hoffnungsträger. kindern und jugendlichen zukunft ermöglichen (diakonie themen 02/2014)

24
Interview Maria Maiss Seite 10 Themen Diakonische Information Nr. 174-4/14 Wordrap Hilde Dalik Seite 14 D W P O R A R Paulus Hochgatterer Magische Momente Seite 22 Jugendliche in der Krise Zuflucht im Wàki Seite 20 Hoffnungsträger Kindern und Jugendlichen Zukunft ermöglichen Theaterstück „Romeo und Julia – freestyle“ mit jungen AsylwerberInnen im Dschungel Wien (S. 15)

Upload: diakonie-oesterreich

Post on 06-Apr-2016

225 views

Category:

Documents


0 download

DESCRIPTION

Wenn die Jugend nicht unsere Hoffnung ist, was ist sie dann?

TRANSCRIPT

Page 1: Hoffnungsträger. Kindern und Jugendlichen Zukunft ermöglichen (Diakonie Themen 02/2014)

InterviewMaria Maiss Seite 10

Themen

Diak

onis

che

Info

rmat

ion

Nr.

174-

4/14

WordrapHilde DalikSeite 14

DWP

ORA

R

Paulus HochgattererMagische MomenteSeite 22

Jugendliche in der KriseZuflucht im WàkiSeite 20

Hoffnungsträger Kindern und Jugendlichen Zukunft ermöglichen

Theaterstück „Romeo und Julia – freestyle“ mit jungen

AsylwerberInnen im Dschungel Wien (S. 15)

Page 2: Hoffnungsträger. Kindern und Jugendlichen Zukunft ermöglichen (Diakonie Themen 02/2014)

2 Themen

EDITORIAL

„Die Jugend ist unsere Hoffnung!“ Der Satz fehlt nie in den Reden der BildungspolitikerInnen, der Verantwortlichen für die Jugendhilfe, der Sozial- und FamilienpolitikerInnen, ja sogar der Senio-renvertreterInnen. Ein Satz, so wahr und ehern, un ab änderlich eingemeißelt in den Diskurs über die Zukunft unserer Gesellschaft. An dem Satz ist nichts falsch, er hat keinen Makel. Denn wo sonst sollen die Hoffnungen einer Gesellschaft wachsen, wenn nicht in der jungen Generation?

Denen, die mit Kindern und Jugendlichen ar-beiten, klingt der Satz aber oft schrill in den Oh-ren. Wie gehen wir mit „unserer Hoffnung“ um,

wenn die Bildungsreform seit Jahren stockt und das Bildungsministerium im letzten Jahr 500 Millionen bei den Schulen einsparen musste? Wie gehen wir mit den Hoffnun gen junger Asyl werberInnen um, die um jeden Fahrschein ban-

gen müssen, mit dem sie der Bus zum Deutsch-kurs bringt? Wie gehen wir mit den Hoffnungen junger SchülerInnen um, die unser Bildungssys-tem entlässt, ohne ihnen das Rüstzeug mitge-geben zu haben, am Arbeitsmarkt fit zu sein?

Die MitarbeiterInnen der Diakonie arbeiten in vielen Feldern, in denen ihnen der Glaube an die Hoffnung so manches Mal abhandenzukommen droht. Was sie weiterarbeiten lässt, sind nicht die Hoffnungen, die eine Gesellschaft in die jun-ge Generation hineinprojiziert und beschwört, sondern die Hoffnungen, die in den Herzen der Kinder und Jugendlichen lebendig sind. Davon soll in diesem Heft zu lesen sein.

Von jugendlichen AsylwerberInnen, die ihr Herz fürs Theater entdeckt haben und dort ihre Träume und Sehnsüchte wiederfinden, die auf

einer langen, beschwerlichen Flucht verschüttet zu werden drohten. Von Kindern und Jugendli-chen, die vor dem Streit, der Überforderung der Eltern, vor Kälte und Enge ihren Ausweg in einem Leben auf der Straße gesucht haben, die aber „das Potenzial für wundersame Entwick-lungen“ in sich tragen und oft nach Monaten intensiver Betreuung in ihre Familien zurückkeh-ren können.

Sie alle tragen Hoffnung in sich, und diese Hoff nung lässt sie selbst in schwierigsten Situa-tionen nicht „zugrunde gehen“.

Diese Potenziale für gelingendes Leben sind uns allen geschenkt. Es gibt Situationen im Leben, die diese Potenziale an ihrer Entfaltung hindern, und es gilt, sie zur Entfaltung zu brin-gen. In jeder und jedem stecken Möglichkeiten und Begabun gen, die zu den wundersamsten Hoffnungen Anlass geben. Es gilt, sie sichtbar und lebbar zu machen.

Die Jugend ist nicht unsere Hoffnung, son-dern sie trägt ihre Begabungen, Potenziale und Hoffnungen in sich, in ihren Herzen. Hindern wir sie nicht daran, sie auch zu leben.

Jede und jeder trägt die Hoffnung in sich. Alle sind HoffnungsträgerInnen. Die MitarbeiterInnen der Diakonie ebenso wie die, mit denen wir ar-beiten und leben. HoffnungsträgerInnen bringen Hoffnung, sie teilen Hoffnung, sodass anderen Hoffnung zuteilwird und sie selbst zu Hoffnungs-trägerInnen werden können.

Hoffnung zu haben ist ein Geschenk. Es er-möglicht, heute und jetzt die Zukunft zu leben.

Wenn die Jugend nicht unsere Hoffnung ist, was ist sie dann?

Karin Brandstötter. Hannelore Kleiss, Gernot Mischitz, Verena Reisinger, Hansjörg Szepannek

Pfarrer Mag. Michael Chalupka, Direktor Diakonie Österreich

„Die Hoffnung aber lässt nicht zugrunde gehen; denn die Liebe Gottes ist ausgegossen in un-

sere Herzen durch den Heiligen Geist, der uns gegeben ist.“

Römer 5,5

Hoffnung zu haben ist ein Geschenk

AN DIESEM HEFT MITGEARBEITET HABEN

Page 3: Hoffnungsträger. Kindern und Jugendlichen Zukunft ermöglichen (Diakonie Themen 02/2014)

Themen 3

INHALT

4Was mir Mut macht ...

Junge Menschen aus Diakonie-Einrichtungen über ihre Hoffnungen und Ziele.

6Wie läuft das Spiel?

Spieleentwickler, Psychologen und Wirtschaftsforscher sagen: Nur wo wir gestalten

können, Anerkennung erfahren und sozialen Ausgleich erleben, ist Entwicklung möglich.

9Chancen und (Un)Gleichheit

Über Kapital, Capabilities und Ressourcen.

10Das Bedürfnis zu wachsen

In jedem Menschen stecken Potenziale. Wie können sie wachsen? Die Philosophin Maria Maiss im Interview.

13Projekte

Hausgärten für Ruanda, neuer Jahrgang bei „Spring ins Leben“, Catering-Service Kulinarium.

14Neugieriges Miteinander

Wordrap mit Hilde Dalik.

15Romeo und Julia – freestyle

Ein Theaterworkshop mit AsylwerberInnen.

Inhalt

Spendenkonto Diakonie: IBAN AT492011128711966399

BIC GIBAATWWXXX

16Mythos: „Jede/r schafft es, wenn er/sie nur will“Stimmt’s? Mythen, Märchen und Pauschalansichten.

17Gras wächst nicht schneller ...

Nachrichten, Theater, Bibliothek, Kino und Internet: Die Polytechnische Schule Karlsplatz in Wien.

18Die Welt in Zahlen

Junge Menschen und ihre Bedürfnisse.

19Bücher, Europa

20Kommen und Gehen im Wàki

Ein Zufluchtsort für Jugendliche in Krisensituationen.

21Kurz gemeldet

Kindergarten Mostar, 20 Jahre Michael Chalupka und Roland Siegrist, www.diakonie.at.

22Moritz und der Glitzerzauberstab

Paulus Hochgatterer erlebte einen magischen Moment.

IMPRESSUM: Medieninhaber, Herausgeber und Redaktion: Diakonie Österreich, ZVR-Zahl: 023242603. Redaktion: Dr.in Roberta Rastl-Kircher (Leitung), Mag.a Katharina Meiche nitsch, Mag. Martin Schenk, Mag.a Magdalena Schwarz. Alle: 1090 Wien, Albert Schweitzer Haus, Schwarzspanierstraße 13. Tel.: (0)1 409 80 01, Fax: (01) 409 80 01-20, E-Mail: [email protected], Internet: www.diakonie.at. Verlagsort: Wien. Geschäftsführer Diakonie Österreich: Pfr. Mag. Michael Chalupka, Mag. Martin Schenk. Grafik-Design: Info-Media Verlag für Informationsmedien GmbH/Natalie Dietrich, Volksgartenstraße 5, 1010 Wien. Druckerei: AV + Astoria Druckzentrum GmbH, Faradaygasse 6, 1030 Wien. Fotos: Cover: Melica Ramik, Nadja Meister, Ingo Pertramer, Diakonie Zentrum Spattstraße, Daniela Klemencic; S. 2: Nadja Meister, Diakonie; S. 3: privat, Hilde Dalik, Diakonie Zentrum Spattstraße; S. 4: Diakonie Zentrum Spattstraße, Diakonie de La Tour; S. 5: LIFEtool, Diakoniewerk; S. 6: Fotolia.de/29mokara; S. 7: Korbinian Polk, Diakoniewerk; S. 8: Elke Wetzig, Ulrike Wieser; S. 9: Fotolia.de/Alexander Raths, Fotolia.de/JackF; S.10–12: Nadja Meister, Robin Holland, Maria Szöllösi; S. 13: Karin Desmarowitz/Brot für die Welt, Diakonie Österreich, Diakoniewerk; S. 14: Ingo Pertramer; S.15: Hilde Dalik; S.16: istockphoto.com/erierika; S.17: Diakonie Bildung, privat; S.18: istockphoto.com/gilaxia, istockphoto.com/pepifoto, istockphoto.com/isthnjw1224, Fotolia.de/missbobbit; S. 19: Helsinki Deaconess Institute; S. 20: Diakonie Zentrum Spattstraße; S. 21: Diakoniewerk, Diakonie Österreich, Marco Uschmann; S. 22–23: istockphoto.com/ozgurcoskun, Christian Stemper; S. 24: Christian Stemper. Die Diakonische Information bringt Sachinformationen und Nachrichten zur Diakonie der Evangelischen Kirchen. Die gendersensible Schreibweise ist uns ein wichtiges Anliegen. Der Bezug ist kostenlos. DVR: 041 8056 (201). Gedruckt nach der Richtlinie „Schadstoffarme Druckerzeugnisse des Öster reichischen Umweltzeichens“. Umweltzeichen (UWZ 734)

Page 4: Hoffnungsträger. Kindern und Jugendlichen Zukunft ermöglichen (Diakonie Themen 02/2014)

4 Themen

PORTRÄTS

CLAUDIA REISNER „In unserem Kindergar-ten ,Für Dich und Mich‘ möchten wir den Kin-dern ein Gefühl von Ge-borgenheit schenken. Was gibt es Schöneres, als Kindern eine wun-derbare, schöne Kin-dergartenzeit zu schaf-fen, in der sie sich in ihrem Sein angenom-men fühlen können. Kinder lernen über Be-ziehung und über das Tun! Oft sagen Berüh-

rungen, Umarmungen mehr als tausend Worte. Konflikte gewaltfrei zu lösen, Gefühle zeigen zu können und jeden Menschen in seiner Einzigartigkeit anzunehmen macht mir Mut für die Zukunft!“

Claudia Reisner ist gruppenführende Sonderkindergar-tenpädagogin in einer heilpädagogischen Kin dergarten-Gruppe im Diakonie Zentrum Spattstraße. Im Bild mit Gabriel bei der Waldwoche.

Junge Menschen aus Diakonie-Einrichtungen über ihre Hoffnungen und ihre Ziele.

„Was mir Mut macht ...“

ELIAS„Es macht mir Mut, wenn ich etwas schaffe, das ich mir selbst nicht zugemutet habe. Ich habe schon vieles gelernt. Wie ich mich richtig benehme und mit anderen Kindern spiele und viel in Geografie. Mut machen mir auch Leute, die mir helfen und mir neue Sachen zei-gen. Leute haben mir Mut gegeben, und das macht mich dann stolz, wenn ich

etwas schaffe. Das ist schön so und dafür bin ich auch dankbar.“

Elias (11) wurde drei Jahre in der heil- und sozialpädago-gischen Tagesgruppe im Diakonie Zentrum Spattstraße betreut. Ein normaler Schulalltag mit Hortbesuch war zu Beginn aufgrund seiner Verhaltensauffälligkeiten nicht möglich. Seitdem ist ihm eine sehr gute Entwicklung ge-lungen. Er besucht seit Herbst wieder eine Regelschule und einen Hort. Elias lebt mit seinen Eltern und seiner Schwester in Linz.

MELISSA HOFER „Wenn ich ein Ziel vor Augen habe, das macht mir Mut. Auch in schwierigen Zeiten fühle ich mich dann sicher und weiß, was ich in meinem Leben machen will. Mut machen mir vor allem meine Freun-de, die mich immer unterstützen und mir bei Problemen beistehen.“

Melissa Hofer ist 17 Jahre alt und lebt in Spittal/Drau. Unter der Woche wohnt sie im Haus Ausblick der Diakonie de La Tour in Treffen und absolviert dort eine Anlehre in der Malerei. Sie ist eine offene, lustige junge Frau, die keine Probleme dabei hat, sich in einer „Männerdomäne“ durchzusetzen. Melissa ist herzlich und bei KollegInnen und Aus bild nerIn nen sehr beliebt.

Page 5: Hoffnungsträger. Kindern und Jugendlichen Zukunft ermöglichen (Diakonie Themen 02/2014)

Themen 5

PORTRÄTS

KARIM HEIB, LUCIA PLÖCHL„Mut macht mir das soziale Umfeld, meine Freunde“, so Karim Heib. „In Zeiten, wo es einem nicht so gut geht, motivieren sie und machen Mut. Auch die ei-gene Willensstärke macht Mut. Sie macht Ziele er-reichbar, die man für uner-reichbar gehalten hat.“

„Am meisten Mut hat man, wenn man sich in einer Situation sicher fühlt“, meint Lucia Plöchl. „Die Unterstützung des Umfeldes, wenn einem gut zugeredet wird, das macht Mut.“

Karim Heib, 23, und Lucia Plöchl, 20, machen die Ausbil-dung in Fach-Sozialbetreuung/Behindertenbegleitung in der Schule für Sozialbetreuungsberufe des Diakonie-werks in Gallneukirchen. Karim Heib ist gelernter Stahl-bauschlosser, hat das Bundesheer absolviert und war zuletzt als persönlicher Assistent tätig. Lucia Plöchl ist über das Freiwillige Soziale Jahr zur Ausbildung in Behin-dertenbegleitung gekommen.

SIMONE AICHINGER

„Am liebsten reite ich ohne Sattel und Zaumzeug. Das erfor-dert einerseits Mut, aber vor allem auch gegenseitiges Ver-trauen und ein Aufeinander-Eingehen. Nach einem solchen Ausritt fühle ich mich wie beflügelt und das gibt mir Mut. Mut, den ich brauche, wenn Bekannte schlecht oder ein-fach unbedacht über Menschen mit Behinderung spre-chen. Seit ich bei LIFEtool arbeite, erlebe ich, dass ein Le-ben mit Behinderung jeden treffen kann, dass es aber auch wertvolle Hilfen gibt – auch das macht mir Mut!“

Simone Aichinger, 16, ist Lehrling bei LIFEtool Solutions in Linz.

ANNA DOPPELBAUER

„Ich bin immer gut drauf und verliere selten den Mut. Aber manchmal passiert etwas wie letztens: Da wurde unsere Katze überfahren und ich war sehr traurig und mutlos. In der Schule konnte ich meinen Mitschülern und Mitschüle-rinnen davon erzählen und mein Freund hat mich dann ganz fest umarmt. Das hat mir wieder neuen Mut gegeben und es ging mir gleich wieder besser. Aber auch ich bin für andere eine „Mutmacherin“. Viele sagen, dass meine fröh-liche Art und mein sonniges Gemüt ihnen oft Mut machen.“

Anna Doppelbauer, 16, geht in die Johann- Eisterer-Landesschule in Peuerbach.

SOPHIE LINDTNER„Es macht mir Mut, gesell-schaftlich benachteiligte Menschen zu erleben, mit ihnen mitzuleben und sie so gut wie möglich in ihrem ganz individuellen Sein zu unterstützen. Diese neuen Erfahrungen nehme ich dankbar an und ich schätze es wert, wie viel ich dadurch auch über mich selbst er-fahre. Momente der guten Erfahrungen genieße ich und die der schlechten

sehe ich als Lernaufgaben an, um es beim nächsten Mal besser zu machen.“

Sophie Lindtner, 19, absolviert in der Behindertenhilfe des Diakoniewerks ihr Freiwilliges Sozialjahr. Im Haus Emmaus in Engerwitzdorf begleitet sie Menschen mit Behinderung. Zuvor hat sie im Rahmen eines Freiwilligen Sozialjahres in Honduras mit Kindern gearbeitet. Ab Herbst 2015 möchte sie Soziale Arbeit studieren.

Page 6: Hoffnungsträger. Kindern und Jugendlichen Zukunft ermöglichen (Diakonie Themen 02/2014)

6 Themen

SCHWERPUNKT

Wie läuft das Spiel?Menschen. Zukunft. Ermöglichen. Wo wir gestalten können, Anerkennung erfahren und sozialen Ausgleich erleben, dort ist Entwicklung möglich.

VON MARTIN SCHENK

Den ganzen Tag quälen die Sorgen und das Getöse im Kopf: Miete, Heizkosten, Lebensmittel

Wenn in jeder Runde neue Ressourcen

ausgegeben werden, verlieren weniger SpielerInnen den

Anschluss.Nicht wie reich wir

sind, ist entscheidend, sondern wie groß die Unterschiede

zwischen uns sind.Menschen müssen das Gefühl haben, dass ihr Handeln

Einfluss hat.

Page 7: Hoffnungsträger. Kindern und Jugendlichen Zukunft ermöglichen (Diakonie Themen 02/2014)

Themen 7

SCHWERPUNKT

Wenn der erste Spieler sich sofort alle großen Straßen unter den Nagel reißt und die anderen nur

noch abzockt, dann können die das kaum mehr aufholen.“ Marcel-André Merkle entwickelt Brett-spiele. Mit seinen KollegInnen zählt er weltweit zu den innovativsten SpielemacherInnen.

Der Startvorteil der ersten SpielerInnen gehört zu den größten Herausforderungen für Spiele-entwickler. Die Dynamik des Spiels führt oft dazu, dass sich ein Vorsprung über die Spiel-dauer verstärkt und ab einem bestimmten Punkt kaum mehr umkehrbar ist. Es werde als frustrie-rend und ungerecht erlebt, erklärt Merkle, wenn der Verlauf davon abhängt, wer begonnen hat.

Die SpielegestalterInnen haben darauf mit unterschiedlichen Strategien reagiert. Wenn zum Beispiel in jeder Runde neue Ressourcen ausgegeben werden, dann sinke die Gefahr massiv, dass einzelne SpielerInnen den An-schluss verlieren. „Zentral ist das Gefühl von Selbstwirksamkeit. Menschen müssen das Ge-fühl haben, dass ihr Handeln Einfluss auf den Verlauf des Spiels hat.“

Der Spielegestalter testet seine Regeln mit mehreren Gruppen, bevor ein Spiel produziert wird. Dabei beobachtet er, welche Wirkung die Regeln haben und ob sich die SpielerInnen an die Spielanleitung halten. Ein Spiel, das als ge-recht empfunden wird und dessen Regeln aner-kannt werden, verbindet laut Merkle auf ideale Weise Elemente des Zufalls, der Geschicklich-keit und des „sozialen Ausgleichs“. Abgeschla-gene SpielerInnen, die die Regeln als ungerecht empfinden, können sich Brettspiel-MacherInnen einfach nicht leisten. Wo wir gestalten können, Anerkennung erfahren und sozialen Ausgleich erleben, dort ist Entwicklung möglich.

Wie läuft das Spiel zur Zeit? Jetzt brodelt es in Spanien, in Portugal, in Grie-chenland. Vor einiger Zeit brannte es auf Eng-lands Straßen. Das kommt eben nicht aus dem Nichts.

Schauen wir uns drei Indikatoren an, die über Lebensqualität und sozialen Zusammenhalt ei-niges aussagen: 1. die Gewaltrate, 2. die Anzahl der Gefängnisinsassen und 3. das Wohlergehen von Kindern. Verknüpfen wir diese drei Indikato-ren mit der sozialen Ungleichheit, die in unter-schiedlichen Ländern besteht, dann bekommen wir als Ergebnis: Wo die soziale Schere ausein-andergeht, dort herrscht mehr Gewalt, dort sit-zen mehr Menschen im Gefängnis und dort ist

die Lebensqualität der Kinder viel schlechter. Der alljährliche Report der UNICEF misst meh-rere unterschiedliche Aspekte des Wohlerge-hens von Kindern: Einkommenssituation, Ge-sundheitszustand, Bildung, Selbstbestimmung.

Das Ergebnis: Je größer die Unterschiede zwischen Arm und Reich, desto schlechter die Lebensqualität von Kindern. Der Zusammen-hang war in jenem Land am stärksten, in dem die höchste Anzahl der Kinder mit weniger als der Hälfte des durchschnittlichen Einkommens im Land auskommen muss. Nicht wie reich wir insgesamt sind, ist hier entscheidend, sondern wie stark die Unterschiede zwischen uns sind. Nicht gestalten können, keine Anerkennung, kein Ausgleich zeigen ihre negative Wirkung.

Hamsterrad im KopfEs sei wie ein „Hamsterrad im Kopf“, sagt Maria, die mit ihren drei Kindern fast zwei Jahre am so-zialen Limit leben musste. Den ganzen Tag quä-len die Sorgen und das Getöse im Kopf: Miete, Heizkosten, Lebensmittel. Jetzt nur keinen Schulausflug, der was kostet! Und nichts, was kaputt wird! Und ja nicht krank werden! Und bit-te nicht noch ein Problem im Betrieb! „Ich lebte von einem Tag auf den anderen“, erzählt Maria.

„Ich war ziemlich allein mit all den Gedanken, Sorgen und Befürchtungen.“

Eine „reduzierte Bandbreite“ nennen der Har-vard-Ökonom Sendhil Mullainathan und der Psychologe Eldar Shafir von der Princeton Uni-versity dieses Phänomen. Die Bandbreite ist ein Maß für unsere Fähigkeit, Auf-merksamkeit zu zeigen, gute Ent-scheidungen zu treffen, Pläne ein-zuhalten und Ablenkungen zu widerstehen. Knappheit im Leben macht Knappheit im Kopf.

Die Autoren vergleichen die Knappheitsfolgen mit dem Surfen im Internet. Stellen Sie sich vor, Sie haben einen guten Laptop. Nun sind aber im Hintergrund vie-le Programme geöffnet. Es spielt Musik, Files werden heruntergela-den und ein ganzer Haufen von Browser-Fens-tern ist geöffnet. Plötzlich kriechen Sie nur noch im Netz herum. Die Programme im Hintergrund zehren die Prozessorleistung auf.

Knappheit und Armut gebären Sorgen und Stress. Das ist, wie wenn jemand vor einer knappen Projekt-Deadline steht, aber an einem Meeting teilnehmen muss, das damit nichts zu

Brettspiel-Entwickler Marcel-André Merkle: Sozialer Ausgleich ist wichtig – im Spiel wie im Leben

Je größer die Unterschiede zwischen Arm und Reich, desto schlechter die Lebensqualität von Kindern

u

Page 8: Hoffnungsträger. Kindern und Jugendlichen Zukunft ermöglichen (Diakonie Themen 02/2014)

8 Themen

tun hat. Er wird dabeisitzen, versuchen, sich zu konzentrieren, aber er kann sich noch so sehr anstrengen, seine Gedanken wandern zurück zu jener Deadline. Die Deadline zieht ihn in den Bann. Knappheit zwingt unsere Sinne, sich auf sie zu konzentrieren, fesselt unsere Aufmerk-samkeit, erschwert unsere Fähigkeit, uns auf andere Dinge einzulassen.

Das ExperimentDer Psychologe Shafir und der Ökonom Mullai-nathan gingen in ein Einkaufszentrum. Sie leg-ten PassantInnen eine Aufgabe vor: Ihr Auto hat ein Problem. Die Reparatur kostet 300 Dollar. Was tun Sie? Dann mussten die Versuchsperso-nen kognitive Aufgaben lösen.

Die Probanden wurden in solche mit wenig und solche mit ausreichend Einkommen geteilt. Beide hatten kein großes Problem, die Autore-paratur zu zahlen, und erzielten beim Leistungs-test gleich gute Ergebnisse. Aber Shafir und Mullainathan machten einen zweiten Durchgang. Die Aufgabe lautete nun: Die Reparatur kostet 3000 Dollar. Was tun Sie?

Die Personen mit den geringen Einkommen hatten massive Probleme, das zu bezahlen. Beim Leistungstest schnitten sie plötzlich signi-fikant schlechter ab als die Gruppe mit ausrei-chenden Ressourcen. Allein das Denken an Geldsorgen verschlechtert die kognitive Leistung bei der Aufmerksamkeit, beim Planen und bei der Selbstkontrolle. Der Effekt ist so groß wie eine Nacht ohne Schlaf. Geldsorgen beeinträch-tigen die Aufmerksamkeit ebenso wie schwer-wiegender Schlafentzug. Ein ähnliches Ergebnis bei Zuckerrohrbauern und -bäuerInnen in Indi-en: In Zeiten der Armut – vor der Ern te – schnit-

ten sie schlechter ab, als sobald sie das Zuckerrohr eingefahren hatten – nach der Ernte.

Für diesen Effekt sind nicht die persönlichen Fähigkeiten aus-schlaggebend, betonen die Auto-ren. „Hätten wir den Bauern/die Bäuerin nur vor der Ernte, in der Zeit der Knappheit, getestet, hätten wir seine/ihre begrenzte Kapazität als sein/ihr persönli-ches Merkmal fehlinterpretiert.“

Knappheit reduziert auf direkte Weise die Bandbreite. Es sind dafür nicht man-gelnde Fähigkeiten ausschlaggebend, sondern die geringere Bandbreite, um sie einzusetzen. Knappheit reduziert nicht die Fähigkeiten, die jemand hat, aber sie bestimmt, wie viele dieser Fähigkeiten im Moment zur Verfügung stehen.

Wir sehen gerne die kognitive Kapazität als fixe Größe, während sie sich in Wirklichkeit entspre-chend den Umständen ändern kann.

Die beiden Uni-Professoren verbinden in ihrer Forschung Ansätze der kognitiven Psychologie mit wirtschaftswissenschaftlichen Theorien. Im-mer wieder hinterfragen sie scheinbare Gewiss-heiten im ökonomischen Mainstream und An-nahmen zum Verhalten von Menschen.

Zu wenig EinflussDie Erfahrung, dass Armut mit einem „Mangel an Möglichkeiten“ zu tun hat, „die eigenen Fä-higkeiten auch auszuspielen“, erinnert an das Capability-Konzept des Wirtschaftsnobelpreis-trägers Amartya Sen, der von Armutsbetroffenen als „agents“ spricht, als Handelnde, die nicht zu Objekten gemacht werden dürfen. Es geht nach Sen immer auch um die Erhöhung der Hand-lungsspielräume und Verwirklichungschancen. „Prekär“ heißt ja wörtlich nicht nur „unsicher“,

sondern, aus dem Lateinischen übersetzt, „auf Widerruf gewährt“, „auf Bitten erlangt“. Da steckt der geringe Umfang an Kontrolle und Handlungsspielräumen bereits im Begriff.

Auch in der Sozial psychologie und in der Public-Health-Forschung finden sich Parallelen. Lebenssituationen, die hohe Anforderungen stellen und gleichzeitig mit einem niedrigen Kon trollspielraum ausgestattet sind, erzeugen schlechten Stress.

Zukunft statt HoffnungslosigkeitDie niedrige Kontrolle kann in zwei Formen auf-treten: zum einen nicht über die Gestaltung der Aufgaben entscheiden zu können, zum anderen nicht die Möglichkeit zu haben, die eigenen Fä-higkeiten und Fertigkeiten zu nutzen. Dauern diese Ohnmachtserfahrungen an, lernen wir Hilf-losigkeit: Lass mich erleben, dass ich nichts be-wirken kann.

Wenn soziale Ungleichheit wächst, heißt das, dass die Knappheit steigt und die Bandbreite sinkt. Knappheit reduziert nicht die Fähigkeiten, die jemand hat, aber sie bestimmt, wie viele die-ser Fähigkeiten im Moment zur Verfügung ste-hen. Die Fähigkeit, Aufmerksamkeit zu zeigen, gute Entscheidungen zu treffen, unsere Pläne einzuhalten und Ablenkungen zu widerstehen, ist eine Schlüsselressource. Im Hamsterrad aber können wir sie nicht ausspielen.

Die aktuelle Spielaufstellung produziert zu vie-le abgeschlagene SpielerInnen. Wo wir gestal-ten können, Anerkennung erfahren und sozialen Ausgleich erleben, dort wächst Zukunft und sinkt Hoffnungslosigkeit.

SCHWERPUNKT

„Mangel an Möglichkeiten,

die eigenen Fähigkeiten auch

auszuspielen“Amartya Sen

Allein das Denken an Geldsorgen verschlechtert die kognitive Leistungs-fähigkeit

u

Page 9: Hoffnungsträger. Kindern und Jugendlichen Zukunft ermöglichen (Diakonie Themen 02/2014)

Themen 9

WISSEN

Die Gesellschaft ist umso gerechter, je mehr Mitglieder über Capabilities verfügen

g Chancen(un)gleichheitWenn Einkommen oder Vermögen ungleich verteilt sind, spricht man von Verteilungsungleichheit. Unter Chancen-ungleichheit hingegen versteht man, wenn bestimmte Be-völkerungsgruppen wie Frauen oder Zugewanderte inner-halb der Verteilung eines knappen, begehrten Gutes eine bessere oder schlechtere Stellung einnehmen.

g Verwirklichungschancen, CapabilitiesEine Gesellschaft ist umso gerechter, je mehr ihre Mitglie-der über „Verwirklichungschancen“ (Capabilities) verfü-gen. Von der grundsätzlichen Funktion der Freiheit sind ihre instrumentellen Funktionen zu unterscheiden. Letzte-re dienen den Menschen als Mittel, den Grundwert der Freiheit und damit die Verwirklichungschancen sicherzu-stellen. Zu den instrumentellen Freiheiten zählt der Öko-nom und Sozialphilosoph Amartya Sen die folgenden:

• politische Freiheiten (Kritik, Widerspruch, Wahlrecht etc.)

• ökonomische Institutionen (Ressourcen, Bedingun-gen des Tausches, Verteilung)

• soziale Chancen (Bildung, Gesundheit)• Transparenzgarantien (Pressefreiheit, Informations-

pflichten, z. B. gegen Korruption) • soziale Sicherheit (Arbeitslosenversicherung, Sozial-

hilfe, Mindestlöhne)

Weil der Capabilities Approach nicht nur bei der Bewer-tung von Armut, sondern auch bei der Diskussion von sozialer Ungleichheit und Fragen der Gerechtigkeit ver-wendet werden kann, hat Sen zwischen Verwirklichungs-chancen allgemein und Basischancen, als Teilmenge, die das Mindestmaß einer Verwirklichungschance bezeich-nen, unterschieden. So gehören zur grundlegenden Ver-wirklichungschance der Gesundheit die Basischance der Verfügbarkeit eines Arztes oder von sauberem Wasser.

g RessourcenMittel, um eine Handlung zu tätigen oder einen Vorgang ablaufen zu lassen. Eine Ressource kann ein materielles oder immaterielles Gut sein. Meist werden darunter Be-triebsmittel, Geldmittel, Boden, Rohstoffe, Energie oder Personen und (Arbeits-)Zeit verstanden, in der Psycholo-gie auch Fähigkeiten, Charaktereigenschaften oder eine Haltung, in der Soziologie auch Bildung, Gesundheit und Prestige.

g KapitalsortenDie Kapitalsorten ökonomisches Kapital, kulturelles Kapi-tal und soziales Kapital bilden zusammen das Kapital-volumen. Die Kapitalsorten werden in gesellschaftlichen Bereichen eingesetzt, die der Soziologe Pierre Bourdieu soziale Felder nennt. In diesen Feldern findet ein bestän-diger Kampf um den Wert und die Konvertierbarkeit der einzelnen Kapitalsorten statt.

• Sozialkapital. Umfang und Ausprägung hängen dabei von der Größe und Qualität des Beziehungsnetzwer-kes sowie der Verzahnung mit dem ökonomischen und kulturellen Kapital ab. Sozialkapital kann nur auf der Basis von Vertrauen entstehen und sorgt dafür, dass sich Kooperation und gegenseitige Unterstützung ent-wickeln können.

• Kulturelles Kapital. In unterschiedlichen Kulturen ste-hen unterschiedliche kulturelle Güter zur Verfügung, die sich die Einzelpersonen in unterschiedlichem Um-fang angeeignen. Außerdem erhält jedes Individuum durch die Beachtung sozialer Regeln und Normen in diesem Netzwerk eine bestimmte Anerkennung.

• Symbolisches Kapital. Man kann diesen Begriff mit Prestige übersetzen – es ist die Fähigkeit, durch Habi-tus, Lifestyle, Körpersprache, Umgangsformen und Kleidung gesellschaftliche Anerkennung durchzuset-zen und wahrnehmbar zu machen, dass man über ma-terielles, soziales und kulturelles Kapital verfügt

WISSEN

Page 10: Hoffnungsträger. Kindern und Jugendlichen Zukunft ermöglichen (Diakonie Themen 02/2014)

10 Themen

Maria Maiss über Potenziale, Ressourcen, Talente und Möglichkeiten. Mit der Philosophin und Ethikerin sprach Martin Schenk.

Das Bedürfnis zu wachsen

INTERVIEW: MARTIN SCHENK | FOTOS: NADJA MEISTER

INTERVIEW

Page 11: Hoffnungsträger. Kindern und Jugendlichen Zukunft ermöglichen (Diakonie Themen 02/2014)

Themen 11

INTERVIEW

DiakonieThemen: Möglichkeiten, Fähigkeiten, Potenziale: Was steckt hinter diesen Begriffen?Maria Maiss: Zum einen der Ansatz der Funktions-fähigkeiten, im Englischen „capabilities“. Dieser Zu-gang entstand als Kritik an der „Theorie der Gerech-tigkeit“ des Philosophen John Rawls. Er hatte eine Liste jener Güter beschrieben, die es in einer Nation möglichst gerecht an alle zu verteilen gilt. Diese Liste umfasste Freiheit, Chancen, Wohlstand, Vermögen, Einkommen. Die Kritik der Philosophin Martha Nuss-baum und des Ökonomen Amartya Sen war nun, dass sie diese genannten Komponenten als zu dünn klassifizierten. Sie legten eine dichte Liste an Gütern vor, die Grundlage für ein gutes Leben sein sollen.

? Was heißt das?„Capabilities“ kann man mit Funktionsfähigkeiten übersetzen, aber auch mit Ermöglichungsbedingun-gen oder Teilhabebedingungen. Nussbaum geht stär-ker auf die Funktionsfähigkeiten ein, die sie von Aris-toteles herleitet. Was macht ein gutes menschliches Leben aus? Was sind die Möglichkeiten, die entwi-ckelt werden müssen, damit wir unser Mensch-Sein verwirklichen können? Damit wir das, was wir von Natur aus an Potenzialen mitbekommen, durch ent-sprechende Bedingungen so entwickeln können, dass wir dann tatsächlich mit diesen Fähigkeiten so etwas wie ein erfülltes, gutes Leben realisieren kön-nen? Sen war stärker daran interessiert, daraus Indi-katoren zu entwickeln, die ja auch zum Teil bereits in den Human Development Index als Messinstrument eingeflossen sind.

? Man kann es aber auch umdrehen: Wer seine Poten ziale nicht nutzt, ist selbst schuld …Nein. Es gibt Grundeigenschaften, die sich bei uns allen finden. Und dieses Po-tenzial wartet darauf, entwi-ckelt und entfaltet zu werden. Je nachdem, ob und in wel-cher Qualität und Quantität äußere Rahmenbedingungen bildungsbezogener oder ma-terieller Art diese Entfaltung ermöglichen, wird der Mensch seine Fähigkeiten ent-wickeln können. Der Capability Approach arbeitet mit einer Liste von zehn Funktionsfähigkeiten, die bei der Verteilung von Transferleistungen und diversen infra-strukturellen Verbesserungen wie Bildungsunter fan-gen und Gesundheitsförderungsmaßnahmen be-rücksichtigt werden müssen.

? Das muss aber zusammenpassen. Ich kann viele tolle Bildungsabschlüsse machen und dann gibt es keine Jobs. Oder ich darf nicht arbeiten. Oder ich rauche nicht, muss aber in einer feuch­

ten, schimmligen Wohnung leben und leide als Folge davon an Atemwegserkrankungen.Die Liste der Funktionsfähigkeiten ist ein Maßstab, der weltweit Gültigkeit haben soll. Es hängt immer von den realen ökonomischen, politischen und ge-sellschaftlichen Bedingungen ab, wie weit es jedem Individuum (ob jung, alt, gesund, behindert, krank, weiblich, männlich ...) in einer Nation tatsächlich ge-lingt, diese Potenziale zu entfalten. Die nächste Fra-ge: Kann man die entfalteten Fähigkeiten adäquat in die Gesellschaft einbringen? Es geht nicht nur um die individualistischen Ziele, die man verfolgt, sondern immer um die Ermöglichungsbedingungen rundum.

? Die Fähigkeiten müssen zusammenpassen mit den Ermöglichungsbedingungen, also der Möglichkeit, sie auch einzusetzen.Genau. Die Realisierung von Fähigkeiten ist immer rückgebunden an die Teilhabe an sozialer Wohlfahrt.

? Wie sehen Sie Begriffe wie Chancen und Resilienz?Der Begriff der Bedürfnisse gehört da auch dazu. An-triebskräfte nennt sie der Psy-chologe Abraham Maslow. Er beschreibt das als „Vormäch-

tigkeit“. Wenn ein Mensch Hunger hat – wir in Wohl-standsländern verspüren Appetit –, dann spürt er vordringlich diesen Hunger, dies bewegt ihn durch und durch. Die zweite Antriebskraft ist das Bedürfnis nach Sicherheit. Wenn Kinder nie erfahren haben, dass die Befriedigung dieser Grundbedürfnisse mög-lich ist, sondern erleben mussten, dass dieser Man-gel immer wiederkommen kann, dann können sie schwer innerhalb der Antriebs kräfte die Vormächtig-keit verschieben, sind also diesen Kräften ausgelie-fert. Da kommt die Resilienz ins Spiel, die Wider-standsfähigkeit. Nach der Sicherheit käme das

„Es geht nicht nur um die Ziele, die man verfolgt,

sondern immer um die Ermöglichungsbedingungen

rundum“

MAG. DR. MARIA MAISS, Studium der Philosophie, Pädagogik sowie Sonder- und Heilpädagogik an der Universität Wien; Dozentin für Theorien, Geschichte und Ethik der Sozialen Arbeit an den Studien-gängen Soziale Arbeit der FH St. Pölten; wissen-schaftliche Mitarbeiterin des Ilse Arlt Instituts für soziale Inklusions-forschung.

MARTHA C. NUSSBAUM ist Professorin für Recht und Ethik an der University of Chicago. Ihre Arbeitsge-biete umfassen u. a. Antike, Feminismus, Entwicklungs-politik und Theorie der Emotionen.

u

Page 12: Hoffnungsträger. Kindern und Jugendlichen Zukunft ermöglichen (Diakonie Themen 02/2014)

12 Themen

INTERVIEW

Be dürf nis nach Zugehörigkeit, Liebe. Sucht jemand einen Partner aus Gründen der Sicherheit oder ist die Beziehung nicht wegen ökonomischer Sicherheit, sondern unter Freiheitsbedingungen geschlossen, dann gibt das der Liebe jeweils eine andere Qualität. Weiters beschreibt Maslow das Bedürfnis nach Selbstverwirklichung. Für ihn gibt es Mangel- und Wachstumsbedürfnisse.

? Aber ist das wirklich eine Bedürfnispyramide? Daraus haben sich in der sozialen Arbeit alle frag­würdigen Stufenmodelle entwickelt. Auch Straßen­zeitungsverkäufer können Gedichte schreiben.Maslow wendet sich selber gegen den Begriff der Hierarchie. Da wird er missverstanden. Nicht alle Be-dürfnisse können zur Gänze befriedigt werden. Bei Nussbaums Liste des guten Lebens sind die Fähig-keiten eher gleichwertig und systemisch vernetzt zu denken. Auch die österreichische Sozialarbeits-Pio-nierin Ilse Arlt hat ihre 13 Gedeihenserfordnernisse als in komplexer Vernetzung zueinander stehend auf-gezeichnet. Die sind alle wichtig. Von Fall zu Fall muss man Prioritäten setzen in der praktischen Sozi-alarbeit. Manches geht aber verloren, weil die soziale Arbeit so spezialisiert ist. Das macht es unmöglich, dass jemand noch den Gesamtblick auf alle Gedei-henserfordernisse des Menschen im Auge behält.

? Ressourcenansätze sind jetzt in aller Munde.Diese würde ich eher als Orientierungen bezeichnen, weniger als Theorien. Es geht um die individuellen Ressourcen, die ein Mensch aufbaut – da wären wir

wieder bei den Fähigkeiten, die er entwickelt. Und dann um die äußeren Ressourcen, die da sein müs-sen, damit diese Fähigkeiten entfaltet werden kön-nen. Ressourcen werden oft als Worthülse verwen-det. Auch beim Begriff des Empowerment muss man nachfragen: Was ist denn eigentlich gemeint?

? Der Begriff des „Talents“ ist jetzt voll da. Der kommt wohl mehr von der Exzellenzforschung, weniger von Benachteiligungen. Da muss man acht-geben, dass er die Debatte nicht verengt und soziale Ungleichheiten beschönigt. Das Potenzial ist bei den meisten Kindern groß, die Bedingungen des Auf-wachsens und der Förderung aber sind sehr unter-schiedlich. So wie „Talent“ zurzeit diskutiert wird, be-steht auch die Gefahr, dass es ahistorisch und biologistisch verwendet wird. Doch der Umgang mit der eigenen Geschichte ist wichtig. Viele Ressourcen können bei Beschäftigung mit der eigenen Biografie gewonnen werden. Da können wir von der psycho-analytischen Erziehungsberatung lernen, die in den 1920er-Jahren in Wien entwickelt wurde. In Begeg-nung mit der eigenen Geschichte kommen: Was bin ich in diesem Geflecht und was kann ich werden? Da können Möglichkeiten wachsen.

? Prinzip Hoffnung?Hoffnung ist einfach da. Solange wir leben. Immanuel Kant hat Religion als transzendente Hoffnungslogik bezeichnet; als etwas Rationales, das alternierend oder zusätzlich zur immanenten Hoffnungslogik mo-tiviert, sich zu engagieren – und weiterzutun.

„Das Potenzial ist bei den meisten Kindern groß, die

Bedingungen des Aufwach-sens und der Förderung sind aber sehr unterschiedlich“

ILSE ARLT (1876–1960) legte die Grundlagen für die soziale Arbeit als wissenschaftliche Professi-on und schrieb die ersten Lehr bücher dafür. 1912 gründete sie die erste Für sorgerinnenschule Österreich-Ungarns.

Page 13: Hoffnungsträger. Kindern und Jugendlichen Zukunft ermöglichen (Diakonie Themen 02/2014)

Themen 13

F ast jedes zweite Kind im ostafrikanischen Staat Ruan-da leidet an Mangelernährung. „Brot für die Welt“ hilft

armen Familien beim Anlegen von Hausgärten. Dort ernten sie Papaya, Spinat, Paprika und Bohnen – und können sich so gesünder und ausgewogener ernähren.

Das ist wichtig, denn Mangelernährung kann die Ent-wicklung eines Landes schwächen. Fehlen Gemüse, Obst und Milchprodukte auf dem Teller, bleiben Fünfjährige so klein wie Dreijährige, Jugendliche sitzen unkonzentriert in der Schule und verbauen sich die Chance auf eine bessere Zukunft. Erwachsenen fehlt die Kraft für die Feldarbeit. Die Menschen haben nicht genügend Abwehrkräfte gegen In-fektionen und Krankheiten.

Im Jahr 2015 steht bei „Brot für die Welt“, der evangeli-schen Aktion für Entwicklungszusammenarbeit, das Thema Mangelernährung im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit.

PROJEKTE

78 Jugendliche haben sich im vergangenen Jahr en-gagiert, etwas ganz Neues ausprobiert und selbst

davon profitiert: Sie waren als „Junge Freiwillige“ ein Jahr lang in Einrichtungen der Diakonie in ganz Österreich tätig, haben Menschen mit Behinderung betreut, Kinder beim Lernen begleitet und alte Menschen im Alltag unterstützt.

70 Jugendliche sind diesen Herbst in den neuen Jahr-gang gestartet. „Ich bin erst seit einem Monat dabei und wurde von meinen KollegInnen schon gefragt, warum ich denn nur ein Jahr bleiben möchte. Sie sind ziemlich froh, dass ich da bin und sie unterstütze, denn Arbeit gibt’s ge-nug“, erzählt Kathi, die seit September das LehrerInnen-Team und das Team der Schulverwaltung im Evangelischen Gymnasium Donaustadt unterstützt.

D as Kulinarium ist ein Cateringservice für kleine und größere Gelegenheiten. Die MitarbeiterInnen des Ku-

linariums kreieren Buffets für private Feste, Firmenfeiern und Veranstaltungen. Das Besondere: Menschen mit und ohne Behinderung arbeiten gemeinsam – in der Küche, beim Catering und im Service. Das Kulinarium gibt es in Linz, Kitzbühel und Salzburg.

Menschen mit Behinderung haben es am Arbeitsmarkt schwerer, weil sie nicht „mit der Masse mithalten“ können. Sie benötigen etwas mehr Assistenz, Zeit und Zuwendung, damit ihre Talente entdeckt und gefördert werden können. Die Arbeit im Kulinarium zeigt, dass Dienstleistungsprojek-te Integration fördern und das Selbstwertgefühl steigern.

Für die MitarbeiterInnen im Kulinarium ist das ein Schritt aus der sozialen Isolation und eine Weiterentwicklung des Selbstbewusstseins und der Teamfähigkeit.

Mangel in RuandaSchwerpunkt bei „Brot für die Welt“.

Spring ins LebenDer neue Jahrgang ist gestartet.

KulinariumIntegration mit Geschmack.

www.brot­fuer­die­welt.at

www.kulinarium-linz.at • www.kulinarium-kitz.at www.kulinarium­salzburg.at

www.spring­ins­leben.at

Ausgewogene Ernährung als Basis für gesunde Entwicklung

Beim Freiwilligentreffen werden viele gute Erfahrungen ausgetauscht

Menschen mit und ohne Behinderung arbeiten gemeinsam in Küche und Service

Page 14: Hoffnungsträger. Kindern und Jugendlichen Zukunft ermöglichen (Diakonie Themen 02/2014)

14 Themen

WORDRAP

HILDE DALIK pendelt in ihren Arbeiten

zwischen Theater und Film. Seit 2006 ist sie Ensemble-mitglied im Theater in der

Josefstadt. Ihre Ausbildung machte die Schauspielerin

am Konservatorium der Stadt Wien. Die 1978

geborene Wienerin war im Fernsehen sowohl in

Paulus Mankers „Alma“-Produktionen zu sehen

als auch in Komödien wie „Die Lottosieger“, „Contact

High“ und im Kino in „Die Werkstürmer“. Außerdem gab Hilde Dalik Gastrollen

in fast allen aktuellen Krimiserien in Österreich. Das erste Mal Regie führt sie bei „Romeo und Julia

– freestyle“ im Theater Dschungel Wien.

JUGEND? Umbruchsphase.

JUGENDLICHE?Viele Themen, mit denen sie sich auseinander-

setzen. Bewundernswert sind die Jugendlichen, die Krieg, Gewalt und Flucht erfahren haben

und dabei große menschliche Qualitäten mitbringen.

CHANCEN?Gleichheit anstreben. Trotz schwieriger

Umstände glücklich sein.

ZUKUNFT?Weitermachen, weitergehen. Mutig und lustvoll.

DIAKONIE?Erste Begegnung durchs Laura Gatner Haus,

wo die jugendlichen Flüchtlinge leben. Seither Bewunderung für die Arbeit.

VISION?Gut, wenn man eine hat.

LUXUS?Für mich gerade: Zeit.

TYPISCH ÖSTERREICH?Schnitzel, Palatschinken, Kebab.

ENTBEHRLICH?Dogma, Starre, Fantasielosigkeit, Empathie losigkeit.

ERSTREBENSWERT?Ein respektvolles, wertschätzendes und neugieriges Miteinander.

TRADITION?Schön, wenn sich jemand darum kümmert. Ich bin daran interessiert, aus Tradition Neues zu schöpfen.

MOTTO?Geben ist das ultimative Ziel. In welcher Form auch immer. In der Kunst wie im Leben.

MIT HILDE DALIK, SCHAUSPIELERIN

DWP

ORA

R

Neugieriges Miteinander

Page 15: Hoffnungsträger. Kindern und Jugendlichen Zukunft ermöglichen (Diakonie Themen 02/2014)

Themen 15

Chadischat „Hadi“ (18) besucht die Handelsschule in Wien. Sie ist mit acht Jahren mit ihren Eltern nach Österreich ge-kommen. Im Gespräch erzählt sie, wie sie das Theaterspie-len erlebt: „Das Stück ,Romeo und Julia‘, da war ich am An-fang zögerlich. Ich dachte, der Text ist von Shakespeare. Der wird sehr schwer zu lernen sein. Ich war unsicher. Aber am Ende war das wirklich super. Das Theaterspielen ist so cool und Hilde ist mein großes Vorbild. Das Ganze hat so großen Spaß gemacht, zum Beispiel mit meinem ,Bruder‘ hier ... (lacht und nimmt Zarif Hoseini an den Händen) ...

Auch in der Schule bin ich viel beachtet worden. Manche LehrerInnen waren sogar im Theater und haben unser Stück

gesehen. Sie freuen sich, dass ihre Schülerinnen Thea ter machen, das taugt ihnen richtig. Und das hilft mir, dass ich zu meinen LehrerInnen auch eine gute Beziehung aufbaue. Meine Schul kollegInnen haben Karten für die Aufführungen im Ok-tober reserviert. Die beiden Vorstellungen sind jetzt schon fast ausverkauft. Wir überlegen Zusatzvorstellungen. Später werde ich versuchen, auf dem Konservatorium Theater zu studieren. So wie Hilde.“

Hilde Dalik (siehe auch linke Seite) macht seit rund einem Jahr mit jungen AsylwerberInnen in einem Wohnhaus des Diakonie Flüchtlingsdienstes Theaterworkshops. Daraus ist die Idee entstanden, gemeinsam mit den jungen AsylwerberInnen ein Stück auf die Bühne zu bringen. Im vergange-nen September war es so weit: Das Theater Dschungel Wien war Ort des Auftritts. Und der Applaus des Publikums war tosend und begeistert.

Diakonie Themen hat mit den jungen KünstlerInnen gesprochen und bringt Ausschnitte aus dem Stück.

Paris (dargestellt von Sharif) stellt sich im Stück bei Julia vor: „Salam Julia! Ich bin Paris. Das weißt du ja schon.“ ,Ich bin Paris‘ heißt auf dari: ,Ma hastom Paris‘. Auf Pashtu heißt es:

,Zeh Paris yam.‘ Paschtu, Dari, Pashai, Torkman sind alles afghanische Sprachen. Meine Muttersprache ist Pashei.

Später einmal will ich ein Wörterbuch für meine Mutter-sprache schreiben. Es gibt nämlich kein Wörterbuch auf Pashai. Niemand kann Pashai schreiben. Dort geht niemand zur Schule. Alle kämpfen. Ich war nicht in der Schule als Kind. Ich habe Kartoffeln verkauft. Warum bin ich weg aus Afghanistan? Gute Frage. Warum ist mein Vater tot? Warum ist mein älterer Bruder tot? Warum hat mein anderer Bruder eine Prothese? Warum sag ich, mein Herz ist tot?“

Sharif und Chadischat bei den Proben

Hadi – eine der drei Darstellerinnen der Julia – bei den Proben

Hilde DalikWorkshop mit AsylwerberInnen

Chadischat

„Theater spielen ist cool“

DIAKONIE WÖRTLICH

Romeo und Julia – freestyle

Sharif

„Niemand geht zur Schule“

„Romeo und Julia – freestyle“ erzählt von den alltäglichen Schwierigkeiten Jugendlicher und junger Erwachsener, die auf ihrer Flucht ganz allein in Österreich gelandet sind.

Hilde Dalik mit den DarstellerInnen bei den Proben

Page 16: Hoffnungsträger. Kindern und Jugendlichen Zukunft ermöglichen (Diakonie Themen 02/2014)

16 Themen

MYTHEN & MÄRCHEN

Wie stark hierzulande der Lerner-folg von Kindern am sozialen Sta-tus der Eltern hängt, zeigt die

Organisation für wirtschaftliche Zusammenar-beit (OECD) erneut auf: Kinder von Eltern mit hoher Bildung und damit hohem Einkommen, hoher beruflicher Position bringen um 90 Punk-te bessere Leistung als Kinder aus Elternhäu-sern mit weniger Bildung und Einkommen. In

anderen Ländern beträgt dieser Abstand weni-ger als 40 Punkte.

Feinauswertungen fördern noch verstörende-re Daten zutage. Nicht die Leistung zählt. Nicht die Kompetenzen werden honoriert. Noten wer-den nach Herkunft vergeben. SchülerInnen aus Haushalten mit geringer Bildung erhalten bei glei cher Leistung schlechtere Noten. Bei gleicher Lesekompetenz fassen sie deutlich schlech te re Noten aus. Umgekehrt bekommen SchülerIn-nen aus universitärem Elternhaus bei gleichen Kompetenzen die besseren Beurteilungen.

Beim Übertritt von der Volksschule ins Gym-nasium spielt sich dasselbe ab. Kinder mit Eltern,

die maximal Pflichtschulabschluss aufweisen, treten bei gleichen Noten seltener in die AHS über als Kinder von Uni- oder Matura-Eltern. Bei gleicher Lesekompetenz wechseln laut OECD 67 Prozent der SchülerInnen mit Akademiker-Eltern in die AHS, vierzig Prozent mit Matura-Eltern, aber nur 22 Prozent der SchülerInnen aus Haus-halten mit Pflichtschulabschluss.„Nicht jeder hat die gleiche Chance, in absolute

Spitzenpositionen aufzusteigen“, erläutert der Soziologe Michael Hartmann. Selbst mit einem Hochschulabschluss nicht. Eine Studie, bei der Biografien von 6500 DoktorInnen über Jahrzehn-te untersucht wurden, hat gezeigt, dass Spitzen-positionen überrepräsentativ mit Kindern aus dem Bürgertum bzw. Großbürgertum besetzt werden. Vor allem in der Wirtschaft werden 80 Prozent an diesen Kreis vergeben, der in der Be-völkerung drei bis vier Prozent ausmacht. Ent-scheidend ist der richtige Stallgeruch. Es zählt die Ähnlichkeit.

Wir schätzen andere sozial ein: Wie reden sie, wie sind sie angezogen, was lesen sie, welche Fernsehsendungen sehen sie, was essen sie, welche Musik hören sie, welches Auto fahren sie? „Bildung hört man mehr, als man sie sieht. Den materiellen Besitzstand sieht man dagegen eher, als dass man ihn hört“, bringt es der Sozi-alwissenschafter August Gächter auf den Punkt. Bei Bewerbungsgesprächen regiert die „gehörte Bildung“ mit Namen und Akzent, dann erst die wirkliche Qualifikation. Versuche mit unterschied-lichen Absendernamen bei Bewerbungsbriefen ha ben die Kriterien für Einladung oder Desinter-esse gezeigt: Michael ja, Mustafa nein.

Generell kann man sagen, dass in den meisten Ländern die Wirtschafts- und die Justizelite in ihrer großen Mehrheit aus bürgerlichen oder großbürgerlichen Familien stammen. Die politi-sche Elite ist in Frankreich, Spanien, Portugal oder mittlerweile auch in Deutschland so zusam-mengesetzt wie die wirtschaftliche Elite, das ist ein Anteil von mindestens drei Vierteln an BürgerIn nen- und GroßbürgerInnenkindern.

Mythos: „Jede/r schafft es, wenn er/sie nur will“

Der soziale Status der Eltern bedingt den Lernerfolg der Kinder. Das gilt in Österreich noch mehr als anderswo.

VON MARTIN SCHENK

STIMMT´S?

MYTHEN & MÄRCHEN

Noten werden oft nicht nach Leistung, sondern nach Herkunft vergeben

Page 17: Hoffnungsträger. Kindern und Jugendlichen Zukunft ermöglichen (Diakonie Themen 02/2014)

Themen 17

INHALT

Die ersten drei Schulwochen im Schuljahr 2014/15 an der Polytechnischen Schule Karlsplatz in Wien.

Die 23 SchülerInnen der „Polytechni-schen Schule“ und ihre LehrerInnen lernen einander kennen. Man spricht

über Wünsche, Träume, Erfahrungen, Ziele. In Kleinteams werden Punkte des Klassenvertra-ges (Konfliktlösungsstrategien, aktives Zuhören, Umgangsformen, Sozialkompetenzen, Wert-schätzung, Pflichten und Rechte der SchülerIn-nen ...) erarbeitet und zu Papier gebracht.

Man stellt die Ergebnisse vor, diskutiert, stellt Fragen, fasst zusammen. Schließlich soll ja der Klassenvertrag von allen SchülerInnen und Leh-rerInnen ohne Einwände unterzeich net werden.

Die NachrichtenDer Unterricht beginnt mit dem gemeinsamen Anhören der Acht-Uhr-Nachrichten. Ukraine? Wo liegt das? Was passiert dort? Schottland will selbstständig werden? Warum? Und Spanien ist davon gar nicht begeistert? 250 Flüchtlinge sind angeblich im Mittelmeer ertrunken? Wie konnte das passieren? Wer oder was wird in Vorarlberg gewählt? Österreich hat einen neuen Finanzmi-nister? Was ist mit Staatshaushalt gemeint?

Die Jugendlichen recherchieren Geschichtli-ches und Aktuelles und finden Antworten in den Büchern der Schulbibliothek, im Internet mit Hil-fe ihrer Handys und der schuleigenen Laptops.

Ein Kinobesuch wird vorbereitet. Was, gleich nach den Sommerferien gehen wir schon ins Kino? Zweieinhalb Stunden im De France. Ein Kinosaal allein für uns. Die Besonderheit an dem Film „Boyhood“ ist, dass die SchauspielerInnen

im Verlauf des Filmprojekts (12 Jahre!) wachsen und altern. Wieder im Klassenraum ein anschlie-ßendes Filmgespräch. Trotz englischer Original-fassung mit deutschen Unter titeln war der Strei-fen echt cool. Hätten wir uns nie gedacht!

Im TheaterIns Theater gehen wir auch – „Romeo und Julia

– freestyle“. Jugendliche mit Fluchterfahrung aus Einrichtungen des Diakonie Flüchtlingsdienstes stehen gemeinsam mit professionellen Schau-spielerInnen auf der Bühne und interpretieren William Shakespeares Drama neu. Im Anschluss dürfen wir die KünstlerInnen interviewen. Passt wunderbar zu unserem Projekt „Langer Tag der Flucht“. Übrigens – Diakonie, ist das nicht unser Schulerhalter? Und ab geht’s in die unend lichen Weiten des Internets, zur Recherche ...

Im TheaterTja – und dann passiert es: Ein Schüler kommt gegen Ende der dritten Schulwoche in einer Pause zu mir und meint: „Herr Jäger, es ist echt toll hier im Poly, aber wann beginnen wir eigent-lich mit dem Lernen?“

Ich muss ein ziemlich verdutztes Gesicht ge-macht haben, denn er beginnt sofort zu erläu-tern: „Wir haben noch kein einziges Schulbuch verwendet, wir haben nur die Hefte und Mappen beschriftet, ganz wenig hineingeschrieben und wissen nur die Schularbeitstermine.“

Franz Jäger ist seit 1985 an der Evangelischen Schule Karlsplatz in Wien als Lehrer tätig. Er unter-richtet als Klassenvorstand an der neu gegründeten Polytechnischen Schule Deutsch, Politische Bildung, Berufsorientierung und Bewerbungstraining, leitet die Schultheatergruppe und ist SchülerInnenberater.

FACHKOMMENTAR

Evangelische Schule am Karlsplatz, Wien

Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht

epts.schule­karlsplatz.at

Page 18: Hoffnungsträger. Kindern und Jugendlichen Zukunft ermöglichen (Diakonie Themen 02/2014)

18 Themen18 Themen

ZAHLEN

Taschengeld In Österreich bekommen Jugendliche ...

Junge Menschen begeistern sich für verschiedene Musikstile:

Täglicher Zigarettenkonsum bei Jugend-lichen zwischen 15 und 19 Jahren

ab 15 Jahren 30 € Taschengeld pro Woche

zwischen 10 und 15 Jahren 9 € Taschengeld pro Woche

zwischen 5 und 10 Jahren 3 € Taschengeld pro Woche

unter 5 Jahren 1,5 € Taschengeld pro Woche

3.100.000 BesucherInnen beim Donauinselfest 2014200.000 BesucherInnen beim FM4 Frequency 2014150.000 BesucherInnen beim NovaRock 201475.000 BesucherInnen beim Urban Art Forms 201320.000 BesucherInnen beim Woodstock für Blasmusik 2014

Die Welt in Zahlen

Kinobesuch der 16- bis 19-Jährigen

Frühzeitiger Schul- oder Ausbildungsabbruch

in Österreich gehen 12,2 % nie ins Kino

54,7 % in Bulgarien

42,3 % in Lettland

18,4 % in Polen

15,5 % in den EU-27

1,4 % in Island

7,3 % der 18- bis 24-Jährigen in Österreich

23,6 % in Spanien

12 % in den EU-27

11 % in Belgien

6,3 % in Litauen

Theaterbesuch der 16- bis 19-Jährigen

in Österreich gehen 44,4 % nie ins Theater

66,2 % in Malta

50,5 % in Italien

42,7 % in den EU-27

33,4 % in Ungarn

13,8 % in Island

23,6 %18,4 %

10,8 %

5,7 %

Österreich

Griechenland

Spanien

Rumänien

Quellen: www.ing-diba.at, Eurostat, Diakonie intern

Page 19: Hoffnungsträger. Kindern und Jugendlichen Zukunft ermöglichen (Diakonie Themen 02/2014)

Themen 19

BÜCHER | EUROPA

Dorfgeschichten aus der Großstadt: Zur Geschichte und Sozialarbeit und Sozialarbeitsforschung Band 7Rosa Dworschak; Löcker, 2014g In dieser außergewöhnlichen Sozial-reportage berichtet Rosa Dworschak aus dem Leben der Familien des sogenannten

„Negerdörfls“, einer Wiener Armensiedlung, in dem sie von 1928 bis 1938 als Sozialarbeiterin tätig war. Die Erzählungen Dworschaks sind getragen von dem, was ihrem Verständnis nach für psychoanalytische Sozialarbeit grundlegend ist: dem lebendigen Interesse für die an deren, der Fähigkeit, zu verstehen, auf andere und deren Lebens-auffassung einzugehen und sie nicht zu verurteilen.

Für sich und andere sorgen – Krise und Zukunft von Care in der modernen GesellschaftBrigitte Aulenbacher, Maria Dammayr; Beltz Juventa, 2014g Das Buch befasst sich mit Selbst- und

Für sorge, mit Care, Demokratie und Ökonomie, Ethik und Ökonomie, Gerechtigkeit im Wohlfahrtsstaat, Migration und Haushaltsarbeit, privater und pro fessioneller Sorge-arbeit, Arbeitsbedingungen im Care-Sektor.

Handbuch ResilienzförderungMargherita Zander; VS Verlag für Sozial wissenschaften, 2011 g Wo Resilienzförderung manchmal wie das neue Zauberwort betrachtet wird, versucht dieses Handbuch erste Orientie-

rungspunkte zu geben. Es reflektiert die grundsätzlichen Chancen und Grenzen des Konzepts, fragt aber auch nach dem gesellschaftlichen Kontext, in welchem dieser Ansatz wirken soll. Wem kann überhaupt geholfen werden? Welche sozialen Schieflagen bleiben bestehen? Was bedeutet es, Kinder und Jugendliche zu „stärken“ in einer Gesellschaft, die längst nur auf die „Starken“ setzt?

Der Capability Approach und seine Anwendung: Fähigkeiten von Kindern und Jugendlichen erkennen und fördernGunter Graf, Elisabeth Kapferer, Clemens Sedmak; Springer VS, 2013g Auf welche relevanten Fragestellungen

lässt sich der von Amartya Sen und Martha Nussbaum formulierte „Capability Approach“ anwenden? Eignet er sich als Grundlage für Studien und Projekte, die sich mit der Konzeptualisierung und Minderung von Kinderarmut beschäftigen? Die Autorin und die Autoren gehen diesen Fragen aus unterschiedlichen fachlichen Perspektiven nach und zeigen das Potenzial des Ansatzes auf.

Buchempfehlung Best of EUrope

„Das hat mich wertvoll gemacht, als Mensch, in meinen ei-genen Augen.“ So beschreibt Sami sein Glücksgefühl, nachdem er einen Job gefunden hat. Die Stelle hat er auf-grund seiner Qualifikationen bekommen und nicht weil Lohnzuschüsse oder Eingliederungsprogramme dazu ver-holfen waren. Er arbeitet als Akustiker in einem Tonstudio.

Hilfe für Jugendliche in HelsinkiSami hat eine schwierige Vorgeschichte – wie die meisten Jugendlichen, die zu VAMOS kommen. Das finnische Pro-jekt, das derzeit in den Städten Helsinki und Espoo seitens des Helsinki Deaconess Institutes angeboten wird, hat im letzten Jahr 1.300 Jugendliche, die vorzeitig die Schule oder Ausbildung verlassen haben, betreut. Der Ansatz ist dabei vollkommen neu. Erstens sind an nur einem Stand-ort unterschiedliche Betreuungspersonen verfügbar – Sozial arbeiterInnen, PsychologInnen, Job-Coaches etc. Zweitens wird versucht, durch eine Bezugsperson Vertrau-en aufzubauen und Wertschätzung sowie Interesse für die Jugendlichen zu vermitteln. Und drittens ist es die tägliche Routine, die es jugendlichen SchulabbrecherInnen ermög-licht, wieder im alltäglichen Leben Fuß zu fassen.

Teilhabe ermöglichenSo kann steigender Jugendarbeitslosigkeit, Vereinsamung und Vereinzelung von jungen Menschen, die auch in Finn-land um sich greift, entgegengetreten werden. Ziel für die Jugendlichen ist es, wieder aktiv an der Gemeinschaft bzw. einer Ausbildung oder einem Beruf teilzuhaben. Die vielen positiven Effekte hat nun auch die Europäische Union er-kannt und fördert das Projekt – nicht zuletzt um eine bun-desweite Umsetzung in ganz Finnland zu erreichen.

Der umfassende Ansatz von VAMOS ist es auch, der den Erfolg garantiert. Sami drückt es so aus: „VAMOS ist ein-zigartig. Es ist anders. Es ist keine Therapie und möchte auch keine sein. VAMOS ist VAMOS – ein verlockendes Projekt, das überraschend gut funktioniert.“

VAMOS – Los geht’s!

www.diakonie.de (Stichwort „vamos“)

Betreuung für Schulabbrecher

Page 20: Hoffnungsträger. Kindern und Jugendlichen Zukunft ermöglichen (Diakonie Themen 02/2014)

20 Themen

DIAKONIE HAUTNAH

Die 14-jährige Florentina wohnt seit zwei Monaten in der Krisenstelle des Diakonie Zentrums Spattstraße in Linz.

Auslöser war ein Riesenstreit zu Hause. Das war nur der Punkt auf dem i. Denn ihr ganzes Leben ist turbulent: Florentina kennt ihren Vater nicht. Er hat die Familie nach der Geburt verlassen.

Für Florentinas Mutter war es schwer, über die Runden zu kommen. Sie bekam Panikatta-cken. Immer wieder hat sie kurze Zeit in Lebens-gemeinschaften gelebt. Keine Beziehung hielt länger als zwei Jahre. Mit ihrem jetzigen Partner lebt sie nun schon vier Jahre zusammen, und seit drei Jahren hat Florentina einen Stiefbruder. Seitdem fühlt sich Florentina daheim als Außen-seiterin. Die Geldsorgen sind geblieben.

Wenn Florentina hört, wie ihre Mutter und ihr Stiefvater laut streiten, läuft sie davon. Sieben Wochen lang ging sie nicht zur Schule. In letzter Zeit kam sie oft nächtelang nicht nach Hause. Dann war sie häufig am Bahnhof zu finden.

Wut und Tränen„Im Wàki drücken die Jugendlichen ihre Gefühle über das bisher Erlebte in ganzer Bandbreite aus: Angst, Streit, Wut und Tränen sind zu erle-ben, und die Verzweiflung reicht bis zu Suizid-drohungen. Es gibt aber auch tiefes Mitgefühl, Freudenschreie und herzerfrischendes Geläch-ter. Die Jugendlichen bringen psychische Krank-heiten ebenso mit wie das Potenzial für wunder-

same Entwicklungen trotz widrigster Umstände“, beschreibt Sonder- und Heilpädagogin Christi-ne Khek den Zustand der Jugendlichen. Khek ist eine der MitarbeiterInnen im Wàki, das Platz für sechs Mädchen und Burschen ab 12 Jahren bietet. Die Jugendlichen werden täglich rund um die Uhr und bis zu vier Monate lang betreut. Im BetreuerInnenteam gibt es Fachpersonen in den Bereichen Sozialarbeit, Sozialpädagogik, Sonder- und Heilpädagogik sowie Psychologie.

Klare RegelnHäufig suchen Familien erst Unterstützung, wenn sie nicht mehr ein noch aus wissen. Auch Florentinas Mutter hat völlig hilflos mit dem Wàki Kontakt aufgenommen. Florentina war auch im Wàki zuerst nächtelang abgängig. Sie hielt sich nicht an Vereinbarungen und kam alk o-holisiert von ihren Touren durch die Stadt zurück.

Erst allmählich wirkten sich die klaren Regeln, die Stabilität sowie die empathische Haltung der PädagogInnen beruhigend auf Florentina aus. Die Familiengespräche waren zusätzlich entlas-tend und klärend für die Familienmitglieder. Nach fast vier Monaten im Wàki konnte Florenti-na wieder nach Hause zurückkehren.

Zurück nach HauseSechs von zehn Jugendlichen können nach der Zeit im Wàki wieder in ihre Familie zurückkehren. Für alle anderen werden von der Kinder- und Ju-gendhilfe passende Wohn- und Betreuungs-möglichkeiten gesucht. „Am schwierigsten ist die Situation für die stei-

gen de Zahl von Jugendlichen, die bereits psy-chiatrisch behandelt wurden“, schildert Einrich-tungsleiterin Erika Breuer. „In Familien hingegen, in denen Eltern überfordert sind und Jugendli-che kaum Grenzen kennen, bringt die Krisenbe-treuung oft Entspannung und die Jugendlichen können wieder nach Hause zurück.“

Das Wàki bietet Platz für sechs Jugendliche ab 12 Jahren

Das Wàki-Team: Hannes Atteneder, Erika Breuer,

Thomas Ehling, Christine Khek und Stefan Scharinger,

Praktikant (v. l.)

Seit 20 Jahren ist das Wàki ein Zufluchtsort für Jugendliche in Krisensituationen. Häufig kann die Lage durch

die Krisenbetreuung entspannt werden.

Kommen und Gehen im Wàki

VON HANNELORE KLEISS

www.spattstrasse.at

Page 21: Hoffnungsträger. Kindern und Jugendlichen Zukunft ermöglichen (Diakonie Themen 02/2014)

Themen 21

Hoffnungsträger DiakonieHerzlich willkommen!

Jetzt online!

Neue Website und Blog der Diakoniewww.diakonie.at

KURZ GEMELDET

Das Diakoniewerk unterstützt seit 2002 den Kindergarten „Sunčani most“ („Sonnenscheinbrücke“) in Bosnien-Herzego-wina und fördert, dass Kinder vorurteilsfrei miteinander spie-len und voneinander lernen. Mehr als 400 Kinder aller ethni-schen Gruppen unter schiedlicher sozialer Herkunft mit und ohne Behinderung wurden seit der Gründung bereits betreut. Engagierte bosnische, kroatische und serbische Kindergärt-nerinnen bemühen sich, Vorurteile gegenüber Kindern mit Behinderung und kulturelle, religiöse und sprachliche Unter-schiede zu überwinden.

Dieses Engagement wurde im September mit dem Haupt-preis des „Intercultural Achievement Award“ ausgezeichnet. Der Preis geht an internationale Projekte und NGOs, die den interkulturellen Dialog fördern. Aus mehr als 70 internationa-len Einreichungen ist der integrative, multiethnische Kinder-

garten als Sieger hervorgegangen. Den 2. und 3. Platz beleg-ten Projekte aus China bzw. Kenia.

Voneinander lernenInterkultureller Preis für Kindergarten in Mostar.

www.diakonie.athttp://blog.diakonie.at

www.diakoniewerk.at/de/kindergarten­suncani­most­mostar/

Die neuen Webseiten der Diakonie Österreich sowie des Diakonie Flüchtlingsdienstes, der Diakonie Bildung und der Diakonie Katastrophenhilfe gehen in den nächsten Ta-gen online. Auf www.diakonie.at sind alle Kontakte der Dia konie-Einrichtungen in Österreich zu finden.

In einem Blog, der unter http://blog.diakonie.at zu finden ist, bekommen die UserInnen Einblicke in die Welten der MitarbeiterInnen und KlientInnen der Diakonie. Außerdem werden hier sozialpolitische Stellungnahmen der Diakonie zu aktuellen Themen zu lesen sein. Auf diakonie.at blog-gen MitarbeiterInnen der Diakonie, aber auch ehrenamtli-che MitarbeiterInnen und „Junge Freiwillige“ sind eingela-den, über ihre Erfahrungen zu berichten.

Neu: Website & Blog www.diakonie.at

Seit 20 Jahren engagieren sich Diakonie-Direktor Michael Chalupka und Diakonie-Präsident Roland Siegrist für die Diakonie Österreich. Die Feier zum runden Amtsjubiläum stellten der Direktor und der Präsident unter den Titel

„Hoffnungsträger“. Die beiden Jubilare betonten, auch in Zukunft ein schlagfertiges Duo im Kampf gegen Armut, so-ziale Ungerechtigkeiten und für den Schutz von Minderhei-ten bilden zu wollen. „Mut machen heißt auch Mut haben“, betont Roland

Siegrist, „und Mut gehört dazu, wenn man sich der Aufga-be verschrieben hat, Österreich sozialer zu machen.“

Michael Chalupka meint, dass es in den vergangenen 20 Jahren gelungen sei, in Österreich mehr gesellschaftli-ches und politisches Bewusstsein für die soziale Frage zu schaffen. So werde dem Problem der Armut mehr Aufmerk-samkeit zuteil. Hier habe die Arbeit der Diakonie, gemein-sam mit vielen Partnern, Positives bewirkt.

SchlagfertigDer Kampf gegen soziale Ungerechtigkeiten.

Im Kindergarten werden Kinder aller ethnischen Gruppen unter-schiedlicher sozialer Herkunft mit und ohne Behinderung betreut

Michael Chalupka, Roland Siegrist (v. l.)

Page 22: Hoffnungsträger. Kindern und Jugendlichen Zukunft ermöglichen (Diakonie Themen 02/2014)

22 Themen

AUF DEN PUNKT GEBRACHT

Eine Sozialpädagogin meines Teams kam unlängst auf mich zu und erzählte, es gebe da in ihrem Freundeskreis eine

schreckliche Geschichte; einen viereinhalbjähri-gen Buben, dessen Vater sich vor zwei Tagen erhängt habe. Alle seien völlig schockiert, vor allem sei die Mutter total durch den Wind und wisse gar nicht, wie sie mit ihrem Sohn reden solle und was sie ihm zumuten dürfe.

In so einem Moment ist es von Vorteil, wenn man ein bisschen ein Kopfmensch ist, also ge-lernt hat, zu rationalisieren, sonst würde man wahrscheinlich augenblicklich davonlaufen. Ich rationalisierte also und sagte, sie sollten mög-lichst nicht warten, sondern sofort herkommen.

Ich sprach zuerst mit der Mutter und hörte von lang andauernden schweren Depressionen des Mannes, einer psychiatrischen Hospitalisie-rung, von mit Mühe aufrechterhaltener Arbeits-fähigkeit und von der guten Beziehung zum Bu-ben. Ich hörte von ihrer Verzweiflung über seine Verzweiflung, davon, wie sie sich ursprünglich kennengelernt hatten, und von dem Halt, den sie in ihrer Religionsgemeinschaft erfahren durf-te. Dann holten wir den Buben herein.

Die beiden saßen auf der Couch, Moritz und seine Mutter, nebeneinander und unverschränkt. Der Bub sprach mit mir darüber, was er mit sei-nem Vater am liebsten gemacht hatte, in den Wald gehen, mit Schwimmflügeln schwimmen

und fernsehen, davon, dass sein Vater einmal im Spital gewesen, und davon, dass er jetzt tot war. Ich versuchte, mit dem Buben darüber zu reden, dass auch die Seele krank werden könne, aber das war für ihn schwer zu verstehen.

Ich versuchte nicht, ihm die Geschichte aus-zureden, die er von seiner Mutter gehört hatte: Sein Vater sei in den Wald gegangen, und dort sei er einfach gestorben. Der Wald war ein guter Ort. Wir sprachen über den Himmel, über das Begräbnis und darüber, was er dem Vater ins Grab mitgeben könne. Die Mutter weinte. Moritz weinte nicht. Er schaute zuerst auf die Mutter, dann zu mir und sagte: „Weißt du, ich habe einen Glitzerzauberstab zu Hause, den habe ich pro-biert, aber der hat auch nicht funktioniert.“

Die beiden gingen, und ich hatte das Gefühl, die Sache werde gut verlaufen, ohne Verleug-nung und mit der Verletzung, die der Verlust ei-nes Elternteiles für ein Kind immer bedeutet, aber nicht mit mehr.

Magische MomenteAm Abend zu Hause hatte ich plötzlich das Be-dürfnis, die Geschichte meiner Frau zu erzählen. Ich tue das sonst selten, ob aus gut integrierter Professionalität oder aus dem Bedürfnis, meine Privatheit zu schützen, ist egal. Ich erzählte je-denfalls, und nach wenigen Sätzen begann ich zu ahnen, was der englische Psychoanalytiker

PAULUS HOCHGATTERER ist Schriftsteller und

Kinderpsychiater

VON PAULUS HOCHGATTERER

Moritz und der Glitzerzauberstab

Page 23: Hoffnungsträger. Kindern und Jugendlichen Zukunft ermöglichen (Diakonie Themen 02/2014)

Themen 23

Wilfred Bion mit seinem Modell des therapeuti-schen Containers, jenes Behältnisses, in das die im Augenblick unbewältigbaren Dinge zur weite-ren gemeinsamen Verdauung getan werden, ge-meint hatte. Mein Container ging über. Am Ende saß ich da und heulte, und meine Frau saß mir gegenüber und heulte mit.

Zugleich wurde mir klar, dass der Augenblick, in dem der Bub den Satz vom Glitzerzauberstab gesagt hatte, einer dieser magischen Momente gewesen war, der seine Fortsetzung und Vervoll-ständigung in der Situation fand, in der meine Frau und ich dasaßen, in uns ein Stück der Un-endlichkeit seiner Trauer: Man erkennt ganz zentrale Dinge, ohne sie mühsam reflektiert oder ewig besprochen zu haben, weil sie sich konstel-lieren wie ein Kristall.

Es geht im Leben um die Identifikation mit dem schwachen Vater, das war es, worüber wir weinten, darum, dass man ihm nah sein darf, auch wenn er krank ist, und dass es wohl die allergrößte Schwäche ist, wenn er tot ist.

Moritz hat zentrale Dinge zur Verfügung, die es ihm ermöglichen, den großen Verlust zu ertra-gen: Er hat eine Gemeinschaft um sich, die sich sorgt. Er hat das Bild eines Vaters in sich, mit dem es schön war, im Wald, im Schwimmbad und vor dem Fernseher. Vor allem aber hat er eine Mutter, die ihn liebt und das Erleben der Er-folglosigkeit seines Glitzerzauberns erträgt.

Österreich braucht gute Ideen gegen die Krise. Investieren wir in Menschen und stärken wir so unsere Gemeinschaft! Das Mini-Taschenbuch enthält 24 Vorschläge für eine Politik gegen die Krise.

Kinder und Jugendliche brauchen besondere Unterstützung und die richtige Hilfe, wenn es um die Übergänge zwischen Schule, Aus bildung und Berufsleben geht. Das gilt besonders für Kinder und Jugendliche mit Behinderungen sowie für jene, die in Armut leben, Lernschwierigkeiten oder einen zerrütteten Familienhintergrund haben.

Österreich braucht gute Konzepte, um wirtschaftlich schlechte Zeiten zu überbrücken. Investitionen im sozialen Dienstleistungs-bereich sind ein Gebot der Stunde.

Dafür hat die Diakonie „24 Vorschläge“ gegen die Hoffnungslosig-keit und für echte Reformen entwickelt.

Werden Sie #Hoffnungsträger/in und bestellen Sie das Mini-Taschenbuch bei der Diakonie: [email protected]

24 Mal Menschen Zukunft ermöglichen

„Weißt du, ich habe einen Glitzerzauberstab zu Hause,

den habe ich probiert, aber der hat auch nicht funktioniert“

Moritz

Page 24: Hoffnungsträger. Kindern und Jugendlichen Zukunft ermöglichen (Diakonie Themen 02/2014)

Hadi, Hoffnungsträger – Bei uns in Sicherheit seit 2011.

Hoffnung suchen.

Menschen Zukunft schenken.Spendenkonto: AT49 2011 1287 1196 6399

Erfahren Sie mehr auf diakonie.at

Österreichische Post AG / Sponsoring.PostGZ 02Z033615 S