phänomen entdeckt, das bis heute noch erforscht wird. Charakteristisch für diese Strukturen, die in präpositionale, z. B. zur Auffüh-rung bringen, und nicht präpositionale, z. B. Unterstützung finden eingeteilt werden, ist (siehe hierzu Polenz 1963, Helbig / Buscha 1993:97ff ): 1. Das Verb ist semantisch leer (abgesehen von seiner Rolle bei der Differenzierung der Aktionsarten), weil es seine lexi-

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kalische Bedeutung aufgibt, und nur grammatische Funktionen markiert. 2. Das Nomen trägt die Gesamtbedeutung der ganzen Fügung. Da dieses Phäno-men auch im Arabischen vorhanden ist, jedoch nicht von der traditionellen Grammatik erfasst wird, hat man folge-richtig das deutsche Erklärungsmodell auf die arabischen Strukturen übertra-gen (Wittig 1977). Auf sie treffen ja die oben genannten Charakteristika zu. Angesichts der grammatischen Rahmenbedingungen lassen sich aber einige formale Merkmale der deutschen Funktionsverbfügungen, die zu deren Abgrenzung herangezogen werden, auf die arabischen Strukturen nicht über-tragen, z. B. man kann im Arabischen das Nomen in solchen Fügungen, das Subjekt- oder Objektfunktion überneh-men kann, nicht als Teil des Prädikats betrachten, wie es im Deutschen der Fall ist. Außerdem gibt es verblose (nomina-le) Strukturen dieser Art. Auf alle Fälle hat man mit diesem Transfer auf das Phänomen im Arabischen aufmerksam gemacht.

Im Deutschen gelten die Verben mit mindestens einem direkten Akkusativo-bjekt, das bei der Passivtransformation zum Subjekt wird, als transitiv (Helbig / Buscha 1993:53, Glück 1993:651, Le-wandowski 1994:1196f.). Diese Bestim-mung ist im Ansatz nicht ganz einwand-frei. Die Blockierung der Passivbildung erfolgt in der Regel aus semantischen Gründen. Daran eine syntaktische Prozedur, nämlich die Verwandlung des Akkusativobjekts in ein Subjekt, zu knüpfen, bedeutet eine Vermischung von zwei nicht direkt zusammenhän-genden Mechanismen. Außerdem zeigt sich die Problematik dieser Bestimmung zum einen bei den Verben, die zwar ein direktes Akkusativobjekt haben, aber keine Passivbildung zulassen, und daher mit Bezeichnung wie „Mittelver-ben” oder „pseudo-transitiv” (Helbig / Buscha 1993:54) etikettiert werden. Zum anderen wird der Rest der Verben in den Topf der intransitiven geworfen, darunter solche, die außer dem Subjekt keine weiteren Ergänzungen benötigen, aber auch solche, die neben dem Subjekt auch Dativ-, Genitiv- oder Präpositio-nalobjekte verlangen. Da die Handlung

bei der letztgenannten Gruppe die Sub-jektsphäre verlässt und im Sinne der se-mantischen Transitivität auf ein Objekt übergeht, wollen einige Grammatiker sie gern den transitiven zurechnen (En-gel 1996:391). Der Ausweg aus diesem Transitivitätsdilemma kann darin liegen, dass man die Transitivität auf semanti-scher Basis bestimmt und alle Verben mit auf Objekte übergehender Hand-lung als transitiv erklärt. Hier sei aber angemerkt, dass auf semantischer Basis keinen leicht praktikablen Transitivi-tätsbegriff zu erreichen ist. Inhaltlich ge-sehen geht für Admoni (1982:168) bei „transitiven” bzw. „objektiven” Verben eine Handlung vom Subjekt aus und richtet sich auf eine Größe. Er teilt die Verben je nach dem Grad der Betroffen-heit von der Handlung in verschiedene Klassen. Obwohl Admonis Bestimmung keine Präferenzen in Bezug auf formale Klassen von Objekten vorsieht, bleiben grundsätzliche Bedenken gegen eine se-mantische Bestimmung der Transitivität erhalten, beispielsweise in den Fällen, in denen das Subjekt selbst Ziel der Hand-lung ist oder eine Reziprozität zwischen Subjekt und Objekt vorliegt (Lyons 1980:357f.). Die andere Lösung besteht darin, dass man bei der syntaktisch orientierten Transitivität bleibt, aber sie von der Passivtransformation abkoppelt. So werden nicht nur die Verben mit Dativ-, Genitiv- oder Präpositional-objekten zu den transitiven gerechnet, sondern auch die Klasse der pseudo-transitiven bzw. Mittelverben wird auf-gehoben. Damit würde man sich dem Transitivitätsverständnis im Arabischen nähern. Das Kernproblem im Deut-schen bildet das inkonsequente Pendeln bzw. die Vermischung zwischen syntak-tischer und semantischer Transitivität. Im Arabischen dagegen hält man sich konsequent an syntaktischen Gegeben-heiten, und bestimmt die intransitiven Verben als diejenigen, die sich mit dem Subjekt begnügen und bindet die tran-sitiven an die Rektion von Objekten. Genuin transitive Verben können direkt ein, zwei oder drei Objekte regieren, aber nicht genuin transitive kommen erst indirekt mittels einer Präposition zur Objektrektion (Hasan 1986: 150ff., Elsayed 1986:291ff., Al-Zamakhshary

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2003:332f., Al-Tungy 2003:321 / 322f.). Die Schlussfolgerung: Ein Auf-einanderbeziehen beider Sprachen im Bereich der In- bzw. Transitivität kann brauchbare Erkenntnisse ergeben.

Selbstverständlich taucht im Rahmen einer ISG die alte Problematik wieder auf, die die Behandlung einer Sprache in den Kategorien einer anderen betrifft (Raster 2002:65ff.). Das klassische Beispiel in dieser Hinsicht ist die An-wendung der lateinischen Grammatik auf einige europäische Sprachen und die damit verbundene Frage nach der Tauglichkeit des lateinischen Gramma-tikkorsetts für das adäquate Erfassen der betroffenen Sprachsysteme, und nach der Genauigkeit der lateinischen Grammatiktermini im Hinblick auf die bezeichneten Phänomene. Ein anderes Beispiel ist die Verwendung der Mutter-sprache zur Darstellung der Grammatik einer Fremdsprache, für didaktische oder andere Zwecke. Hier hat man mit der Problematik der Deckungsgleich-heit der Termini in beiden Sprachen zu kämpfen. In der ISG wird nicht eine ganze Sprache in den Kategorien einer anderen beschrieben, sondern es geht nur um bestimmte, für eine Sprache oder beide betreffenden Sprachen erkenntnisträchtige Bereiche. Außerdem ist die Übernahme der Termini oder eine Lehnübersetzung dafür kein Ob-ligat. Im Gegenteil: Man kann für die beteiligten Sprachen andere, adäquatere Termini wählen. Es sei auch erwähnt, dass solche Vergleiche die Gelegenheit bieten, die Termini in den jeweiligen Sprachen auf ihre Angemessenheit zu überprüfen. Noch dazu werden die Beschreibungsmodelle bzw. -kategorien nicht blindlings auf andere Sprachen übertragen. Das wird durch eine absi-chernde Vorgehensweise untermauert, wie im Folgenden dargestellt wird.

4. Vorgehensweise der ISGDem grammatischen Transferprozess geht eine vergleichende Vorab-Check-Phase voraus, um 1. Divergenzen in den grammatisch erfassten Phänomenen, 2. Kategorien und Erklärungsmuster der identischen Phänomene und mögliche Abweichungen und 3. grammatische

Problemzonen in beiden Sprachen festzustellen. In dieser Phase erkundet man potenzielle Fragestellungen für eine ISG. Neben dieser systematischen Vorgehensweise kann man auch in einem Heureka-Moment oder durch an-derweitige Hinweise auf solche Themen kommen.

Hat man eine interkulturell-gramma-tisch relevante Fragestellung, setzt die zweite Phase an, nämlich die Innen-perspektive. Da werden alle möglichen Aussagen über das Phänomen in beiden Sprachen zusammengestellt. Dazu braucht man nur vorhandene Gramma-tiken der beiden Sprachen und andere mögliche Einzeluntersuchungen zum betreffenden Phänomen zur Hilfe zu nehmen. Zu Phänomenen, die nicht eigens in einer Grammatikbeschreibung behandelt werden, finden sich meistens Aussagen unter verschiedenen Gramma-tikrubriken oder in Einzeluntersuchun-gen. Das ist beispielsweise der Fall bei den finitverblosen Strukturen im Deut-schen. Auf manche Phänomene wird außerhalb der Grammatik eingegangen, wie die arabischen Streckformen in der Rhetorik. Neben diesen Quellen ist der Wert von Selbstbeobachtungen hervor-zuheben, besonders wenn diese durch Korpusanalysen untermauert werden. Anhand der vorhandenen Informa-tionen werden durch interrelationale Betrachtung des Phänomens in beiden Sprachen mögliche Lücken bzw. Pro-blemzonen entdeckt und die Elemente des Transfers bestimmt.

In der dritten Phase kommt es zur Projektion des grammatischen Wissens einer Sprache auf die andere, d. h. das Phänomen der Nehmersprache wird aus der Perspektive der Grammatik der Gebersprache betrachtet. Das ist die Außenperspektive. Was in der Au-ßenperspektive auf die jeweils andere Sprache projiziert wird, ist ein Be-schreibungsmodell, Raster spricht von „Projektionsgrammatik” (2002:65) bzw. „Transfergrammatik” (2001:19), das das Ergebnis der interrelationalen Betrach-tung des Phänomens in beiden Spra-chen darstellt. Die Wissenselemente des Beschreibungsmodells können einer der beiden Sprachen entnommen sein, wie

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im Falle der verblosen Nominalsätze im Arabischen als Projektionsmodell für finitverblose zweigliedrige Strukturen im Deutschen. Man kann aber auch aus den Erkenntnissen über das Phäno-men in beiden Sprachen ein Beschrei-bungsmodell entwickeln, das auf beide Sprachen angewendet werden kann. Die jeweils für eine Sprache fremden Wis-senselemente im Modell gelten dann als die Außenperspektive. Oben haben wir angedeutet, dass das im Deutschen gültige Erklärungsmodell der Funkti-onsverbfügungen nicht uneingeschränkt auf das Arabische zu übertragen ist. Das wesentliche Charakteristikum mit dem semantisch leeren Verb und dem bedeutungstragenden Nomen lässt sich angesichts der verblosen Streckformen im Arabischen nicht ganz aufrecht-erhalten, was zur Suche nach einem anderen, womöglich für beide Sprachen tragbaren Beschreibungsansatz anregt. Die Grammatikalisierungsschiene und der damit verbundene Metaphorisie-rungsprozess (Stolz 1994) wären m. E. eine für beide Sprachen angemessene Herangehensweise, besonders weil man im Arabischen in den Streckformen eine Metaphorisierung sieht (Al-Akoub 1996:280.). Das Beispiel der Funkti-onsverbfügungen zeigt, dass voreilige Transfers nicht ausgeschlossen sind.

Die Außenperspektive ist „nicht abso-lut” (Raster 2002:80), daher soll man sich in einer nochmaligen Innenper-spektive, der vierten und letzten Phase, vergewissern, dass das Projektionsmo-dell für die Beschreibung des Phäno-mens in einer bzw. in beiden Sprachen geeignet ist, und welche neuen Erkennt-nisse dadurch gewonnen werden. Ein erfolgreicher Transfer wird aber nicht allein an dem Aufschlusswert gemessen, denn das kann sich als voreilige Schluss-folgerung entpuppen. Wichtiger ist sei-ne „Angemessenheit” (Raster 2002:79) für die Erklärung des jeweiligen Phäno-mens. In dieser Innenperspektive wird daher nach plausiblen Anhaltspunkten im jeweiligen Sprachsystem gesucht, die den Transfer untermauern. Hier können sprachhistorische Exkursionen unter-stützende Evidenzen liefern, wie im Fall der finitverblosen Strukturen. Auch Raster (2001:41) untermauert seine

auf der Folie der indischen Grammatik aufgestellten Thesen über die deutschen Präpositionen durch sprachhistorische Umstände. Die Innenperspektive soll außerdem die Reichweite der neuen Erkenntnisse in Bezug auf das ganze Sprachsystem verfolgen.

Resümierend kann man Folgendes schlussfolgern: Wenn Sprachen und Sprachbeschreibungen im Rahmen einer ISG zueinander in Beziehung ge-setzt werden, zeigen sich die Lücken in der Sprachbeschreibung der beteiligten Sprachen. Kommt es zu einem Transfer, können beide Sprachen oder eine davon um neue vorher unbekannte Phänome-ne bzw. Kategorien oder um adäquatere Beschreibungsmuster erfasster Phäno-mene bereichert werden. Hier kann die ISG eine vervollständigende Funktion in Bezug auf die einzelnen Sprachbe-schreibungen haben. Sie kann nämlich die Lücken in diesen Beschreibungen bezüglich der erfassten Phänomene und der Kategorien decken, aber auch mögliche Unzulänglichkeiten bei der Erklärung von Phänomenen beheben. Auch die Linguistik gewinnt allgemeine Einsichten in das Wesen des Phänomens Sprache und der sprachlichen Phänome-ne. Damit befreit die ISG die Sprach-vergleiche von der Praxisorientiertheit der kontrastiven Linguistik (Fremdspra-chenunterrichts- und Übersetzungs-zwecke) und bindet sie an rein linguisti-sche Erkenntnisinteressen.

Nun stellt sich zu Recht die Frage nach dem Stellenwert der neu gewon-nen Erkenntnisse für die einzelnen Grammatiktraditionen bzw. nach der Möglichkeit ihrer Integration in die Beschreibung der jeweiligen Sprache, vorausgesetzt, dass es darüber Konsens besteht. Die neuen Erkenntnisse können einen Bruch mit dem tradierten Gram-matikwissen darstellen, Raster spricht von „Dekonstruktion” (2001:42). Der Einbau der neuen Wissenselemente verlangt also ein Neustrukturieren der Grammatikbeschreibungen in den be-troffenen Bereichen. So geschieht nach Raster eine „Neukonstruktion” (ebd.). Ob und inwieweit dieser Prozess vollzo-gen wird, hängt in erster Linie von der Resistenz der jeweiligen Grammatik-

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tradition gegen Erneuerungen bzw. von ihrer Offenheit und ihrem ständigen Bemühen, den neusten Stand in der Forschung einzubeziehen, ab. Was die interkulturell-grammatisch gewonnenen Erkenntnisse angeht, wäre eine Umkon-zipierung bzw. Umstrukturierung der betreffenden Bereiche zunächst nicht nötig. Ein Hinweis auf diese Erkennt-nisse, wenn auch mit Fragezeichen versehen, würde ausreichen; denn so werden sie in die Fachdiskussion einge-bracht.

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Christian Wille

Dr., wiss. Mitarbeiter der For-schungseinheit IPSE – Identités. Politiques, Sociétés, Espaces (Uni-versität Luxemburg)

Julia de Bres

Dr., wiss. Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Luxemburgische Sprache und Literatur (Universität Luxemburg)

Anne Franziskus

MA Europäische Kulturen, Doktorandin am Lehrstuhl für Luxemburgische Sprache und Literatur (Universität Luxem-burg)

Abstract (Deutsch)

Luxemburg zählt die meisten Grenzgänger in der EU. Sie pendeln täglich aus Deutschland, Frankreich oder Belgien in das dreisprachige Land ein, womit sich vielfältige sprachliche und kulturelle Konstellationen der Zusammenarbeit ergeben. Der Beitrag untersucht erstmals derart facettenreich, wie Mehrsprachigkeit und Interkulturalität von Grenzgängern in Luxemburg erlebt und bewältigt werden. Die vorgestellten Sprachpraktiken und Interkulturalitätsstrategien basieren auf Interviews, Interaktionsanalysen und Befragungen.

Stichworte: Grenzgänger, Luxemburg, Grenzregion, Transnationalität, Sprachideo-logien, Interkulturelle Kommunikation

Abstract (English)

The trilingual country of Luxembourg accounts for the highest percentage of cross-border workers in the European Union. These workers commute daily from France, Belgium and Germany to Luxembourg. Their presence in the national labour market results in in-creasing linguistic and cultural diversity at Luxembourgish workplaces. Drawing upon interview and interactional data, the present contribution is the first to investigate how crossborder workers in Luxembourg perceive and deal with multilingu-alism and interculturality, and presents a range of related linguistic and intercultural practices.

Keywords: Cross-border workers, Luxembourg, transborder region, transnationality, language ideologies, intercultural communication

Interkulturelle Arbeitswelten in Luxem�burg. Mehrsprachigkeit und kulturelle Vielfalt am� Arbeitsplatz von Grenzgängern

Intercultural work environments in Luxembourg. Multilingualism and cultural diversity among cross-border workers at the work-place

1. Einleitung

Luxemburg zählt mit 155.000 Grenz-gängern (2011) die meisten grenzüber-schreitenden Pendler in der EU.1 Sie kommen überwiegend aus dem benach-barten Frankreich (50%), gefolgt von Belgien (25%) und Deutschland (25%). Der Rückgriff auf die Arbeitskräfte der

umliegenden Regionen setzte in den 1980er Jahren ein, als der Luxemburger Dienstleistungssektor massiv ausgebaut wurde. Grenzgänger stellten so bereits im Jahr 1990 20% der Erwerbstätigen im Großherzogtum, elf Jahre später (2001) überstieg ihre Zahl bereits die der Luxemburger. Bis zur jüngsten Wirtschafts- und Finanzkrise (2008)

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hielt das Wachstum der Grenzgänger-beschäftigung an, so dass die grenz-überschreitenden Pendler im selben Jahr fast die Hälfte (43%) der lokalen Erwerbstätigen ausmachten, gefolgt von Luxemburgern (29%) und ansässigen Ausländern (27%) (Wille 2012).

Das Grenzgängerwesen als eine zirku-läre Mobilitätsform fand bisher kaum Berücksichtigung in kulturwissen-schaftlichen Untersuchungen. Es bildet jedoch einen geradezu exemplarischen Untersuchungskontext für zahlreiche Gegenwartsphänomene, die Sprachen und Kulturen als ordentlich praktizierte Symbol- und Normenkomplexe (Hör-ning / Reuter 2004) infrage stellen. Am Beispiel der Grenzgänger soll daher aufgedeckt werden, wie sprachliche oder kulturelle Ordnungen in grenz-überschreitenden Bezügen praktiziert, repräsentiert und neu hervorgebracht werden. Die dafür zu Grunde gelegten Befunde stammen aus drei empirischen Forschungsarbeiten, die an der Univer-sität Luxemburg (Forschungseinheit IPSE – Identités. Politiques, Sociétés, Espaces) entstanden sind, die das Grenzgängerwesen aus soziolinguisti-scher und soziokultureller Perspektive beleuchten und sich methodisch ergän-zen. Zur Gruppe der Grenzgänger zähl-ten jeweils solche Arbeitnehmer und Selbständige, die ihre Berufstätigkeit in einem EU-Mitgliedstaat ausüben und in einem anderen wohnen, in den sie in der Regel täglich – jedoch mindestens

einmal wöchentlich – zurückkehren (Verordnung (EWG) Nr. 1408/71).

Auf Basis von Teilergebnissen der in Ab-bildung 1 vorgestellten Studien wird der Frage nachgegangen, welche Strategien Grenzgänger im Umgang mit verschie-denen Sprachen und den weitgehend als unterschiedlich wahrgenommenen Kul-turen entwickeln. Differenzen werden dabei nicht als vorgängige Setzungen, sondern als subjektive Konstruktionen verstanden, die in der Handlungspraxis von Grenzgängern ihren Kristallisati-onspunkt finden und hier wiederum wirksam werden. Dafür werden in den folgenden Abschnitten die Sprachensi-tuation und Internationalisierung der Arbeitswelt im Großherzogtum Lu-xemburg erläutert, ihr Erleben durch die Grenzgänger und die von den Befragten praktizierten Handlungsstrategien am Arbeitsplatz.

2. Sprachen und Kom�m�u-nikation am� Arbeitsplatz

Eine Besonderheit des Großherzogtums Luxemburg ist seine Mehrsprachig-keit. Das Sprachengesetz von 1984 (loi du 24 février 1984 sur le régime des langues) legt fest, dass Luxemburgisch, Französisch und Deutsch die offiziellen Landessprachen bilden. Dabei wird un-terschieden zwischen der Nationalspra-che (Luxemburgisch), den Verwaltungs-sprachen (Luxemburgisch, Französisch, Deutsch) und der Sprache für Gesetz-

Studie 1 Studie 2 Studie 3

Kontext und Bearbeitung Post-Doc-Projekt 2009-2011, Julia de Bres

Dissertationsprojekt 2009-2013, Anne Franziskus

Dissertationsprojekt 2008-2011, Christian Wille

Them�aDealing with language diversity: the language ideologies of cross-border workers in Luxembourg

Dealing with linguistic diversity at the Workplace: the linguistic practices of cross-border workers in Luxembourg

Sozio-kulturelle Dimensio-nen und Raumkonstruktio-nen grenzüberschreitender Arbeitnehmermobilität in der Großregion SaarLorLux2

MethodenQualitatives Interview, standardisierte schriftliche Befragung

Qualitative Interaktionsanalyse3

Qualitatives Interview, standardisierte schriftliche Befragung

Stichprobe N(qualitativ) = 30 N(quantitativ) = 128

Qualitative Fallstudien an drei Arbeitsplätzen

N(qualitativ) = 32 N(quantitativ) = 458

Abb. 1: Datengrundlage des Artikels. Quelle: Eigene Darstellung.

7�5

gebung (Französisch). Im Gegensatz zu anderen mehrsprachigen Ländern, wie etwa Belgien oder der Schweiz, ist der Sprachgebrauch in Luxemburg nicht territorial gegliedert, sondern funk-tional nach gesellschaftlichen Feldern. Hoffmann (1979) beschreibt die Luxemburger Situation als triglossisch, in der Deutsch und Französisch haupt-sächlich in Bereichen der Schriftsprache (Medien, Schulwesen, Verwaltung, etc.) genutzt werden und Luxemburgisch eher dem mündlichen Sprachgebrauch vorbehalten bleibt. Jedoch weicht die tatsächliche Sprachpraxis davon ab. So z. B. im Schulwesen, in dem das Deutsche während der Grundschule als offizielle Unterrichtssprache fungiert. In der Sekundarstufe (enseignement secondaire) bilden Deutsch und Fran-zösisch die Unterrichtssprachen, wobei Französisch im Gymnasium (Lycée classique) und Deutsch in Real- und Hauptschulen (Lycée technique) verbrei-tet ist. Englisch gilt ab der Sekundarstu-fe II als Pflichtfach. Die luxemburgische Sprache hingegen ist nach der Grund-schule offiziell kaum noch vertreten im Unterrichtsprogramm, sie wird von Lehrern und Schülern aber in vielen Bereichen des Schulalltags genutzt. So sind Schüler in Luxemburg nach ihrer Schulzeit theoretisch viersprachig: Lu-xemburgisch, Deutsch, Französisch und Englisch. In der Praxis existiert jedoch eine große Variationsbreite hinsichtlich der jeweiligen Sprachkompetenzen, was z. B. auf die Migrationshintergründe der Schüler zurückgeführt werden kann (Weber 2009, Davis 1994).

Aktuell wandelt sich die Sprachensi-tuation, wofür vor allem die wachsende Zahl der ansässigen Ausländer (43% der Gesamtbevölkerung) und Grenzgänger in Luxemburg eine Rolle spielt (Horner / Weber 2008, Fehlen 2009). Zu den wichtigsten Veränderungen zählt der zu-nehmende Gebrauch des Französischen. Da die meisten Grenzgänger aus Frank-reich kommen, wird Französisch immer häufiger als lingua franca zwischen den verschiedenen Sprachgruppen genutzt, die in Luxemburg arbeiten und leben (Horner / Weber 2008:87). Gleichzeitig bekommt das Englische – aufgrund der zahlreichen multinationalen Unter-

nehmen am Standort Luxemburg – als internationale Verkehrssprache mehr Gewicht; ebenso wird ein Rückgang des Deutschen in der Arbeitswelt vermu-tet (Klein 2003). Parallel dazu ist eine wachsende Bedeutung des Luxemburgi-schen als Identitätsmarker innerhalb der luxemburgischen Bevölkerung zu be-obachten, was sich z. B. im vermehrten schriftlichen Gebrauch des Luxemburgi-schen zeigt (Horner / Weber 2008:86).

Auch der luxemburgische Arbeitsmarkt ist von einer sprachlichen Segmen-tierung gekennzeichnet. Laut Fehlen (2009) ziehen sich Luxemburger zunehmend in den öffentlichen Dienst zurück, für den das Beherrschen der drei Landessprachen vorausgesetzt wird. Den Grenzgängern bleibt so weitge-hend der privatwirtschaftliche Sektor überlassen, in dem der Sprachgebrauch am Arbeitsplatz weniger stark reguliert ist. Hinsichtlich der Grenzgänger, die aus einsprachigen bzw. sprachlich-terri-torial gegliederten Ländern – wie etwa Belgien – kommen, ist davon auszuge-hen, dass sie über geringere Sprachen-kenntnisse verfügen als Luxemburger, die in einem mehrsprachigen Kontext sozialisiert wurden.

Hieran schließt sich nun die Frage an, wie Grenzgänger der sprachlichen Vielfalt am Arbeitsplatz begegnen. Trotz der wachsenden Bedeutung von Grenzgängern und ihrer starken Präsenz in der Arbeitswelt existieren kaum Un-tersuchungen im Luxemburger Kontext zur Sprachpraxis von Grenzgängern am Arbeitsplatz.4 Daher wurde in zwei aktuellen Forschungsarbeiten (Studie 1 und 2) der Frage nachgegangen, wie Grenzgänger ein mehrsprachiges Arbeitsumfeld erleben und sich hier behaupten.

2.1. Sprachpraxis und Wahr-nehm�ung von Mehrsprachig-keit

Einschränkend ist vorwegzuschicken, dass allgemeine Aussagen über die Sprachpraxis an den Arbeitsplätzen von Grenzgängern kaum möglich sind. Auch in Studie 1 wurde deutlich, dass der Sprachgebrauch stark variiert: In

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einigen Unternehmen war eine nahe-zu einsprachige Praxis festzustellen, in anderen hingegen waren zwei oder mehrere Sprachen üblich. Ferner prägen die nationale Herkunft des Unterneh-mens, die Ausrichtung der Tätigkeit oder die internen Sprachpolitiken die Ein- / Mehrsprachigkeit am Arbeits-platz. Zudem sind große Unterschiede hinsichtlich der Sprachkompetenzen der Grenzgänger auszumachen. Vie-le der Befragten beherrschen (nach eigenen Angaben) mehr Sprachen als es die gängigen Stereotype vermuten lassen, jedoch besteht nicht immer die Möglichkeit die eigenen Sprachkennt-nisse einzubringen. Festgestellt wurde jedoch, dass nahezu alle Befragten mit Mehrsprachigkeit am Arbeitsplatz kon-frontiert sind. Auch wenn das unmit-telbare Arbeitsumfeld eher einsprachig geprägt war, zeigte der übergreifende mehrsprachige Kontext Luxemburgs stets Auswirkungen auf den jeweiligen Tätigkeitsbereich.

In Rahmen der Studie 1 wurden die Probanden gebeten, sich gegenüber verschiedenen Aussagen zum Sprachge-brauch am Arbeitsplatz zu positionie-ren. Die Aussagen bezogen sich sowohl auf den Gebrauch einer Sprache (mo-nolinguale Perspektive) als auch auf den Gebrauch mehrerer Sprachen (mehr-sprachige Perspektive). Zunächst ist tendenziell eine monolinguale Perspek-tive unter den Grenzgängern auszuma-chen: 42,2% der Pendler gaben an, dass der Gebrauch mehrerer Sprachen am Arbeitsplatz problematisch sein kann; 82,8% meinen, dass eine gemeinsame Sprache die Erledigung von Aufgaben vereinfacht. Ferner fühlt sich die Hälfte (49,2%) der Grenzgänger unwohl, wenn Kollegen in einer ihnen nicht verständlichen Sprache sprechen; 51,6% fühlen sich dabei ausgegrenzt. Jedoch werden ebenso Aspekte der mehrspra-chigen Perspektive von den Befragten betont. So unterstreichen fast zwei Drittel (63,3%), dass das Beherrschen mehrerer Sprachen die Beziehungen zu Kollegen verbessern kann und dass die verschiedenen Sprachen die Arbeit interessanter gestalten (49,2%). Ferner rege die Mehrsprachigkeit die Kollegen an sich gegenseitig zu unterstützen

(55,5%). Gegen den Gebrauch einer Sprache am Arbeitsplatz sprach sich die Hälfte (53,1%) der Grenzgänger aus, ebenso wie 47,7% nicht der Meinung sind, dass die verschiedenen Sprachen am Arbeitsplatz eine Belastung dar-stellen. Die Untersuchungsergebnisse zeigen, dass die Mehrsprachigkeit von den Befragten hinsichtlich tätigkeits-bezogener Aspekte tendenziell heraus-fordernd wahrgenommen wird, aber auch als ein Zugewinn im Hinblick auf zwischenmenschlichen Beziehungen am Arbeitsplatz. Interessanterweise emp-findet ein Großteil der Grenzgänger die Mehrsprachigkeit nicht als belastend, gleichwohl sie sich ausgegrenzt fühlen können, wenn in ihrer Gegenwart eine Sprache gesprochen wird, die sie nicht verstehen.

In Interviews wurde vertiefend auf das Erleben der Mehrsprachigkeit in Lu-xemburg und am Arbeitsplatz eingegan-gen (Studie 1). Ziel war es, verschiedene Sprachideologien herauszuarbeiten, worunter “the perception of language and discourse that is constructed in the interest of a specific social or cultural group” (Kroskrity 2004:501) verstan-den wird. Untersucht wurde daher, inwiefern das Erleben von Mehrspra-chigkeit in Luxemburg mit den sprach-lichen (und weiteren) Interessen der Grenzgänger verknüpft ist. Vor diesem Hintergrund verteilen sich die Befrag-ten auf zwei Gruppen: die Befürworter der Ideologie gesellschaftliche Mehrspra-chigkeit als Problem5 und die Befürwor-ter der konkurrierenden Ideologie der gesellschaftlichen Mehrsprachigkeit als Chance. Die Verfechter der ersten Ideo-logie schrieben dem mehrsprachigen Arbeitsumfeld folgende Problemberei-che zu: (Vgl. Abb. 2)

Neben den genannten Gefahren gesell-schaftlicher Mehrsprachigkeit gaben die Befürworter dieser Ideologie an, am Arbeitsplatz eher einsprachig zu agieren. Einige drückten ihren Unmut darüber aus, sich sprachlich anpassen zu müssen:

„[Ein] Aspekt, der mich persönlich ein bisschen stört, ist dass ich oftmals auf Französisch runtergezogen werde, auch wenn das Gegenüber englisch oder deutsch kann. Ich merk’ da bei meinen

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französischsprachigen Kollegen, [...] dass man die quasi schlagen muss, dass die ne andere Sprache als französisch sprechen und dass ich als Fremdsprachler da [...] einen Nachteil hab’, was ich nicht unbe-dingt als gerecht empfinde.“ (RLP-Lux, m., 35/39)

Andere Grenzgänger fühlen sich unwohl, wenn Kollegen Sprachen be-nutzten, die sie nicht verstehen. Dieser Eindruck wird nicht selten von einem gewissen Misstrauen begleitet:

„Il y a aussi des Portugais qui vont parler en portugais entre eux […] quand nous, on passe, ils vont parler en français mais dès qu’ils veulent se dire quelque chose, ils vont parler en portugais pour que nous, on ne comprenne pas. Moi, je pense aussi, c’est plutôt pour nous taper dans le dos, quoi.“ (Lor-Lux, m., 30/34)

Als zentrales Ergebnis ist hervorzuhe-ben, dass die Ideologie der gesellschaftli-chen Mehrsprachigkeit als Problem unter den Grenzgängern verbreitet zu sein scheint, die einsprachig sind oder nicht über adäquate Sprachkompetenzen ver-fügen (Blommaert et al. 2005). Zu er-gänzen ist jedoch, dass die sprachlichen Anforderungen am Arbeitsplatz ange-sichts der zumeist komplexen Mehr-sprachigkeit sehr hoch sein können. Die problemorientierte Wahrnehmung kann daher aus dem variablen Zusammenspiel des Luxemburgischen, Französischen,

Portugiesischen, Deutschen oder Englischen resultieren. Beherrscht dann ein Befragter eine oder mehrere der am Arbeitsplatz benötigten Sprachen nicht, so entwickelt er eher eine ablehnende Haltung gegenüber gesellschaftlicher Mehrsprachigkeit.

Im Gegensatz dazu unterstützen andere Befragte die konkurrierende Ideologie der gesellschaftlichen Mehrsprachigkeit als Chance. Diese Grenzgänger stellen vor allem die mit der Mehrsprachigkeit verbundenen Vorteile heraus: (Vgl. Abb. 3)

Die Befürworter dieser Ideologie geben an, sich gerne den Arbeitskollegen sprachlich anzupassen und sich in einem Umfeld wohlzufühlen, in dem ihnen unbekannte Sprachen gesprochen werden:

„Ich hab’ die freie Entscheidung getroffen her zu kommen, mit dem Wissen, wie das sprachlich hier abläuft. Das ist das Erste. Das Zweite, es ist für mich ne Bereiche-rung, die Sprache [Französisch] kennen-lernen zu dürfen. Ich würd’ mich niemals als genötigt sehen oder gezwungen sehen mich beugen zu müssen, ganz im Gegen-teil, ne Riesenbereicherung.“ (RLP-Lux, m., 40/44)

Problem�bereiche Interviewauszüge

Beschränkter Zugang zu Inform�ationen

„Das heißt, viele Gesetze, die mich treffen, was Arbeitsrecht angeht, was eher Arbeitsver-träge angeht etc. sind auf Französich und dort sehe ich das etwas kritisch. „(RLP-Lux, m., 35/39)6

Niedrige Inform�ations-dichte in der Kom�m�uni-kation

„Leider [gibt es] manchmal Informationsverlust, weniger Gehalt, weniger filigranes Über-bringen von Nachrichten; auch Missverständnisse, die schon mal vorkommen, die sich dann in der Umsetzung von Projekten ausdrücken oder die sogenannten „Malentendus“, die Folgen haben können.“ (RLP-Lux, m., 40/44)

Em�pfundene Ausgrenzung

„Wir waren ja vorher [in einer anderen Abteilung] und da gab es schon Diskussionen. Also, da hatte ich auch schon das Gefühl, dass manchmal auch eher doch bewusst auf ’s Französi-sche gewechselt wurde, um uns ein bisschen auszusperren. Und das, also ich mein’, das kann ich nicht nachweisen, aber es war einfach vom Gefühl her so, dass das Französische unter-stützt wurde.“ (RLP-Lux, w., 30/34)

Eingeschränkte Aufstiegs-m�öglichkeiten

„Il y a une sorte de sélection par les langues effectivement oui, je vais dire si on fait un sondage au niveau des bureaux ici, on ne trouvera pas beaucoup de Français […] quand ils embauchent quelqu’un pour le bureau, c’est toujours un Luxembourgeois […] en perspectives d’avenir ici ... il y a un mur.“ (Lor-Lux, m., 40/44)

Abb. 2: Gesellschaftliche Mehrsprachigkeit als Problem: Genannte Problembereiche. Quelle: Studie 1 – de Bres, J.: Dealing with language diversity: the language ideologies of cross-border workers in Luxembourg.

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“Il y a certains Français qui disent […] quand un Luxembourgeois parle avec un autre, c’est pour dire du mal des Français, ou des choses comme ça. Ils ne comprennent pas ce qui se dit, mais [les Luxembourgeois] ont autre chose à faire que de dire ça.” (Lor-Lux, m., 35/39)

Andere Grenzgänger hingegen fühlen sich in den geschilderten Situationen dennoch unwohl. Dies wird jedoch nicht mit der Annahme begründet, dass sich das Gegenüber sprachlich anzu-passen habe, sondern mit dem eigenen sprachlichen Unvermögen sich auf das Gegenüber einzulassen.

„Ça me gêne de ne pas être assez capable de répondre en luxembourgeois. Parce que si je vois que quand ça commence en luxembourgeois si j’ouvre la bouche […] je pense que je vais les obliger à s’arrêter de parler en luxembourgeois.“ (Lor-Lux, m., 45/49)

Die Verfechter der Ideologie der gesell-schaftlichen Mehrsprachigkeit als Chance

beherrschen tendenziell mehr Sprachen bzw. verfügen über Kompetenzen in den als am wichtigsten bewerteten Sprachen am Arbeitsplatz. Dementsprechend korrespondiert das Erleben von Mehr-sprachigkeit mit ihren sprachlichen Interessen.

Die dargelegten Sprachideologien suggerieren, dass die befragten Grenz-gänger lediglich einer dieser Kategorien zugeordnet werden können. Tatsächlich können die Befragten im Interview – je nach wahrgenommenem Problembe-reich oder Vorteil – auf verschiedene Ideologien der Mehrsprachigkeit gleich-zeitig rekurrieren. Dieses Antwortver-halten führt Kroskrity (2000:12) auf die Variabilität zurück von “meaning-ful social divisions (class, gender, clan, elites, generations, and so on) within sociocultural groups that have the potential to produce divergent per-spectives expressed as indices of group membership”. In der Gesamtschau ist

Chancen und Vorteile Interviewauszüge

Kontakt m�it Menschen anderer Kulturen

„Moi j’aime bien voyager, j’aime bien rencontrer des personnes différentes des cultures différentes et je trouve que le multilinguisme participe à cette démarche un petit peu de dé-couverte des autres cultures, des autres mondes etc. Donc, moi enfin, je trouve ça très positif.“ (Wal-Lux, w., 30/34)

Freude an einem� internatio-nalen Arbeitsum�feld

„So vom Gefühl her fand ich das spannender in ein Land zu gehen, wo es halt irgendwie mehrere Sprachen gibt; wo’s halt internationaler ist, als jetzt in Deutschland zu bleiben und halt in Wuppertal, wo ich ja irgendwie, na ja, wo ich dann sogar den Dialekt spreche.“ (RLP, w., 30/34)

Einsatz und Entfaltung von Sprachkom�petenzen

„Je savais justement qu’au Luxembourg, il y avait les langues qui étaient présentes, et je me suis dit ‘bon, ça sera peut-être aussi pour moi une occasion d’utiliser un petit peu le bagage linguistique que j’ai, voire essayer d’ouvrir d’autres horizons au niveau linguistique’.“ (Lor-Lux, w., 35/39)

Kognitive Entwicklung „Je trouve ça chouette parce que les gens ne pensent pas de la même façon […]. Je pense que la langue, elle doit aussi modeler la façon de réfléchir.“ (Lor-Lux, m., 45/49)

Klarheit in der Kom�m�uni-kation

„Le fait que les gens soient en difficulté quand ils parlent...ça les oblige à beaucoup s’expliquer […]. Le fait d’être contraint à parler une autre langue..., ça nous oblige à faire des efforts d‘explication […]. Il faut parler doucement et en plus bien réfléchir, être sûr que ce qu’on dit est très très clair.“ (Lor-Lux, m., 45/49)

Erweiterte Beziehungen„Pour moi c’est absolument positif, hein, puisque justement, ça...il y a tellement de langues que ça lie beaucoup plus de monde que s’il n’y avait qu’une seule langue.“ (Lor-Lux, w., 30/34)

Sprachliche Flexibilität„J’ai tout de suite adhéré au modèle luxembourgeois qui est de ne pas se poser de questions pour la langue et d’essayer de simplement parler ensemble, quelle que soit la langue véhicu-lée...euh du pays d’où je viens, et l’actualité nous le montre encore, c’est pas toujours le cas!“ (Wal-Lux, m., 35/39)

Abb. 3: Gesellschaftliche Mehrsprachigkeit als Chance: Genannte Chancen und Vorteile. Quelle: Studie 1 – de Bres, J .: Dealing with language diversity: the language ideologies of cross-border workers in Luxembourg.

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festzuhalten, dass Grenzgänger Elemen-te unterschiedlicher Sprachideologien in ihren Argumentationen kreativ zusammenführen, um sich bzw. ihre Einstellungen adäquat zu artikulieren.

2.2. Praktiken der Mehrspra-chigkeit

Im Folgenden wird aufgedeckt, welche Praktiken Grenzgänger entwickeln, um der Mehrsprachigkeit im beruflichen Alltag zu begegnen. Die Ausführun-gen stützen sich sowohl auf Praktiken, von denen Grenzgänger in Interviews berichteten (Studie 1), als auch auf die Analyse von Gesprächsaufnahmen, die an drei Arbeitsplätzen durchgeführt wurden (Studie 2). Zunächst ist zu betonen, dass Praktiken der Mehrspra-chigkeit in hohem Maße von Faktoren beeinflusst werden, wie etwa von den eigenen Sprachkompetenzen und denen der Kollegen sowie von unternehmens-spezifischen Sprachregelungen. So wird ein Grenzgänger, der mit den Kollegen überwiegend eine gemeinsame erste Sprache teilt, seltener auf Praktiken der Mehrsprachigkeit zurückgreifen müssen, als ein Grenzgänger, dessen Kollegen überwiegend Fremdsprachen sprechen. Ein Extremfall besteht, wenn sich zwischen Kollegen keine gemein-same Kommunikationssprache finden lässt. Studie 2 zeigt, dass Grenzgänger dann sprachlich sehr kreativ werden, um die Interaktion sicherzustellen. Die identifizierten Praktiken der Mehrspra-

chigkeit werden auf einem Kontinuum abgebildet, das von einer minimalen Praxis bis zu einer maximalen Praxis der Mehrsprachigkeit reicht (Abb. 4).

Kontextspezifische Routinen und Schlüs-selwörter: Eine verbreitete Praktik im mehrsprachigen Arbeitsumfeld besteht im Benutzen von sog. sprachlichen Rou-tinen und Schlüsselwörtern (Franziskus / de Bres 2012, Franziskus i. E.). Unter Routinen werden mit Lüger (1992:18) „verfestigte, wiederholbare Prozeduren, die den Handelnden als fertige Pro-blemlösungen zur Verfügung stehen“ verstanden. Exemplarisch dafür stehen Begrüßungs- und Abschiedsroutinen in den verschiedenen Sprachen, die von ei-nigen Grenzgängern sehr häufig genutzt werden. Besonders luxemburgische Be-grüßungsroutinen (z. B. Moien) werden von Grenzgängern – auch wenn keine Luxemburger anwesend sind – über-nommen. Der Einsatz von Routinen zählt zur minimalen Praxis der Mehr-sprachigkeit, da ihr Gebrauch keinen tatsächlichen Sprachwechsel impliziert. Ebenso verhält es sich mit dem Ge-brauch von Schlüsselwörtern. Bei ihnen handelt es sich um bestimmte Worte, die in den Sprachgebrauch am Ar-beitsplatz übergegangen sind und eine kontextspezifische Bedeutung erlangt haben. Das Benutzen solcher Schlüssel-wörter kann die Kommunikation am Arbeitsplatz erheblich vereinfachen. So z. B. das Wort frigo im Sprachgebrauch der Mitarbeiter eines Supermarktes. Es

Abb. 4: Praktiken der Mehrsprachigkeit (Kontinuum).7 Quelle: Eigene Darstellung.

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ist sowohl im Französischen als auch im Luxemburgischen zu finden und bezeichnet originär einen Kühlschrank. Im Supermarkt steht dieses Wort aller-dings stellvertretend für die Gesamtheit der Kühlregale und wird von luxembur-gischen, deutschen und französischen Kollegen gleichermaßen benutzt. Dies ist nur ein Beispiel, wie Wörter aus dem herkömmlichen Wortschatz entlehnt und mit neuen Bedeutungen aufgeladen und so Teil eines Expertenvokabulars werden.

Übersetzung: Des Weiteren greifen die befragten Grenzgänger im mehrsprachi-gen Kontext oftmals auf die Praktik des Übersetzens zurück. Ein Sprachmittler ermöglicht Kommunikation, auch wenn die Anwesenden keine gemeinsame Sprache teilen. An den untersuchten Arbeitsplätzen kann zwischen ver-schiedenen Formen der Übersetzung unterschieden werden: (a) Ein Grenz-gänger bittet einen mehrsprachigen Kollegen explizit um die Übersetzung eines schriftlichen Dokumentes; (b) Zwei Kollegen, die nicht über eine gemeinsame Sprache verfügen, fragen einen dritten Mitarbeiter um Überset-zung; (c) Ein mehrsprachiger Arbeits-kollege übersetzt spontan bzw. ohne Aufforderung, um die Anwesenden in ein Gespräch einzubinden.

Rezeptive Mehrsprachigkeit: Bei der rezeptiven Mehrsprachigkeit handelt es sich um eine Strategie, die mindestens passive Sprachkompetenzen voraus-setzt und bei der die Gesprächspartner jeweils ihre Erstsprache miteinander sprechen. Diese Praktik der Mehrspra-chigkeit scheint – vermutlich aufgrund sprachstruktureller Ähnlichkeiten – vor allem zwischen Luxemburgern und deutschsprachigen Grenzgän-gern verbreitet zu sein und wird von Letztgenannten als Möglichkeit wahrgenommen, sich trotz mangelnder Kenntnis des Luxemburgischen den Luxemburgern sprachlich anzupassen. Aber ebenso sind Formen der rezeptiven Kommunikation zwischen französisch- und deutschsprachigen Grenzgängern bzw. Luxemburgern auszumachen. Koole / ten Thije (2007:76) bezeichnen die rezeptive Mehrsprachigkeit als “the

most equal mode of communication, as none of the interlocutors has to adapt to the other, nor are they forced to use a lingua franca”.

Akkommodation und Verhandlung: Die sprachliche Anpassung eines Sprechers an sein Gegenüber, die im Wechsel in seine Erstsprache besteht, wird als Akkomodation bezeichnet (Giles et al. 1973). Diese Strategie im maximalen Umgang mit Mehrsprachigkeit wur-de von Grenzgängern am häufigsten genannt. Ist ein Luxemburger im Ge-spräch mit Grenzgängern, so ist zumeist er derjenige, der – vermutlich aufgrund seiner Sprachkompetenzen – in die Sprache des Gegenübers wechselt. Un-ter Grenzgängern ist die Frage, wer sich wem anpasst, weniger berechenbar und in erster Linie abhängig von den Sprach-kompetenzen der jeweils Beteiligten. In Situationen, in denen Gesprächs-partner sich erstmalig begegnen, geht der Sprachakkommodation zumeist ein Aushandlungsprozess der Sprachwahl voraus.

Lingua franca: Das Benutzen einer lingua franca – also einer dritten und ge-meinsamen Kommunikationssprache – gilt ebenfalls als eine maximale Praktik der Mehrsprachigkeit. Denn sie erfor-dert von allen Gesprächspartnern den Wechsel in eine andere Sprache. Diese Strategie ist – auf Basis des Englischen – im Arbeitsumfeld von Grenzgängern in Luxemburg durchaus verbreitet, gleichwohl die Referenzstudien unter-schiedliche Befunde liefern. Dies ist auf die Bedingungen an den jeweils untersuchten Arbeitsplätzen zurückzuführen, an denen die Ge-sprächspartner teilweise die Sprache des Gegenübers beherrschten bzw. keine gemeinsame Drittsprache gefunden werden konnte.

Kreativer Sprachen- und Strategiemix: Zur maximalen Praxis der Mehrspra-chigkeit zählt des Weiteren eine Misch-form der bisher betrachteten sprachli-chen Praktiken. So wurde beobachtet, dass Gesprächspartner, die auf keine gemeinsame Sprache oder auf keinen Übersetzer zurückgreifen können, alle die ihnen zur Verfügung stehenden kommunikativen Mittel kreativ einset-

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zen. Zum Beispiel wurde erhoben, wie eine deutsche und belgische Angestellte sprachliche Elemente aus dem Deut-schen, Französischen und Luxemburgi-schen nutzten, um sich auszutauschen.

Beide Grenzgänger setzten dabei die rezeptive Verständlichkeit des Luxem-burgischen und Deutschen voraus, wodurch ein individueller, produktiv-kreativer Sprachstil entstand. Eine

Zeile Gesprächspartner (Nationalität) Dialog

01 Lisa (D):[et toi] qu‘est-ce que tu fais demain?und du, was machst du morgen

02 Melanie (B): (--) oh je vais à long-longwyoh ich fahre nach long-longwy

03 Lisa (D): schlafen he ((lacht))

04 Melanie (B): oui nonja nein

05 Lisa (D): [no:n ]nein

06 Melanie (B): [moi je ] schlafen net guttich schlafe nicht gut

07� Lisa (D): [(nee) ]

08 Melanie (B): [schlaf ]en eh (-) vier auer prostunden

09 Lisa (D): [véier stu] [véier stunden ]vier stu vier stunden

10 Melanie (B): [(fa) oui ]ja

11 Florence (F): [oh im�m�er wenn ich] net acht stunde [habe ich stirb ]

12 Melanie (B): [moi je (dormais) pas]ich habe nicht geschlafen

13 [moi je dors très mal ]ich schlafe sehr schlecht

14 Lisa (D): [im�m�er ]

15 Melanie (B):[très mal ] oui

sehr schlecht ja

16 Lisa (D): ja

Zu Beginn des Auszuges fragt Lisa Melanie, was sie am folgenden Tag vorhat (Zeile 1): und, was machst du morgen, nachdem Florence zuvor ihre Planungen (auf Deutsch) erläutert hatte. Sie stellt ihre Frage auf Französisch und signalisiert damit, dass sie sich explizit an Melanie wendet; mit Florence sprach sie vorher deutsch. Melanie antwortet auf Französisch (Zeile 2): oh ich werde nach Longwy fahren. Lisa ignoriert diese Aussage jedoch und ergänzt eine mögliche Antwort auf Deutsch: schlafen he. Melanie verwirft diesen Vorschlag mit oui non (ja nein, Zeile 3). Lisa reagiert darauf mit einem verwunderten französischen non (nein, Zeile 5). Melanie erklärt nun, sie schlafe nicht sehr gut, maxi-mal vier Stunden pro Nacht. Wie in Zeile 6 und 8 deutlich wird, greift die Sprecherin für ihre Aussage auf das Deutsche und Luxemburgische zurück. Die Französin Florence wirft später (Zeile 11) auf Deutsch ein, sie sterbe, wenn sie keine acht Stunden schlafe.

Abb. 5: Beispiel für die Praktik der Mehrsprachigkeit „Kreativer Sprachen- und Strategiemix“. Quelle: Studie 2 – Franziskus, A.: Dealing with Linguistic Diversity at the Workplace: the linguistic practices of cross-border workers in Luxembourg. Legende: Französisch konventionell dargestellt, Deutsch fettgedruckt dargestellt, Luxemburgisch unterstrichen dargestellt, Über-setzung kursiv dargestellt, Überlappung von Redezügen in eckigen Klammern [] dargestellt.

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ähnliche Dynamik zeigt sich im folgen-den Beispiel, das aus einem Gespräch zwischen drei Grenzgängerinnen eines Supermarktes stammt. Florence (F) ist zweisprachig (deutsch-französisch), Lisa (D) hat Grundkenntnisse im Französi-schen und Melanie (B) beherrscht kein Deutsch, hat aber Grundkenntnisse im Luxemburgischen. Die drei Kolleginnen unterhalten sich über ihre freien Tage: (siehe Abbildung 5, S. 83)

Dieser Auszug aus einer gewöhnlichen Mittagspausenkonversation zwischen drei Arbeitskolleginnen zeigt, dass Strategien im Umgang mit Mehrspra-chigkeit in situ oft in Kombination und sehr flexibel von den Sprechern einge-setzt werden. Zu beobachten sind hier beispielhaft die sprachliche Akkommo-dation, verschiedene Elemente rezepti-ver Mehrsprachigkeit und das Benutzen von Elementen der luxemburgischen Sprache als Ansatz einer lingua franca-Praktik. Im Zusammenhang mit den geschilderten und anderen sprachlichen Aspekten der Zusammenarbeit wird von Grenzgängern in Interviews auch die kulturelle Vielfalt am Arbeitsplatz in den Blick geführt. Zur Annäherung an diesen Themenkomplex wird im Fol-genden zunächst auf die in Luxemburg beschäftigten Nationalitäten eingegan-gen.

3. Kulturelle Vielfalt am� Arbeitsplatz

Eine aktuelle Studie (Aoun Ben 2011) zeigt, dass Personen aus den Nach-barländern Luxemburgs – die jedoch durchaus im Großherzogtum ansässig sein können – über die Hälfte der im privaten und halböffentlichen Sektor beschäftigten Nationalitäten ausma-chen. Unternehmen der folgenden Branchen weisen eine besonders ausge-prägte Vielfalt ihrer Beschäftigten auf: Gesundheits- und Sozialwesen, Finanz-dienstleistungen, Industrie, unterneh-mensnahe Dienstleistungen, Bildungs-wesen, Handel und Reparatur. In diesen Wirtschaftszweigen sind anteilsmäßig überdurchschnittlich viele Grenzgän-ger beschäftigt, insbesondere in der Industrie und den unternehmensnahen

Dienstleistungen, wo sie jeweils ca. 60% der Beschäftigten ausmachen.

Die personelle Vielfalt in den Unter-nehmen Luxemburgs bedingt nicht zwangsläufig, dass unterschiedliche Nationalitäten im Arbeitsalltag aufein-andertreffen. So zeigt z. B. Studie 3, dass viele Grenzgänger mit Personen aus ih-rem Wohnland zusammenarbeiten und / oder mit ihnen informelle Momente am Arbeitsplatz teilen. Ein Grenzgän-ger aus Rheinland-Pfalz berichtet: „In der Abteilung sind wir ausschließlich Deutsche, mit den anderen haben wir weniger zu tun“ (RLP-Lux, m., 35/49). Neben einer solchen strukturell be-dingten Herausbildung bestimmter Gruppen am Arbeitsplatz sind ebenso ein geteiltes Alltagswissen und eine gemeinsame Sprache von Bedeutung. So berichtet ein Grenzgänger aus dem Saarland:

„Die Gruppierungen, Grüppchen, die sich bilden, sind meistens sprachlich und kulturell homogen. Das heißt nicht, dass alle Franzosen zusammen sind und das schließt auch nicht aus, dass es keinen Austausch zwischen den Deutschen oder deutschsprachigen Mitarbeitern gibt. Aber es ist schon sehr oft so, dass Grüppchen-bildungen meistens sprachlich homogen stattfinden.“ (Saar-Lux, m., 35/39)

Trotz der beschriebenen Vergemein-schaftung am Arbeitsplatz kennzeichnet

Nationalitäten Anteile in %

Franzosen 27,3

Luxem�burger 25,4

Portugiesen 12,9

Belgier 12,6

Deutsche 11,9

andere Europäer 4,2

Nicht-Europäer 3,2

Italiener 2,6

Gesam�t 100

Abb. 6: Nationalitäten der Arbeitnehmer in Luxemburg (ohne öffentliche Verwaltung). Quelle: Aoun Ben 2011:2.

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sich der Luxemburger Arbeitsmarkt durch ausgeprägte Interaktionen zwischen Personen unterschiedlicher Nationalitäten. Dies bestätigt ein Grenzgänger aus Lothringen: „On travaille avec des Japonais, des Anglais, des Français, des Luxembourgeois, des Belges, des Allemands et il y a quelques personnes qui viennent d’Angleterre – un peu de partout, quoi“ (Lor-Lux, m., 25/29). Diese nationale Vielfalt wird aus Sicht der Unternehmen teilweise als problematisch (Wille 2012:240ff.), aber ebenso als vorteilhaft betrachtet, wie z. B. in der Werbebranche.

„Täglich zwischen Heimatland und Luxemburg pendelnde Grenzgänger und Ausländer anderer Nationen lassen einen Mitarbeiter-Mix entstehen, der als „Chance“ verstanden wird, überhaupt so viele Einflüsse „im Haus“ haben zu können. Das ermöglicht […], Produkte der Unternehmenskommunikation und Werbung auf kulturelle Verständlichkeit und Akzeptanz testen zu können, so Experten.“ (Reddeker 2011:170f.)

Zwar bedingt nationale Vielfalt nicht zwangsläufig kulturelle Vielfalt, jedoch ist zu beobachten, dass die Nationalität eine wichtige Rolle spielt für kulturelle Zuschreibungen. Denn die von Grenz-gängern wahrgenommenen Merkmale hinsichtlich der Arbeitsweisen von Kollegen werden zumeist national kategorisiert, womit sich ihre Wirk-lichkeitskonstruktionen an politisch-administrativen Ordnungskategorien orientieren. Solche stereotypen Katego-risierungsprozesse und Wahrnehmun-gen von interpersonalen Unterschieden sowie der Umgang mit ihnen werden im Folgenden anhand von Teilergebnissen aus Studie 3 beleuchtet.

3.1. (Re-)Konstruktionen kultureller Unterschiede

Interkulturalität am Arbeitsplatz wird von Grenzgängern in Luxemburg unterschiedlich erlebt. Viele betrachten die Zusammenarbeit mit den Kollegen als „problemlos“, wobei angemerkt wird, dass es darauf ankäme, ob die Luxem-burger „eher deutsch oder französisch orientiert seien“ (RLP-Lux, m., 30/35) oder dass „man sich mit denen [den

Luxemburgern] eben verstehen müsse, damit ein nettes Klima am Arbeits-platz herrscht.“ (RLP-Lux, m., 35/40). Andere Grenzgänger – besonders junge Menschen – nehmen die Vielfalt im Unternehmen als „bereichernd und interessant“ wahr; andere wiederum empfinden die von ihnen gelebte Inter-kulturalität als „schwierig und proble-matisch“.

Zur Vertiefung der problemorientierten Sichtweise wurden 55 Grenzgänger, die im Arbeitsalltag überwiegend mit Kollegen anderer Nationalitäten (als der eigenen) zusammenarbeiten, nach möglichen Gründen für interkulturelle Missverständnisse befragt. Das Antwort-verhalten spiegelt ein ausgeprägtes Pro-blembewusstsein im Hinblick auf die praktizierten Sprachen und Arbeitsstile am Arbeitsplatz wider. Letztgenannte werden von Grenzgängern weitgehend stereotyp wahrgenommen, wobei der luxemburgische Arbeitsstil zwischen dem deutschen und französischen ange-siedelt wird.8 Dies zeigt das semantische Differential (Vgl. Abb. 7) bereits bei der übergreifenden Frage, inwiefern es sich jeweils um eine disziplinierte Arbeitsweise oder um ein sog. Laissez-faire handelt: die deutsche Arbeitsweise wird von den Befragten als diszipliniert und die französische als Laissez-faire eingestuft. Die luxemburgische Arbeits-weise wird zwischen der deutschen und der französischen verortet, was auch folgender Eindruck eines Grenzgängers bestätigt.

„Das ist in jedem Fall was anderes. Das hatte ich schon während des Studiums im Ausland gemerkt. Da gibt es natürlich Mentalitätsunterschiede – zum Beispiel bei Pünktlichkeit, Genauigkeit oder in Stresssituationen. Bei den Luxemburgern kann man sagen, dass sie die Sachen eher stressfreier angehen – wenn es mal nicht so klappt, dann ist das auch okay. Da merkt man dann auch diesen französi-schen Einfluss. Und die sind auch nicht so detailorientiert wie wir Deutschen.“ (Saar-Lux, m., 25/29)

Hinsichtlich der Sicherheitsorientie-rung wird die deutsche Arbeitsweise von den Befragten – in Abgrenzung zur luxemburgischen Arbeitsweise – durch detaillierte Planung und routinemäßige

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Abläufe und damit als am stärksten sicherheitsorientiert charakterisiert. Dieses Ergebnis stützt ein in Luxemburg beschäftigter Grenzgänger aus Rhein-land-Pfalz:

„Ich habe den Eindruck, dass wir [Deut-schen] so preußisch die Arbeit planen, wir legen das fest und teilen die Arbeit auf. Bei mir in der Firma ist das so, dass das alles absehbar ist, aber man lässt das auf sich zukommen und dann bleibt das an zwei Leuten hängen und die brechen fast zusammen und beklagen sich noch nicht einmal.“ (RLP-Lux, m., 30/34)

Mit Blick auf den Umgang mit Zeit sind es den Grenzgängern zufolge besonders Deutsche, gefolgt von Luxemburgern, die auf das Einhalten von Fristen achten und Zeitpläne respektieren. Für Fran-zosen hingegen würden Zeitpläne eher zur Orientierung dienen. In der Ge-samtschau werden die berücksichtigten Nationalitäten von den Befragten ten-denziell als monochron hinsichtlich des Umgangs mit Zeit eingestuft, was einer sequentiellen Form der Arbeitsorganisa-tion entspricht. Eher polychron ori-entiert nimmt ein im Großherzogtum beschäftigter Saarländer seine Kollegen französischer Nationalität wahr:

„Die Franzosen sind auch Luxemburger. Nur was das Savoir-vivre angeht, nehmen die alles noch lockerer. Auch was Pünkt-lichkeit betrifft; bei Vorstellungsgesprächen oder besonders bei Besprechungen. Da kommen die Franzosen Mal eine viertel Stunde zu spät, und das ist dann auch okay. […] Die Deutschen werden schon als sehr penibel, präzise und manchmal auch als nervig dargestellt. Die Franzosen se-hen da vieles lockerer. Am Ende des Tages müssen wir immer einen Bericht über die getätigten Geschäfte an das Mutterhaus in Deutschland schicken und wenn der nicht Punkt vier da ist, dann rufen die sofort zurück – und das wird schon als sehr nervig von den Franzosen wahrge-nommen.“ (Saar-Lux, m., 25/29)

Mit Blick auf die Orientierung an Machtstrukturen wird die französische Arbeitsweise als stark hierarchieorien-tiert bewertet, was durch die Betonung von wenig Eigeninitiative und ausge-prägter Akzeptanz von Anweisungen zum Ausdruck kommt. Auch die luxemburgische Arbeitsweise – wenn

auch in schwächerer Form – wird als hierarchieorientiert qualifiziert, wenn sie zwischen Akzeptanz und kritischem Hinterfragen von Arbeitsanweisungen eingeordnet wird. Schließlich wird die deutsche Arbeitsweise als weniger hierarchieorientiert eingestuft, was ein Grenzgänger aus Deutschland verglei-chend beschreibt:

„Der Franzose neigt eher dazu, auf den Chef zu hören. Also, wenn der Patron sagt, dass etwas so und so gemacht werden soll, dann wird das auch so gemacht – da wird nichts infrage gestellt. Bei den Deut-schen ist es dann eher so, dass mal gesagt wird: ‚Nein, das finde ich nicht in Ord-nung.’ oder ‚Wollen wir das nicht besser so machen?’ – also, dass von den Deutschen noch Gegenvorschläge kommen.“ (RLP-Lux, m., 30/34)

Abb. 7: Bewertungen der Arbeitsweise von Deutschen, Franzosen und Luxemburgern durch Grenz-gänger, die überwiegend mit der jeweiligen Nationalität zusammenarbeiten (Mittelwerte).Quelle: Studie 3 – Wille, C.: Sozio-kulturelle Dimensionen und Raumkonstruktionen grenzüberschreitender Arbeitnehmermobilität in der Großregion SaarLorLux. Legende: Stichprobe: n=82 (Deutsche); n=27 (Franzosen); n=67 (Luxemburger). Legen-de: 82 Grenzgänger, die überwiegend mit Deutschen zusammenarbeiten und eine andere Nationalität als die deutsche besitzen, schätzen die deutschen Kollegen eher als diszipliniert ein.

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Hinsichtlich der Beziehungs- bzw. Sa-chorientierung werden die betrachteten Arbeitsweisen von den Befragten ins-gesamt als sachorientiert eingeschätzt, gleichwohl sich die Arbeitsweise von Deutschen eher durch die Priorisierung der Erledigung von Aufgaben vor den Beziehungen zu Kollegen kennzeich-ne. Diese Tendenz wird in Interviews herausgestellt:

„Je trouve que les Allemands sont très rigoureux. Je ne sais pas comment expliquer ça, mais les Allemands et les Néerlandais... c’est presque une rigidité. C’est droit, c’est carré, c’est du pragmatis-me. Alors que les autres [les Français et les Belges], c’est plus empathique, on a plus ce côté méditerranéen prononcé, je trouve.” (Lor-Lux, w., 30/34)

Die erhobenen Differenzkonstruktio-nen bzw. Merkmale der jeweiligen Ar-beitsweisen sind aus methodischer Sicht nicht unproblematisch. Zunächst kön-nen die Kategorien des semantischen Differentials, die auf Grundlage vor-angegangener explorativer Interviews (Studie 3) und auf der Auswertung einschlägiger Studien (Hofstede 1997, Trompenaars 1993, Hall 1984) entwik-kelt wurden, kritisch diskutiert werden. Außerdem ist auf die vergleichsweise kleine Stichprobe hinzuweisen, die der-zeit die einzige Informationsquelle über die (Re-)Konstruktion von kulturellen Unterschieden an den Arbeitsplätzen von Grenzgängern darstellt, sowie auf die implizierte Bündelung kultureller Perspektiven. Angesprochen wird damit der Umstand, dass die im semantischen Differential abgebildete Wahrnehmung bspw. der luxemburgischen Arbeitsweise sowohl auf den Einschätzungen von deutschen als auch von französischen Grenzgängern beruht. Damit fließen die Wahrnehmungen beider Gruppen zusammen. Die isolierte Betrachtung der jeweiligen Wahrnehmungen, die aufgrund der niedrigen Fallzahlen nicht separat ausgewiesen wird, bestä-tigt jedoch die intermediäre Position der Luxemburger Arbeitsweise. Denn während die weitgehend als sicherheits-orientiert wahrgenommenen deutschen Grenzgänger die Luxemburger bspw. als vergleichsweise wenig sicherheitsori-entiert einstufen, betonen die als wenig

sicherheitsorientiert beschriebenen Grenzgänger aus Frankreich das Sicher-heitsstreben der Luxemburger. Dieses Wahrnehmungsmuster wiederholt sich in Bezug auf den Umgang mit Zeit oder hinsichtlich der Beziehungs- bzw. Sachorientierung von Luxemburger Kollegen.

Ungeachtet der Diskussion methodi-scher Aspekte ist festzuhalten, dass im Hinblick auf die Arbeitsweisen von Kollegen anderer Nationalitäten Unter-schiede wahrgenommen und stereotyp kategorisiert werden. Solche Differenz-konstruktionen, die für die personale und kollektive Identitätsbildung von Be-deutung sind, variieren je nach kulturel-ler Perspektive, ebenso wie der Umgang mit ihnen am Arbeitsplatz.

3.2. Strategien im� Kulturkon-takt

Ausgehend davon, dass die als different wahrgenommenen Arbeitsweisen für die Interaktionspraxis von Bedeutung sind, werden im Folgenden die bei Grenzgängern in Luxemburg beobach-teten Formen des Umgangs mit kultu-rellen Unterschieden vorgestellt. Dabei wird eine Heuristik zu Grunde gelegt, die zwischen ethnozentristischen und ethnorelativen Strategien unterscheidet (Thomas 2003:98f.).

Dominanzstrategie: Als Dominanz-strategie können Reaktionsweisen im Kulturkontakt beschrieben werden, bei denen Grenzgänger von der Überlegen-heit der ihnen vertrauten Werte, Nor-men und Praktiken ausgehen. Dies zeigt sich z. B. im Bestreben, die vertrauten (und somit richtigen) Handlungsrou-tinen gegenüber den fremden durchzu-setzen und das Interaktionsgeschehen zu dominieren. Diese Tendenz der Eroberung umschreibt ein Grenzgänger aus dem Saarland, wenn er die eigene Arbeitsweise überhöht.

„Und dann ist das mit Franzosen immer ein Riesenkindergarten, wo jeder macht, was er will. Und mein Luxemburger Chef hat irgendwann Mal gesagt, Franzosen können nicht planen und das merkt man. […]. Es gibt bestimmt in jedem Land solche und solche, aber die meisten, die

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ich getroffen habe… bei Franzosen, die sind der Meinung sie sind die Könige und sie wissen alles und wenn’s dann um die Qualität oder irgendwelche Themen geht, dann funktioniert das net.“ (Saar-Lux, m., 45/49)

Assimilationsstrategie: Die Neigung zur Anpassung, die in einer bereitwilli-gen Übernahme von anderen Werten, Normen und Praktiken besteht, kann als Assimilationsstrategie bezeichnet werden. Sie wird von Grenzgängern oft aus pragmatischen Gründen bevorzugt und erfordert ein gewisses „Gemüt“, wie eine Grenzgängerin es ausdrückt:

„Am Anfang war es schlimmer. Aber mit der Zeit stellt man sich auf die Leute ein. Das ist eine Gewohnheitssache. Vielleicht auch eine Charaktersache. Ich weiß von einer Freundin, die in einer deutschen Bank in Luxemburg arbeitet und mich immer fragt, wie ich das aushalten würde mit Franzosen zu arbeiten. Das ist eine reine Charakterfrage, was man für ein Gemüt hat.“ (RLP-Lux, m., 25/29)

„Dass die Franzosen anders kommuni-zieren war für mich neu. Ich hatte vor dieser Stelle eine Führungsverantwortung von ungefähr 25 Personen, aber das waren Deutsche und Luxemburger – also deutsch sprechende Personen. Dort hatte ich einen ganz anderen Führungsstil angewandt als bei meiner jetzigen Firma. Oder umgekehrt: Ich musste meinen Führungsstil den aktuellen Gegebenheiten anpassen und einsehen, dass das, was ich vorher getan hatte, jetzt nicht unbedingt mehr so gefragt ist. Das heißt konkret, ich muss mehr dirigieren, mehr anweisen, we-niger konzertieren, weniger um Meinun-gen fragen, sondern Meinungen vorgeben. Ich muss eine klare Linie vorgeben, da das erwartet wird. Da musste ich mich erst einmal anpassen, denn mein Führungsstil geht eher ins Demokratische rein und ich lasse auch gerne Freiraum, wenn’s denn funktioniert. Ich bevorzuge auch direkte und offene Kommunikation, das ist nur in diesem Umfeld nicht gefragt. Das ist anders.“ (RLP-Lux, w., 40/44)

Divergenzstrategie: Viele Grenzgänger qualifizieren kulturelle Unterschiede als ein die Zusammenarbeit erschwerendes, jedoch zu respektierendes Moment. Als problematisch wird dabei eine grund-sätzliche Unvereinbarkeit unterschied-licher Werte, Normen und Praktiken angesehen. Die auf Divergenz basie-

rende Strategie zeigt sich dann darin, dass der Andere respektiert und Ge-meinsamkeiten herausgestellt werden. Zumeist steht jedoch die respektvolle und vermeintlich unauflösbare Unver-einbarkeit der kulturellen Orientierung im Vordergrund.

„Wir [deutscher Interviewpartner und der deutsche Kollege] haben oftmals die-selben Phänomene festgestellt, gerade auch die Arbeitsmoral [der Luxemburger], oder der Ablauf der Arbeit, die Struktur, die Koordination – da ist es dann schon hilfreich, dass da noch ein Deutscher ist, sonst käme ich mir ziemlich verloren vor.“ (RLP-Lux, m., 25/29 Jahre)

Synthesestrategie: Einige Grenzgänger praktizieren eine kreative Handlungs-strategie. Sie gehen von der Gleichran-gigkeit der als different wahrgenom-menen Werte, Normen und Praktiken aus und versuchen diese produktiv zusammenzuführen. Über die Kombi-nation der als Stärken und Schwächen wahrgenommenen Eigenschaften soll ein besseres Ergebnis oder eine effekti-vere Zusammenarbeit erreicht werden, als dies ohne kulturelle Vielfalt möglich wäre.

„Viele Dinge, die nicht direkt der tägli-chen Arbeit zugeordnet sind, sind etwas unscharf geregelt. Man fragt zum Beispiel drei Personen und bekommt vier Antwor-ten. Das ist schon manchmal etwas cha-otisch, was das Organisatorische angeht. So etwas ist in einem deutschen Unter-nehmen eher besser geregelt, was dann aber auch wieder unflexibler ist. In einem französischsprachigen Umfeld, denke ich, ist es eben so, dass man manche Sachen nicht regelt, manche Sachen auch absicht-lich nicht regelt – das führt manchmal zu etwas kurzfristigen Entscheidungen und manchmal auch zu leicht chaotischen Zuständen. Davon kann man aber als Deutscher mit einer typisch deutschen Mentalität, wenn es die denn gibt, auch lernen.“ (RLP-Lux, w., 40/44)

Die identifizierten Interkulturalitäts-strategien von Grenzgängern sind als idealtypische und kontextabhängige Strategien im Umgang mit wahrgenom-menen kulturellen Differenzen zu be-trachten. Daneben sind weitere Strategi-en sowie Mischformen der vorgestellten Typen denkbar, die in der Interaktions-

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praxis aufgebrochen und sich wiederum zu neuen Routinen verstetigen können.

Ein weiterer Aspekt, der den Umgang mit wahrgenommenen kulturellen Unterschieden betrifft, ist die Kommu-nikation zwischen Grenzgängern über verschiedene Arbeitsweisen. Unter Be-rücksichtigung der oben beschriebenen Vergemeinschaftung am Arbeitsplatz konnten anhand von Gesprächsanalysen zwei Tendenzen der diskursiven Ver-handlung von kulturellen Unterschie-den ausgemacht werden. Im Rahmen von In-group-Situationen, in denen Grenzgänger aus einem gemeinsamen Herkunftsland miteinander kommuni-zieren, werden kulturelle Unterschiede zwar nicht vordringlich, jedoch durch-aus thematisiert und als bedeutsam herausgestellt. In Out-group-Situationen hingegen, in denen Grenzgänger ver-schiedener Herkunftsländer anwesend sind, werden kulturelle Unterschiede weitaus seltener zum Gesprächsgegen-stand bzw. heruntergespielt. So bleibt ihre diskursive Verhandlung oftmals auf einer humorvollen Ebene oder unver-fängliche Themen werden bevorzugt, um einem möglichen Gesichtsverlust vorzubeugen (Spencer-Oatey 2007).

4. FazitIn diesem Beitrag wurde die Situation von Grenzgängern an ihren Arbeits-plätzen unter sprachlichen bzw. kul-turellen Gesichtspunkten beleuchtet. Der originär mehrsprachige Untersu-chungskontext Luxemburg eignete sich dafür in besonderer Weise, arbeiten hier – gemessen an den ansässigen Erwerbs-tätigen – doch außergewöhnlich viele Grenzgänger aus den Nachbarländern, ebenso wie die Wohnbevölkerung einen hohen Anteil Ausländer zählt. Somit ergeben sich im (un-)mittelba-ren Arbeitsumfeld von Grenzgängern vielfältige sprachliche und kulturelle Konstellationen der Zusammenarbeit. Eine Beschreibung der interkulturel-len Arbeitswelten von Grenzgängern sollte dementsprechend vielschichtig ausfallen, weshalb die quantitativen und qualitativen Untersuchungsergebnisse weitgehend typologisiert wurden. So wurde zunächst festgestellt, dass das

mehrsprachige und multikulturelle Ar-beitsumfeld sowohl positiv als auch ne-gativ von Grenzgängern erlebt werden kann. Die Wahrnehmung reicht von „Ausgrenzung und Informationsverlust“ bis hin zu „Bereicherung und Entwick-lungschancen“ im Kontext kultureller Vielfalt oder mangelnder Fremdspra-chenkenntnisse. Die Ergebnisse zeigen ferner, dass das subjektive Erleben dieser Aspekte vermutlich beeinflusst wird von vorangegangenen beruflichen Erfahrungen und persönlichen Kompe-tenzen. Diese sind insbesondere dann von Bedeutung, wenn Grenzgänger mehrsprachige und / oder interkulturel-le Situationen unmittelbar bewältigen müssen. Hinsichtlich der Sprachkon-taktsituationen wurden idealtypisch sechs Strategien herausgearbeitet, die ein Kontinuum minimaler bis maxima-ler Praxis der Mehrsprachigkeit be-schreiben. Im Kulturkontakt zeichneten sich vier zentrale Interkulturalitätsstra-tegien zwischen Ethnozentrismus und -relativismus ab. Sowohl in Sprach- als auch in Kulturkontaktsituationen reicht das Spektrum von Anpassungstenden-zen (Assimilation / Akkomodation) bis hin zu produktiv-kreativen Strategien der Differenzverhandlung (Synthese / Sprachen- und Strategiemix).

Die empirischen Einblicke geben Hin-weise auf Kompetenzen, die für Grenz-gänger und damit für Arbeitnehmer auf grenzüberschreitenden Arbeitsmärkten erforderlich sind. Zur Entwicklung eines elaborierten Kompetenzprofils und seiner Didaktisierung bedarf es jedoch weiterführender Systematisie-rungen und Folgestudien im Luxem-burger Kontext. An dieser Stelle sollen die Empfehlungen der Grenzgänger im Hinblick auf die für notwendig erachteten Fähigkeiten und Wissensbe-stände für zukünftige grenzüberschrei-tende Arbeitnehmer genügen. So wird besonders betont, dass eine sprachliche Vorbereitung auf die Berufstätigkeit in Luxemburg unverzichtbar sei. Deutsch-sprachige Grenzgänger unterstreichen, dass man besonders Französischkennt-nisse mitbringen sollte; frankophone Grenzgänger betrachten Luxembur-gischkenntnisse als vorteilhaft. Ferner empfehlen die Grenzgänger sich im

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Vorfeld der Arbeitsaufnahme im lan-deskundlichen Sinne über das Land zu informieren, „sich auf viel Neues einzu-stellen“, „dem Anderen“ in seiner Diffe-renz mit Humor zu begegnen und sich auf ihn einzulassen (Studie 3). Diese Aussagen stammen von den Befragten, ebenso wie die vorgestellten Wahr-nehmungen und Strategien aus Sicht der Grenzgänger dargelegt wurden. Ergänzend wären die institutionell-un-ternehmerische Seite und ihre Politiken angesichts der spezifischen Herausfor-derungen am Standort Luxemburg zu beleuchten. Bekannt ist, dass seit 2009 jeder Arbeitnehmer im Großherzogtum während der Arbeitszeit einen Sprach-kurs besuchen kann (Congé linguistique) und viele Unternehmen das Sprachen-lernen ihrer Mitarbeiter unterstützen. Ebenso ist bekannt, dass Unternehmen aufgrund negativer Erfahrungen mit Mehrsprachigkeit, Interkulturalität oder landesspezifischen Berufsbildern nur noch Grenzgänger aus einem bestimm-ten Land einstellen. Eine systematische Bestandsaufnahme und Analyse der praktizierten Handlungsstrategien in den Unternehmen Luxemburgs auf dem Gebiet der Mehrsprachigkeit und Interkulturalität steht derzeit jedoch noch aus.

In eigener Sache

Dieser Beitrag über Sprachen und Kulturen an den Arbeitsplätzen in Luxemburg ist selbst das Ergebnis einer mehrsprachigen und interkulturellen Zusammenarbeit. Die Autoren – eine Neuseeländerin, eine Luxemburgerin und ein Deutscher – tauschten sich auf Deutsch, Englisch und Französisch aus und schrieben die jeweiligen Abschnit-te in der Sprache ihrer Wahl. Jeder brachte Elemente seiner disziplinären, akademischen und persönlichen Kultur gewinnbringend ein, wofür manche der erläuterten Praktiken und Strategien genutzt wurden.

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Endnoten

1. Mehr Grenzgänger als Luxemburg zählt die Schweiz mit 246.252 grenzüberschrei-tenden Pendlern (2011).

2. Erschienen als Wille 2012.

3. Die interaktionale Soziolinguistik ist der Gesprächsforschung (Deppermann 2001) zuzuordnen und geht auf Gumperz (1986) zurück. Sie bildet eine Form der Diskursanalyse, die sich mit authentischen Gesprächsaufnahmen beschäftigt. Ziel der Gesprächsanalyse ist es „Gesprächspraktiken zu untersuchen, die die Mitglieder einer Kultur selbst als typische und nach verbind-lichen Formen strukturierte Handlungsty-pen oder Gesprächsereignisse verstehen“ (Deppermann 2001:22).

4. In der Mehrzahl der vorliegender Ar-beiten werden die Grenzgänger zugunsten der ansässigen Wohnbevölkerung ausgespart (z. B. Fehlen et. al 1998). In nur wenigen Arbeiten werden sie unter linguistischen Gesichtspunkten thematisiert, jedoch oftmals nur beiläufig oder auf einer nur schmalen empirischen Basis (Derveaux / Esmein 1998, Berger 2005, Fehlen 2009, Wille 2012).

5. Die Unterscheidung zwischen indivi-dueller und gesellschaftlicher Mehrspra-

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chigkeit ist an dieser Stelle von Bedeutung. Denn Personen können sich von indivi-dueller Mehrsprachigkeit beeindruckt zeigen (z. B. die Fähigkeit einer Person, sog. Prestigesprachen wie Französisch, Englisch oder Spanisch zu beherrschen), jedoch weiterhin glauben, dass Mehrsprachigkeit auf gesellschaftlicher Ebene ein Hindernis für den sozialen Zusammenhalt darstellt (Blommaert / Verschueren 1998).

6. Die im Folgenden wiedergegebenen Zitate werden hinsichtlich der Interview-partner wie folgt gekennzeichnet: Pendler-stromrichtung (RLP = Rheinland-Pfalz, Saar = Saarland, Lor = Lothringen, Lux = Luxemburg, Wal = Wallonien), Geschlecht (w. = weiblich, m. = männlich), Alter (35/39 = Altersgruppe 35-39 Jahre).

7. Anmerkung: Es handelt sich um eine vereinfachende Darstellung, die der Orien-tierung im Feld der Praxis der Mehrsprachig-keit dient. Eine differenzierte Besprechung erfolgt in Franziskus (i. E.).

8. Aufgrund der geringen Fallzahlen können keinen ergänzenden Aussagen über einen vermeintlich belgischen Arbeitsstil getroffen werden.

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Alexandra Stang

Projektmitarbeiterin Publikatio-nen und Interkulturelle Bildung an der TU Kaiserslautern

Rezension Review

Susann Juch „Interkulturelle Kooperationskompetenz: Entwicklung und Gestaltung der Interaktion in interkulturellen Unternehmenskooperationen“

In den vergangenen Jahren hat sich nicht zuletzt durch weltweite Mergers & Acquisitions ein grundlegender Wan-del in der Arbeitsorganisation und den Unternehmensbeziehungen vollzogen. Durch Globalisierungsprozesse in der Wirtschaft ist es heute für Unterneh-men zunehmend schwierig geworden im Alleingang Wettbewerbsvorteile zu erzielen, um ihre Leistungsfähigkeit zu erhalten. Dies bringt neue Kooperati-onsformen und Organisationskulturen hervor, „die immer weniger natio-nale Bindungen aufweisen“ (Bolten 2007:51). Dies stellt gleichzeitig eine hohe Flexibilität an Mitarbeiter und Unternehmen, die folglich – meist be-fristet, über Zeitzonen hinweg – an ver-schiedenen Standorten organisations-übergreifend in Projekten konstruktiv zusammenarbeiten müssen. Die Konse-quenzen dieser Entwicklungen formu-lierte Stefanie Rathje in ihrem Thesen-papier zur Kooperationskompetenz im Rahmen eines Forschungsprojektes mit der Bertelsmann Stiftung 2007 treffend:

„Es steht daher zu erwarten, dass Koope-rationskompetenz als die Fähigkeit, ‘mit anderen gut zu können‘ und über einen bestimmten Zeitraum hinweg effektiv Beziehungen mit anderen Organisa-tionen einzugehen, sich zu einem der Top-Themen der nächsten zehn Jahre auf der Agenda international agierender Unternehmen entwickeln wird.“

Viele Kooperationen erfüllen jedoch bis heute die in sie gesetzten Erwartun-

gen nicht, selbst wenn sie sich auf dem Papier ausreichend perfekt zu ergän-zen scheinen. Die allseits geforderte interkulturelle Kooperationskompetenz, die im Rahmen der skizzierten Heraus-forderungen an alle beteiligten Akteure gestellt wird, bleibt in vielen Fällen jedoch unreflektiert. Kommunikative und kulturelle Aspekte, die gerne unter dem Label weiche Faktoren subsumiert und für das Scheitern mit verantwort-lich gemacht werden, sind bis heute eine vernachlässigte Größe in der Wirtschaft, da die Entscheidungen für oder gegen eine Zusammenarbeit im Management meistens ausschließlich von sogenann-ten harten Faktoren, wie finanziellen und strategischen Überlegungen, getra-gen werden. Nichtsdestotrotz rückt die Frage nach den Einflussfaktoren, die die Qualität der Kooperationen maßgeb-lich mitbestimmen, zusehends in den Mittelpunkt der aktuellen Diskussionen zu diesem Thema.

Die vorliegende empirische Studie mit dem Titel „Interkulturelle Koopera-tionskompetenz“ der Autorin Susann Juch entstand hierzu im Rahmen dieses breit angelegten Forschungsprojektes zu „Unternehmenskultur in globaler Aktion“ der Bertelsmann Stiftung als Dissertation. Sie greift diese Fragestel-lungen und „mangelnde Sensibilität für den Faktor Kultur und seine Relevanz in interkulturellen Tätigkeiten“ ( Juch

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2012:22) aus einer dezidiert interdiszi-plinären Perspektive unterschiedlicher Bezugswissenschaften auf. Grundlage für die Analyse relevanter Einflussfakto-ren bilden die durchgeführten Inter-views mit 50 ausgewählten international agierenden Führungskräften aus unter-schiedlichen Branchen. Basierend aus den gewonnenen Erkenntnissen sowie unter Einbeziehung einer Interaktions-perspektive entwickelt die Autorin im Anschluss hieran ein Modell interkul-tureller Kooperationskompetenz, das auf einem differenz- bzw. kohäsionso-rientierten Kulturverständnis basiert und sowohl harte als auch weiche Einflussfaktoren zu integrieren vermag. Es erhebt jedoch keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit, sondern das Modell möchte vielmehr Möglichkeiten der Ausgestaltung gewinnbringender grenzüberschreitender organisationaler Zusammenarbeit aufzeigen.

Die vorliegende Arbeit teilt sich in sieben große Hauptkapitel auf, die die komplexe Fragestellung in zahlreichen Gliederungspunkten verständlich wer-den lassen. Im theoretischen Grund-lagenteil werden mit Hilfe Kommu-nikations- und (Unternehmens-)kulturwissenschaftlichen Forschungs-ergebnisse als auch unterschiedlicher Kompetenz-/Kooperationsmodelle eine vorläufige Begriffsbestimmung und dynamisch-prozessuale Arbeitsdefiniti-on interkultureller Kooperationskom-petenz als Ausgangsposition für die wei-terführende Untersuchung formuliert, die den Interaktionsaspekt einschließt. Anschließend führt der nächste Ab-schnitt in die theoretischen Grundlagen der inhärenten Dynamik und Pro-blemfelder des Konfliktmanagements und der Konfliktforschung ein. Darauf aufbauend werden die Entstehungsur-sachen und Auswirkungen in Hinblick auf das konkrete interkulturelle Interak-tionsgeschehen in Unternehmenskoope-rationen analysiert, um interkulturelle Konflikte in der Zusammenarbeit lösen zu können und das Kooperationsgesche-hen aufrecht zu erhalten.

Der Methodenteil der sowohl qualitativ als quantitativ empirisch angelegten Studie beschreibt hierzu detailliert das

weitere Vorgehen zur Beantwortung der gestellten Fragestellung. Die Aus-führungen geben Aufschluss über die Datenerhebung im Rahmen der Durch-führung problemzentrierter Interviews, inklusive der Expertenbefragungen und der Validierung bezogen auf das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit. Anhand nachvollziehbarer Grafiken und Screenshots zu den eingesetzten Software-Programmen bekommt der Leser einen guten Einblick in den sich anschließenden komplexen Auswer-tungsprozess einer gegenstandbezoge-nen Forschung.

Auf Basis der durchgeführten Daten-analyse identifiziert Susann Juch im Hauptteil der Arbeit vier interdepen-dente Faktoren, die Kooperationsbe-ziehungen maßgeblich beeinflussen und beeinträchtigen können, wenn diese seitens der Führungskräfte und des Managements nicht ausreichend berücksichtigt und reflektiert werden. Dazu zählen die Grundbedingungen interkulturellen Kooperationsinterakti-on, Problemsymtome, Problemursachen und Gestaltungsmaßnahmen, denen im weiteren Verlauf der Ausarbeitungen zugehörige Teilaspekte und Beispiel-zitate als Belege zugeordnet werden ( Juch 2012:145ff.). Die dazugehörigen Abbildungen visualisieren die Textaus-sagen und bringen diese anschaulich auf den Punkt.

Im sechsten Kapitel steht die theo-retische Entwicklung eines interakti-onsbezogenen dynamischen Modells interkultureller Handlungskompetenz im Mittelpunkt der Ausarbeitung. Dazu werden die vorab identifizierten Zusam-menhänge und Daten weiter verdichtet und unter Bezugnahme auf wissen-schaftliche Literaturquellen diskutiert.

Das Abschlusskapitel setzt den wissen-schaftlichen Erkenntnisgewinn in den Kontext einer kritischen Diskussion der zuvor gewonnenen Ergebnisse und fasst diese kurz und prägnant zusammen.

Insgesamt handelt es sich um ein lesens-wertes Buch mit interessanten Ansätzen und neuen Ideen zu diesem Thema. Der Leser erhält mit dieser Publikation einen umfassenden Einblick in Diskus-

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sionen neuere kommunikations- und kulturwissenschaftliche Theorien und deren Relevanz für eine Umsetzung im Rahmen organisationsübergrei-fender Unternehmenskooperationen. Ergänzt wird dies mit Ergebnissen aus der Kompetenzforschung sowie einer anschaulichen Darstellung der gewonnenen Erkenntnisse aus der empirisch gestützten qualitativen und quantitativen Studie, die die Basis für das beschriebene theoretische Konzept bilden. Darauf aufbauend entwickelt die Autorin im Anschluss ein schlüs-siges Kooperationsmodell für global agierende Wirtschaftsunternehmen, das von seinem Grundverständnis auf einer dezidiert differenz- und kohäsionsorien-tierten Logik aufbaut.

Die Autorin liefert aus diesem Grun-de einen wichtigen Baustein für eine nachhaltige interkulturelle Kooperati-onskompetenz, die die Wahrnehmung von Differenz und kultureller Vielfalt nicht per se als Hindernis sondern vielmehr als Ausgangspunkt und Chance für kommunikativen Austausch betrachtet, um Plausibilität, Normalität, Routinehandeln und Vertrauen (Bol-ten 2003:108) in solchen Kontexten im Sinne von „etwas gemeinschaftlich machen“ (Bolten 2000:114) entwickeln zu können. Die Monografie wendet sich an Studierende des Interkulturellen Ma-nagements sowie Wissenschaftler und Praktiker, die sich mit Fragestellungen der interkulturellen Zusammenarbeit, der (Unternehmens-)Kulturkonstruk-tion, ihrer Beziehungskomplexität und möglichen Optimierungsprozessen und Lösungsansätzen insbesondere in der Wirtschaft auseinandersetzen.

Literatur

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Bolten, J. (2007): Einführung in die inter-kulturelle Wirtschaftskommunikation. Göt-tingen: Vandenhoeck & Ruprecht Verlag.

Rathje, S. (2007): Mit denen können wir gut! Thesenpapier zur Kooperationsfähig-keit als Zukunftskompetenz erfolgreicher Unternehmen. Bertelsmann Stiftung. URL: http://www.bertelsmann-stiftung.de/cps/rde/xchg/SID-2F181847-8B17A382/bst/hs.xsl/6903_19266.htm [Zugriff am 17. Juni 2012].

Juch, Susann (2012): Inter-kulturelle Kooperationskom-petenz: Entwicklung und Gestaltung der Interaktion in interkulturellen Unterneh-menskooperationen. Berlin: LIT Verlag. 431 Seiten. Preis 39,90 EUR. ISBN 97�8-3-643-11546-1.

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Alexandra Stang

Projektmitarbeiterin Publikatio-nen und Interkulturelle Bildung an der TU Kaiserslautern

Rezension Review

Christoph I. Barm�eyer und Jürgen Bolten (Hrsg.) „Interkulturelle Personal- und Organisationsentwicklung: Methoden, Instrumente und Anwendungsfälle“

Die kontinuierlichen Globalisierungs-prozesse begünstigen den steten Wandel in Organisationen. Die Mitarbeiter und Führungskräfte müssen sich daher heute mit einer permanenten Neugestaltung beziehungsweise Weiterentwicklung vorhandener Strukturen und Prozesse auseinandersetzen. Der Kulturbegriff geht dabei nicht mehr von einem rein national definierten Kulturverständ-nis aus, sondern er ist kontextgebun-den, fuzzy und mehrwertig (Bolten 2011a:57ff ). Kultur wirkt dabei implizit und bleibt vielfach unbemerkt. Eine oft unterschätzte Herausforderung bezieht sich somit auf das Miteinan-der verschiedener Organisations- und Teamkulturen. „Wie aber hält das Dachkollektiv [z. B. eine Profit- oder Non-Profit-Organisation, Anmerkung der Verfasserin] die Spannung der Heterogenität aus, deren Auswirkung darin besteht, dass gegensätzliche Werte und Weltanschauungen, unterschiedli-che Denkformen und Emotionalitäten heftig aufeinander treffen?“ (Hansen 2009:116). Der skizzierte Kontext kultureller Differenz stellt gänzlich neue methodische Anforderungen an die Entwicklungs- und Veränderungsansät-ze einer lernenden Organisation und somit auch an die Herangehensweise von Organisationskulturanalyse und Kulturtransfer.

Mit dem vorliegenden Sammelband der Schriftenreihe Interkulturelle Wirtschaftskommunikation tragen die Herausgeber Christoph I. Barmeyer und Jürgen Bolten diesen Ausgangs-bedingungen zu Beginn der zweiten Dekade des 21. Jahrhunderts Rechnung. Die Publikation betritt daher Neuland in der ganzheitlichen interkulturellen Kompetenzentwicklung und veran-schaulicht dies auf angemessene Weise. Eine zentrale Aussage aus der Einleitung dieser Publikation lautet: „Sowohl Ent-wicklungs- und Veränderungsansätze, Konzepte und Methoden, als auch das organisationale Umfeld sind in spezifi-sche kulturelle Kontexte eingebunden, die es zu beachten gilt. Dies führt zu einer Kombination interkultureller Per-sonal- und Organisationsentwicklung“ (Barmeyer / Bolten 2010:5).

Der Sammelband lässt sich in drei große inhaltliche Bereiche aufteilen. Der erste Abschnitt stellt konzeptionelle Über-legungen einer ganzheitlich gedachten Personal- und Organisationsentwick-lung in den Vordergrund. Stefanie Rathje plädiert in ihrem Aufsatz zur Gestaltung einer Organisationskultur für ein kohäsionsorientiertes Kultur-verständnis, das nicht mehr die Ho-mogenität sondern die Akzeptanz von Differenz und Vielfalt als Chance und Mehrwert für ein gelungenes Miteinan-der unterschiedlicher Kollektive in den

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Vordergrund stellt. Christoph Barmeyer setzt sich kritisch mit dem ethnozen-trischen Denken in internationalen Mutter- und Tochtergesellschaften auseinander. Sein Drei-Ebenen-Modell bietet Hilfestellung für eine kontextan-gepasste interkulturelle Organisations-entwicklung, die sich der Kulturspezifik bewusst ist. Jochen Strähle möchte die Perspektive und Lebenswelt der Mitarbeiter stärker bei der Gestaltung von Unternehmenskultur berücksich-tigt wissen, um diese gezielt entwickeln zu können.

Neue Ideen, Innovations- und Wettbe-werbsfähigkeit entfalten sich am besten, wenn eine Organisation ihren Mitarbei-tern Freiräume im Denken und Han-deln ermöglicht. Volker Stein beleuchtet aus diesem Grund das organisationale Umfeld als zentralen Aspekt für die Ent-faltung interkultureller Kreativität. Die drei Beiträge von Sylke Piéch, Jürgen Bolten und Irina Bäuerle thematisieren abschließend die Notwendigkeit und Ausgangsbedingungen für eine gelun-gene Umsetzung eines integrierten Wissens- und Kommunikationsmanage-ments als entscheidende Ressource über Organisations- oder Ländergrenzen hinweg.

Im zweiten Teil des Sammelbandes stehen praxisbezogene Aufsätze im Mittelpunkt, die sich mit konkreten Anwendungsfeldern der Personal- und Organisationsentwicklung beschäfti-gen. Stefan Strohschneider beleuchtet in seinem Aufsatz die Relevanz der Human Faktoren und Sicherheitsfor-schung für die Gestaltung interkultu-reller Teamentwicklung und verweist auf den Zusammenhang von individu-eller Handlung und organisationalem Kontext. Petra Köppel beschäftigt sich anschließend mit der Effizienz und den besonderen Anforderungen an virtuelle interkulturelle Teamarbeit. Aus an-wendungsbezogener Sicht knüpfen die Autoren Karsten Müller und Matthias Metzger an die Forderung von Jochen Strähle an und zeigen auf, wie eine Mitarbeiterbefragung in einem interna-tionalen Konzern gezielt für die Unter-nehmenskulturentwicklung eingesetzt werden kann. Nathalie Hecker knüpft

in ihrer Ausarbeitung zu Kultur- und Werteentfaltung an die Forderung an, die Mitarbeiter stärker als bisher bei Veränderungsprozessen einzubeziehen. Sie stellt dazu die Methode des World-Cafés vor. Die gelungene Integration und Verknüpfung von Personal- und Unternehmenskulturentwicklungs-maßnahmen diskutieren Christoph Barmeyer, Klaus Boll und Eric Devoine am Beispiel eines international aufge-stellten Automobilzulieferers. Abschlie-ßend stellt Annette Hammerschmidt geeignete Tools vor, die einen Beitrag dazu leisten können, die Komplexität in Organisationen besser verstehen und analysieren zu können.

Der dritte große Komplex dieses Buches beschäftigt sich mit der Kulturspezifik von Lehr- und Lernstilen sowie der For-derung nach einer Methodenanpassung in unterschiedlichen Kontexten. Die Methoden, die heute in der Personal- und Organisationsentwicklung einge-setzt werden, werden kritisch auf ihren eigenen Interkulturalitätsanspruch hinterfragt.

Ulrike Haupt setzt sich aus Beraterper-spektive am Beispiel von Frankreich kritisch mit dem systemischen Ansatz in der internationalen Organisationsent-wicklung auseinander und weist darauf hin, dass dieser nicht in allen Ländern gleich akzeptiert wird. Sie fordert den Leser auf, sich der Kulturspezifik dieses Ansatzes bewusst zu werden. Nadja Riedlberger hinterfragt im Allgemeinen den Interkulturalitätsanspruch inter-kultureller Methoden. Dazu analysiert sie in ihrem Beitrag die Anfänge der interkulturellen Trainingsforschung, die ihren Ursprung in den USA haben und bis heute teils unreflektiert welt-weit eingesetzt werden. Diese Aussage bestätigen Yaling Pan und Petra Vog-ler in ihren kritischen Beiträgen zur Methodenreflexion interkultureller Kompetenzentwicklung aus asiatischer Perspektive. Sie weisen nachträglich darauf hin, dass US-amerikanische Trainingskonzepte im indischen und chinesischen Kontext nicht passfähig sind, da andere Denkschemata zugrun-de liegen. Der gesellschaftliche Wandel bringt es mit sich, dass heute kulturell

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heterogene Interaktionen stattfinden und interkulturelle Konflikte gelöst wer-den müssen.

Katharina Kriegel beschäftigt sich abschließend mit den Herausforderun-gen kulturell bedingte Unterschiede in Konflikten rechtzeitig zu erkennen und ausreichend zu berücksichtigen, um als Mediator an der Schnittstelle von Personal- und Organisationsentwick-lung interkulturell kompetent agieren zu können.

Insgesamt lässt sich bis heute beobach-ten, dass Interkulturelle Kompetenzent-wicklung als eine primäre Aufgabe der Personalentwicklung betrachtet wird. Die Förderung ist somit insbesondere in der Wirtschaft sehr stark abhängig von konjunkturellen Schwankungen. Die Herausgeber und Autoren leisten mit ihrer Argumentation aus diesem Grund Pionierarbeit, indem sie interkultu-relle Kompetenzentwicklung als eine gemeinsame Aufgabe der Personal- und Organisationsentwicklung betrachten. Das Spektrum der Themenbeiträge ist dabei bewusst sehr breit ausgelegt und bietet somit einen wertvollen Beitrag für ein zukunftsorientiertes Personal- und Organisationskonzept.

Die 18 Autorenbeiträge verknüpfen gekonnt theoriebasierte, konzeptionelle Überlegungen mit anwendungsori-entierten Praxisbeispielen und einer kritischen Methodenreflexion. Sie liefern somit einen wichtigen Baustein für eine nachhaltige interkulturelle Kompetenzentwicklung. Das gelunge-ne Gesamtwerk bietet dem Leser ein differenziertes Bild sowie den Hinweis darauf, „dass Diversity-Prozesse, die auf ein kohäsives Miteinander zielen, des Zusammenspiels von Organisations- und Personalentwicklung notwendiger Weise bedürfen (Bolten 2011:36). Der Sammelband wendet sich gleicherma-ßen an Studierende, Wissenschaftler und Praktiker, die sich mit Fragestellun-gen und Methoden der interkulturellen Öffnung und des geplanten Wandels in einer ganzheitlich gedachten Personal- und Organisationsentwicklung beschäf-tigen.

Literatur

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interculture j o urna l

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