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INFORMELLE UND PREKÄRE ARBEIT: EIN GLOBALES PHÄNOMEN
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Inhalt Kernaussagen 3 Definition, Ausmass, Trends, Erscheinungsformen 3 A) Definition 3 B) Erscheinungsformen, Folgen 5 Exkurs: der Link zwischen Armut und nicht menschenwürdiger Arbeit 7 C) Ausmass, Trends 9 D) Erklärungsansätze 11 Geschichtliche Entwicklung des Begriffs 12 Ursachen, Folgen 12 Informelle Arbeit in Süd und Nord – Gemeinsamkeiten und Unterschiede 14 Gegenstrategien 17 Was macht das SAH? 21 Forderungen an die Schweiz 22 Literatur 23
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www.sah.ch Redaktion: Joachim Merz
Titelbild: Müllarbeiter in Johannesburg / Südafrika. Foto: Ighsaan Schroeder.
INFORMELLE UND PREKÄRE ARBEIT: EIN GLOBALES PHÄNOMEN
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November 2007
Kernaussagen
Informelle Arbeit ist nicht registrierte, nicht regulierte sowie arbeits- und sozialrecht-
lich ungeschützte Arbeit. Die Hälfte der weltweit Erwerbstätigen sind working poor (insgesamt rund 1.3 Mrd.
von 2.9 Mrd. Erwerbstätigen weltweit). Die grosse Mehrheit der Working poor arbei-
tet informell und prekär. Trotz unterschiedlicher Ausmasse und Erscheinungsformen liegen informeller, pre-
kärer Arbeit sowohl in Industrie- als auch Entwicklungsländern die gleichen Ursa-chen zugrunde. Informelle Wirtschaft und prekäre Arbeit sind ein wesentliches
Merkmal moderner kapitalistischer Entwicklung, kein vorübergehendes Phänomen.
Frauen sind von informeller Arbeit besonders betroffen. Alle Menschen, ob formell oder informell beschäftigt, haben ein Recht auf men-
schenwürdige Arbeit. Die Verletzung von ILO-Kernarbeitsnormen ist eine Verletzung
der Menschenrechte und blockiert menschliche Entwicklung. Gegenstrategien müssen nicht nur für, sondern gemeinsam mit informell und prekär
Beschäftigten entwickelt werden. Die Stärkung der (Selbst-) Organisation und Hand-
lungsfähigkeit informell und prekär Beschäftigter ist dabei zentral.
Definition, Ausmass, Trends, Erscheinungsformen
A) Definition
• Grundsätzliche ist die Unterscheidung zu treffen zwischen
o selbständiger informeller Arbeit (employers, own account workers, non
wage employment, self employment)
o und abhängiger prekärer Beschäftigung (wage employment).
Zu ersteren zählen bspw. MarktverkäuferInnen, Händler, Handwerker oder unbezahlte Familienangehörige, zu letzteren Gelegenheitsarbeiter, Taglöhner,
ArbeiterInnen in Sweatshops, Hausangestellte oder LandarbeiterInnen.
Beide Kategorien gehören konzeptionell zu informal employment.
• ILO Working Paper No. 53 unterscheidet die Kategorien o Own-account workers and employers employed in their own informal
sector enterprises
o Contributing family workers
o Employees holding informal jobs (de jure or de facto)
o Members of informal producers´ cooperatives
o Own-account workers engaged in the production of goods exclusively
for own final use by their household
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• Laut ILO umfasst informelle Ökonomie “all economic activities by workers and
economic units that are – in law or in practice – not covered or insufficiently covered by formal arrangements“.
• Informelle Beschäftigung laut ILO zeichnet sich aus durch: ” employment
relationship (…) in law or in practice, not subject to standard labour legislation,
income taxation, social protection, or entitlement to certain employment
benefits (advance notice of dismissal, severance pay, paid annual or sick leave,
etc.).”
• Die 15th International Conference of Labour Statisticians (ICLS) 1993 definierte
die Kategorie ”Beschäftigung im informellen Sektor” mit einem auf das Unternehmen fixierten Ansatz (enterprise approach).1 Die 17th ICLS 2003
definierte die Kategorie “Informelle Beschäftigung“ mit einem auf das
Arbeitsverhältnis fixierten Ansatz (employment approach).2
• Eine Kürzestkategorisierung ist laut ILO anhand von vier Schlüsselindikatoren möglich: Arbeitsvertrag vorhanden? Einzahlung an soziale Sicherungssysteme
(v.a. auch von Arbeitgebern)? Weiterbezahlung bei Krankheit? Bezahlter
Urlaub? “No work, no pay“ ist demnach die Kürzestformel oder -definition für informelle Beschäftigung.
• Die Friedrich-Ebert-Stiftung definierte prekäre Beschäftigung in einer Studie aus
dem Jahr 2006 folgendermassen: “Als prekär kann ein Erwerbsverhältnis bezeichnet werden, wenn die Beschäftigten aufgrund ihrer Tätigkeit deutlich
unter ein Einkommens-, Schutz- und soziales Integrationsniveau sinken, das in der Gegenwartsgesellschaft als Standard definiert wird. (Es) handelt es sich um
eine relationale Kategorie, deren Aussagekraft wesentlich von der Definition
gesellschaftlicher Normalitätsstandards abhängt.“ Prekarisierung bezeichnet einen sozialen Prozess der “Erosion von Normalitätsstandards“.
• Und die Enquete-Kommission des deutschen Bundestages merkte an:
informelle Beschäftigung ist eine “Tätigkeit ohne regulären Vertrag, ohne soziale Absicherung und bei prekären Arbeitsschutzbedingungen“. Informeller Arbeit
mangelt es an Sicherheit in all ihren Aspekten.
• Altvater / Mahnkopf (2002): o Aus der Definition von Normen und gesellschaftlicher Normalität ergibt
sich in Abgrenzung jener Bereich, der sich in diese Definition nicht einfügt und deshalb als informell bezeichnet wird.
o Das Informelle ist heterogen, synchron in verschiedenen Weltregionen
und diachron zu verschiedenen Zeiten.
1 „(...) comprising all jobs in informal sector enterprises, or all persons who, during a given reference period, were employed in at least one informal sector enterprise, irrespective of their status in employment and whether it as their main or a secondary job.“ (zitiert nach ILO Working Paper No. 53) 2 ”(...) the total number of informal jobs, whether carried out in formal sector enterprises, informal sector enterprises, or households, during a given reference period. It comprises: own account workers and employers in their own informal sector enterprises (…); contributing family workers (…); employees holding informal jobs (…); members of informal producers´ cooperatives (…); own-account workers engaged in the production of goods exclusively for own final use by their households (such as subsistence farming or do-it-yourself construction of own dwellings).” (zitiert nach ILO Working Paper No. 53)
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o “Informalität und Formalität sind weniger Gegensätze als die Extreme auf einem Kontinuum möglicher Formen von Arbeit.“ Sie folgen hier
einem Ansatz, der auch von der ILO vertreten wird: “informality as a
continuum“
o Fast unlösbares Problem, Informalität zu messen; es sind nur Schätzungen möglich. D.h. auch beim Messen muss informell
vorgegangen werden.
B) Erscheinungsformen, Folgen
• Informelle Arbeit ist arbeits- und sozialrechtlich ungeschützt, nicht anerkannt, nicht registriert, nicht reguliert. Sie hat i.d.R. keine kollektive (sprich
gewerkschaftliche) Interessenvertretung und wird nicht von
Vertragsverhandlungen erfasst. Folge: hohe Ausbeutungskomponente, niedrigste Einkommen, höchstes Armutsrisiko, high degree of vulnerability (ILO).
• Castells / Portes (1989): Informelle Ökonomie ist ein Prozess, kein Gegenstand.
Informelle Ökonomie ist o Universell
o Heterogen
o Im Wachsen begriffen o Regierungen tolerieren oder stimulieren gar die informelle Ökonomie um
potentielle soziale Konflikte zu lösen und politische Patronage zu
schaffen. • Chen / Vanek / Carr (2004): ”In every country, the informal economy is highly
segmented by location of work, sector of the economy and employment status
and, in addition, by social group and gender.“ Auch WIEGO (Women in Informal
Employment: Globalizing and Organizing) betont, dass die informelle Ökonomie
“multi-segmented“ ist. Es ist problematisch, den Begriff “Prekariat“ zu verwenden, denn dieser vermittelt etwas Homogenes und zielt an der Realität
vorbei, denn diese ist durch eine grosse Heterogenität und Segmentierung charakterisiert.
• ILO: “The decent work deficits are most pronounced in the informal economy.
(...) Because they lack protection, rights and representation, these workers often
remain trapped in poverty (…) leading to powerlessness, exclusion, and
vulnerability.” (Aus der Resolution zur 90. ILO-Konferenz 2002)
• Die Verletzung von ILO-Kernarbeitsnormen ist eine Verletzung grundlegender Menschenrechte und ein Hindernis für menschliche Entwicklung.
• Die ILO Declaration on Fundamental Principles and Rights at Work (1998) und
auch die Kernarbeitrechte (core labour standards) garantieren grundlegende
Arbeitsrechte in der formellen wie in der informellen Ökonomie. • Viele neu entstehende Arbeitsplätze sind in der informellen Ökonomie
angesiedelt, v.a. in Entwicklungs- und Transitionsländern, so die ILO3. Auch
3 “The bulk of new employment in recent years, particularly in developing and transition countries, has been in the informal economy. Most people have been going into the informal economy because they cannot find jobs or are
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Altvater / Mahnkopf weisen darauf hin: über 90% aller neuen Arbeitsplätze in Afrika und 80% aller neuen Arbeitsplätze in LA in 90er Jahren sind in der
informellen Wirtschaft entstanden ! “Informelle Arbeit ist vielerorts zur Regel
geworden und diejenige, die formellen Bestimmungen des Steuer-, Arbeits- und Sozialrechts genügt, zu einer Ausnahmeerscheinung.“ Dies gilt auch für Mittel-
und Osteuropa seit Beginn der 90er Jahre, wo viele (grosse wie kleine) Unternehmen Wettbewerbsfähigkeit nur durch das Unterlaufen von
gesetzlichen und / oder tariflichen Normen behaupten können.
• Kleine Unternehmen versuchen, mangelnde Wettbewerbsfähigkeit durch Missachtung sozialer und ökologischer Standards zu kompensieren. Grosse
Unternehmen nutzen informelle Arbeit, um Kosten zu senken und
Konkurrenzfähigkeit auf internationalen Märkten zu verbessern. • Informelle Arbeit gibt es in allen Wirtschaftsbereichen (Landwirtschaft,
verarbeitende Industrie, Dienstleistungen), doch liegt der Schwerpunkt der Informalisierung überall in der Welt bei den Dienstleistungen.
• Informelle Arbeit hat eine Gender-Schlagseite: Frauen sind überrepräsentiert.
Nach UN-Angaben liegt ihr Anteil bei über 50%. Frauen sind in Entwicklungsländern eher selbständig informell tätig denn abhängig beschäftigt
(Präzisierung: als own account workers, d.h. auf eigene Rechnung
wirtschaftend, nicht als Arbeitgeberinnen). Männer arbeiten eher als informal
employers oder informal wage workers.
• Die grosse Mehrheit der working poor, v.a. Frauen, arbeitet in der informellen
Ökonomie. Frauen sind v.a. tätig als Strassenverkäuferinnen und Heimarbeiterinnen. Es besteht eine bedeutende Kausalbeziehung zwischen
Frau, informell beschäftigt, arm. Tatsache ist, dass Frauen in allen
Wirtschaftssektoren (noch immer) die Tätigkeiten / Jobs mit niedrigster Produktivität ausführen. Frauen sind in einkommensstarken Tätigkeitsbereichen
(Arbeitgeberinnen, Selbstbeschäftigte) unterrepräsentiert, bei einkommensschwachen (Gelegenheits-, Teilzeit-, Saisonarbeit, Subcontracting)
überrepräsentiert. Tatsache ist auch, dass die Analphabetenrate bei Frauen z.T.
25% höher liegt als bei Männern. Frauen haben einen schlechteren Zugang zu Eigentum, Krediten, Ausbildung, Technologien und Marktinformationen. All dies
erklärt, warum Frauen “von unten“ in den Arbeitsmarkt eintreten. Der Gender
Gap ist in der informellen Ökonomie noch grösser als in der formellen. Nötig ist
also, so die ILO, eine massive Investition in die Bildung und Ausbildung von Frauen.
• R. Castel (2005) gliedert die Arbeitswelt in
o Zone der Integration o Zone der Prekarität
o Zone der Entkoppelung
und spricht von einer ”Rückkehr der Unsicherheit” in die Gesellschaften des Westens (Castel 2005)
unable to start businesses in the formal economy. In Africa, for instance, informal work accounted for almost 80 per cent of non-agricultural employment, over 60 per cent of urban employment and over 90 per cent of new jobs over the past decade or so. “ (ILO 2002: 1)
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• Die Bewertung informeller Arbeit fällt zwiespältig aus, so Altvater / Mahnkopf und die die Enquete-Kommission des deutschen Bundestags. Einerseits
werden soziale Kosten im Zuge gesteigerter globaler Konkurrenz externalisiert
und grundlegende Menschenrechte wie Kernarbeitsnormen unterlaufen. Andererseits ist informelle Arbeit auch ein “Schockabsorber“, der die
Gesellschaften die Konsequenzen der Globalisierung weniger stark spüren lässt und den Menschen Arbeit und Einkommen sichert.
Exkurs: der Link zwischen Armut und nicht menschenwürdiger Arbeit
• ILO: ”Many people living in severe poverty work, sometimes long and hard, but very unproductively. (…) There is a link – although not a perfect correlation –
between working in the informal economy and being poor. (...) The link between
working in the informal economy and being poor, especially in the lowest-return
activities, is stronger for women than for men.”
• Die grosse Mehrheit der Armen4 weltweit arbeitet (working poor). Knapp die
Hälfte der weltweit Erwerbstätigen sind working poor (weniger als USD 2 pro
Tag). 2007 waren es knapp 1.3 Mrd. von rund 2.9 Mrd. Erwerbstätigen weltweit (=44.1%). Darunter sind knapp 500 Mio. =16.7%), die weniger als USD 1 pro
Tag verdienen.
• 2007 sind weltweit 195 Mio. Menschen arbeitslos (nach ILO-Defintion von Arbeitslosigkeit: “without work of at least one hour in the previous week“)5. In
Entwicklungsländern kann es sich praktisch niemand leisten arbeitslos zu sein,
so die ILO, und deshalb müsste man vielmehr zusätzliche Indikatoren
heranziehen wie o discouragement: Frustrierte, die schon gar keine Arbeit mehr suchen, weil
sie die Hoffnung aufgegeben haben
o Unterbeschäftigung.
o Working poor6 : diesen Indikator nur auf Lohneinkommen zu basieren ist
nicht unproblematisch, weil es noch andere Einkommen (oder –
4 Armutsdefinitionen: a) monetäres Einkommen bzw. besser: Konsumausgaben. Die USD 1 und USD 2 internatio-nalen Armutsgrenzen (jeweils PPP, d.h. kaufkraftbereinigt) basieren auf Konsumausgaben pro Tag pro Person. b) Grundbedürfnis-Ansatz, der neben Einkommen / Konsum auch Deckung der Grundbedürfnisse wie Gesundheit, Bildung oder Zugang zu Wasser einbezieht, so z.B. der Human Poverty Index von UNDP (kombinierter Index: Lebenserwartung, Alphabetisierung, Lebensstandard). c) soziale Ausgrenzung. Zahlen für 2007: 1.2 Mrd. Men-schen leben von weniger als USD 1 pro Tag, 900 Mio. davon in ländlichen Regionen (=75%). Die absolute Zahl der Armen ist v.a. in SSA und Südasien gestiegen, in Ostasien & Pazifik v.a. auf dem Land dramatisch zurückgegangen (WDR 2007 mit Zahlen von Ravallion / Chen / Sangraula 2007). ILO 2007 (ILO 2007 KILM) macht den Trend aus, dass Armut in ländlichen Regionen schneller zurückgeht als in städtischen. Frühere Zahlen für 2005: 1.2 Mrd. Menschen leben von weniger als USD 1 pro Tag, weitere 1.6 Mrd. von weniger als USD 2 pro Tag. Insgesamt leben also 2.8 Mrd. Menschen von einer Weltbevölkerung von 6.2 Mrd. in Armut (internationale Armutsgrenzen, absolut und relativ, von der Weltbank festgelegt). Dies entspricht 45% für das Jahr 2005. (Quelle: P. Wahl, Blätter für dt. und internat. Politik, 2005, auf Grundlage von Weltbank-Daten) 5 Jugendarbeitslosigkeit i.d.R. doppelt so hoch oder noch höher als Quoten für Erwachsene. 6 Definitionen working poor: WB: workers with earnings insufficient to maintain the median household above the poverty line. ILO: proportion of those employed living in a household whose members are estimated to be below
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möglichkeiten) gibt wie Eigentum oder Überweisungen (migrant
remittances). Trotzdem ist ein ausreichendes Arbeitseinkommen ein Kernelemt von Decent Work.
o Arbeitsstatus (labour status) entlang den Kategorien Schutz (protection),
Regelmässigkeit (regularity), Verlässlichkeit (reliability) und Unabhängigkeit
(autonomy).
o Sicherheit (security) ist ein ganz wichtiger Indikator, um die Qualität eines Jobs zu definieren, v.a. employment security (Arbeitsplatzsicherheit) und
income security (Einkommenssicherheit).
• Armut ist also eher von der Qualität der Arbeit denn ihrer Quantität
(Verfügbarkeit) abhängig. • Trotz dieser Ausgangslage ist menschenwürdige Beschäftigung auf der
internationalen Agenda der Armutsbekämpfung (Poverty Reduction Strategy
Papers, Millenniums-Entwicklungsziele) weitgehend abwesend. Oder war es
zumindest bisher. Erst die UNO-Generalversammlung 2006 formuliert – auf Initiative von Kofi Annan – ein neues Ziel der MDGs: “a new target under
Millenium Development Goal 1: to make the goals of full and productive
employment and decent work for all, including for women and young people, a
central objective of our relevant national and international policies and our
national development strategies.“ Die ILO hatte jahrelang auf die Integration der
Decent Work Agenda in die MDGs hingearbeitet. Jetzt wird zunehmend
anerkannt, dass menschenwürdige Armut für alle der Königsweg aus der Armut ist. Armutsbekämpfungsstrategien müssen Decent Work Defizite angehen und
der Gender-Komponente besondere Beachtung schenken. • Die Indikatoren für das neu formulierte Ziel full and productive employment and
decent work for all sind:
Employment-to-population ratio (über 80% sind zu hoch, das heisst
nämlich, dass fast alle arbeiten (müssen), weil die Jobs miserabel
bezahlt sind) Vulnerable employment, dazu gehören Schein-Selbständige
(Beschäftigte auf eigene Rechnung) plus unbezahlte
Familienangehörige. Der Anteil von vulnerable employment ist
besonders hoch in Sub-Sahara Afrika und Südasien (über 70%). Die
direkte Korrelation zu Armut oder Armutsanfälligkeit ist offensichtlich, weil diese Menschen keine Sicherheitsnetze und keine sozialen
Sicherheitssysteme haben und nicht genügend verdienen, um durch Sparen Verletzlichkeit / Gefahren zu verringern. Länder, die vulnerable
employment verringert haben, haben auch Fortschritte gemacht in der
Reduktion der working poor.
Anteil der working poor (USD 1)7.
the poverty line. Und weiter: The household is the unit of reference and the definition merely links household poverty to the number of employed persons in the household, rather than individual pay to the person employed. (ILO 2007 KILM) 7 „Working poor (KILM 20) are defined as individuals who work, but nevertheless live with their families in poverty on less than US$ 1 a day per family member.”
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Arbeitsproduktivität. Diese ist in letzten 10 Jahren v.a. in Südost- und Osteuropa & GUS, Ostasien und Südasien stark gestiegen. Wenn
höhere Arbeitsproduktivität einhergeht mit Arbeitsplatzschaffung, dann
ist die Wirkung auf Reduktion der Armut am grössten. Noch grösser ist sie, wenn die Einkommen einigermassen gleich verteilt sind (Gini-
Koeffizient) wie z.B. in Asien. Nicht so in Sub-Sahara Afrika: einige Länder West- und Ostafrikas haben die höchsten Armutsraten und
zugleich eine sehr hohe soziale Ungleichheit, d.h. einen hohen Gini-
Index über 0.42. Allgemein haben Lateinamerika & Karibik sowie Sub-Sahara Afrika die höchsten sozialen Ungleichheiten.
Die Analyse ergibt, dass Asien, Lateinamerika & Karibik sowie
Nordafrika wahrscheinlich das gesteckte Ziel MDG 1 erreichen, auch im Licht der oben genannten Indikatoren, Sub-Sahara Afrika und der
Mittlere Osten jedoch nicht („unlikely to reach goal“).
“The regional analysis illustrated the strong relationship between
working poverty, vulnerable employment and labour productivity. (…)
The four indicators also show a strong link to the overall MDG goal 1 to halve the share of poverty in the world by 2015. The regions and
countries that have demonstrated significant decreases in poverty rates
are those that managed to register growth in productivity, reduce
vulnerable employment share, see ´healthy´ developments in their
employment-to-population ratios and, hence, reduce working poverty
share. “
• Informelle Beschäftigung und Armut ist v.a. auch in ländlichen Regionen ein Problem, so die ILO: “The working poor are concentrated in the informal
economy, and especially in rural areas. Seventy-five per cent of poor people in
developing countries live in rural areas and engage in activities which, for the
most part, lie outside the bounds of the formal organized economy, whether in
agriculture or in rural non-farm activities This is why policies to address the
informal economy and at the same time to reduce poverty cannot afford to
ignore rural agriculture.”
C) Ausmass, Trends
• Zur Datenlage sagt die ILO (2007), dass regelmässige, in bestimmten
Zeitabständen erhobene Daten über die informelle Wirtschaft nur für wenige Länder vorhanden sind. Und dann oft nur für städtische Gebiete. Noch
schwieriger stellt sich die internationale Vergleichbarkeit der national unterschiedlich, oft entlang eigener Defintionen erhobenen Daten dar.
• Trends: Zahl working poor mit USD 2 pro Tag von 1996 auf 2006 von 55% auf
44% gesunken, mit USD 1 pro Tag von 25% auf knapp 17%. Grösste, z.T.
spektakuläre Erfolge haben alle drei Regionen in Asien aufzuweisen, während Sub-Sahara Afrika die schon 1996 höchsten Prozentzahlen nur marginal
senken konnte. In absoluten Zahlen hat Sub-Sahara Afrika heute sogar mehr
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working poor als vor zehn Jahren8. Generell grössere Fortschritte in Senkung
der USD 1 working poor, geringere Fortschritte bei USD 2 working poor. • Wie kann man das Ausmass informeller Arbeit messen? ILO (2007) schlägt vor,
sich nach den “status-in-employment“ – Zahlen zu richten und v.a. die
Kategorien self-employed und contributing familiy members als Richtgrösse zu
nehmen, d.h. die Kategorien, die die ILO als vulnerable employment bezeichnet.
ILO merkt aber an, dass dies keine absolut verlässlichen Zahlen liefert, da auch abhängige Beschäftigte Informelle sein können und nicht alle Selbständigen
Informelle sind. Ausserdem sind in dieser Definition LandarbeiterInnen und
Hausangestellte nicht berücksichtigt. Eine andere Herangehensweise der ILO ist, den Prozentsatz der unter USD 2 pro Tag Verdienenden an der Gesamtzahl
der Beschäftigten (working poor) zu nehmen. Nimmt man diesen Prozentsatz
als Grundlage, so ist er zwischen 1980 und 2007 weltweit von 60% auf 44% gefallen. In Lateinamerika z.B. betrug er 2007 25.4%, in Ostasien (incl. China)
37.6%, in Südostasien 51%, in Südasien (incl. Indien) 80.5%, in den
osteuropäischen Transitionsländern & GUS 21.7%. In Sub-Sahara Afrika („more
than 8 out of 10 people“) ist dieser Prozentsatz aber konstant hoch geblieben. • Vorsicht wg. Statistiken und Vergleichbarkeit: nimmt man die Weltbank (2007)
als Quelle für die selbe Kategorie (weniger als USD 2 / Tag), so sehen die
Prozentzahlen z.T. anders aus. Selbst in ILO-Publikationen im Abstand von 2 Jahren (2005, 2007) variieren die Zahlen. Die Frage nach der statistischen
Verlässlichkeit, Messmethoden, Definitionen und Vergleichbarkeit kommt auf !
• Dem Auftrag der ILO-Konferenz 2002 folgend, leistet die ILO den Ländern vermehrt Hilfestellung dabei, in den Arbeitsmarktstatistiken die Phänomene des
informellen Sektors und der informellen Beschäftigung statistisch genauer zu
erfassen, z.B. in den Labour Force Surveys. • Die Enquete-Kommission des deutschen Bundestages (2002) verweist auf
Messprobleme informeller Arbeit und auf die problematische Vergleichbarkeit
von Zahlen unterschiedlicher Quellen. “Studien zeigen jedoch, dass, gleichgültig
welche Definition zugrunde liegt und wie gemessen und geschätzt wird, die
Bedeutung der Informalität vor allem in den Entwicklungsländern zunimmt.“ Und weiter: “Am schlechtesten belegt ist informelle Arbeit innerhalb des formellen
Sektors.“
• Eine andere Tatsache wird von der ILO global konstatiert: das wirtschaftliche
Wachstum in den letzten Jahren hat weder die Arbeitslosigkeit noch die Armut reduziert. Zwar ist der Anteil von working poor an der Gesamtzahl der
Arbeitenden in den letzten zehn Jahren prozentual gesunken (1996: 55.3%,
2006: 44.1%), absolut aber praktisch gleich geblieben bzw. nur unwesentlich
gesunken von 1.37 Mrd. 1996 auf 1.29 Mrd. 2006 (v.a. aufgrund von Fortschritten in Asien).
• ILO: 2006 waren 42% aller Jobs im Dienstleistungsbereich (Tendenz
ansteigend), 36.1% in der Landwirtschaft (Tendenz fallend), 21.9% in der
8 Relative und absolute Trends mit umgekehrten Vorzeichen in SSA, weil die ökonomisch aktive Bevölkerung schneller wuchs als die working poor.
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verarbeitenden Industrie. Diese Prozentzahlen variieren natürlich je nach Region sehr. In Sub-Sahara Afrika arbeiten nach wie vor 2/3 in der Landwirtschaft,
auch in Asien zwischen 40 und 50% (also in den ärmsten Regionen der Welt).
• ILO: es ist eine Aufwärtsspirale (“virtuous cycle“) in Ostasien zu verzeichnen: Wachstum in allen drei Sektoren + Produktivitätsgewinne + Schaffung von
Arbeitsplätzen, und das alles resultiert in Verminderung der Armut. Als Beispiel
zitiert die ILO die Entwicklungen in China in den letzten 10 Jahren. In China ist auch die Zahl der lohnabhängig Beschäftigten gestiegen, die Zahl der
unbezahlten Familienangehörigen gesunken. Eine strukturelle Transformation ist
im Gang. Nicht so in Sub-Sahara Afrika. Dort ging das Wirtschaftswachstum nicht mit struktureller Transformation auf dem Arbeitsmarkt einher (“delayed
structural transformation“).
• Informelle und prekäre Arbeit ist in Industrieländern und Entwicklungsländern
sehr unterschiedlich ausgeprägt, in Quantität und Qualität. Während in Entwicklungsländern 50-75% in der informellen Ökonomie beschäftigt sind
(ohne landwirtschaftliche Beschäftigung), sind es in Industrieländern trotz
steigender Tendenz sehr viel weniger (zwischen 10-30%). Nimmt man die landwirtschaftliche Beschäftigung dazu, steigen die Prozentzahlen.
• “Arbeitnehmer zweiter Klasse“ machen in D'land inzwischen rund 1/3 der Beschäftigten aus. Dies wirkt auf die institutionelle Verhandlungsmacht der
Gewerkschaften „wie ein aggressiver Virus auf ein geschwächtes
Immunsystem“ (Dörre 2007). • Schweiz: Das Seco (2003) beziffert die prekäre Arbeit auf 4 bis 11%,
L´Evénement Syndical geht eher von der letzteren Ziffer aus. Nur die
Temporärarbeit ist von 100´000 (1995) auf 216´000 (2006) gestiegen. Bei den Frauen macht prekäre Arbeit in der Schweiz gar 20% aller
Beschäftigungsformen aus. Die Branchen mit der grössten Verbreitung prekärer
Arbeit sind Haushaltshilfen, Verkauf, Gastgewerbe, Bau. • In Entwicklungsländern macht die informelle Arbeit durchweg einen grösseren
Prozentsatz aus als die formale. Auch global betrachtet trifft dies zu. Innerhalb der informellen Ökonomie ist in Entwicklungsländern der Anteil selbständiger
Arbeit höher als der unselbständiger Arbeit (zwischen 57% Asien, 60%
Lateinamerika, 63% Mittlerer Osten / Nordafrika und 70% Sub-Sahara-Afrika). • Altvater / Mahnkopf (2002): “Die Informalität der Arbeit ist keine
Randerscheinung. Die Mehrzahl der Menschen in der Welt arbeitet in der einen
oder anderen Weise informell. (...) Bislang noch kaum zu ermessen ist jedoch, was der „Sprung in den Kapitalismus“, auf den die VR China mit ihrem Beitritt
zur WTO ansetzt, für die Zunahme der weltweiten Arbeitslosigkeit, die Expansion informeller Arbeit und die Ausweitung der Zwangs- oder
Sklavenarbeit in all ihren Facetten bedeuten wird.“
D) Erklärungsansätze
• Konzeptionelle (Erklärungs-) Ansätze:
o Dualistisch (ILO in 70er Jahren)
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o Strukturalistisch (Castells / Portes 1989) o Legalistisch (H. de Soto 1989 / 2000)
o Illegalistisch (neo-klassische und neoliberale Ökonomen, Maloney 2004)
In der Praxis können Elemente aller Ansätze ausgemacht werden.
Geschichtliche Entwicklung des Begriffs
• ILO sprach in den 70er Jahren in Zusammenhang mit Entwicklungsländern von einem “informellen Sektor“ (Studie in Kenya). 1991 wurde das Thema erstmals
auf einer ILO-Konferenz diskutiert. 1993 war es auch auf der Agenda der
International Conference of Labour Statisticians. • Seit der ILO-Konferenz 2002 spricht die ILO offiziell von “informeller
Ökonomie“9, da informelle Arbeitsverhältnisse nicht auf einen wirtschaftlichen
Sektor beschränkt sind (wie der Begriff “informeller Sektor“ suggerieren könnte). Das Konferenzdokument “Decent work and the informal economy“
geht davon aus, dass alle Anrecht auf eine menschenwürdige Arbeit haben, ob
formal oder informell beschäftigt. Informell Beschäftigten werden jedoch sieben grundlegende Sicherheiten vorenthalten:
o Arbeitsmarktsicherheit (nicht genügend Arbeitsplätze)
o Arbeitsplatzsicherheit (mit Karriere- und Aufstiegsmöglichkeiten) o Schutz vor missbräuchlicher Kündigung
o Arbeitsschutzsicherheit
o Aus- und Weiterbildung o Einkommenssicherheit
o Kollektive Repräsentation
Ursachen, Folgen
• Zu Informalisierung und Prekarisierung haben geführt:
o Verschärfte Konkurrenz auf einem globalen Markt und Gewinnmaximierungs-strategien des Kapitals (vgl. ILO 2002),
o neue Produktionsformen (lean oder just-in-time production),
o technologischer Wandel (Automatisierung), Produktivitätsschub (vgl. ILO 2007). Die revolutionäre Entwicklung von Wissenschaft und Technik
verlangt nach hochspezialisierten Fachkräften und weniger nach
Unqualifizierten. o Überangebot an Arbeitskräften durch demographische Entwicklung. Als
Beispiel: in Afrika ist die working age population zwischen 1996 und
2006 um 30% gewachsen !
o Handelsliberalisierungen (WTO) sowie Strukturanpassungspolitiken mit Marktöffnungszwang und Deregulierung des Arbeitsmarktes (IWF,
9 Informelle Ökonomie grenzt sich lt. ILO 2002 ab von formeller Wirtschaft, krimineller Wirtschaft und Care Economy. Informelle Ökonomie besteht aus informeller Beschäftigung sowohl in informellen wie formellen Unter-nehmen.
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Weltbank) haben die Informalisierung in Entwicklungsländern beschleunigt (vgl. ILO 2002)
• In einer Publikation der Friedrich-Ebert-Stiftung (2006) wird die folgende
Ursache für die Prekarisierung ausgemacht: finanzdominiertes kapitalistisches Akkumulationsregime mit Verwertungsstrategien des Kapitals, die Normal-
(oder Norm-) Arbeitsverhältnisse zunehmend entgrenzen. Arbeit wird “re-kommodifiziert“, d.h. ihr Warencharakter wird nach und nach wiederhergestellt,
gegen die Wirkung marktbegrenzender Institutionen und Regulationen (z.B.
Arbeitsrecht, Sozialpartnerschaft). • Altvater / Mahnkopf in “Globalisierung der Unsicherheit“ (2002): Die
Informalisierung der Arbeit ist (...) zugleich Begleiterscheinung, Folge und
Antriebskraft der Globalisierung Die Informalität globalisiert sich und damit die (menschliche) Unsicherheit. Ergo besteht Handlungsbedarf: es müssen die
Bedingungen für menschliche Sicherheit im umfassenden Sinn verbessert und
die sozialen Menschenrechte gewährleistet werden wie Ernährung, Gesundheit, Bildung, Schutz vor Gewalt, etc.
• Globalisierung und Informalisierung stehen in einem engen Zusammenhang.
Globalisierung wirkt auf die Informalisierung von Wirtschaft und Beschäftigung v.a. via:
o Subcontracting-Strategien entlang globaler Wertschöpfungs- und
Beschaffungsketten, v.a. von arbeitsintensiven Teilen der Produktion (Bekleidung, Textil, Elektronik), z.B. durch Heimarbeit, in Sweatshops
oder in freien Exportzonen. o Informalisierung innerhalb des formellen Sektors, z.B. durch
untertarifliche Arbeitsverhältnisse (Niedriglohnsektor, Aufkündigung von
GAV) oder überlange Arbeitszeiten. • Informelle Wirtschaft stellt für die multinationalen Unternehmen ein nahezu
unerschöpfliches Reservoir billiger Arbeitskräfte dar.
• Informelle Ökonomie ist ein wesentliches Merkmal moderner kapitalistischer Entwicklung, kein vorübergehendes Phänomen. Sie macht einen grossen Teil
der Beschäftigung und Einkommen aus, stellt einen beträchtlichen Anteil an
Gütern und Dienstleistungen her und trägt einen bedeutenden Teil zum BIP bei – vor allem in den Entwicklungsländern, so unterstreicht auch die ILO erneut
(ILO 2007). Schätzungen der ILO: zwischen 7% und 38% des BIP in 14 Ländern Sub-Sahara Afrikas; in Asien zwischen 16% und 32% des BIP; in Indien 62%;
in Mexico rund 13%. In einer 2002-Publikation (“A statistical picture“) führt die
ILO aber auch andere Zahlen an: informeller Sektor als Teil des BIP: Sub-Sahara Afrika zwischen 24 und 58%, Lateinamerika & Karibik zwischen 13 und
49%, Asien zwischen 17 und 45%. Erneut ergibt sich das Problem der
Vergleichbarkeit der Daten, auch innerhalb der gleichen erhebenden Institution. • Informelle Beschäftigung steigt besonders in Zeiten wirtschaftlicher Krise,
Anpassung oder Transition an, ist aber auch eine Begleiterscheinung modernen industriellen Wachstums und globaler Integration. Es ist also keineswegs ein
Krisenphänomen.
INFORMELLE UND PREKÄRE ARBEIT: EIN GLOBALES PHÄNOMEN
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• WIEGO betont, dass es sowohl Argumente für ein contra-zyklisches Verhalten der informellen Wirtschaft gibt (Anstieg bei wirtschaftlichen Krisen) als auch für
ein pro-zyklisches (Anstieg mit und trotz wirtschaftlichen Wachstums). “What
this mixed picture suggests is that certain forms of informal employment are
features of modern capitalist development: most notably, outsourced
production and sub-contracted jobs in global value chains“. • Pierre Bourdieu bezeichnete Prekarisierung als eine Tendenz zur
Verallgemeinerung sozialer Unsicherheiten. Die objektive Unsicherheit bewirkt
auch eine allgemeine subjektive Unsicherheit. Prekarität beeinflusst auch das politische Handlungsvermögen des / der Einzelnen negativ. Auch Altvater /
Mahnkopf fokussieren auf die Folgen sozioökonomischer Unsicherheit:
Orientierungs- und Kontrollverlust, diffuse Ohnmachtsgefühle, Ressentiments. • Prekarisierung der Arbeit bedeutet eine Prekarisierung der Lebensverhältnisse,
gesellschaftliche Ausgrenzung und Desintegration, so der Widerspruch in einer
Publikation 2005 (“Prekäre Arbeitsgesellschaft“).
Informelle Arbeit in Süd und Nord – Gemeinsamkeiten und Unterschiede
• Während in Entwicklungsländern informelle Arbeit seit je her gesellschaftliche
Normalität und Überlebensstrategie (survival strategy) ist10, erleben die
Industrieländer die Informalisierung (Flexibilisierung) ehemals formalisierter Arbeitsverhältnisse.
• ILO 2007: In Sub-Sahara Afrika und Südasien arbeiten die allermeisten
Menschen (über 70%) als own account workers (Schein-Selbständige) und
contributing familiy workers (mithelfende Familienangehörige), in Ostasien und
Südostasien / Pazifik knapp 60%11. Diese Struktur ist typisch für Länder mit Decent Work Defiziten. In entwickelten Ländern hingegen arbeitet die Mehrheit
als lohnabhängige Beschäftigte. In Entwicklungsländern sind gesellschaftliche Normalitätsstandards andere: es gab nie eine “Normalintegration in einer
Lohnarbeitsgesellschaft“ wie in entwickelten Ländern, weil Lohnarbeit nur für
einen kleinen Teil der Arbeitenden Haupttätigkeit war und ist, die den Lebensunterhalt sicherstellt.
• Die prekären Arbeits- und Lebensverhältnisse, wie sie die Gesellschaften der 3.
Welt nicht anders kennen, werden vom Neoliberalismus als Norm für die Arbeit in der ganzen Welt angestrebt. Neben dem Vorherrschen der informellen Arbeit
wird auch im Süden die vorhandene regulierte Arbeit zunehmend informalisiert,
werden feste Arbeitsverträge aufgehoben und durch Scheinselbständigkeit, Temporär- und Leiharbeit ersetzt.
• Wie die ILO in ihren Studien aufzeigt, ist prekäre und informelle Arbeit eine Hauptquelle für Armut und Diskriminierung und ein wesentliches Hindernis für
10 ILO 2007 betont, dass dieser Survival-Charakter v.a. in Ländern ohne soziales Netz und mit niedrigen Einkom-men besonders deutlich wird. 11 Weltweit beträgt dieser Prozentsatz 50.2% (2006).
INFORMELLE UND PREKÄRE ARBEIT: EIN GLOBALES PHÄNOMEN
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nachhaltige Armutsbekämpfung. Durch diese Tendenzen internationalisiert sich der Kampf für menschenwürdige Arbeit und kann zum gemeinsamen Anliegen
werden in Nord und Süd, Ost und West.
• In Industrieländern ist Informalisierung eine bewusst verfolgte Strategie der Kostensenkung, des Bestehens am global kompetitiven Markt und der
Gewinnmaximierung. In Entwicklungsländern waren die schwach entwickelten Volkswirtschaften gar nie fähig, den grösseren Teil der wirtschaftlich aktiven
Bevölkerung in formale Arbeitsverhältnisse zu integrieren, auch nicht zu
Wachstumszeiten. • In Industrieländern wird eher von atypischer oder prekärer Arbeit gesprochen
oder von nicht standardisierten Arbeitsverhältnissen, die vom
Normalarbeitsverhältnis abweichen, z.B. Teilzeitarbeit, befristete Beschäftigung, (Schein-) Selbständigkeit, Auslagerung (Unterakkordanten), Leiharbeit,
Tagelöhner. o ILO definiert sieben Formen nicht standardisierter Arbeitsverhältnisse in
Industrieländern: Teilzeitarbeit, Temporäre Beschäftigung, Selbständigkeit
(ohne Angestellte), Unterauftragsnehmer / Unterakkordant, Heimarbeit, Arbeit in sweatshops, Tagelöhner.
o Das Nationale Forschungsprogramm “Integration und Ausschluss“ (NFP 51)
definiert sechs Formen atypischer Erwerbsarbeit in der Schweiz: Arbeit auf
Abruf, Temporärarbeit, Heimarbeit, Scheinselbständigkeit, internationale Arbeitsverhältnisse und Schwarzarbeit von Sans Papiers.
• Prekarisierung ist in Industrieländern ein relativ junger Begriff – für ein scheinbar
relativ junges Phänomen (zumindest in unserem historischen Kurzzeitgedächtnis). Doch rückt Prekarität zusehends in die Mitte der
Gesellschaft, erreicht auch die Mittelschichten und insbes. den
Dienstleistungssektor, in dem der gewerkschaftliche Organisationsgrad niedrig ist.
• Und vielleicht ist es ja gar kein so neues Phänomen, auch nicht in den
Industrieländern, sondern wurde in historischer Perspektive nur kurzzeitig durchbrochen: “Das "fordistische Normalarbeitsverhältnis" war in historischer
und globaler Perspektive stets eine Ausnahmeerscheinung. Es war auf die
Länder des Nordens begrenzt und dort auch nur auf einen beschränkten
historischen Zeitraum. (...) Aus der Perspektive des Südens, aus der Perspektive
von Frauen und MigrantInnen und in zeitlichen Dimensionen, die nicht etwa auf
die 1960er Jahre fixiert sind, erscheint Prekarität als der eigentliche
kapitalistische Normalzustand.“ (D. Hauer in Analyse & Kritik, 2005)12 • Hier (im Norden) wird über ”Erosion des Normalarbeitsverhältnisses“ räsoniert,
dort (im Süden) über den informellen Sektor oder informelle Arbeit. Beide
Diskussionen / Diskurse finden aber nicht zueinander, werden oft getrennt geführt (Arbeitsmarktforschung hier, Entwicklungszusammenarbeit dort). Dabei
12 Vgl. dazu auch Pelizzari (2007). Seine Argumentation: Der Fordismus wiegte die Arbeiter in einer falschen Si-cherheit, die nur einem “Moratorium der Ausgrenzung“ gleichkam (in Anlehnung an Groh-Samberg 2006). “Prekari-sierung ist damit nichts anderes als eine Politik der Re-Proletarisierung der Angestellten- und Arbeitermilieus“; Prekarität ist das “neu-alte Normalarbeitsverhältnis“.
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ist die ”Erosion des Normalarbeitsverhältnisses“ nur die “industriegesellschaftliche Variante der Informalisierung von Arbeit“ (Altvater /
Mahnkopf). Und: trotz aller Heterogenität des Informellen sind strukturelle
Ähnlichkeiten auszumachen. • Eine Extremform von Prekarisierung stellen die illegalen bzw. illegalisierten
MigrantInnen dar. Die Arbeitgeberseite nutzt die Ausbeutung illegaler /
illegalisierter Arbeitskraft zur Steigerung der Produktivität des Unternehmens (diesen Standpunkt vertreten u.a. auch Comaroff / Comaroff für Südafrika
anhand des Beispiels der LandarbeiterInnen). Die Beschäftigung illegaler /
illegalisierter MigrantInnen übt einen besonders grossen Druck auf Standards sowohl der formellen wie der informellen Ökonomie aus und beschleunigt die
Abwärtsspirale. • Den Temporärfirmen in der Schweiz entsprechen z.B. die Labour Brokers in
Südafrika wie die Firma Capacity Outsourcing, deren einziges Geschäft darin
besteht, ArbeiterInnen an (Gross-) Firmen zu vermitteln, als Temporär- oder
Gelegenheitsarbeiter ohne arbeits- und sozialrechtlichen Schutz. Labour
brokers setzen bereits über CHF 3 Mrd. pro Jahr in Südafrika um. Es kommt zu
der absurden Situation, dass Arbeitskräfte entlassen werden mit dem Hinweis, sich doch an einen Labour Broker zu wenden, über den sie dann für die genau
gleiche Arbeit im gleichen Unternehmen wieder angestellt werden. Nur: zu
massiv schlechteren Bedingungen, z.T. mit nur 1/3 des Lohnes ! • Allerdings gibt es auch erfolgreiche Mobilisierungen gegen die Praktiken der
Labour Brokers wie z.B. den grossen Erfolg der MüllarbeiterInnen in Tshwane /
Pretoria, die es nach 3-wöchigem Streik im September 2007 geschafft haben,
von der Stadtverwaltung direkt fest angestellt zu werden (d.h. ohne “Vermittlung“ durch die Labour brokers Milnex und Capacity Outsourcing).
Dadurch stiegen ihre Löhne schlagartig um 50% auf einen für öffentliche
Angestellte normalen Lohn (von ZAR 67 auf ZAR 101 pro Tag, oder ZAR 3090 pro Monat). Die Gewerkschaft der städtischen Angestellten (SAMWU)
unterstützte den Streik.
• Ein anderes beredtes Beispiel für Prekarität im Süden ist die Bereitschaft der MüllarbeiterInnen in Orange Farm, Johannesburg / Südafrika, freiwillig zu
arbeiten in der Hoffnung, später einmal (prekär, nämlich als Unterakkordanten)
angestellt zu werden. • Eine interessante Nord – Süd – Verbindung ergibt sich bei der “Globalisierung
der Hausarbeit“ (Rerrich 2007). Allein in Deutschland schätzt die Autorin, dass
über 4 Mio. Privathaushalte regelmässig oder gelegentlich Haushaltshilfen beschäftigen, natürlich meist schwarz. Die allermeisten kommen aus dem
Ausland, oft Sans Papier. Diese Frauen sind arbeits- und einwanderungsrechtlich absolut ungeschützt. Der Brain Drain und Brain Waste –
dies zeigt auch das Beispiel Haushaltshilfen – ist enorm.
• Die Diversität in der informellen Ökonomie wie auch die Diversität der
Interessen der informell und prekär Beschäftigten machen die gemeinsame Organisation und Interessenvertretung schwierig. Informelle sind oft
“unsichtbar“ (v.a. HeimarbeiterInnen), zeitlich wie örtlich sehr flexibel und volatil
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(heute hier morgen dort...), arbeiten sehr verstreut an individualisierten Arbeitsplätzen und entwicklen oftmals kein Kollektiverlebnis (wie z.B. die
Industriearbeiterschaft im Fordismus). Hinzu kommt, dass überholte
gewerkschaftliche Denkweisen einer aktiven Rolle der Gewerkschaften in der Mobilisierung und Organisation Informeller und Prekärer oft im Wege stehen.
Gegenstrategien
• ILO. “The goal is to promote decent work along the entire continuum from the
informal to the formal end of the economy, and in development-oriented, poverty
reduction-focused and gender-equitable ways.”
• ILO definiert grundlegende Arbeitsrechte in der “Declaration on fundamental
principles and rights at work“ (1998) und in den acht grundlegenden ILO-
Übereinkommen (core labour standards)13. Um decent work – Defizite
anzugehen, müssen darüber hinaus aber Minimalstandards gesichert sein in Bezug auf Arbeitsbedingungen, Arbeitsschutz und Einkommen.
• Eine der wichtigsten Ziele und Strategien besteht darin, den ILO-
Kernarbeitsnormen überall zur Durchsetzung zu verhelfen. Arbeits- und Sozialstandards müssen zentrale Elemente im Kampf für Menschenrechte der
zweiten und dritten Generation sein. • Die ILO (2002) definiert vier strategische Grundpfeiler
o Arbeitsplätze schaffen (opportunities)
o Arbeitsrechte garantieren (rights)
o Soziale Sicherheit verbessern (protection)
o Repräsentation informell Beschäftigter stärken (voice)
• Notwenig ist eine Re-Regulierung der informellen und der prekarisierten Arbeit, d.h. eine Annäherung an die Norm, sowie der Kampf zur Verhinderung der
Prekarisierung der regulierten Arbeit mit dem Ziel, den Trend generell zu
stoppen. • ILO definiert Decent Work als
o Ausreichendes Einkommen für sich und die Familie o Soziale Sicherheit
o Schutz durch Arbeitsrecht
o Repräsentation mittels selbstgewählter Vertretungen • Strategien, um Nexus informelle Ökonomie und Armut zu durchbrechen:
o Unterstützung informeller Betriebe, durch Bereitstellung von
Dienstleistungen und politische Interventionen o Verbesserung informeller Arbeitsbedingungen (“Formalisierung“,
Ausweitung formaler Beschäftigungsverhältnisse:
Kollektivverhandlungen, Arbeitsgesetze, Durchsetzung der Gesetze) o Soziale Sicherheit für informell Beschäftigte
13 Freedom of Association and right to collective bargaining (No. 87 / 98); Elimination of forced labour (No. 29 / 105); Elimination of child labour (No. 138 / 182); Elimination of discrimination (No. 100 / 111).
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o Aufbau von Organisationen und kollektive Interessenvertretung informell Beschäftigter (Empowerment, raise the voice)
o Aus- und Weiterbildung informell Beschäftigter
o Politisches Lobbying für die Anliegen informell Beschäftigter • Die Resolution der Ahmedabad-Konferenz (2003) mit dem Titel “Organizing in
the informal economy“ fokussierte auf:
o Capacity building für eine nachhaltige Organisationsentwicklung
o Modifikation der bestehenden Arbeitsgesetzgebung unter Mitsprache der
Organisationen informell Beschäftigter o Kollektivverhandlungen (Vertragsverhandlungen) auch für informell
Beschäftigte
o Soziale Sicherheit auch für Informelle (mit Beiträgen von Beschäftigten, Staat und Arbeitgebern)
o Schaffung neuer Arbeitsplätze und berufliche Weiterbildung
o Allianzbildung mit Gewerkschaften, Kooperativen, Basisorganisationen und NGOs. Gewerkschaften müssen in der informellen Wirtschaft organisieren,
ihre Strukturen anpassen oder neue schaffen und einen ganzheitlichen Ansatz verfolgen (Fokus auf formelle und informelle Arbeit in einem
bestimmten Sektor / Branche).
• Was können Gewerkschaften tun? o Anlaufstellen offerieren für informell und prekär Beschäftigte,
Plattformen für die Selbstorganisation bieten
o Rechtshilfe und Beratung in Arbeitsfragen o Proaktives Organisierung von Informellen und Prekären, v.a. von Frauen
und MigrantInnen
o Einschluss in Gesamtarbeitsverträge o Informations-, Sensibilisierungs- und Bildungsangebote
o Förderung der Repräsentation und Partizipation von Frauen in Gewerkschaften
o Angebote an Krankenversicherung und Krediten
o Beratung bei Kooperativengründung o Unterstützung in der Organisationsentwicklung informell und prekär
Beschäftigter, z.B. in Bezug auf die rechtliche Anerkennung neuer
Organisationen o Zusammenarbeit in Alllianzen / Netzwerkstrukturen mit neuen
gewerkschaftsähnlichen Initiativen von unten, sozialen Bewegungen, NGOs, etc.
• Eine wichtige Frage taucht auf: Sollen Gewerkschaften Gründung neuer
Organisationen unterstützen, mit denen sie dann Allianzen schmieden, oder sollen sie die Informellen / Prekären als Gewerkschaftsmitglieder zu gewinnen
versuchen?
• Der Internationale Gewerkschaftsbund (bzw. seine Vorläuferorganisation ICFTU) strich auch die Selbstverantwortung der Leute heraus, sich selbst zu
organisieren: “(...) it is wrong and counterproductive to confuse the right of
workers to organize with the obligation of trade unions to organize“. Die
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informelle Wirtschaft ist für die Gewerkschaften “eine Chance, ein Risiko und eine Herausforderung“, so der damalige World Council of Labour 1998.
International ist die Herausforderung erkannt, aber national haben viele
Gewerkschaften noch keine Strategien entwickelt. • In der neueren Diskussion wird häufig die Strategie des Social Movement
Unionism hervorgehoben, d.h. die Bewegungsgewerkschaft, die sowohl
lohnabhängige wie nicht-lohnabhängige Arbeiter und Beschäftigte repräsentiert
und Bündnisse mit zivilgesellschaftlichen Organisationen eingeht: mit anderen Gewerkschaften, NGOs, Kirchen, Studenten- und Bürgerbewegungen, soziale
Bewegungen, etc. Social Movement Unionism zielt auf die breite Organisation
der Basis und führt Kampagnen, die die arbeitsrechtlich problematischen
Praktiken (multinationaler) Konzerne ins Blickfeld nehmen. Social Movement
Unionism stellt die wirtschaftlichen, politischen, sozialen und kulturellen Rechte der Menschen in den Mittelpunkt. Oder in den Worten des Handbook for APL
Activists (Philippinen): “Social movement unionism (...) seeks to protect the
rights of all workers, not just the wage earners. (…) It recognizes the broadness
of workers´ interests and the diversity and complexity of work arrangements. As
such, it is geared toward the struggle for workers´ rights in all aspects –
economic, political and socio-cultural – and at all levels – local, national, global.
In short, the strategic objective of social movement unionism is nothing less than social transformation.”
• Wie können soziale Sicherungssysteme für Informelle verbessert werden (ILO
2002)?
o (Fern-) Ziel: Universalität sozialer Sicherung für alle o Massnahmen:
Ausdehnung von Sozialversicherungssystemen durch a)
obligatorischer Einbezug auch kleinerer und informeller Firmen in das System (hier kann der Anteil der staatl. Beiträge /
Subventionen variieren wie in Japan in den 60er Jahren, der Staat kann sogar über eine direkte Besteuerung der
Unternehmen Geld in diese Systeme einspeisen, wie z.B. in
Indien), oder b) freiwillige, unilaterale Beiträge des Versicherten (wie z.B. in Moçambique 2007);
Sozialhilfe (steuerfinanziert), der BONOSOL für ältere Menschen
in Bolivien wäre solch ein Beispiel; Micro-Versicherungssysteme (von Selbsthilfegruppen wie z.B.
SEWA), auch mit Unterstützung öffentl. Gelder oder EZA-Gelder • Wichtig ist, dass Gegenstrategien nicht nur für, sondern mit prekär
Beschäftigten entwickelt werden. In allererster Linie müssen die strategische
Handlungsfähigkeit und die Selbstorganisation der informell und prekär Beschäftigten gestärkt werden.
• Der am polyzentrischen Weltsozialformum 2006 diskutierte Bamako Appeal wies ebenfalls in diese Richtung: The most important task will be for workers outside the formal sector to organise themselves and for the traditional trade unions to open up in order to carry out common actions. The traditional trade unions have had problems
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responding to this challenge. Not all the organisations of the workers - except in the formal sectors - will necessarily be trade unions or similar organisations and the traditional trade unions will also have to change. New perspectives for organising together, based on horizontal bonds and mutual respect, must develop between the traditional trade unions and the new social movements. For this purpose, the following proposals are submitted for consideration: 1. An opening of the trade unions towards collaboration with the other social
movements without trying to subordinate them to the traditional trade-union
structure or a specific political party.
2. The constitution of effectively transnational trade-union structures in order to
confront transnational employers. (…) For this purpose, an important step
would be to organise strong trade-union structures within transnational corporations. (…)
3. (…)
4. To consider the rights of migrant worker as a basic concern for the trade
unions by ensuring that solidarity among workers is not dependent on their
national origin. Indeed, segregation and discrimination on ethnic or other
bases are threats to working-class solidarity.
5. To take care so that the future transnational organisation of the laboring
class is not conceived as a unique, hierarchical and pyramidal structure, but
as a variety of various types of organisations, with a network-like structure
with many horizontal bonds. 6. To promote a labor front in reorganised structures that also include workers
outside the formal sector throughout the world, capable of taking effective
coordinated actions to confront globalised capitalism.
Only such a renewed movement of workers, worldwide, inclusive and acting to-
gether with other social movements will be able to transform the present world
and to create a world order founded on solidarity rather than on competition.
• Es gibt eine Reihe positiver Beispiele der Selbstorganisation in der informellen Wirtschaft:
o SEWA (Indien)
o AZIEA (Zambia), Assotsi (Mozambique), MUFIS (Malawi) o Bemühungen traditioneller Gewerkschaften in Afrika, Informelle zu
organisieren (Ghana TUC, Nigerian Labour Congress)
o StreetNet o HomeNet
o In Lateinamerika haben sich Informelle (v.a. Selbständige) seit jeher
gewerkschaftlich stärker organisiert o WIEGO (Women in Informal Employment Globalising and Organising),
internationales Netzwerk aus Gewerkschaften, NGOs und Individuen • Mikrounternehmer und Selbständige in der informellen Wirtschaft organisieren
sich häufiger und eher als abhängig prekär Beschäftigte, so die ILO. In den
letzten Jahren sind v.a. von Frauen gegründete und geleitete (oft auf den lokalen Raum begrenzte) Selbsthilfeorganisationen entstanden.
INFORMELLE UND PREKÄRE ARBEIT: EIN GLOBALES PHÄNOMEN
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Was macht das SAH?
• Das SAH streicht die zentrale Bedeutung von menschenwürdiger Arbeit für
nachhaltige Entwicklung und Armutsbekämpfung heraus. Das SAH definiert den
Sektor Arbeit und Gewerkschaften als ein prioritäres Handlungsfeld in der Entwicklungszusammenarbeit und ein Thema, auf das in der Kommunikation
besonders fokussiert wird.
• Das SAH reagiert auf die zunehmende Informalisierung und Prekarisierung der Arbeit weltweit, nimmt informelle / prekäre Arbeit vermehrt in den Blick und
fokussiert dabei v.a auf abhängig prekär Beschäftigte. Denn die abhängig
Beschäftigten sind, wie auch die Statistiken belegen, in ihren Arbeits- und Lebensbedingungen noch um einiges schlechter gestellt. Das SAH konzentriert
sich auf die Unterstützung von z.B. o LandarbeiterInnen
o Hausangestellten
o Arbeitslosen (Reintegration in den Arbeitsmarkt) o TemporärarbeiterInnen, Tagelöhnern, LeiharbeiterInnen
o Unterakkordanten
• Beispiele für aktuelle SAH-Projekte: o Monitoring Labour Standards (Südliches Afrika)
o Zafreros (Zuckerrohrschneider, Bolivien)
o Hausangestellte (Bolivien) o LandarbeiterInnen (Nicaragua)
o 2010 Kampagne “Fair Games – Fair Play“ (BauarbeiterInnen) • Schematisch dargestellt basiert die Vorgehensweise auf fünf Schritten:
o Zielgruppe identifizieren, die unter schlechten Arbeitsbedingungen leidet
und diese Situation verändern will (d.h. Eigeninitiative mitbringt) o Selbstorganisation der Betroffenen stärken, Forderungen formulieren
und artikulieren
o Lobby und Advocacy für politische Bündnisse zur Interessendurchsetzung (z.B. mit traditionellen Gewerkschaften, NGOs,
Basisorganisationen) o internationale Vernetzung fördern
o begleitende Öffentlichkeits- und Kampagnenarbeit
• Voraussetzung für eine Unterstützung von Seiten SAH ist, dass die Begünstigten ein Minimum an (Selbst-) Organisation aufgebaut haben und willig
sind, ihre Situation zu verbessern. Das SAH hat wenig bis keine
Interventionsmöglichkeiten bei völlig individualisierten Fällen. • Besonders nützlich sind Fälle, von denen eine Signalwirkung ausgeht, die
Synergien und Multiplikationseffekte fördern durch Erfahrungsaustausch,
Vernetzung, etc.
INFORMELLE UND PREKÄRE ARBEIT: EIN GLOBALES PHÄNOMEN
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Forderungen an die Schweiz
(siehe auch SAH-Positionspapier Decent Work, Dezember 2006)
• Die Schweiz muss aktiv die Decent Work Agenda der ILO unterstützen und im
Rahmen dieser Agenda v.a. auf den besseren Schutz prekärer, informeller Arbeitsverhältnisse hinarbeiten.
• Die Schweizerische Entwicklungszusammenarbeit muss sich auf internationaler
Ebene (WB, IWF, UN-Organisationen, Gremien der Geberkoordination) dafür einsetzen, dass “Menschenwürdige Arbeit für Alle“ als Kernelement in die
Armutsbekämpfungsstrategien aufgenommen wird.
• Die Schweiz verpflichtet sich, in internationalen Handelsabkommen die Auswirkungen auf Quantität und Qualität von Arbeitsplätzen zu einem wichtigen
Kriterium zu erheben (z.B. durch ex ante employment impact assessments).
• Bund, Kantone und Gemeinden sollen im Rahmen des öffentlichen Beschaffungswesens alle Lieferanten und Leistungserbringer gesetzlich und
vertraglich verpflichten, bei der Ausführung des Auftrags die Kernarbeitsnormen
der ILO wie auch die jeweilige nationale Gesetzgebung einzuhalten.
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