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Wie Politik funktioniert

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Wolf Wagner

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Titelbild: Plenarsaal des deutschen Bundestages Foto: Deutscher Bundestag

Diese Veröffentlichung stellt keine Meinungsäußerung der Landeszentralefür politische Bildung Thüringen dar. Für inhaltliche Aussagen trägt derAutor die Verantwortung.

Landeszentrale für politische Bildung ThüringenRegierungsstraße 73, 99084 Erfurtwww.lzt.thueringen.de2010

ISBN: 978-3-937967-62-2

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Inhaltsverzeichnis

Einleitung: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

Warum Interesse an Politik? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

Mein Weg zur Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

Die Geschichte meiner Eltern . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

... und die Folgen für mich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15

Erstes Kapitel: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19

Ein Engel namens Satan – oder: Was ist die beste Gesellschaft? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19

Die erste Welt des Engels Satan:Die selbstlose Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21

Die zweite Welt des Engels Satan:Die egoistische Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33

Die ideale Gesellschaft: Die Mischform von selbstloser und egoistischer Gesellschaft . . . . . . . . 39

Zweites Kapitel: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41

Die Milliarden Leben des Kolumbus – oder:Das Verhältnis von Politik und Wahrheit . . . . . . . . . . . . 41

Schwierigkeiten mit der Zukunft . . . . . . . . . . . . . . . . . 42

Von der Willensfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47

Die nicht beabsichtigten Folgen zielgerichteten Handelns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48

Politik unter Bedingungen der Ungewissheit . . . . . 50

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Wie viel Wahrheit ist möglich und nötig in der Politik? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52

Konstruktivismus – die Lehre von der Ungewissheit der Wirklichkeitsmodelle . . . . . . . . . . 52

Freiheit: Die Erlaubnis zur Dummheit. . . . . . . . . . . . . 54

Lehren für die Politik: Eine Ethik der Ungewissheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55

Drittes Kapitel: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59

Robinson Crusoe – oder: Über unterschiedliche Methoden, Freiheit zu gewinnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59

Das „Reich der Freiheit“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61

Moderne Robinsonaden und ihre Folgen . . . . . . . . 63

Politik als Gegengewicht zur Robinsonade . . . . . . . 64

Viertes Kapitel: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67

Die braven Folterer – oder: Die notwendigen Grenzen von Macht und Herrschaft . . . . . . . . . . . . . . . . 67

Was macht uns zu braven Folterern? . . . . . . . . . . . . . 69

Die erschreckenden Ergebnisse des Milgram-Experiments . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71

Die Mitleidshypothese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74

Die Erziehungshypothese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75

Die Bedeutung der Selbstdarstellung von Macht . 76

Distanz macht mitleidlos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77

Wenn die Autorität versagt, ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78

Gewaltenteilung und Streit als Voraussetzung für Zivilcourage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79

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Fünftes Kapitel: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83

Die Eine-Million-Pfund-Note – oder:Der Unterschied zwischen symbolischer und praktischer Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83

Symbolische und praktische Politik . . . . . . . . . . . . . . 86

Praktische Politik in Aktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87

Wie die Wahlentscheidung zustande kommt . . . . . 92

Das Dilemma der Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93

Die Arbeitsteilung zwischen praktischerund symbolischer Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94

Die Bedeutung der praktischen Politik . . . . . . . . . . . 96

Sechstes Kapitel: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99

Der kleine Prinz und der König – oder:Was macht eine gute Regierung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99

Die Kunst des Regierens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101

Die Verwandlung von Macht in Herrschaftals historischer Prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103

Macht und Ohnmacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104

Die Vorteile der Herrschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106

Siebtes Kapitel: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107

Huckleberry Finn – oder: Wege aus der Hilflosigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107

Die historische Bedeutung des Huckleberry Finn . 108

Huckleberry Finn und die Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . 110

Bürgerinitiative: Zivilcourage zusammen mit anderen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112

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Die Vorteile der Parteiarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113

Kommunalpolitik als Einstieg in die Parteipolitik . 114

Die Rolle von Parteimitgliedern in der Verwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116

Last und Reiz der symbolischen Politik . . . . . . . . . . . 118

Fazit: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121

Das zweitbeste, aber einzig praktikable System . . . . 121

Der Engel Satan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121

Robinson Crusoe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122

Milgram . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123

Die Eine-Million-Pfund-Note . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124

Der kleine Prinz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125

Huckleberry Finn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126

Die bescheidene Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126

Glossar: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129

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Einleitung:

Warum Interesse an Politik?

Politik gilt bei vielen als unanständig und langweilig. BeiUmfragen über das Prestige der Berufe schneiden Ärzte undProfessoren am besten, Politiker am schlechtesten ab. Poli-tische Sendungen haben im Fernsehen die niedrigsten Ein-schaltquoten.Wozu dann über Politik schreiben? Warum solltesich dafür jemand interessieren?

Mein Weg zur Politik

Ich war zehn oder elf Jahre alt, als ich zum ersten Malbewusst mit Politik in Berührung gekommen bin. Das war inden Fünfzigerjahren. Es gab noch kein Fernsehen. Meine Mut-ter hörte beim Bügeln und Zusammenlegen der Wäsche Ra-dio. Ich saß dabei und machte Hausaufgaben. Im Radio wurdeeine Debatte aus dem Bundestag übertragen. Es ging um dieWiederbewaffnung der Bundesrepublik1. Vom Inhalt derReden verstand ich wenig. Aber die Gefühle, die Dringlichkeitund die Leidenschaft, die erhobenen Stimmen, mit denen sievorgetragen wurden, kamen bei mir an. Alle sprachen mit In-brunst und schienen völlig überzeugt zu sein von ihrer Sacheund von der Gefährlichkeit und Abwegigkeit der anderenPositionen. Stärker noch beeindruckten mich die Reaktionenmeiner Mutter. Sie unterstützte die Gegner der Wiederbewaff-nung mit zustimmenden Ausrufen wie „richtig“,„genau“,„gut

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1 Fettgedruckte Begriffe werden im Glossar mit Zitaten – in der Regel aus Wikipedia erläutert.

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so“ und kommentierte das Ende einer jeden Rede mit Lob, dassie an das Radio richtete, als ob sie dort jemand hören könnte.„Eine hervorragende Rede!“ oder „Das hat aber gesessen! Dakann doch niemand mehr dafür sein!“ Die Befürworter derWiederbewaffnung überhäufte sie mit Geräuschen derVerachtung und Kommentaren wie „unerhört“,„unglaublich“,„unmöglich“ und beschimpfte sie am Ende ihrer Reden. „Soeine schlechte Rede!“ oder „Wie kann man so etwas sagen?Schämen sollten sie sich!“ Für mich war es eher ein sportlichesEreignis, weil ich nicht so recht verstand, worum es ging. Aufjeden Fall war ich auf der Seite meiner Mutter und wünschte,dass ihre Seite gewinnen sollte. Sie verlor. Die Bundesrepublikbekam 1956 die Bundeswehr.

Ähnlich war es beim zweiten politischen Ereignis, an dasich mich erinnern kann. Mutter und Großmutter hatten unsKinder mit auf den Marktplatz genommen. Dort wurden aufeiner großen Tafel die hereinkommenden Wahlergebnisseaus den Stimmbezirken ausgehängt. Es ging um die Wahlenzum Oberbürgermeister und zum Gemeinderat. Ich weiß nichtmehr genau, warum die meiner Mutter so wichtig schie-nen. Ich erinnere mich auch hier mehr an die Leidenschaftenals an den Inhalt. Wie bei einem wichtigen Sportereignis gabes bei jedem neuen Ergebnis auf den anderen Seiten Beifall,Jubel und Buhrufe. Es war ein knappes Rennen und wir fieber-ten und jubelten mit unserer Mutter für den Kandidaten, derschließlich unterlag.

Das Gefühl war entscheidend. Meine Mutter zeigte mirmit ihrer Leidenschaft, dass es bei Politik um wichtige Dingeging. Denn sonst war sie nicht mit solchem Eifer bei der Sache.Dieses ungewöhnliche Engagement hat mich neugierig ge-macht und – wohl weil ich meiner Mutter gefallen wollte –dazu gebracht, politischen Themen mit größerem Interesse zubegegnen. Die Gefühle waren die gleichen wie beim Mann-schaftssport. Man identifiziert sich aus irgendwelchen Grün-den mit einer Mannschaft und ist niedergeschlagen, wenn sieverliert. So wie kleine Jungs für Fußball begeistert werden,wenn ihr Vater oder älterer Bruder sie ins Stadion mitnimmt, so

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begeisterte mich die Aufregung und Begeisterung der Leutein der Politik. Die Atmosphäre prägte meine Haltung gegen-über der Welt stärker als rationale Einsichten. So äußerte ichmit vierzehn Jahren – nach den altersüblichen Ausflügen insEisenbahnwesen und zur Polizei – den Berufswunsch, Jour-nalist zu werden. Meine Mutter hatte ohne Absicht dieWeichen dazu gestellt. Doch wie kam sie selbst – ganz un-gewöhnlich für Frauen ihrer Zeit, sie wurde 1910 geboren – zuihrem Interesse an Politik?

Die Geschichte meiner Eltern

Nach allem, was ich weiß, hat sich meine Mutter anfangsüberhaupt nicht für Politik interessiert. Im Gegenteil, sie musssie gehasst haben. Denn in ihrem Elternhaus war Politik derbeständige Anlass für heftigen Streit. Der Vater meiner Mut-ter war bis ins Mark Katholik und als solcher engagiertesMitglied in der damals existierenden Zentrums-Partei. DieMutter meiner Mutter war eine strenge Protestantin mit ei-ner Abneigung gegen den Papst und alles Katholische wegendes Prunks und der Sinnlichkeit, die sie von den Protestan-ten unterschieden. Der Vater bestand darauf, dass man nurbei Katholiken einkaufen sollte. Die Mutter tat das Gegenteil.Der Vater hatte der katholischen Kirche seine Kinder verspro-chen. Die Mutter brachte drei der vier katholisch getauftenKinder dazu, in die protestantische Kirche überzuwechseln.Der Vater bejahte die Weimarer Republik. Die Mutter wolltezurück ins Kaiserreich. Politik, Religion und persönliche Rache-gefühle waren nicht mehr zu unterscheiden und wurden zumpermanenten Krieg. Das ging so weit, dass der Vater vorgab, erwolle noch ein Bier trinken gehen und stattdessen heimlich indie Kirche ging. Meine Mutter erzählte mir mit Abscheu vondiesen Kämpfen und wie sie als Kinder zwischen die Frontengeraten waren.

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Als ihre beiden älteren Brüder begannen, für die Nazis zuschwärmen, wohl auch als Auflehnung gegen den strengenVater, spitzte sich der Streit in der Familie noch weiter zu. Fürden Vater war es das Schlimmste, was ihm passieren konnte.Für ihn waren die Nazis der Antichrist, der Niedergang dermenschlichen Zivilisation, der sichere Aufbruch in einen neu-en Weltkrieg. Für die Brüder war der Nationalsozialismus derAufbruch in eine neue, moderne Welt mit einem starken, kla-ren Deutschland. Die katholische Zentrumspartei ihres Vaterswar für sie Inbegriff all dessen, was sie an der Weimarer Re-publik hassten: Das Eintreten für Schwache, für Menschen-rechte, für internationale Kooperation, für Kompromissbe-reitschaft, für Frieden um jeden Preis. Für sie war das Zentrumeine Partei der alten Leute. Sie selbst sahen sich und ihre Par-tei, die sie Bewegung nannten, als die Partei der Jugend, derZukunft, der Klarheit und der Macht.

Die Positionen hätten nicht krasser aufeinander treffenkönnen. Jedes Essen, jedes Gespräch endete in Streit undTürenschlagen. Es war ein Männerstreit. Die Frauen suchten zuschlichten, wollten für Ruhe sorgen, verboten politische The-men bei Tisch. Doch die Männer hörten nicht auf sie. Immerwieder schrien sie sich an, drohten einander. Deshalb hatmeine Mutter damals Politik gehasst. Und vielleicht hat siesich auch deshalb in einen völlig unpolitischen Mann verliebt,großgewachsen, schlank, sportlich, der nichts anderes woll-te als eine glückliche Familie. Denn er war von seinem Vatermit einem unstillbaren Ehrgeiz gequält und angetrieben wor-den.Darum wohl hat er sich als Erwachsener allen Ansprüchenverweigert, die über das private Familienglück hinausgingen.

So haben sich die beiden gefunden und geheiratet. Mei-ne Mutter wollte sechs Söhne,weil sie in ihrer ersten bezahltenArbeit als Familienerzieherin von sechs wilden Jungs ihre ersteBewährungsprobe bestanden hatte. Das passte zu seiner Vor-stellung vom privaten Glück. Einträchtig ignorierten sie diePolitik, die sich damals mehr und mehr zuspitzte.

Denn sie heirateten im Jahr 1938. Die Politik steuertedamals direkt auf den großen Krieg zu. Deutschland hatte sich

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unter den Nazis verwandelt. Die Politik war in den Alltag ein-gedrungen, selbst das Grüßen war zur politischen Nagel-probe geworden. Menschen in der Nachbarschaft wurdenabgeholt, Juden zuerst aus ihren Positionen, dann aus ihrenHäusern und Wohnungen gedrängt. Ungeheuerlichkeiten ge-schahen überall, sichtbar für alle. Meine Mutter erzählte mir,wie mein Vater am 9. November 1938 entsetzt und erschüt-tert von der Arbeit in der Berliner Innenstadt heimgekom-men sei und ihr mit Tränen in den Augen vom Brand derSynagoge und der Verfolgung von Juden in den Straßen Ber-lins erzählt habe. Und dennoch haben sie damals das Ange-bot von Verwandten abgelehnt, zu ihnen nach Australien zuziehen. Meine Eltern hatten gerade eine moderne Wohnungmit großem Balkon im Grünen bezogen und mit schickenneuen Möbeln im Bauhausstil eingerichtet. Meine Mutter warschwanger. Sie lebten in ihrer privaten Idylle und erlaubtensich kein Wissen von der Gefahr, in der sie schwebten. Dannschlug die Politik zu, wurde zum Krieg und zerstörte mit un-geheurer Wucht und Geschwindigkeit die Idylle, die sie sichaufgebaut hatten. Zuerst wurde mein unpolitischer Vater zumReichsarbeitsdienst und dann zum Militär eingezogen. Erwar gegen Krieg und Militär – so wie er gegen Politik war.Dochdas nützte ihm nichts. Zu seinem Glück – wie er glaubte – kamer nicht an die Front, sondern musste, weil er schon relativ altwar, Kriegsgefangene bewachen. Das war ein leichter Dienst,meinte er wohl. Doch er geriet in die Hölle. Die Nazis hat-ten Polen und Russen zu „Untermenschen“ erklärt und be-schlossen, sie politisch, wirtschaftlich, kulturell und in großenTeilen auch physisch zu vernichten. Sie schufen Umstände,die den Tod vieler Millionen Menschen an Hunger und Seu-chen unvermeidlich machten. Unter den polnischen und sow-jetischen Kriegsgefangenen wurde diese mörderische Politikbesonders radikal umgesetzt. Ihnen wurde entgegen derGenfer Konvention und im Unterschied zu den Gefangenenim Westen das Minimum an Nahrung und Unterkunft verwei-gert, das zum Überleben notwendig gewesen wäre. Millionenvon ihnen starben auf Transporten und in Lagern an Aus-

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zehrung und an ansteckenden Krankheiten wie Fleckfieber,Typhus, Ruhr.

Mein Vater muss meiner Mutter im Urlaub von denSchrecken in den Lagern erzählt haben. Denn sie, die bis dahinUnpolitische, wurde aufmüpfig und kritisch gerade da, wo esam gefährlichsten war. Sie verweigerte den Gehorsam ge-genüber dem Befehl, sich zusammen mit den anderen Frauenund Kindern aus Berlin vor dem Bombenkrieg nach Osten, inehemaliges polnisches Gebiet evakuieren zu lassen. Sie sahdas Unheil kommen, die Niederlage und die Rache der Sie-ger. Statt ins besetzte Polen zog sie nach Schwaben zu ihrerMutter und erhielt für ihren Ungehorsam kein Recht auf ei-genen Wohnraum und eine reduzierte Versorgung mit Le-bensmitteln.

Die gewonnene politische Weitsicht hat nur ihr geholfen.Mein Vater war in eine Maschinerie geraten, die ihn nicht mehrlos ließ. Er hatte im Lager selbst Fleckfieber bekommen undüberlebt. Dadurch war er gegen Fleckfieber immun und konn-te in den verseuchten Lagern eingesetzt werden. Er war un-verzichtbar geworden. Man ließ ihn nicht gehen. Und so muss-te er bis zum Ende sowjetische Kriegsgefangene bewachen,zuletzt in Norwegen. Dort geriert er in britische Gefangen-schaft und wurde nach Deutschland transportiert. Er war kurzvor seiner Entlassung, als die Politik ein letztes Mal zuschlug.Die Alliierten hatten festgelegt, dass jede Siegermacht die-jenigen deutschen Gefangenen bekommen sollte, die sie imVerdacht hatte, an ihren Staatsbürgern Kriegsverbrechen ver-übt zu haben.

Mein Vater wurde aus einem britischen Entlassungsla-ger an die Sowjetunion ausgeliefert worden und kam in dasehemalige Konzentrationslager Sachsenhausen nördlichvon Berlin. Die für arbeitsfähig Befundenen wurden nachSibirien in Arbeitslager verschickt, wo sie in Kohlebergwer-ken unter ähnlichen Bedingungen schuften mussten wie ihrefrüheren Gefangenen. Unterernährung, Vitaminmangel, Er-frierungen und Überarbeitung führten bei meinem Vaterbald zu Skorbut und einem allgemeinen Erschöpfungszu-

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stand. Zähne und Haare waren ausgefallen. Schwere Herz-beschwerden kamen hinzu. Zusammen mit anderen ähnlichverbrauchten Deutschen sollte er nach Deutschland entlassenwerden. Noch im Entlassungslager bei Moskau starb er anErschöpfung. Das war in der Weihnachtszeit 1946 über einJahr nach Ende des Krieges.

... und die Folgen für mich

Meine Mutter, die zusammen mit ihrem Mann alles ge-tan hatte, um der Politik aus dem Weg zu gehen, war vonder Politik eingeholt worden und sie hatte ihr alles genom-men. Ihr Mann war tot. Ihre schicke Etagenwohnung in Ber-lin war zerbombt. Die wenigen Möbel, die sie hatte ausdem überschwemmten Keller retten können, standen jetztin der Wohnung ihrer Mutter, wo sie mit ihren drei Kindern –nun selbst wieder abhängig wie ein Kind – untergekommenwar.

Der Krieg hatte sie politisiert. Das, was sie erleben muss-te, sollte ihr nicht noch einmal passieren. Sie würde sich ein-mischen. Sie würde alles tun, um einen weiteren Krieg zuverhindern. Jetzt wollte sie das Ihrige tun, um ihr Schicksalwenigstens zum Teil selbst zu bestimmen. Deshalb hörtesie mit solcher Leidenschaft und Parteilichkeit den Debattenüber die Wiederbewaffnung Deutschlands zu und nahm unsKinder mit zur öffentlichen Auszählung der Stimmen bei derOberbürgermeisterwahl. So hatte sie für mich einen emo-tionalen Zugang zur Politik geschaffen, hatte mit ihrem En-gagement ein Vorbild für eigenes Engagement gesetzt. Anihrem Beispiel konnte ich sehen, welche Folgen Politik habenkann, weshalb es überlebenswichtig sein konnte, sich einzu-mischen. Deshalb studierte ich Politische Wissenschaft undwollte Journalist werden. Ich landete stattdessen in der Wis-senschaft, die ich bis heute betreibe.

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In all den Jahren als Politikwissenschaftler habe ich ge-lernt, dass in der Politik vieles in Wirklichkeit ganz anders ist,als es in den Medien und in der Politik selbst dargestellt wird.Schulbücher, Medien und vor allem die Parteien und ihreProminenz neigen dazu, ein idealisiertes Bild von der Demo-kratie zu zeichnen. Da geht es angeblich um das Gemeinwohl.Da geht es angeblich um den Wählerwillen, um das, was dasVolk will. Da werden hehre Prinzipien verkündet und angeb-lich verwirklicht.

In all den Jahren wissenschaftlicher Beschäftigung mitPolitik habe ich auch gelernt, dass übersteigerte, idealisierteErwartungen an die Politik das Gefährlichste sind, was einerDemokratie passieren kann. Denn sie führen unweigerlich zurEnttäuschung. Solche übersteigerten und dann enttäusch-ten Erwartungen sind die häufigste Ursache für eine Abwen-dung und Verachtung für die tatsächlich praktizierte Demo-kratie. Manche führt solche Enttäuschung zu autoritären odersogar diktatorischen Varianten der Politik. Denn diese tretenmeist mit dem Versprechen auf, die häufigste idealisierteErwartung an Demokratie erfüllen zu können, nämlich das„Gemeinwohl“ schnell und ohne Streit durch klare und ein-deutige radikale Lösung aller Probleme durchzusetzen, wennsie erst mal die ganze Macht haben.

Meine Jahre wissenschaftlicher Beschäftigung mit Poli-tik haben mich zu einer sehr nüchternen Auffassung vonPolitik geführt, die ich hier gegen solche Idealisierungen undüberhöhten Erwartungen setzen und zur Erwägung stellenwill. Ich will die oft banale Wirklichkeit hinter den großenWorten aufdecken und zugleich dieser bescheideneren Wirk-lichkeit zu einer eigenen Ehre verhelfen. Zu einer solchenHaltung haben mich unter anderem die Bücher von MarkTwain geführt. Er hat sich sein Leben lang genau dieser Auf-gabe gestellt. Mit seinen Geschichten wollte er den Aufge-blasenheiten der Welt die „Luft rauslassen“.„Debunking“ nann-te er sein Verfahren. Im Wörterbuch wird das ins Deutscheübersetzt mit „niedriger hängen, entlarven, des Nimbus be-rauben“.

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Weil ich selbst vor allem durch emotionale Signale, Stim-mungen, Leidenschaften, Gefühle in den scheinbar rationalenBotschaften zu meinem Interesse an Politik gekommen bin,nehme ich in den meisten Kapiteln Mark Twains wundervollemotionale Geschichten als Einstieg und emotionalen Be-zugspunkt, so auch gleich beim ersten Kapitel.

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Erstes Kapitel:

Ein Engel namens Satan – oder:Was ist die beste Gesellschaft?

Drei Jungen aus einem mittelalterlichen Dorf in Öster-reich lernten eines Tages beim Spielen im Wald einen seltsa-men Fremden kennen. Der wusste alles über sie. Sogar wassie gerade dachten. Er konnte aus dem Nichts Gegenständezaubern, an die sie nur gedacht hatten. Und er formte ausLehm Eichhörnchen, die lebendig davonliefen, oder Vögel, dieaus seiner Hand flogen. Fasziniert schauten ihm die Freundezu. Schließlich traute sich einer von ihnen und fragte dengeheimnisvollen Fremden, wer er sei. „Ein Engel“ antworteteder einfach.

Als die Jungs darauf vor Ehrfurcht erstarrten, löste sieder Engel aus ihrer Befangenheit, indem er ihnen eine kleineWelt erschuf und so ihre ganze Aufmerksamkeit von sichselbst auf diese Welt lenkte. Er formte aus Lehm Hundertefingergroße menschliche Figuren, die kaum auf den Bodengesetzt, lebendig wurden und zu arbeiten begannen. Sieräumten ein Stück Boden frei, rodeten das Gras wie einenWald, wälzten Steinchen und schleppten Holzstücke und bau-ten daraus Häuser und Hütten. Dann formten sie aus Lehmwinzige Ziegel, bauten Gerüste, zogen Mauern hoch underrichteten in der Mitte auf einer kleinen Anhöhe eine richti-ge kleine Burg mit Türmen, Wehrgängen, Graben und Zug-brücke. Gerade als einer der Jungen den Engel fragte, wie erdenn heiße, rettete dieser eine der kleinen, lebendigen Fi-guren, die auf einem Gerüst hoch oben am Turm der Burgausgerutscht war und sicher zu Tode gekommen wäre, hät-te der Engel sie nicht aufgefangen. Darüber hätten sie bei-nahe seine Antwort überhört: „Satan“.

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Als sie nun statt in Ehrfurcht in Entsetzen verfielen indem Glauben, sie hätten den Teufel vor sich, beruhigte sie derEngel Satan und erklärte, der Teufel sei nur ein entfernterOnkel von ihm, nach dem er benannt worden sei. Aber imGegensatz zu dem kenne er, der Engel Satan, keine Sündeund auch keinen Unterschied zwischen Gut und Böse. Wäh-rend er das sagte, zerquetschte er zwischen seinen Fingernzwei der kleinen Figuren, die er geschaffen hatte. Sie warenin Streit geraten und hatten begonnen, aufeinander einzu-schlagen. Und während er sich mit einem Taschentuch dieblutigen Finger abwischte, sagte er: „Die Moral ist die größ-te Strafe für die Menschheit.“

Das ist der Anfang einer bitterbösen Geschichte vonMark Twain mit dem Titel:„Der geheimnisvolle Fremde“.2 MarkTwain, der amerikanische Schriftsteller des 19. Jahrhunderts,hat im deutschen Sprachraum für seine Romane „Tom Saw-yer“ und „Huckleberry Finn“ den Ruf eines harmlos-humo-ristischen Jugendschriftstellers erhalten. Tatsächlich ist er einengagierter Freigeist gewesen, der mit scharfer Ironie dieScheinheiligkeiten und Aufgeblasenheiten seiner Zeit zu ent-larven versuchte.

Uns soll der Engel Satan dazu dienen, unsere Fantasiefreizusetzen und uns von vorgefassten Vorstellungen und Er-wartungen zu lösen. Zusammen mit dem Engel Satan, derkeine Moral und kein Gut und Böse kennt und der aus Lehmganze Gesellschaften formen und wieder in Lehm zurückver-wandeln kann, wollen wir selbst in Gedanken einige Gesell-schaften bauen und an ihnen ausprobieren, was die besteGesellschaft ist.

Als Kriterium zur Beurteilung der von uns erschaffenenFantasiewelten soll uns ganz unmoralisch ihr Erfolg dienen.Um den zu testen, lassen wir jede Gesellschaft einige Gene-rationen lang laufen und schauen zu, ob sie blüht und gedeihtoder ob sie droht unterzugehen.

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2 Mark Twain (1966) Der geheimnisvolle Fremde. In: Ausgewählte Werke in 12 Bänden. Hrsg. vonKarl-Heinz Schönfelder (Aufbau-Verlag) Berlin.

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Als zweites Kriterium soll uns ein von dem US-ameri-kanischen Philosophen John Rawls entwickeltes Maß fürdie Gerechtigkeit einer Gesellschaft dienen: Der Schleier desUnwissens. Eine Gesellschaft soll dann als gerecht gelten,wenn man ihre Regeln auch dann akzeptieren kann, wennman nicht weiß, welche Position man in ihr einnehmen wird.Das ist das am wenigsten moralische und inhaltlich festge-legte Gerechtigkeitsprinzip und dürfte demnach gut zu un-serem Engel Satan passen.

Die erste Welt des Engels Satan:Die selbstlose Gesellschaft

Auf die Frage nach der idealen Gesellschaft haben diemeisten Menschen eine schnelle Antwort: Es ist die selbstloseGesellschaft. Gemeint ist ein Organismus, in dem die Men-schen selbstlos, altruistisch sich für die anderen und das Gan-ze einsetzen. Alle begeistern sich für das Gemeinsame undstellen ihre Einzelinteressen zurück. Überall herrscht die glei-che Regel: sich selbstlos mit allen Kräften für das gemeinsa-me Wohl einzusetzen. Wenn jeder für alle sein Bestes gibt, istauch für jeden selbst bestens gesorgt.

Was ist Gesellschaft? Vor der Französischen Revolution1789 hieß das, was wir heute Gesellschaft nennen, Land,Königreich, Fürstentum oder unter den Gebildeten respublica (lat.: die öffentliche Sache). Die Menschen galtennicht als einzelne Personen mit gleichen Rechten und glei-cher Würde, sondern als Inhaber bestimmter Positionen.Man war nicht Mensch, sondern Fürst, Priester, Nonne,Meister, Geselle, Bäuerin, Magd oder Knecht. In der vorre-volutionären, ständischen Gesellschaft waren deshalb all-gemeine, für alle Menschen gleiche Rechte undenkbar.Jede Position hatte ihre eigenen Pflichten und Rechte. Der

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König hatte andere Pflichten als der Papst, der Bauer oderder Handelsknecht und hatte darum auch andere Rechte.

Hier schuf das Geld erst die Voraussetzungen für dieVergleichbarkeit des Unvergleichlichen. Geld hat den glei-chen Wert, egal, ob es vom König oder Bettler kommt. FürGeld hat alles seinen Preis, gleichgültig ob es sich bei derWare um Butter, Stoff, Land oder Vieh handelt. Das Geldmacht alles vergleichbar. Erst durch das Geld konntenMenschen nach ihrer „Leistung“ verglichen werden. UnsereDenkweise vom „Individuum“ war damals revolutionäresGedankengut.

Mit der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung undder Französischen Revolution setzte sich diese Denkweisedurch. Mit Napoleon verbreitete sie sich über ganz Europa.Das „Individuum“ war entdeckt. Es sollte das Recht aufSelbstverwirklichung, auf freie Entfaltung haben, solangees andere nicht an der Ausübung des gleichen Rechteshinderte. Die US-amerikanische Unabhängigkeitserklärunghatte sogar das Recht jedes Einzelnen auf das Streben nachGlückseligkeit („Pursuit of Happiness“) verkündet.

Solche revolutionäre Gleichmacherei bedeutete einenherben Verlust für den Adel. Aus seiner Sicht bedeutete derrevolutionäre Individualismus Niedergang und Zerfall dergottgegebenen Ordnung und Kultur. Gegen diese Ge-fahr setzten sie das Wort „Gesellschaft“. In ihm steckte dasWort „gesellen“ – ein altertümlicher Ausdruck für denZusammenschluss vieler Menschen zu einem gemeinsa-men Zweck. Und so eignete sich das Wort perfekt zurPolemik gegen den Individualismus und Egoismus derRevolutionäre. Im Wort Gesellschaft steckt also schon dasIdeal von der selbstlosen Gemeinschaft aller zum Wohledes Ganzen.

Wenn wir dieser ursprünglichen Bedeutung des WortesGesellschaft gerecht werden wollen, müssen wir den EngelSatan als erstes eine solche selbstlose Gesellschaft bauen las-

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sen. Zum Engel würde sie auch passen. Sie wäre eine wahr-haft engelsgemäße Gesellschaft.

Beispiele für die selbstlose Gesellschaft

Was ist das Wohl des Ganzen? Zur Beantwortung bräuch-te man den Zugang zur Wahrheit. Am besten wäre es also, andie Spitze der Gesellschaft die besten Denker zu setzen. Siehätten nämlich mit ihrer Weisheit und ihrem überlegenenWissen und Intellekt noch am ehesten den Zugang zur Wahr-heit. Mit dem Wissen um die Wahrheit könnten sie dann dierichtige Politik machen. In der selbstlosen Gesellschaft wärePolitik eine saubere Sache: Von den fähigsten Personen inKenntnis der Wahrheit entworfen und unter Einsatz aller Kräf-te von allen betrieben.

Viele Menschen werden sagen: Wenn Politik so wäre,könnte ich mich auch dafür begeistern. Sie würde für die Zu-kunft den richtigen Weg vorgeben und für die Gegenwart Ge-rechtigkeit und Sicherheit bieten.

Das Konzept ist so einleuchtend und überzeugend, dass esin der Menschheitsgeschichte immer wieder angestrebt undals Gedankenbild von Philosophen und Religionsgründernentworfen worden ist.

DIE ANTIKESchon die ältesten Gesellschaften versuchten dieses

Ideal zu erreichen. Im antiken Ägypten sagten die Priester dieÜberschwemmungen vorher und die Pharaonen organisier-ten die Verteidigung des Landes, während die Bevölkerung fürdie Produktion und Versorgung sorgte. Alles und jeder besaßseinen sinnvollen Platz.

Vom antiken Rom kennen wir das klassische Bild der orga-nischen, selbstlosen Gesellschaft: Sie sei wie ein menschlicherKörper. Die Eliten seien wie der Kopf, der alles zum Besten aller

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dirigiere, der aber ohne Bauch (Bauern), Beine (Transport undHandel) und Arme (Krieger und Handwerker) nicht überlebenkönne.So habe alles seine Funktion und seinen Platz und funk-tioniere zum Besten aller.

In Indien bestimmen bis heute solche Vorstellungen alsererbte Status- und Berufsgruppen das Leben der gläubigenHindus. Als die Kastengesellschaft entstand, galten jedochandere Regeln als heute. Niemand sollte dauerhaftes Eigen-tum haben. Alle sollten das tun, was sie am besten konnten.Dazu sollten sie aus dem Gemeineigentum die Mittel erhalten,die sie benötigten. Die höchste Kaste sollte aus den bestenKöpfen der Gesellschaft bestehen und Vorbild für alle ande-ren sein. Sie sollte in ihrer Weisheit die Gesellschaft zum Bes-ten leiten. Die anderen sollten ihrem Rat folgen und sich inihrer jeweiligen Funktion dem vorgegebenen allgemeinenBesten unterordnen: Die Krieger sollten das Land verteidi-gen, die Bauern das Land bestellen, die Handwerker die Din-ge des Lebens herstellen, die Händler sie über das Land ver-teilen und die Diener sollten dienen und all die Tätigkeitenausüben, die übrig blieben. Erst als diese Positionen vererbbarwurden und damit durch Geburt festgelegt und als angeb-liche Belohnung und Strafe für die Taten im vorherigen Le-ben für unveränderlich und heilig ausgegeben wurden, ver-wandelte sich die einst selbstlose Kastenordnung in ein Mitteldes Egoismus und zur Unterdrückung der Bedürftigen. Weilaber gläubige Hindus meinen, dass sie durch Einhalten derRegeln für ihre Kaste in diesem Leben im nächsten Leben inhöchste Position wiedergeboren werden könnten, ist die Ge-rechtigkeitsregel von Rawls erfüllt. Auch die Angehörigen derniedrigsten Kasten, selbst die Kastenlosen, stimmen den Re-geln zu, weil sie für sich eine Chance zur Verbesserung sehen– solange sie glauben. Für Nichtgläubige entstand eines derungerechtesten Systeme, das es auf der Welt gibt.

Auch im antiken Griechenland gab es solche Vorstel-lungen von Gesellschaft, die dem Bild eines einzigen Orga-nismus folgten. Platon etwa empfahl, die Gesellschaft durchden besten Philosophen leiten zu lassen. Alle anderen soll-

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ten sich freiwillig seiner Diktatur unterwerfen, die der Herr-schaft des Gesetzes überlegen sei. Während das Gesetz alleFälle gleich behandeln müsse, könne der Philosoph erken-nen, wenn jemand mit guten Gründen gegen das Gesetz ver-stößt. Der Philosoph wäre allemal gerechter als das Gesetz, dieDemokratie und die Herrschaft des Volkes, da dieser den Zu-gang zur Wahrheit besitzt.

DIE FRANZÖSISCHE REVOLUTIONIn der Zeit vor der französischen Revolution vertrat der

Philosoph Jean Jacques Rousseau unter dem Einfluss deraufkommenden Idee von der Gleichheit eine interessante Va-riante zum Philosophenstaat Platons. Statt eines Einzigen soll-ten alle gemeinsam die Weisheit vertreten. Dazu sollten alleverheirateten Männer – nur sie galten als Bürger – exakt gleichviel Land und Vieh besitzen und völlig unabhängig voneinan-der leben. So sollte jeder Interessenkonflikt vermieden wer-den. Alle würden die gleichen Interessen haben. Dann würdeihr Denken nicht mehr durch Sonderinteressen bestimmt undihr Wille würde immer automatisch das Gemeinwohl (volontégénérale) ausdrücken. Unausweichlich entstünde das Bestefür alle.

Ob nach dem Kastensystem der Hindus, der Philoso-phendiktatur Platons, der „volonté générale“ Rousseaus – al-len gemeinsam ist die Vorstellung, die Gesellschaft zu einemOrganismus zu formen, in dem es keine Sonderinteressen ge-be. Allen gemeinsam ist die Vorstellung, man müsse der Ge-sellschaft nur einen idealen, gemeinsamen Zweck setzen, unddie Gesellschaft wäre auf bestem Kurs und könne allen Ge-fahren trotzen.

Nehmen wir an, der Engel Satan, der kein Gut und Bösekennt und darum völlig unvoreingenommen ist, habe einesolche Gesellschaft gebaut und lässt sie Probelauf nach Pro-belauf, Generation nach Generation vor sich hin funktionieren.Was kommt dabei heraus?

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Von den Nachteilen der selbstlosenGesellschaft

DAS PROBLEM DER ELITENAUSWAHLDas zentrale Problem der selbstlosen, hierarchischen

Gesellschaft hat Platon selbst schon benannt: Im Bienenkorbist die Königin leicht zu erkennen, auch in einer Herde vonTieren ist der menschliche Hirte deutlich von den Tieren zuunterscheiden. Aber wie erkennt man den Philosophen, einenMenschen unter anderen Menschen?

Jede Gruppe in der Gesellschaft kann einen anderenMenschen als den Philosophen präsentieren und schon wäreder Streit gegeben, den die selbstlose Gesellschaft vermeidensoll. So kommt es, dass manche diesen und andere jenen fürdie am besten geeignete Person halten. Und jeder vertritt sei-ner Meinung nach die weiseste Entscheidung. Und schon hatman den verwirrenden, von Egoismen, Rechthaberei undStreit geprägten Zustand sich bekämpfender Parteien, vondenen jede behauptet, nur sie habe Recht und nur ihr Kan-didat sei der Beste.Wir haben normale Politik.

Immer wieder zeigen sich in solchen Gesellschaften diegleichen Probleme. Zuerst: Wie erkennt man den Besten derBesten, für den es lohnt, die eigenen Interessen zu opfern? Eszeigt sich immer wieder, dass Menschen auch bei größtermaterieller Gleichheit unterschiedliche Interessen und Sicht-weisen haben und sich nicht einig sind, wer der Beste und wasdas Beste für die Gesellschaft ist.

DAS PROBLEM DER INFORMATIONSAUSWAHLSelbst wenn es gelänge, die Besten der Besten an die

Spitze der Gesellschaft zu bringen, käme bald ein weitereschronisches Problem zum Tragen: Diejenigen oben sind aufdie Informationen derjenigen unten angewiesen. Denn dieoben sind von der Wirklichkeit abgeschnitten. Sie haben kei-nen unmittelbaren Zugang mehr zu ihr. Wie eine Isolier-schicht stehen zwischen ihnen und der Wirklichkeit die Grup-

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pe der Diener und Handlanger, die Ausführer ihrer Befehleund Berichterstatter über die Folgen.

Der Philosoph Hegel hat das am Beispiel Herr undKnecht beschrieben. Der Herr erfährt über den Knecht von derWelt. Der Herr behauptet aber von sich, er sei im Besitz derWeisheit. Wegen seiner behaupteten Überlegenheit kann ernicht zulassen, vom Knecht belehrt zu werden. Der Knechtdagegen lernt dazu. Er muss sich anpassen an die Verän-derungen der Wirklichkeit. So wird er bald der Fähigere undWirklichkeitstüchtigere von beiden und merkt, dass ihn derHerr in die Irre führt. Will er in der veränderten Wirklichkeitbestehen, muss der Knecht den Herrn stürzen und sich selbstzum Herrn machen. Und dann geht – laut Hegel – die Ge-schichte, die er Dialektik nannte, wieder von vorne los.

Der Herr, der diese Gefahr ahnt, muss demnach im Na-men der organischen Gesellschaft und seiner überlegenenWeisheit darauf bestehen, dass er der Beste ist und dass sichder Knecht der besseren Einsicht des Herrn unterwirft. Undschon sind wir bei einer irrationalen Diktatur angelangt, demGegenteil dessen, was die selbstlose Gesellschaft anstrebt.

Ist die Diktatur einmal installiert, verschärft sich dasProblem: Die Unterdrückten, die Unterworfenen und Unter-tanen trauen sich nicht mehr, dem Diktator missliebige In-formationen zu übermitteln, denn das könnte tödlich sein. DieDiktatoren sorgen so selbst dafür, dass sie systematisch be-logen werden und sich zunehmend in einer Scheinwelt be-wegen. Die Untertanen leben in einer wirklichen Welt, die sichimmer radikaler von der Scheinwelt der Herrschenden un-terscheidet. Die ursprünglich ideal konzipierte Gesellschaftverwandelt sich in ihr Gegenteil: eine verlogene und schi-zophrene Diktatur.

NATIONALSOZIALISMUS UND STALINISMUSErst richtig durchgesetzt hat sich das Modell von der

selbstlosen Gesellschaft im 20. Jahrhundert mit dem Aufkom-men großer Ideologien Und dann hat es gleich zwei großeKatastrophen erzeugt: Nationalsozialismus und Stalinismus.

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Wie im Körper sollte bei den Nazis jedes Glied derGesellschaft in seiner speziellen Funktion mit den anderenGliedern zusammenwirken und harmonieren. Nach dem latei-nischen Wort für Körper „corpus“ nannte sich die Idee „Kor-poratismus“. Die unterschiedlichen Funktionsträger der Ge-sellschaft, die Unternehmer, die Arbeiter, die Ärzte, die Bauernetc. sollten sich in Körperschaften organisieren und unter derLeitung der allwissenden Partei des „Führers“ zum Besten desVolkes wirken. Und wie bei einem wirklichen Körper solltenSchadstoffe, Wucherungen und infektiöse Eindringlinge iden-tifiziert und ausgemerzt werden.

Hitler und seine „alten Kämpfer“ hatten sich ein zu ihrerZeit weit verbreitetes populärwissenschaftliches Weltbild an-gelesen, wonach das Wohl und Wehe der Menschheit von denangeborenen Fähigkeiten der Menschen abhänge. So war esnoch um 1900 allgemeine Anschauung in der Wissenschaft,dass Kriminalität genauso wie Armut ein Ergebnis der Ver-erbung sei. Wurde doch Armut und Kriminalität nachweisbarhäufiger bei Kindern von Armen und Kriminellen angetroffen.Wie in der Tierwelt gebe es auch unter Menschen gute undschlechte Rassen. Zwischen ihnen herrsche ein Kampf umsÜberleben wie in der tierischen Natur. Und wie dort setze sichauch in der Gesellschaft nur die stärkste und genetisch besteRasse durch. Das war im Verständnis der Nazis die „germani-sche“, während die „jüdische“ als besonders schlecht galt. Ei-ne Vermischung mit schlechten Rassen musste demnach denUntergang bringen. Darum schien es im Überlebenskampfnicht nur gerechtfertigt, sondern unverzichtbar, der gegen-wärtigen Genera-tion Selbstlosigkeit und schwerste Opfer fürdas zukünftige Glück aller abzuverlangen. Die Gene solltendurch kluge Zuchtwahl verbessert und alle schlechten Ei-genschaften durch Sterilisierung und Ausrottung eliminiertwerden.

Nach ihrem Selbstverständnis waren die Nazis selbstloseIdealisten.Denn sie begingen – nach ihren eigenen Angaben –all ihre Morde und Untaten nicht aus Freude am Quälen, son-dern – wie sie meinten – zum Wohle der zukünftigen Mensch-

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heit. Heinrich Himmler, der Chef der SS, hielt am 4. Okto-ber 1943, mitten im Krieg, bei einem SS-Führertreffen in Po-sen eine Rede. In ihr wird die ganze Monstrosität diesesIdealismus auf den Punkt gebracht: Auf seinen Befehl hattedie SS viele Hunderttausende Juden umgebracht. Zur Zeit derRede hatte die SS gerade mit der systematischen Ermordungder Juden in Vernichtungslagern begonnen. Himmler sprachin seiner Rede offen von der „Ausrottung des jüdischen Vol-kes“. Und: „Von euch werden die meisten wissen, was es heißt,wenn hundert Leichen beisammenliegen, wenn 500 dalie-gen, oder wenn 1000 daliegen. Und das durchgehalten zuhaben und dabei, abgesehen von menschlichen Ausnahme-schwächen, anständig geblieben zu sein, hat uns hart ge-macht und ist ein niemals genanntes und niemals zu nennen-des Ruhmesblatt.“ Denn – so seine Logik – sie hätten dieReinheit der zukünftigen Rasse und damit die Zukunft derMenschheit gegen den drohenden Untergang verteidigt. Dievom „Führer“ erkannte „Wahrheit“ rechtfertigte in der Sicht derNazis ihr entschlossenes und konsequentes Handeln ohne„falsche Sentimentalitäten“, wie die Nazis Mitleid und Mit-menschlichkeit nannten.

Heute hat die Entschlüsselung des menschlichen Ge-noms gezeigt, dass es politisch wenig sinnvoll ist, bei Men-schen von „Rassen“ zu sprechen. Biologisch sollen „Rassen“im Sinne von Unterarten durch äußere Merkmale deutlichunterschiedene Gruppen einer Art zusammenfassen undvoneinander unterscheiden, die dennoch gemeinsame Nach-kommen zeugen können. Die genetischen Prägungen, auf diejene wenigen sichtbaren Unterschiede zwischen den angeb-lichen „Rassen“ zurückzuführen sind, etwa die Hautpigmen-tierung, die Augenstellung, die Form der Nase oder Ähnliches,machen nur einen winzigen Bruchteil der Gesamtinformatio-nen aus, die eine Person zu der machen, die sie ist. Die gene-tischen Unterschiede sogar zwischen Geschwistern sind weitgrößer als die Summe der genetischen Informationen, die alleAngehörigen einer „Rasse“ von denen einer anderen unter-scheiden.

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Menschen nach solchen äußerlichen Merkmalen als An-gehörige unterschiedlicher „Rassen“ einzuteilen und darauspolitische Folgerungen zu ziehen, etwa auf die Qualität derMenschen zu schließen, ist so dumm, wie wenn man Nah-rungsmittel nach ihrer Farbe einteilen wollte: Rote Grütze,Paprika, Erdbeeren, Rote Beete, Rotwein und Rotkohl in eine„Essensrasse“ und Weißwein, Weißkohl, Milch, Quark, weißerRettich, Vanilleeis, Hühnerbrust und Meerrettich in eine an-dere und dann sagen würde, „weiße Nahrungsmittel sindden roten überlegen“ und darüber den Unterschied zwischenMeerrettich und Vanilleeis vergessen wollte. Genauso absurdwie diese Betrachtung der Lebensmittel nur nach ihrer Farbeist die Einteilung der Menschen nach ihrer Hautfarbe, Nasen-oder Augenform in „Rassen“. Der Grund, dass es auch heutenoch Anhänger der Lehre von der unterschiedlichen Wertig-keit von „Rassen“ gibt, liegt also nicht in den wissenschaftlichüberprüfbaren Gegebenheiten, sondern in den Bedürfnissender Rassisten. Sie brauchen etwas, um ihr Bedrohungsgefühlzu erklären oder um sich anderen gegenüber überlegen zufühlen.

Zur Zeit des Nationalsozialismus war der unsinnige Glau-be an den Rassismus so weit verbreitet, dass für viele Men-schen die Machbarkeit einer idealen Zukunft der Menschheitdurch Zuchtauswahl einleuchtend schien. Zugleich erfüllteauch damals der Rassismus das Bedürfnis, sich überlegen zufühlen und andere – irgendwelche möglichst fremde andere –als gefährlich und minderwertig hassen zu dürfen. Hitler hatsolchem Hass Legitimität gegeben, ihn für zulässig, ja fort-schrittlich erklärt. Nur so ist verständlich, dass Hitler so vielund anhaltend Zustimmung finden konnte. Sein Glaube andie Wahrheit einer zukünftigen und besseren Welt der Ras-senreinheit war damals Allgemeingut und hat seiner DiktaturLegitimität und den Anschein von Selbstlosigkeit gegeben.

Mit einem ganz anderen Inhalt, einer anderen Begrün-dung und völlig entgegengesetztem Ziel glaubten sich auchLenin, Trotzki, Stalin und seine Zeitgenossen im Besitz derWahrheit. Nur meinten sie, die Welt nicht durch Zuchtwahl

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gestalten zu müssen, sondern durch die Veränderung derProduktions- und Eigentumsverhältnisse. Aus den Schriftenvon Karl Marx hatten sie gelernt, dass das Privateigentum anProduktionsmitteln und die Arbeitsteilung den Niedergangder Menschheit durch eine kleine Minderheit verursachen.Deshalb schien es ihnen mehr als gerechtfertigt, die Machtdieser Minderheit zu brechen und sie durch eine Diktatur derMehrheit zu ersetzen. Auch für sie galt der Einzelne nichts.Auch für sie war Mitleid eine gefährliche Schwäche angesichtsder welthistorischen Möglichkeit, die Menschheit insgesamtzu retten. „Sozialismus oder die Barbarei“ lautete damals dieAlternative angesichts der Grauen des Ersten Weltkrieges undder Ausbreitung des Faschismus in Europa. Die gerade leben-de Generation konnte und musste geopfert werden für einegreifbar nahe ideale Zukunft der Menschheit insgesamt. DerKommunismus stellte sich als die angeblich selbstlose Gesell-schaft in Reinform dar.

Nur so ist verständlich, dass sich Kommunisten bereit-willig in die Lager transportieren und zu Tode ausbeutenließen und dabei immer noch Stalins Lob sangen und mein-ten, dies alles geschehe ohne sein Wissen. Nur so ist verständ-lich, dass die Opfer der großen Schauprozesse sich selbstbezichtigten und auch ohne Folter Geständnisse auf sich nah-men, die völlig absurd waren. Ihnen leuchtete ein, dass siesich zum Wohl des „Großen Ganzen“ zu opfern hatten. Diekommunistischen Führer führten ein Leben, das sich nurwenig von dem der einfachen „Genossen“ unterschied. Allesollten die gleichen Interessen haben. Es galt nur noch, dieFähigsten zur Führung der Gesellschaft auszuwählen. Und danur die besten geeignet sind, Fähigkeiten zu erkennen, soll-ten sie auch diejenigen auswählen, die zu ihnen gehörten. DieWahl erfolgte von oben nach unten. Die höhere Einheit be-stimmte, wer gewählt werden sollte und die untere Einheitvollzog diese Wahl. Man nannte das „demokratischen Zentra-lismus“.

Die Besten der Besten würden das Zentralkomitee bil-den, das aus seinen Reihen wiederum den Besten als Sekretär

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wählte. Dem ZK und seinem Sekretär würde durch die Parteiund die staatlichen Organisationen das beste Wissen aus allenTeilen des Landes zugetragen. Dann könnten die weisestenEntscheidungen getroffen und ein Plan entworfen werden,der dem Wohle aller dienen würde. Keine Privatinteressen,kein Egoismus, kein Individualismus sollte das Funktionierenund Blühen des Ganzen stören.

Die Herrschaft der Wahrheit wird zum Terrorismus derPartei und ihrer Geheimdienste gegen jede wirkliche oderwahrgenommene Abweichung von dieser Wahrheit insbeson-dere innerhalb der Partei. Die selbstlose Herrschaft der Mehr-heit über die Minderheit wird zur totalitären Machtausübungüber den Rest der Bevölkerung.

Das Fazit zur selbstlosen Gesellschaft

Als meine Eltern in die Mühlen der Nazipolitik gerieten,waren sie nur zwei von vielen Millionen Opfern eines Wahr-heitsglaubens, einer Opferung der Menschen für ein für wahrgehaltenes zukünftiges Paradies. Sie sind genauso wie all dieanderen als vernachlässigbare Größen benutzt worden, zueinem menschlichen Zement verrührt und als Baumaterialeiner neuen Welt verarbeitet worden, meine Mutter als Kin-dergebärerin, mein Vater als Kriegshelfer und Arbeitssklave.Ihr eigenes Wohlergehen und Empfinden, ihr eigener Willespielten dabei keine Rolle.

Die selbstlose, einer angeblichen Wahrheit verpflichteteGesellschaft, stellt sich häufig als der schnellste Weg zur to-talitären Gesellschaft dar. Welche andere Möglichkeit hat derEngel namens Satan, der kein Gut und Böse kennt, Gesell-schaft zu konstruieren? Er versucht es mit der egoistischenVariante.

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Die zweite Welt des Engels Satan:Die egoistische Gesellschaft

Die egoistische Gesellschaft besteht aus lauter unabhän-gigen Untereinheiten, Individuen, Familien, Unternehmen, dienur das eigene Überleben und den eigenen Erfolg im Kopfhaben und sich um die Anderen nur so weit scheren, wie esihrem eigenen Vorteil dient.

Die Konstruktion der egoistischenGesellschaft

Der Grundgedanke der egoistischen Gesellschaft ist ein-fach: Wenn jede Gesellschaftseinheit für sich ihr Wohlerge-hen steigert, geht es auch der Gesamtheit besser. Es gilt dasPrinzip: Jede Einheit sorgt für ihr eigenes Wohl. Jede Einheitweiß für sich selbst am besten, was gut für sie ist. Das Herr-und-Knecht-Problem der altruistischen Gesellschaft stellt sichnicht, denn jede Einheit ist ihr eigener Herr und Knecht zu-gleich. Alle Veränderungen der Wirklichkeit werden von den-jenigen wahrgenommen, die sie angehen, und sie reagierendarauf in der für sie besten Weise. Jede zentrale Steuerungwäre in der Sicht der egoistischen Gesellschaft ein völlig un-nötiger und potenziell schädlicher Umweg.

Jede Einheit spezialisiert sich stattdessen selbstständigauf das, was sie am besten kann. Eine solche Arbeitsteilungführt zur optimalen Steigerung der Produktion und verschafftden Produzenten die besten Chancen für einen gewinnbrin-genden Austausch. Im Endeffekt – so die Theorie – erreicht dieegoistische Gesellschaft auf diesem Weg viel effektiver undzuverlässiger das Ziel, das zu erreichen die selbstlose Gesell-schaft für sich beansprucht: das Beste für alle.

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Der Engel Satan müsste unsere kleine Modellgesell-schaft so bauen, dass jedes ihrer Mitglieder einen eigenenWillen und vor allem das eigene beste Überleben im Kopf hat.Eine solche Ansammlung von Egoisten mit recht unter-schiedlichen Interessen hätte nämlich einen weiteren Vorteil:Anstatt einer einzigen Strategie, wie bei der selbstlosenGesellschaft, gibt es in der egoistischen Gesellschaft vieleStrategien. Jede Einheit verfolgt ihre eigene. Manche dieserStrategien erweisen sich als falsch und die Einheiten, die sieverfolgten, scheitern. Doch wenn einzelne Einheiten unter-gehen, bedroht das nicht die Existenz der Gesamtheit. Wennaber die eine Gesamtstrategie falsch ist, droht Gefahr füralle.

Mark Twains Engel Satan lehrt damit die erste unmora-lische Erkenntnis über Gesellschaft: kleine, allein auf ihrenVorteil und ihr bestes Überleben ausgerichtete, egoistischeEinheiten geben einer Gesellschaft größere Chancen aufErfolg. Das zeigt sich, wenn man die Geschichte betrachtet:Von allen Gesellschaftsformen ist die egoistische Marktgesell-schaft bisher am erfolgreichsten gewesen. Sie hat alle ande-ren Gesellschaften überlebt und überflügelt, hat sich dieWelt erobert und ist heute als Marktwirtschaft die Siegerinüber alle anderen Gesellschaftsformen.

Von den Nachteilen der egoistischen Gesellschaft

DAS MATTHÄUS-PRINZIPAuch die egoistische Gesellschaft trägt wie die selbstlo-

se Gesellschaft eine Tendenz zur Diktatur in sich und drohtsich damit selbst zu widerlegen. Bei ihr nennt man die Dikta-tur Monopol. In ihrem Streben nach Vorteil sind manche Ein-heiten erfolgreicher als andere. Damit gewinnen sie für dienächste Runde bessere Ausgangsbedingungen im Wettbe-

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werb der Egoisten. Das erhöht ihre Chancen, in den folgen-den Runden erneut andere Einheiten auszustechen. Denn dieegoistische Gesellschaft funktioniert nach dem Prinzip ausdem Matthäus-Evangelium: „Wer hat, dem wird gegeben!“

Zwar entstehen immer neue Einheiten, die ein neues,erfolgreiches Produkt auf den Markt bringen. Und manchengelingt es ein Monopol zu erringen. Haben einzelne Einhei-ten mehrere Branchen monopolisiert, kommt auch die Politiknicht mehr gegen sie an. Dann gelten für die egoistischeGesellschaft die gleichen Nachteile wie für die selbstlose Ge-sellschaft. Auch hier bekommen die oben nur noch einge-schränkte Informationen über die Wirklichkeit, auch sie nei-gen dazu, innere und äußere Opposition auszuschalten, undsie werden durch ihren weiterhin ungebremsten Egoismus zueinem Klotz am Bein der Gesellschaft. Sie saugen sie aus, ohneihr etwas zu geben. Die egoistische Gesellschaft verliert mitder Monopolisierung ihren wichtigsten Vorteil: die Multista-bilität. Sie ist auf wenige Strategien festgelegt. Diese mag inihrer materiellen Übermacht sehr durchsetzungsfähig sein.Doch gerade ihre Stärke raubt ihr die Flexibilität.

Trotz dieser Gefahr hat die egoistische Gesellschaft im-mer wieder triumphiert. Die großen Monopole des 19. und20. Jahrhunderts, Krupp und Carnegie, kennt heute kaumjemand mehr. Die Kohle- und Stahlindustrie ist der Chemieund diese der Informationstechnologie gewichen. Die altenMonopole sind eingeschmolzen worden, sind untergegangenund durch neue Marktbeherrscher ersetzt worden. Die egois-tische Gesellschaft hat bisher über ihre eigene Tendenz zurmonopolitischen Erstarrung gesiegt.

DAS PRINZIP „NUR WER VERKAUFT, KANN KAUFEN“Jede Einheit verkauft ein Produkt oder die eigene Ar-

beitskraft. Nur so kommt sie an das Geld, mit dem sie selbst alldas einkaufen kann, was sie zum Überleben und zur erneutenProduktion braucht.

Nur wer verkauft, kann kaufen. Das ist das Grundprin-zip der Marktwirtschaft. In der egoistischen Gesellschaft ent-

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scheidet allein das Geld, die Kaufkraft, welche Bedürfnissebefriedigt werden und welche nicht.

Heute können 5 bis 20 Prozent der Menschen nichtsoder zu wenig zum Überleben verkaufen. Es sind die Armen,die Behinderten, die Arbeitslosen. Sie müssten ohne Un-terstützungszahlungen der Gesellschaft verhungern. Und invielen Teilen der Welt verhungern sie tatsächlich. Die egois-tische Gesellschaft produziert ihre Millionen Opfer jedes Jahreinfach durch das Gesetz: Wer nichts verkaufen kann, kannauch nichts kaufen.

Zwischenbilanz

Die Millionen Opfer sind ein rein moralisches Argument,das den Engel Satan weder beeindruckt noch interessiert,denn er kennt weder Gut noch Böse. Ihn interessiert nur, obdie Gesellschaft funktioniert. Sichert sie ihre eigene Weiter-existenz und ihr Überleben auch in einer sich schnell wan-delnden Welt? Und wird sie von ihren Mitgliedern genügendakzeptiert, so dass ihre Weiterexistenz gesichert ist? Beidestrifft für die egoistische Gesellschaft eindeutig zu. Sie hat alleheißen und kalten Kriege, alle Wirtschaftskrisen, alle Streik-aktionen und all die anderen Krisen eines mehrere Jahr-hunderte währenden Klassenkampfes überstanden. DieKommunisten prophezeiten ständig ihren Untergang. Unter-gegangen sind sie selbst. Geflohen sind die Menschen nichtaus der Marktwirtschaft in den Kommunismus, sondern um-gekehrt von der altruistischen in die egoistische Gesellschaft,auch dann, wenn ihnen ihre spätere Position in der egoisti-schen Gesellschaft nicht bekannt war. Damit ist auch dasGerechtigkeitsprinzip des Philosophen Rawls erfüllt.

Die egoistische Gesellschaft hat für viele einen nie zu-vor gekannten Wohlstand produziert. Heute leben die Ärm-sten in Deutschland auf einem Lebensniveau, von dem die

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Reichsten des Mittelalters nicht zu träumen gewagt hätten:Fenster mit Glasscheiben, Zentralheizung, Kühlschrank, Fern-seher, Radio, Musik und Frischobst zu allen Tages- und Jah-reszeiten. Die Fürsten des Mittelalters lebten in zugigen, stän-dig kalten Burgen, bekamen im Winter durch VitaminmangelSkorbut, so dass ihnen Zähne und Haare ausfielen. Zur Un-terhaltung hatten sie allenfalls Musiker und Narren.

Die egoistische Gesellschaft hat – wie keine andereGesellschaft – Unterschiede eingeschmolzen und dort, woMenschen über Zahlungskraft verfügen, zuvor ungekannteEntfaltungsmöglichkeiten geschaffen. Die egoistische Gesell-schaft will nur verkaufen. Geld und Profit sind höchst de-mokratisch und vorurteilsfrei. Sie schauen nicht auf Herkunft,Hautfarbe, Überzeugung oder Geschlecht. Wer zahlt, demwird geliefert. Das Problem, würde der Engel Satan argumen-tieren, ist nicht die egoistische Gesellschaft. Das Problem ist,dass sie sich noch nicht genügend über die ganze Erde ver-breitet hat. Die vielen Millionen Hungertoten sind nicht deregoistischen Gesellschaft anzulasten, sondern ihrer ungenü-genden Durchsetzung.

Die Grenzen der egoistischen Gesellschaft

Da ist aber noch ein zweites, nicht allein moralischesProblem, das der Engel Satan mit seiner egoistischen Gesell-schaft lösen muss: In allen Gesellschaft gibt es Probleme undLebensbereiche, die nicht über den Markt gesteuert werdenkönnen. Dazu gehört beispielsweise die Liebe.

Von den Propagandisten der Marktwirtschaft wird be-hauptet, auch die Liebe erledige sich nach dem Prinzip vonAngebot und Nachfrage. Sie meinen, was nichts kostet, seinichts wert. Und natürlich kostet Liebe etwas: Zeit, Nerven,Geschenke, Herzschmerz. Doch Liebe ist gerade dadurch ge-kennzeichnet, dass sie nicht Leistung mit Gegenleistung ver-

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rechnet. Sie bedeutet Hingabe. Sie erwächst nicht aus Kal-kulation und ist nicht zu kaufen, nicht einmal vorherzusehen.Das gilt für die Elternliebe wie für die geschlechtliche Part-nerschaft, ohne die die Gesellschaft nicht existieren könnte.

Das gilt auch für das Netzwerk von Freundschaften undVerwandtschaft. In ihm treffen wir auf ein marktfernes Ge-webe von Unterstützung, Zuneigung und gemeinsamen Ak-tivitäten. Ohne dieses Beziehungsgeflecht könnten wir nichtaufwachsen. Wir könnten kein emotional ausgeglichenes Le-ben führen. Ohne diesen Bereich, der Zivilgesellschaft ge-nannt wird, weil er weder der Ökonomie noch Staat und Politikzuzuordnen ist, könnte keine Gesellschaft überleben.

Schwerwiegender noch: Was für die Einzelnen gilt, gilterst recht für die ganze Gesellschaft. Sie kann nicht leben oh-ne Solidarität. Das Hineinwachsen der Kinder in die Gesell-schaft erfordert von ihr eine nicht-egoistische, gemeinsameLeistung zur Organisation von Erziehung, Schule und einesbehüteten und behütenden Gemeinschaftslebens. AllfälligeKrankheiten, Unfälle, Brand und Diebstahl sind Risiken, dienicht von den Einzelnen alleine getragen werden können,sondern nur durch solidarische Verteilung auf viele.

Darüber hinaus muss die Gesellschaft als Ganze sich vorgemeinsamen Gefahren schützen: Katastrophen, Seuchen,Kriege. Sie muss ein Rechtssystem entwickeln mit unabhän-gigen und unbestechlichen Organen der Rechtsprechung.Sie muss Polizeikräfte vorhalten, die ihren Gesetzen Geltungverschaffen und die Urteile der Justiz vollziehen. Wenn Polizeiund Justiz käuflich sind, bricht auch der Markt zusammen.Denn der braucht die Eigentumsgarantie, die Gültigkeit vonVerträgen, die Gewaltfreiheit und Bestandsgarantien beimAushandeln von Preisen und Vertragsbedingungen.

In vielen sogenannten Entwicklungsländern sind alleinegoistische Gesellschaften nicht fähig, die notwendigen ge-meinschaftlichen Leistungen zu erbringen z. B. Straßen, Schu-len, Krankenhäuser, Forschungseinrichtungen zu unterhalten,oder die Menschen mit sauberem Trinkwasser zu versorgenund ihren Abfall zu entsorgen. Das sind nur die einfachsten

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Beispiele für das häufige Versagen der egoistischen Gesell-schaft.

In ihrer Reinform ist die egoistische Gesellschaft nichtüberlebensfähig. Das ist ein Einwand, der unseren Engel Sa-tan beeindruckt. Der Engel Satan muss seine egoistische Ge-sellschaft umbauen.

Die ideale Gesellschaft: Die Mischform von selbstloser und egoistischer Gesellschaft

Die Entscheidung darüber, wann die marktwirtschaftli-che Organisation nicht funktionieren kann oder notwendigeLeistungen nicht im notwendigen Umfang erbringt, ist dieAufgabe der Politik. Auch die Entscheidung darüber, was inErgänzung der Marktwirtschaft vom Ganzen geleistet werdenmuss und wie das geschehen soll, liegt bei der Politik. Dennder Apparat, der die nicht-marktwirtschaftlichen Leistungenerbringen muss, ist der Staat. Der Staat ergänzt die Markt-wirtschaft um ihre gesellschaftliche Dimension, indem er siezuletzt altruistischen Prinzipien unterwirft. Das Ergebnis istdie soziale Marktwirtschaft.

Das Wort „sozial“ hat in der Alltagssprache die Bedeu-tung von mildtätig und helfend. Dabei heißt es nichts ande-res als „gesellschaftlich“. Eine soziale Marktwirtschaft ist nichtetwa eine mildtätig helfende, sondern eine gesellschaftlichausgerichtete Marktwirtschaft, die sich jenseits der Ökonomieum das Funktionieren der Gesellschaft als Ganzes kümmertund überall regelnd eingreift, wo die Marktwirtschaft nicht diegewollten Ergebnisse bringt.Die soziale Komponente darf nie-mals die Marktwirtschaft selbst in Frage stellen, sich zur Plan-wirtschaft entwickeln, denn damit würde sie die Kuh schlach-ten, von deren Milch – sprich Steuern – sie lebt.

In jeder Gesellschaft gibt es Lebensbereiche, die wederTeil der Ökonomie noch Teil der Politik und ihres Staates sind.

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Wenn die Menschen weder arbeiten noch Politik machen,bewegen sie sich in dem, was man Zivilgesellschaft nennt, inder Sphäre des Privaten, in der Familie und im Freundeskreis,in Vereinen und in der Öffentlichkeit. Dort herrschen nicht dieGesetze von Angebot und Nachfrage oder die Regeln derPolitik, sondern es gelten kulturelle Normen, die festlegen, wasmoralisch richtig und falsch ist.

Das erste Resultat des amoralischen Spiels des EngelsSatan war, dass der Eigennutz ein besserer Berater bei derGestaltung von Gesellschaft ist als der Altruismus und dieAufopferung für ein angebliches Gemeinwohl. Das zweiteResultat ist, dass der Eigennutz allein nicht trägt. Es geht nichtohne gemeinsame Aktivitäten und Kommunikation jenseitsdes Marktes. Es geht nicht ohne die Zivilgesellschaft. Und esgeht auch nicht ohne eine übergreifende Instanz, die sich umdie Lösung für gemeinsame Probleme jenseits des Markteskümmert. Das ist die Politik. Das heißt: Ohne Politik geht esnicht!

Damit stellt sich nun die Frage nach der Konstruktioneiner idealen Gesellschaft anders als noch am Anfang diesesKapitels. Denn jetzt wissen wir, dass sie hauptsächlich nachdem Prinzip des „Rette sich wer kann“ funktionieren muss, er-gänzt durch einen gemeinschaftlichen Bereich, der durch Po-litik gestaltet wird. Statt „Welches ist die beste Gesellschaft?“lautet nun die Frage: „Was ist die beste Politik?“ Sie muss dieungewollten Folgen des „Rette sich wer kann“ in der Wirt-schaft ausgleichen und entscheidet somit über die Güte einerGesellschaft.

Es stellt sich damit erneut die Frage nach der Wahrheit.Denn ähnlich wie bei der selbstlosen Gesellschaft wäre sicher-lich diejenige Politik die beste, die sich an der Wahrheit und andem durch sie zu bestimmenden Gemeinwohl ausrichtenwürde.

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Zweites Kapitel:

Die Milliarden Leben des Kolumbus – oder:Das Verhältnis von Politik und Wahrheit

Zurück zu der Geschichte von Mark Twain über dengeheimnisvollen Fremden: Der Engel Satan hatte sich mit denJungs in dem mittelalterlichen österreichischen Dorf so an-gefreundet, dass er ihnen einen Gefallen tun wollte. Er botihnen an, das Leben eines ihrer besten Freunde zu seinemBesten zu verändern. Die Jungs stimmten begeistert zu undmalten sich schon aus, wie ihr Freund groß herauskommenwürde, vielleicht als General oder Minister.

Dann erklärte der Engel Satan, wie er das Leben vonNikolaus, ihrem Freund, verändern werde: „In zweieinhalbMinuten wird Nikolaus aus seinem Schlaf erwachen und mer-ken, dass der Regen zum offenen Fenster hereinbläst. In sei-nem bisherigen Leben war es ihm vorherbestimmt, dass ersich umdrehe und er wieder einschlafe. Aber ich habe be-stimmt, dass er aufstehen und das Fenster schließen wird.Durch diese Kleinigkeit wird sich sein Lebenslauf vollständigändern. Er wird am nächsten Morgen zwei Minuten längerschlafen als es ihm durch die bisherige Verkettung derLebensumstände vorbestimmt war und deshalb wird keinsder Glieder der bisherigen Verkettung mehr stimmen.“ „Ni-kolaus“, erklärt der Engel Satan weiter, „werde deswegenzwölf Tage später um Sekunden zu spät an einem See an-kommen, in dem ein kleines Mädchen treibt und um Hilfeschreit. Nikolaus werde sich ins Wasser stürzen und hinaus-schwimmen, um das Mädchen zu retten. Ohne die Verzö-gerung wäre er gerade recht gekommen und hätte sie imnoch niedrigen Wasser gerettet. So werde sie bereits ins Tiefehinausgetrieben sein und beide werden ertrinken.“

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„Was soll denn daran ein Vorteil sein?“ protestierten dieentsetzten Freunde und flehten den Engel Satan an, allesbeim Alten zu lassen. Der Engel Satan klärte sie auf: „WennNikolaus früher an den See gekommen wäre, hätte er zwardas Mädchen retten können, doch er hätte sich dabei eineLungenentzündung und dann in seinem geschwächten Zu-stand eine so schwere andere Krankheit zugezogen, dass erfür weitere sechsundvierzig Jahre blind und gelähmt im Bettgelegen und jeden Tag nur um seinen baldigen Tod gebetethätte. Und das gerettete Mädchen hätte nach einem Lebenvoller Elend als Mörderin auf dem Schafott geendet. Da tueich beiden mit einem frühen Tod einen großen Gefallen!“Fassungslos stimmten die Jungs dem Engel Satan zu undbaten ihn um die versprochene tödliche „Verbesserung“.

Schwierigkeiten mit der Zukunft

Was hat diese Geschichte mit der Frage zu tun „Was istdie beste Politik?“, mit der das vorangegangene Kapitel en-dete? Politik soll nach der Logik des vorangegangen Kapitelsdie Mängel der Marktwirtschaft ausgleichen. Sie stellt dem-nach einen gegenwärtigen oder drohenden Mangel fest undergreift Maßnahmen, um ihm abzuhelfen. Politik handeltdemnach von der Zukunft. Die Vorhersehbarkeit der Zukunftist für sie von allerhöchster Bedeutung. Die Geschichte vomEngel Satan und dem „besseren“ Leben des Nikolaus handeltauf die für Mark Twain typisch verquere Art von den Schwie-rigkeiten bei der Vorhersehbarkeit der Zukunft. Mit der Ge-schichte stecken wir also mitten im zentralen Thema derPolitik.

Denn wie verändert der Engel Satan das gesamte Lebenzweier Menschen? Durch das Schließen oder Offenlasseneines Fensters, durch das es hereinregnet. Nikolaus, der sonstdurchgeschlafen hätte, wird durch den Regen geweckt und

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steht nun auf, um das Fenster zu schließen. Diese wenigenSekunden, diese absolut zufällige und banale Kleinigkeit, ver-schiebt das spätere Zusammenspiel und Zusammentreffenvon Ereignissen und erzeugt eine neue Kette von Ursachenund Wirkungen.

Mark Twain lässt das seinen Engel Satan so erklären:„Das Leben ist nicht göttlich vorbestimmt, sondern durch dasZusammenwirken von eigenen Handlungen und Umwelt. Dieerste Handlung bestimmt die Zweite und alle anderen, diefolgen. Aber nimm einmal an, dass ein Mensch eine der Hand-lungen auslässt, eine anscheinend völlig unbedeutende – zumBeispiel. Nimm an, es sei ihm festgelegt, dass er zu einer be-stimmten Zeit, zu einem bestimmten Bruchteil einer Sekun-de an den Brunnen geht und er macht das nicht, dann wirdvon diesem Zeitpunkt an sein Leben ein völlig anderes. Bis zuseinem Grab wäre es ein anderes als das, was seine erstenHandlungen als Baby für ihn festgelegt hätten. Es könnte sein,dass er zum König geworden wäre, hätte er den Gang zumBrunnen nicht ausgelassen, dass er aber nun als Bettler endet.Oder Kolumbus: Wenn er auch nur eine seiner vielen Hand-lungen ausgelassen hätte, die durch seine ersten kindlichenHandlungen entworfen und unvermeidlich gemacht wordensind, dann hätte er als armer Priester irgendwo in Italien ge-endet, ohne je Amerika gesehen zu haben und Amerika wä-re erst zweihundert Jahre später entdeckt worden. Ich ha-be die Milliarden möglichen Lebensläufe von Kolumbus allegründlich untersucht. Und nur in einem einzigen von ihnenkommt Amerika vor.“

Die Milliarden Leben des Kolumbus werfen ein Schlag-licht auf die Schwierigkeiten der Politik. Politik versucht, Zu-kunft zu gestalten. Wenn Zukunft so sehr vom Zusammen-spiel winziger Kleinigkeiten und Banalitäten abhinge, wie inder Geschichte von Mark Twain, dann wäre Politik ein schwie-riges, ja unmögliches Unterfangen. Wir müssen also unter-suchen, inwieweit der Engel Satan Recht hat. Und natürlichstimmt seine Analyse nicht. Denn selbst wenn Nikolaus we-gen des Fensters, das er geschlossen hat, an diesem Tag län-

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ger schläft als sonst, bedeutet es nicht, dass er auch am fol-genden Tag länger schläft. Mit größter Wahrscheinlichkeithat das Schließen des Fensters in der Nacht zwölf Tage zu-vor keinerlei Auswirkungen auf das zeitliche Zusammenspielder Ereignisse am Tag des Unglücks. Wäre das Mädchen amTag des Fensterschließens ins Wasser gefallen, wäre Nikolaustatsächlich einige Sekunden zu spät hinzugekommen. Dannwäre die Argumentation des Engels Satan bzw. Mark Twainsplausibel.

Im Rückblick erscheint das eingetretene Leben als daseinzig Mögliche und Vernünftige und nichts liegt ferner alsder Gedanke einer unüberschaubaren Zahl völlig unter-schiedlicher möglicher Lebensverläufe. Doch das Leben dermodernen Menschen ist voller kritischer Situationen. JedeAutofahrt, jeder Flug, jede Zugreise kann in einem lebens-verändernden Unfall enden, in den man durch eine verhäng-nisvolle Verkettung von zeitlichen Ereignissen und winzigenZufälligkeiten hineingerät oder ihm glücklich entgeht. In derPolitik gibt es noch viel häufiger solche kritischen Situatio-nen: Psychisch Gestörte, die es auf Prominente abgesehenhaben; politische Gegner, die sich Intrigen ausdenken; zufäl-lige Ereignisse, – eine Flut etwa oder Sieg oder Niederlagebei der Fußballweltmeisterschaft – die das Wahlergebnis be-einflussen; das Zusammenspiel von gesellschaftlichen Kräf-ten, die zielgerichtetes Handeln verstärken oder wirkungslosmachen können.

Ein Beispiel: Am Abend des 8. November 1923 – amHöhepunkt der Geldentwertung durch den verlorenen Ers-ten Weltkrieg (ein Brot kostete mehrere Millionen Reichs-mark), am Höhepunkt der innen- und außenpolitischen Wir-ren (es hatte mehrere gescheiterte Aufstandsversuche derKommunisten und Putschversuche der Rechten gegeben, dieFranzosen waren ins Ruhrgebiet einmarschiert) – erklärteAdolf Hitler bei einer Massenkundgebung im MünchnerBürgerbräukeller zugleich die bayerische, die Reichsregierungund den Reichspräsidenten für abgesetzt. Am nächsten Tag,einem der vielen bedeutsamen 9. November der deutschen

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Geschichte, inszenierte Hitler mit seinen Anhängern und ei-nigen prominenten Figuren des Ersten Weltkrieges einen„Marsch auf Berlin“. Damit folgte er dem Vorbild der italieni-schen Faschisten, die mit ihrem „Marsch auf Rom“ die Macht inItalien erobert hatten. Schon nach wenigen hundert Metern,in München an der Feldherrenhalle, stießen die Marschiererauf einen Trupp regierungstreuer Polizisten. Die forderten diePutschisten auf, sich zu ergeben oder es werde geschossen.AlsHitler und seine Mannen weitermarschieren, feuerte die Po-lizei und tötete sechzehn Mann. Hitler hätte einer von ihnensein können. Die Kugel verfehlte ihn nur um Zentimeter, weilder Mann an seiner Seite getroffen wurde und im Sturz Hitlerzu Boden riss. Die Zeitungen hätten von seinem „tragischenTod“ berichtet und die Geschichte Deutschlands und derganzen Welt wäre ganz anders verlaufen. Sie wäre nur durchdie Verschiebung des Gewehrlaufes um ein paar Millimeterbewirkt worden, eine genauso kleine und banale Veränderungwie das offene Fenster in der Geschichte von Mark Twain.

Die Geschichte, die tatsächlich stattgefunden hat und dieuns heute wie naturgegeben erscheint, ist wie die Milliar-den Leben des Christoph Kolumbus nur eine von vielen mög-lichen Geschichtsverläufen. Hier nur eine der denkbarenAlternativen: Hitlers Tod bringt die linken und rechten Put-schisten zum Aufgegeben. Die Weimarer Republik stabilisiertsich. Sie findet eine breite Basis in der Bevölkerung und auchdie konservativen Parteien akzeptieren Demokratie und Par-lament. Außenpolitisch wendet sich die Weimarer Republikzusammen mit England und Frankreich gegen das faschisti-sche Italien und schafft es, die USA aus ihrer Isolationspolitikzu lösen und für eine antifaschistische Politik im Völkerbundzu gewinnen. Das faschistische Italien wird mit Sanktionenund Handelsboykott vom Rest der Welt isoliert und findet sichbald zu einer weniger radikalen Politik bereit. Dadurch verlie-ren die sonstigen faschistischen Bewegungen in Europa anGlaubwürdigkeit und werden zu bedeutungslosen Splitter-parteien. Die Sowjetunion reibt sich durch ihre inneren Macht-kämpfe auf und verliert ohne die faschistische Gefahr an Ein-

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fluss. Überall in Europa gewinnt daher die Sozialdemokratiedie Oberhand, insbesondere weil sie im Einklang mit derArbeitsbeschaffungspolitik Roosevelts die Weltwirtschaftskri-se besser bewältigt als die Länder mit bürgerlichen Regie-rungen. Und so verbreitet sich in den vierziger Jahren derdemokratische Sozialismus über die ganze Welt.

Diese – heute fantastisch klingende – Alternative hattedamals die gleiche Wahrscheinlichkeit,Wirklichkeit zu werden,wie das, was wir heute als Geschichte kennen. Alle Elementedieser Gedankenkonstruktion waren damals gegeben. Sie hät-ten geschehen können, wenn die antidemokratische Propa-ganda der Rechtsradikalen vom Schlage Hitlers damals nichtdie konservativen Parteien immer weiter nach rechts und ge-gen die Weimarer Republik getrieben hätte. Die Verhältnissestanden damals auf der Kippe. Es wäre auch möglich gewe-sen, dass Hitler erfolgreich zum Märtyrer der nationalen Bewe-gung ausgerufen und durch einen noch fanatischeren, nochwirksameren, charismatischeren Nachfolger ersetzt wordenwäre, der die Konservativen so unter Druck gesetzt hätte, dassdie Nazibewegung schon 1931 eine parlamentarische Mehr-heit errungen hätte. Doch auch dann wäre die Geschichte eineandere geworden als wir sie heute kennen. Vielleicht hätte esein Bündnis mit den faschistischen Bewegungen in Italien,Frankreich, Polen, Ungarn und Spanien gegeben, das sich miteiner kontinentalen Autarkiepolitik gegen die Wirtschaftskri-se erfolgreich zur Wehr setzte und sich immer mehr ausbrei-tete, und Europa wäre auf friedlichem Weg faschistisch ge-worden.

Durch geringe Veränderungen zufälliger Kleinigkeitenwie das offene Fenster bei Mark Twain, kann Geschichtedurchaus einen anderen Verlauf nehmen, besonders dann,wenn die Verhältnisse auf der Kippe stehen. Es sind vielleichtkeine Milliarden, aber viele Tausende alternative Leben desKolumbus durch solche kleinen Veränderungen denkbar.Seine Reise stand bekanntlich öfter auf der Kippe, so dassin den meisten von ihnen Amerika tatsächlich nicht vorkom-men dürfte.

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Von der Willensfreiheit

Das Ganze wird noch komplizierter durch unsere Wil-lensfreiheit. Es spielt nämlich nicht nur der Zufall eine Rolle imWirrwarr der Verkettungen von Ursache und Wirkung. Wirhaben die freie Wahl. Wir können uns für oder gegen eineHandlung entscheiden.

Zwar zeigt die Hirnforschung zur Zeit, dass es begrün-deten Zweifel an unserem freien Willen gibt: Wenn man imExperiment jemanden bittet, zu entscheiden welchen Fin-ger er bewegt und seine Hirnströme dabei misst, zeigt dasAreal, das für die Entscheidung zuständig ist, erst nach demAreal Aktivität, das die Bewegung auslöst. Das Gehirn spie-gelt uns also – so meint die Hirnforschung – nur die Illusioneiner freien Entscheidung vor. Irgendetwas hat in uns längstvorher entschieden. Für uns selbst und für andere ist die Ent-scheidung nicht vorhersehbar und hat daher die gleicheWirkung wie eine freie Entscheidung, gleichgültig was sie be-wirkt hat. Für die Politik hat es auch die gleiche Wirkung wieeine tatsächliche freie Entscheidung: Eine weitere Fülle nichtvorhersehbarer und unkalkulierbarer Einflussfaktoren auf dastatsächliche Geschehen. Sie multiplizieren in kippeligen Si-tuationen die Anzahl der möglichen Geschichtsverläufe einweiteres Mal.Wieder ein Beispiel aus der Geschichte:

Adolf Hitler, der den 9. November 1923 überlebte, feier-te als Diktator jedes Jahr sein Überleben. Immer am 8. No-vember abends kehrte er in den Münchener Bürgerbräukel-ler zurück und hielt dort, an derselben Stelle, an der er damalsden Putsch ausgerufen hatte, eine Rede an seine Anhänger.Für den 8. November 1939 hatte Georg Elser ein Attentat vor-bereitet. Er hatte in die Säule, vor der Hitler jedes Jahr immerzur gleichen Zeit sprach, eine Bombe mit Zeitzünder versteckt,der genau auf den Zeitpunkt der Rede eingestellt war. Mitdem Attentat wollte Georg Elser „den Krieg verhindern“, wieer später vor der Gestapo aussagte.

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Hier kommt der freie Wille ins Spiel: Hitler entschied sichzuerst, wegen seiner Kriegspläne ausnahmsweise in diesemJahr überhaupt nicht zu reden. Statt seiner sollte sein Stell-vertreter, Rudolf Hess, sprechen. Dann entschied sich Hitlerwieder um und beschloss, doch zu reden. Er wollte eine grund-sätzliche Rede halten. Wegen des schlechten Flugwetters undTerminen am nächsten Morgen in Berlin entschied er sichdann aber, viel kürzer zu reden als sonst. Als die Bombe dannzum vorher eingestellten, normalerweise richtigen Zeitpunktexplodierte und alle im Umkreis der Säule tötete, war Hitlerbereits auf dem Weg zum Flughafen. Die Willensfreiheit Hitlersrettete ihm das Leben und zerstörte in der Folge vielen Mil-lionen anderen das ihre. Denn wenn er zu diesem frühen Zeit-punkt des Krieges gestorben wäre, hätten seine Nachfolgerwahrscheinlich den Frieden mit den Westmächten gesucht.

Das eine Leben, das Wirklichkeit wird, das wir tatsächlichleben, erscheint im Nachhinein als das einzig logische, oftgenug als das einzig mögliche Leben selbst dann, wenn in ihmzum Beispiel ein Lottogewinn oder das zufällige Zusammen-treffen mit einer Jugendliebe eine entscheidende Rolle ge-spielt haben. Diese Wahrnehmungsverschiebung macht unsblind für die schwer vorstellbare, verborgene Welt dessen,was hätte sein können. Wir ahnen sie nicht einmal mehr, dieVariationen des Möglichen. Also immer, wenn es darum geht,Zukunft zu gestalten, also immer wenn es um Politik geht,stehen wir in der Regel vor einem kaum übersehbaren Feldvon Möglichkeiten, die wir später wieder vergessen.

Die nicht beabsichtigten Folgen zielgerichteten Handels

Politik ist zielgerichtetes Handeln. Nehmen wir zumBeispiel die Gesundheitspolitik. Ziel ist es, die Gesundheits-versorgung der Bevölkerung bei zahlbaren Kosten so zu op-

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timieren, dass niemand, egal in welcher sozialen Schicht, un-nötig leiden oder sterben muss. Wie bis jetzt deutlich ge-worden ist, findet Politik in einem Feld sehr vieler Variablenstatt, deren Zustand und Entwicklung nur zum Teil vorher-sehbar sind. So kann jederzeit eine neue tödliche Grippe-epidemie über das Land hereinbrechen oder die jungenFrauen rauchen noch mehr als jetzt schon und verursachendamit einen rasanten Anstieg des Lungenkrebses der Frauenschon im arbeitsfähigen Alter. All das sind Beispiele aus demArsenal des Engels Satan, die kaum vorhersehbar und nochweniger steuerbar über ein Land hereinbrechen und alle po-litischen Planungen zunichtemachen können.

In diesem Feld kaum zu überschauender Variablen mussPolitik versuchen, ihr Ziel dennoch zu erreichen. Um sichzum Beispiel gegen die Grippe zu wappnen, wird eine Impf-pflicht eingeführt. Gegen die Gesundheitsgefährdung durchdas Rauchen wird die Tabaksteuer so erhöht, dass sich derPreis von Zigaretten verdoppelt. All das erscheint auf den ers-ten und zweiten Blick eine vernünftige, zielgerichtete Hand-lung zu sein. Weil man aber mit seinem Handeln in einemFeld mit vielen unbekannten Variablen agiert, kann es im-mer zu unvorhergesehenen und ungewollten Folgen kom-men. Im ersten Beispiel: Die Massenimpfung führt bei aller-gischen Frauen einer bestimmten Blutgruppe zum Vollbildder Krankheit. Bei ihnen kommt es zu Mutationen des Virus,die sich rasend schnell auch bei den schon Geimpften aus-breiten. Im zweiten Beispiel: Die Preiserhöhung bei Zigaret-ten um das doppelte macht den Zigarettenschmuggel solukrativ, dass eine ganz neue kriminelle Szene mit großenVerdienstmöglichkeiten aufblüht. Schmugglerbanden liefernsich blutige Schlachten in den Städten und unterbieten ein-ander im Preis. Für junge Szenefrauen gilt es als besondersschick, geschmuggelte „blutige“ Zigaretten zu rauchen. In derFolge gibt es Zigaretten so billig wie nie zuvor.Der Anteil süch-tiger Raucherinnen schon an den Schulen nimmt rasant zu.

Die Beispiele zeigen, wie sich aus dem Feld der oft un-überschaubaren Variablen jederzeit eine unvorhergesehene

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Folge ergeben kann, die einen – hätte man sie vorhergesehen– von der Handlung wahrscheinlich abgebracht hätte. Manerkennt die unerwünschten Folgen aber erst nachdem sie ein-getreten sind. Dann handelt man erneut zielgerichtet undtrifft häufig auf neue unerwünschte Folgen. Man stellt eineeigene Polizeitruppe gegen den Schmuggel auf, die an denSchulen so rabiat auftreten, dass die Eltern rebellieren und beider nächsten Wahl der Opposition zur Macht verhelfen. Manverhängt über die Grippeerkrankten eine strikte Quarantänemit der Folge einer schweren Wirtschaftskrise, die auch denVerlust der Macht einläutet. So gilt: Die Probleme von heutesind meist die Folgen der Lösungen von gestern. Wir ent-wickeln das Auto, um schneller von A nach B zu kommen. Undals nicht beabsichtigte Folge unseres zielgerichteten Han-delns stehen wir im Stau.

Politik unter Bedingungen der Ungewissheit

Wie kann unter solchen Bedingungen Politik gemachtwerden? Politik soll und muss Gefahren abwehren, Proble-me lösen, die Zukunft voraussehen und die Gesellschaft ge-gen Bedrohungen schützen. Doch Planen ist in einer freienMarktwirtschaft schier unmöglich. Denn die meisten Ereig-nisse in ihr entstehen unbeeinflusst von Politik durch die frei-en Entscheidungen der Marktteilnehmer. Waren werden nachfreier Entscheidung gekauft und verkauft. Politik soll aberdennoch die Folgen dieser kaum steuerbaren Prozesse auf-fangen. Doch in einer Marktwirtschaft sind die Komplexitätder Probleme und die Vielfalt der Variablen so gigantisch, dasseine klare Zukunftsplanung und sicher vorhersehbare Hand-lungsabläufe unmöglich sind. Politik kann unter solchen Um-ständen nur in einem Korridor der Wahrscheinlichkeitenhandeln. Sie muss Ziele haben und dem Weg der wahr-scheinlichsten Entwicklungen folgen. Aber Politik muss auch

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auf weniger wahrscheinliche neue Tendenzen achten, über-raschende Folgen zielgerichteten Handelns bedenken undauf für völlig unmöglich gehaltene, überhaupt nicht bedach-te äußere Ereignisse vorbereitet sein und zielführend reagie-ren.

Dabei gilt Murphys Gesetz: „Wo etwas schief gehen kann,wird es schief gehen, denn nichts ist idiotensicher, weil dieIdioten zu einfallsreich sind.“ Das heißt, der Zufall macht auchdas extrem Unwahrscheinliche möglich. Und wenn es möglichist, tritt es irgendwann ein – vielleicht schon morgen.

Mark Twains Engel Satan lehrt mit seiner Geschichte vonden Milliarden Leben des Kolumbus die zweite unmoralischeErkenntnis über Gesellschaft: Politik kann gar nicht mit derWahrheit dienen. Das Eintreffen ihrer Versprechungen undPlanungen liegt nur zu einem kleinen Teil in ihrer Hand. Dienicht beabsichtigten Folgen ihres zielgerichteten Handelnsholen sie immer ein. Es kommt immer und unausweichlichanders als man denkt. Man kann sich nur bemühen, die Folgensolcher unvorhergesehenen Entwicklungen zu mildern. Dochdabei wird es wieder unvorhergesehene und unerwünschteFolgen geben. Und auch um diese wird man sich kümmernund wieder neue, nicht beabsichtige Folgen erzeugen. Und soweiter bis in die Unendlichkeit. Nichtstun, ist keine Alternative.Denn auch das verursacht unvorhergesehene und wahr-scheinlich auch unerwünschte Folgen.

Politik kann somit kein souveränes Planen nach vernünfti-ger Einsicht sein, wie man es so gerne hätte. Politik ist immerzielgerichtet und insofern vernünftig.Aber sie muss immer mitunbeabsichtigten Folgen und unvorhergesehenen Ereignis-sen rechnen, auf die sie reagieren muss. Es ist nicht das Fah-ren eines vorausberechneten Kurses auf ruhiger See, wie mansich das gerne vorstellt und wie die Politik sich gerne öffent-lich präsentiert. Vielmehr ist sie durch wechselnde Winde,unvorhersehbare Strömungen, verborgene und erst spät er-kannte Eisberge, unangemeldeten Gegenverkehr und immerneue Wünsche der Auftraggeber gezwungen, einen Schlin-gerkurs mit teils großen Umwegen zu fahren, der aber immer

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auf das Ziel ausgerichtet ist und sich diesem irgendwie im-mer mehr nähert und es vielleicht irgendwann tatsächlicherreicht, aber in meist so veränderter Form, dass es mit demursprünglichen Ziel kaum mehr etwas zu tun hat. Politikstellt sich in den Programmen und Wahlkämpfen gerne als dersouveräne Akteur dar. In Wirklichkeit ist es immer ein „Durch-wurschteln“ im Korridor der Wahrscheinlichkeiten.

Wie viel Wahrheit ist möglich und nötig in der Politik?

Wie schon gezeigt, gibt es noch ein weiteres, noch schwer-gewichtigeres Problem mit der Wahrheit in der Politik. Zwarwäre es das Beste, wenn eine Gesellschaft von der Wahrheitregiert werden könnte, doch endeten die meisten Gesell-schaften, die im Namen der Wahrheit angetreten sind, alsTerrorgesellschaften. Denn wenn jemand glaubt, die Wahrheitzu besitzen, muss es selbstverständlich und logisch erschei-nen, die Wahrheit auch gegen den Widerstand derjenigendurchzusetzen, die sich der Wahrheit verschließen. Das ist diegroße Gefahr der Wahrheit, wenn man sie zu haben meint. DieFrage ist, ob sie überhaupt zu haben ist

Konstruktivismus – die Lehre von der Ungewissheit der Wirklichkeitsmodelle

Die Wahrheit über die Welt, wie sie wirklich ist und sichentwickeln wird, kann vermutlich weder durch Vernunft nochWissenschaft ermittelt werden. Denn Vernunft und Wissen-schaft entwerfen Theorien und Modelle über das Verhaltender Wirklichkeit. Die Wirklichkeit selbst erfassen sie dabei ver-

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mutlich jedoch nicht, denn schon durch unsere Sinne sindwir in unserer Wahrnehmungsfähigkeit eingeschränkt.

Modelle sind wie Landkarten. Bei allen Modellen werdenTeile weggelassen, die für den Zweck, für den das Modellkonstruiert worden ist, unwichtig sind. Landkarten sind Mo-delle von Landschaften. Man kann sie zusammenfalten undin die Tasche stecken. Man kann auf ihnen Probehandlun-gen ausführen und so den kürzesten Weg herausfinden. Beieiner Straßenkarte sind die Straßen überbetont. Autobah-nen sind dort so breit wie die Städte, zu denen die Straßenführen. Dafür werden andere Elemente der Landschaft, etwadie Geologie der Bodenarten, vernachlässigt. Bei einer Wan-derkarte dagegen will man die Details der Landschaft finden,die Felsen und Auen, die Waldsorten, die Rastplätze und vorallem die Markierungen der Wanderwege. Jetzt sind Auto-bahnen unwichtig. Für ein Modell ist es also gar nicht wichtig,wie genau die Wirklichkeit selbst aussieht. Es geht um Rele-vanz nicht um Genauigkeit. Die Karte des öffentlichen Nah-verkehrs in Berlin ist zum Beispiel ganz schematisch undstimmt nicht mit den wirklichen Entfernungen und Lage-verhältnissen der Stadtteile überein. Dennoch funktioniertsie als Modell sehr gut, denn sie zeigt, mit welchen Bussen undU-Bahnen man wo hinkommt und wo man umsteigen muss.Das sind die Informationen, die gebraucht werden. AllesAndere würde Verwirrung stiften.

Ähnlich ist es mit der „Wahrheit“ in den Naturwissen-schaften. Nehmen wir als Beispiel die Entwicklung der Kos-mologie, der Lehre über die Gestalt unserer Welt. Das frühes-te Modell der Erde als Scheibe ist von der Wissenschaft längstwiderlegt. Dennoch benutzen wir es täglich weiter, wenn wirdavon reden, dass die Sonne untergeht, denn es funktioniert.Dass sich die Erde um die Sonne dreht, wird für uns nur zurErklärung der Jahreszeiten wichtig. Aber selbst dafür würdedas alte Ptolemäische Modell mit der Erde als Mittelpunkt derWelt noch taugen. Erst wenn wir Raketen zu fernen Planetenschicken wollen, brauchen wir das heliozentrische Modell un-seres Sonnensystems. Die neuesten, auf Einsteins Relativitäts-

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theorie fußenden Modelle der Physik sind schon längst jen-seits der sinnlichen Vorstellungskraft. Sie sind nur noch alsmathematische Modelle darstellbar. Und auch sie werden sichweiter verfeinern und umgestaltet werden. Alles spricht dem-nach dafür, dass wir nicht einmal in den Naturwissenschaf-ten die Wirklichkeit erfassen können, wie sie wirklich ist.

Das gilt erst recht für die Politik. Sie muss einerseits, umhandlungsfähig zu sein, davon ausgehen, dass ihre Modelleund Zukunftsprognosen stimmen. Sie muss sich aber ande-rerseits gleichzeitig immer klar machen, dass diese Sicher-heit höchst ungewiss ist. Da gibt es keine Planeten, die überMilliarden Jahre stetig ihre Bahnen durch das All ziehen. In ihrgibt es nur die vielen möglichen Leben des Kolumbus. Stattberechenbarer Bahnen hat es Politik mit breit gestreutenWolken möglicher Entwicklungen zu tun. Das verstärkt dieUnbestimmtheit ihrer Aussagen. Wer ehrlich ist, kann keineBahn, sondern nur einen mehr oder weniger weiten Korridorder möglichen Entwicklungen angeben.

Freiheit: Die Erlaubnis zur Dummheit

Wenn die Wahrheit nicht zu haben ist, ist die erste Lehre,die Politik daraus ziehen muss, dass sie Raum bieten muss füreine Vielzahl von Wahrheiten. Sie muss sich aus den inhalt-lichen Festlegungen zurückziehen und eine Höchstmaß anToleranz gegenüber einer Vielheit in den Lebensentwürfenihrer Bürgerinnen und Bürger üben. Denn der eine lebt her-vorragend mit der Vorstellung, der Sinn des Lebens sei, es zugenießen. Der andere führt ein genauso gutes Leben mit derVorstellung, der Sinn des Lebens sei, andere glücklich zu ma-chen. Der Dritte führt sein glückliches Leben mit der Vor-stellung, der Sinn des Lebens sei, durch geduldiges Leidenund Verzicht auf alle Vergnügungen Gottes Wohlgefallen undwahre Weisheit zu erlangen. Andere führen ein für sie befrie-

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digendes, weil aufregendes Leben in stetigem Kampf um An-erkennung.

Die wenigen Beispiele zeigen, wie Modelle vom richtigenLeben einander entgegengesetzt und dennoch gleich wirk-lichkeitstauglich und beglückend sein können. Viele Konser-vative und Kommunisten meinen, Freiheit sei die Verpflich-tung, das Richtige zu tun. Der Philosoph Hegel hat es soformuliert: Freiheit ist die Einsicht in die Notwendigkeit. Bei-des, das Richtige und das Notwendige, setzt voraus, dass manverbindlich erkennen kann, was das Richtige und das Not-wendige ist. Die Vielzahl möglicher Modelle eines „richtigenLebens“ schließt ein allgemeinverbindliches Verhaltensmodelljedoch aus. Freiheit ist immer nur dann Freiheit, wenn sie dieErlaubnis bedeutet, das in den Augen anderer Dumme zu tun.

Lehren für die Politik: Eine Ethik der Ungewissheit

Wie soll Politik unter solchen Bedingungen überhauptnoch handeln können, wenn sie sich weder richtig auf einenInhalt einlassen, noch die Zukunft einigermaßen zuverlässigprognostizieren kann? Wie kann man bei solcher Ungewiss-heit dennoch richtig Handeln?

Wenn man sich seiner Sache nicht sicher ist, wenn manzum Beispiel nicht sicher weiß ob der Angeklagte ein Mörderist, sollte man kein Todesurteil fällen. An diesem Beispiel wirdsofort deutlich, dass es eine besondere Ethik der Ungewiss-heit gibt, die endgültige Entscheidungen verbietet, deren Fol-gen man später nicht mehr ausgleichen kann. Daraus folgt dasPrinzip der Erweiterung und nicht Verengung der Handlungs-möglichkeiten: Politisches Handeln sollte zu breiteren als en-geren Handlungsmöglichkeiten führen.

Eine weitere logische Folge der Ungewissheit für das Han-deln ist, dass man seine Annahmen über die Wirklichkeit im-

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mer als Hypothesen behandelt, die man beständig infragestellt. Das ist für Politiker besonders schwer, weil sie doch mitihren Positionen Menschen überzeugen, für sich gewinnenmüssen. Sie müssen Sicherheit und Gewissheit ausstrahlenund sollen dennoch ihre Sicherheiten und Gewissheiten stän-dig infrage stellen. Das ist nur zu vereinbaren, wenn man ge-genüber der Welt die Haltung der Wissenschaften entwickelt.Für gute Wissenschaft gilt, dass sie zwar die eigenen Theorienund Hypothesen mit Leidenschaft vertritt und verteidigt, abergleichzeitig mit besonderer Aufmerksamkeit auf jede Infor-mation lauscht, die gegen die Gültigkeit der eigenen Theo-rien und Hypothesen spricht und diese nach gründlicherPrüfung solcher Informationen dann auch schnell bereit istaufzugeben oder umzubauen. Politik muss lernfähig sein. Ausall diesen Handlungsanleitungen für eine Politik unter denBedingungen der Ungewissheit folgt als zusammenfassendesPrinzip das Toleranzprinzip: Solange eine Position nicht denMenschenrechten widerspricht, muss sie geduldet werden,wenn sie auch allen eigenen Annahmen entgegenstehen soll-te. Politik muss selbst Stellung beziehen. Sie muss aber dabeiandere Positionen dulden und den Raum zur Selbstdarstel-lung und Selbstverwirklichung sichern.

Daraus folgt ein pluralistisches Verständnis von demo-kratischer Politik. Da keine Politik vom Besitz der Wahrheitausgehen kann, muss sie darauf setzen, dass die von PolitikBetroffenen ihre Wahrheiten parteilich formulieren und or-ganisieren und in die Politik einbringen. Das Ergebnis ist derso häufig gescholtene Lobbyismus.

Jeder dieser Interessenvertreter formuliert eine andereangebliche Wahrheit, denn jeder trägt seine Sicht der Weltvor und versucht, sie bei der Gesetzgebung und bei der Re-gierung durchzusetzen. Auch die unterschiedlichen Parteienhaben ihre jeweils eigene angebliche Wahrheit, die sie in diePraxis umsetzen wollen. Doch Politiker müssen gewählt undwiedergewählt werden und müssen deshalb auf den Druckreagieren, den die Lobbyisten ausüben, denn sie vertretenimmer auch Wählergruppen. Sie geben eigene Positionen in

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einzelnen Teilen auf und übernehmen dafür Teile der Forde-rungen von starken Interessenverbänden. Das Ergebnis sindKompromisse, ein Gemisch aus den vertretenen Wahrheiten,in dem sich häufig keiner derjenigen wieder erkennt, die anihrem Zustandekommen beteiligt waren. Das Ergebnis ist ineiner Welt der Ungewissheit meist eine erträgliche Lösung,weil so viele daran beteiligt waren und ihre Interessen berück-sichtigt sehen.

Politik in der pluralistischen Demokratie muss zwischendiesen organisierten Interessen vermitteln, muss die vonihnen formulierten Wahrheiten kritisch prüfen und muss da-rüber hinaus darauf achten, welche Interessen es gebenkönnte, die nicht organisiert sind und darum nicht geäu-ßert werden, die aber dennoch gesellschaftliche Bedeutungerlangen könnten, z. B. die Interessen zukünftiger Generatio-nen oder die Interessen der Armen und Arbeitslosen.

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Drittes Kapitel:

Robinson Crusoe – oder: Über unterschied-liche Methoden, Freiheit zu gewinnen

In einer stürmischen Nacht im Ostpazifik wird RobinsonCrusoe vom Deck eines großen Segelschiffes über Bord ge-spült. Alle seine Mitreisenden ertrinken. Allein ihm gelingtes, sich auf eine einsame Insel zu retten. Die Brandung spültnach und nach Trümmer und Ladung des gekenterten Schif-fes an den Strand. Aus ihnen baut er sich ein eigenes, ein-sames Leben auf. Erst spät trifft er auf einen Eingeborenen,den er nach dem Tag des Zusammentreffens „Freitag“ nennt.Und noch viel später wird er gerettet und reist nach Englandzurück, wo er von seinen Abenteuern berichten kann.

Mit dieser 1719 veröffentlichten Geschichte ist Daniel De-foe3, ein englischer Schriftsteller der Aufklärung, weltberühmtgeworden. Das lag wohl daran, dass er in dieser poetischenGeschichte einige zentrale Fragen seiner Zeit auf sehr ori-ginelle und faszinierende Weise behandelt hatte, wie die Fra-ge nach der Freiheit des Menschen. Im 18. Jahrhundert, in derZeit der Aufklärung, in der das Individuum erst „erfunden“worden ist, waren Dichter und Philosophen fasziniert von derFrage nach den Möglichkeiten und Grenzen der Freiheit. Inder ständischen Gesellschaft waren sie durch Tradition engdefiniert. Doch wenn man einen Naturzustand annahm, wieman ihn in den neu „entdeckten“ Welten vorfand, musste danicht Freiheit ganz anders verstanden werden? Waren da dieMöglichkeiten nicht unendlich? Im Bild vom Schiffbrüchigen,

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3 Daniel Defoe (1719): Robinson Crusoes Leben und seltsame Abenteuer. Übersetzt von KarlAltmüller. Im Literaturnetz: http://literaturnetz.org/8489.html

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der allein auf eine einsame Insel gespült wird und sein Über-leben organisieren muss, konnte man diese Frage in idealerWeise ausloten, so schien es.

Die Geschichte von Robinson Crusoe hat bis heute Be-deutung. Denn sie liefert eine stark vereinfachte Version derWelten des Engels Satan. Statt im Zusammenwirken vieler Per-sonen wird Gesellschaft in einer einzelnen Person konstruiert.Sein Kampf ums Überleben auf der einsamen Insel sollte dieAuseinandersetzung des Menschen mit der Natur und damitdie gesamte Organisation der Gesellschaft in einem extremvereinfachten Modell abbilden und erklären.

Schauen wir uns die Geschichte und damit das Modellunter dem Gesichtspunkt der Freiheit näher an.

In einer stürmischen Nacht wird Robinson über Bordgespült. Mit den Wellen der Brandung kämpfend imnächtlichen Sturm, sind seine Handlungsmöglichkeitensehr gering. Alles, was er tun kann, ist schwimmen oderuntergehen.

Als er es geschafft hat, unversehrt durch die Brandungan Land zu kommen, erweitert sich seine Freiheit, seineHandlungsmöglichkeiten, erheblich: Er kann sich ausru-hen, schlafen und dann nach Trinkwasser und Essbaremsuchen, damit er nicht verdursten und verhungern muss.Er steht auf dem Niveau eines Urzeitmenschen. Immer-hin bleiben ihm einige Stunden, vielleicht sogar Tage, be-vor er ohne Wasser und Essen in eine lebensbedrohlicheSackgasse geraten würde, in der seine Freiheit gegen nullgehen würde.

Währenddessen ist sein Schiff gekentert und die ge-samte Besatzung ertrunken. Wunderbarer Weise wird je-doch beinahe das gesamte nicht-lebendige Inventar desSchiffes unversehrt zu ihm an den Strand gespült. Dortfindet er denn nach und nach die Fässer mit all den Din-gen, die der damaligen Zivilisation zur Verfügung stan-den: Vorräte, Salz, Pfeffer, Gewürze, Axt, Säge, Hammer,Nägel, Rum, eine Muskete mit Munition und trockenem

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Pulver, sogar eine Bibel. Als er schließlich eine Höhle fin-det und davor eine Barrikade errichtet, hat er sich gegenwilde Tiere, Wind und Wetter gesichert. Mit seinen Werk-zeugen und seinem Gewehr kann er sich gegen die Naturimmer neue Möglichkeiten und damit Freiheitsräume er-obern. Mit jedem Werkzeug und jedem Vorratsfass, das eram Strand findet, eröffnen sich für Robinson neue Frei-heitsräume, betritt er eine neue Phase in der Entwicklungder Menschheitsgeschichte – mit der Entdeckung desEingeborenen „Freitag“ tritt er sogar in die Kolonialge-schichte ein – und bleibt immer doch derselbe. Nur dieGüte seiner Planung und seine Fähigkeiten sie umzuset-zen setzen ihm Grenzen.

Die Botschaft des Daniel Defoe für die aufstrebende bür-gerliche Gesellschaft seiner Zeit war: Nicht das Geburtsrecht,allein die eigenen Fähigkeiten und Leistungen bestimmenden Erfolg der Menschheit. Damit traf er den Nerv der Zeit. Das„Zurück zur Natur“, das Rousseau als revolutionäre Botschaftunterstellt wurde, von ihm aber nie geschrieben worden ist,drückte dieselbe Hoffnung auf Befreiung aus den traditionel-len Abhängigkeiten und Bindungen aus, die in der Idylle aufeiner einsamen Insel verwirklicht schien.

Das „Reich der Freiheit“.

Mitte des 19. Jahrhunderts hat Karl Marx 4 diesem Gedan-ken eine menschheitsgeschichtliche Perspektive gegeben: Indem Maße, in dem die Menschen immer bessere Möglich-keiten entwickeln, wächst das Reich der Freiheit, je wenigerZeit die Menschen für die notwendigen Dinge des Lebens auf-

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4 Karl Marx (1894/1966): Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Dritter Band. Der Ge-samtprozeß der kapitalistischen Produktion. Hrsg. Friedrich Engels (Dietz) Berlin, S. 828.

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wenden müssen, umso mehr bleibt für das „Reich der Frei-heit“. Im Kommunismus schließlich sollte es so groß werden,dass kaum mehr jemand auf eine zum Überleben notwend-ige Tätigkeit festgelegt ist. Jeder trägt nach seinen Fähig-keiten zum Leben aller bei und erhält seine Bedürfnisse be-friedigt, denn der Vorrat ist unendlich. Das „Reich der Freiheit“ist beinahe unbegrenzt.

Doch Robinson und Marx erfassten damit nur die mate-riellen Voraussetzungen für Freiheit. Die Menschen leben aberin Gesellschaften. Freiheit muss sich nicht nur gegenüberder dinglichen Welt, sondern auch in den Beziehungen zwi-schen den Menschen, also in Gesellschaft bewähren. Die Phi-losophen des 18. Jahrhunderts sannen über das Problemder Freiheit des Menschen in der Gesellschaft nach undkamen zu einem logisch stimmigen Ergebnis. Die Grenzedes eigenen „Reichs der Freiheit“ soll in der Freiheit der an-deren Menschen liegen. Man kann alles tun, solange nichtdie Freiheit anderer einschränkt wird. Es scheint logisch un-anfechtbar und gleichzeitig perfekt gerecht zu sein. Allehaben ihr „Reich der Freiheit“ als Freiheit von materiellen Ein-schränkungen. Innerhalb dessen gibt es einen Bereich dertatsächlichen individuellen Freiheit, wo sie Selbstbestimmungüben können. Dort können sie tun und lassen, was sie wol-len. Daneben gibt es Bereiche, in denen die Rechte andererberührt sind. Über diese müssen sie entweder zivilgesell-schaftlich direkt miteinander verhandeln und sich einigenoder mit Hilfe der Politik per Recht und Gesetz entscheiden.

Betrachtet man dieses „Reich der individuellen Freiheit“näher, etwa am Beispiel der Kindererziehung, verlieren sichschnell der utopische Klang und der Schein der Gerechtig-keit: Kinder bleiben auf ihre Eltern angewiesen, aber je nachZeitalter und nach Lebenssituation ist das „Reich der indivi-duellen Freiheit“ sehr unterschiedlich groß. Alle haben ge-meinsam, dass sie als Eltern in einem weitverzweigten undengmaschigen Netz von Abhängigkeiten stecken. Mit bei-nahe allem, was sie tun, schränken sie den Freiheitsraumanderer Menschen ein und das Wachstum der Produktivkräf-

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te ändert daran wenig, denn die Ansprüche der Menschenwachsen mit.

Moderne Robinsonaden und ihre Folgen

Die Geschichte vom Robinson und seinem „Reich der in-dividuellen Freiheit“ ist bis heute faszinierend. Sie wird inunzähligen Reisekatalogen beschworen und jährlich von Her-den junger „Einzelreisender“ zu realisieren versucht. Die Fas-zination der Robinsonade liegt in der Hoffnung, sich aus deneben beschriebenen Abhängigkeiten und Bindungen lösenzu können. Doch diese Robinsonaden sind abgelöst und zah-lenmäßig überflügelt worden durch eine modernere Form, inder sich die Hoffnung auf die Befreiung aus Abhängigkeitund Bindung erfüllen lässt, ohne einen Schritt aus dem Hauszu tun. Mit entsprechend viel Geld kann sich jeder alle Be-quemlichkeiten der Welt vor die Haustür liefern lassen undmuss mit keinem Menschen in näheren Kontakt kommenoder gar eine Bindung eingehen. Man muss auf nieman-den Rücksicht nehmen und kann so ein Maximum an indivi-dueller Freiheit realisieren.

Wenn Freiheit die Abwesenheit von Abhängigkeiten undBindungen ist und damit Geld das optimale Mittel zur Er-weiterung des Freiheitsraumes wird, entsteht nur zu leichteine verkehrte, einsame und zunehmend leere Welt. Zuwen-dung zu Liebespartnern, zu Kindern, zur Verwandtschaft, zuFreunden schafft unvermeidlich Abhängigkeiten, Bindungenund schränkt individuelle Freiheitsräume ein, wenn man sichan die philosophische Regel hält, dass die eigene Freiheit nurso weit geht bis man die von anderen berührt. Deshalb zie-hen immer mehr Menschen in den Industrieländern die Frei-heit in Einsamkeit vor. Es wird weniger geheiratet, es werdenweniger Kinder geboren, Verwandtschaftsverhältnisse ver-lieren an Bedeutung und Bindungskraft, Beziehungsfähig-keit wird problematischer und seltener.

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Und so gerät die Politik einer Gesellschaft, die auf eineKombination von Eigennutz und Altruismus setzt, unweiger-lich in eine gefährliche Klemme: Um gemeinnützige Angele-genheiten außerhalb der Geldgesellschaft unterstützen zukönnen,muss sie zuerst den Eigennutz und die Logik der Geld-gesellschaft fördern, denn die schaffen erst die Mittel, mitdenen die anderen, mitmenschlichen Projekte, Familie, Freund-schaften, Vereine etc. betrieben werden können. In der Logikder Geldgesellschaft werden aber solche Projekte mitmensch-licher Bindung immer mehr entwertet und als Bedrohung derindividuellen Freiheit empfunden.

Politik als Gegengewicht zur Robinsonade

Wenn man Freiheit als die Anzahl der in einem Momentzur Verfügung stehenden alternativen Handlungsmöglich-keiten definiert, dann ist diese einerseits materiell durch dieeigenen Fähigkeiten und Mittel begrenzt. Andererseits ist siemoralisch begrenzt durch die Freiheitsrechte der anderenMenschen und durch die Verpflichtungen und Abhängig-keiten, die aus ihnen entstehen. Diese zweite Begrenzung er-zeugt den Hang zur modernen Robinsonade.

Doch gibt es eine weitere, wenig bekannte und äußerstvariable Grenze der Freiheit: Die anderen Menschen. Diesekönnen durch ihre Fähigkeiten und Mittel den Handlungs-spielraum eines einzelnen Menschen bis hin zur Sklaverei ein-schränken. Sie können den Handlungsspielraum eines Men-schen aber auch beinahe unbegrenzt erweitern. Dazu müssensie lediglich einen Teil ihrer Mittel und Fähigkeiten zusam-menlegen und gemeinsam einsetzen, um ein gemeinsamesZiel durchzusetzen.

Ein besonders bedeutsames Beispiel dafür ist der Kampfgegen die Klimakatastrophe, aber auch alle anderen großenzivilgesellschaftlichen Veränderungsprojekte in der Welt. Die

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Erderwärmung bedroht uns alle in unterschiedlichem Aus-maß. Man könnte sich in unseren privilegierten Gefilden zu-rücklehnen und sein individuelles Reich der Freiheit genie-ßen. Doch früher oder später erreichen die Auswirkungen derErderwärmung die heute privilegierten Gruppen. Ihre indivi-duelle Freiheit wäre dann auch bedroht. Darum ist es dieweit bessere Freiheitsstrategie, jetzt schon alle verfügbarenMittel zu mobilisieren und zusammenzulegen, um die dro-hende Gefahr abzuwenden. Mit der Anzahl der Bündnispart-ner steigern sie ihre gemeinsamen Fähigkeiten und damit ih-re alternativen Handlungsspielräume um ein Vielfaches. Keinenoch so gut ausgestattete Robinsonade kann da mithalten.Doch solche Bündnisse sind ohne Politik und ohne per-sönliche Bindungen und Nähe, ohne Vertrauen und Abhän-gigkeiten nicht möglich. Sie bringen zwar gegen die Be-drohungen der Welt ein Vielfaches der Freiheit der einsamenRobinsonade, aber eben eine stark schwankende individuelleFreiheit voller Bindungen und Konflikte.

Solche Bündnisse sind Voraussetzung und wesentlichesInstrument der Politik. Ohne Zusammenschluss von Fähigkei-ten und Mitteln vieler Menschen zu gemeinsamen Zweckenwäre Politik undenkbar. Doch solche Zusammenschlüsse, Par-teien, sind keineswegs konfliktfrei. Denn die Mitglieder derunterschiedlichen Parteien treten zwar gemeinsam nach au-ßen auf, konkurrieren aber nach innen um Ämter, Ansehenund um inhaltliche Positionen, die sie gern in der gemeinsa-men Zielsetzung berücksichtigt sehen würden.

Politik mit ihren Parteien, Bürgerinitiativen und Verbändenerweist sich so als eine überraschend neue Weise, den Frei-heitsspielraum zu erweitern, ohne sich dazu aus menschli-chen Bindungen und Abhängigkeiten lösen zu müssen. Trotzaller Konflikte, Intrigen, Streitereien und Scheinheiligkeiten,die solchen politischen Organisationen unvermeidlich anhaf-ten, eröffnen sie ihren Mitgliedern Freiheitsräume und Mög-lichkeiten, das Schicksal der sie umgebenden Welt im eigenenSinne zu beeinflussen.

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Viertes Kapitel:

Die braven Folterer – oder: Die notwendigenGrenzen von Macht und Herrschaft

Stellen Sie sich vor: Sie sitzen an einem Pult und schwit-zen. Auf dem Pult sind 30 Schieber angebracht. An jedemsteht eine Zahl. Es beginnt bei 15 und steigt in 15er Schrittenbis 450. Darüber stehen Beschriftungen, mit denen dieSchieber in vier Gruppen eingeteilt sind: „Leichter Schock“,„Mittlerer Schock“, „Schwerer Schock“ und „XXX“. Offensicht-lich sollen die Zahlen die elektrische Spannung in Volt aus-drücken, die mit dem Hochschieben des Schiebers ausge-löst wird. Denn von dem Pult führen Stromkabel zu einemelektrischen Stuhl im Nebenraum. Dort ist ein Mensch an-geschnallt, den Sie vor wenigen Minuten zum ersten Malgetroffen haben. Beide nehmen Sie an einem Versuch überLernen und Gedächtnis teil, dessen Anzeige Sie in der Lo-kalzeitung gelesen haben. Für einen durchschnittlichen Stun-denlohn wurden Teilnehmer gesucht. Beide haben Sie sichgemeldet und nun sitzen Sie da und schwitzen. Und der an-dere sitzt dort und schreit.

Man hatte Lose gezogen und so war der andere zumSchüler und Sie zum Lehrer geworden. So kam der eine aufden elektrischen Stuhl und Sie hinter das Pult mit den Schie-bern. Sie wissen nichts über den anderen. Er ist Ihnen eigent-lich sympathisch. Er war freundlich vorhin bei der Begrüßung.Und nun sitzt er im Nebenraum und schreit.

Man hatte Ihnen und dem anderen gesagt, es gehedarum zu testen, ob Strafen beim Lernen von Begriffspaa-ren helfen würden. Der Lehrer sollte dem Schüler Wortpaa-re vorlesen wie „Wind“ und „Norden“, „Grill“ und „Wurst“. Die

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sollte sich der Schüler merken. Dann – so hatte der Versuchs-leiter aufgetragen – sollte der Lehrer nur den ersten Teil desWortpaares sagen, zum Beispiel „Wind“ und der Schüler denzweiten Teil, zum Beispiel „Norden“ ergänzen. Schaffte er dasnicht, sollte der Lehrer den ersten Schieber betätigen unddamit dem Schüler einen Stromschlag versetzen und ihmdann die richtige Lösung sagen. Machte er wieder einenFehler, sollte der nächste Schieber hochgeschoben werden,damit ein höherer Stromschlag den Schüler zu einer verbes-serten Gedächtnisleistung motiviere. Auch wenn der Schülerzu lange warten oder überhaupt nicht reagieren sollte, mussteein weiterer Schieber mit einem stärkeren Stromstoß hoch-geschoben werden. Bevor das Experiment richtig losging,wurde Ihnen, dem Lehrer, ein schwacher Stromstoß von 15Volt versetzt, damit Ihnen klar war, was Sie dem anderen an-tun würden.

Dann hatte das Experiment wirklich begonnen. Der Schü-ler war anfangs sehr lernfähig. Dann gab es die ersten Fehler.Die Stromstärke erhöhte sich Schritt für Schritt. Ihnen, demLehrer, kamen erste Bedenken, denn aus dem Nebenraumwar ein sich verstärkendes Grunzen zu hören. Beim fünftenSchock (75 Volt) hatte der Schüler zu stöhnen begonnen. Bei150 Volt hat er erstmals darum gebeten, das Experiment ab-zubrechen. Da wandten Sie sich an den Versuchsleiter undfragten, ob man jetzt abbrechen könne. Doch der saß ruhigund wie nicht beteiligt da und sagte: „Das Experiment machtes erforderlich, dass Sie weitermachen.“ Sie haben weiter-gemacht. Bei 165 Volt kam der erste Schrei. Bei 180 Volt brüll-te der Schüler aus dem Nebenraum:„Ich halte diese Schmer-zen nicht mehr aus! Aufhören!“ Jetzt sind Sie schon bei über200 Volt. Sie schwitzen und schauen immer wieder zu demVersuchsleiter hinüber. Sie schwitzen immer stärker. Siemöchten den Versuch gerne abbrechen. Der Versuchsleiterantwortet ernst und beinahe unbeteiligt: „Die Versuchsanord-nung macht es notwendig, dass Sie weitermachen.“ Sie fra-gen die nächsten Wörter ab. Der Schüler antwortet nur nochmit schwacher Stimme. Einige Male sind die Antworten rich-

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tig. Doch dann macht er wieder einen Fehler. Jetzt ist dernächste Schieber dran. Sie fürchten sich vor dem nächstenSchrei. Sie schauen wieder zum Versuchsleiter hinüber. Dersitzt immer noch in seinem Stuhl, beinahe gelangweilt undschaut ins Leere. Sie schreien jetzt auch: „Das ist doch un-menschlich. Ich höre jetzt auf.“ Der Versuchsleiter sagt ru-hig, ohne Sie anzusehen: „Sie haben keine Wahl. Sie müssenweitermachen.“

Werden Sie weitermachen? Werden Sie den nächstenSchieber betätigen? Was meinen Sie? Wären Sie in Wirklich-keit so weit gegangen wie in der Geschichte? Wären Sie einbraver Folterer oder würden Sie trotz der kühlen Anweisungausbrechen, sich weigern weiterzumachen, aufstehen undden Versuch abbrechen?

So theoretisch gefragt, entscheiden sich die meisten ge-gen das Mitmachen. Viele behaupten von sich, dass sie schonbei den ersten Schmerzenslauten den Versuch abbrechenwürden, wenn sie sich überhaupt auf so eine Situation einlas-sen würden. Schließlich seien sie keine sadistischen Folter-knechte, sondern zivilisierte Menschen.

Was macht uns zu braven Folterern?

Doch zu Nazi-Zeiten haben viele Millionen Menschen mit-gemacht beim Foltern, Erschlagen, Quälen, Erschießen, Ver-gasen von unschuldigen Menschen, die ihnen nichts getanhatten. Waren alle diese willigen Helfer böse Menschen undgeborene Sadisten?

Die meisten Dokumente und Gerichtsverfahren zeigendas Gegenteil. Die meisten der Täter waren ganz normaleMenschen. Männer, die im zivilen Leben liebevolle Väter undEhemänner waren, verhielten sich in den Konzentrationsla-gern, bei den Einsatzgruppen oder als Bewacher in den Kriegs-

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gefangenenlagern der Ostfront wie Barbaren, Sadisten undmenschliche Teufel: unbarmherzig, grausam und herzlos. Nie-mand hat die KZ-Wärter zu ihrer Arbeit gezwungen. Niemandhat die Bewacher der Kriegsgefangenenlager, in denen Rus-sen und Polen zu Millionen zu Tode gehungert wurden, zuIhrer Arbeit gezwungen. Sie konnten aussteigen und sich aufandere Posten versetzen lassen. Vielleicht wären sie an dieFront gekommen, wo alle anderen waren. Aber es gab kei-nen echten Befehlsnotstand mit der tödlichen Alternative:„Tu deine Folterarbeit oder du wirst selbst erschossen!“ Unddoch machten sie mit. So wie mein Vater. So wie Millionenandere.

Nach dem Zweiten Weltkrieg meinte man, das läge an derbesonderen Geschichte der Deutschen. Sie hatten sich ihreFreiheit nicht wie die Amerikaner, Franzosen und Engländer ineiner Revolution erkämpft. Den Deutschen sei die Demokratieund Einheit von oben „geschenkt“ worden, von Bismarck unddem preußischen König, der sich dafür zum Kaiser machenließ. Sie hätten nie gelernt – so heißt es in der Theorie vomdeutschen „Sonderweg“ –, in einer streitbaren Gesellschaft fürihre eigenen Überzeugungen einzustehen, sondern seien alsUntertanen in einer Gemeinschaft der verordneten Harmonieaufgewachsen. Deshalb neigten die Deutschen viel häufigerzu einer „autoritären Persönlichkeitsstruktur“, die sie gehor-sam jeden Befehl befolgen lasse,egal welchen grausamen undunmenschlichen Inhalt er habe.

Für eine solche Annahme, dass es menschlichere und un-menschlichere Nationen gebe, spricht Einiges. Die National-sozialisten fanden im Zweiten Weltkrieg sehr unterschiedlicheUnterstützung bei ihrem grausamen Geschäft. Es gab Länder,in denen viele Menschen den Deutschen bereitwillig beimMorden und Foltern geholfen haben (z. B. Rumänien und Po-len). Und es gab andere, in denen die Deutschen kaum Hel-fer fanden oder sogar auf breiten Widerstand stießen (z.B.in Dänemark und Bulgarien).

Gegen die Annahme von den Nationalkulturen spricht dieBeobachtung, dass es in allen Ländern Menschen gab, die den

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Nationalsozialisten Widerstand leisteten und den Verfolgtenhalfen. Sie waren in den verschiedenen Nationen nur unter-schiedlich häufig. Man konnte sich demnach auch bei un-günstigstem kulturellem Hintergrund als Person für Mit-menschlichkeit entscheiden. Damit wurde es zu einer derwichtigsten Fragen für das Funktionieren von Gesellschaften,was Menschen dazu bringt, sich für Mitmenschlichkeit undHilfe und gegen das Foltern zu entscheiden. Viele Forscherbeschäftigten und beschäftigen sich auch heute noch mit die-ser Frage.

Die meisten meinten, es liege an der Erziehung. Wenn dieEltern ihre Kinder schlugen, ihnen keine Gründe für Verbotenannten, sondern einfach Anweisungen gaben, wenn sie nurmit Tadel und Strafe und selten mit Lob und Zuwendung erzo-gen, dann – so die Theorie von der autoritären Persönlichkeit –mussten die Kinder unweigerlich auch als Erwachsene zugehorsamen Menschen, zu braven Folterern werden.

In andere Theorien wird die Meinung vertreten, es läge amgesellschaftlichen Klima. Wenn die Kinder und Erwachsenenum sich herum Zivilcourage erlebten und Unabhängigkeitund Eigenständigkeit gesellschaftlich hoch angesehen seien,wirke das als Vorbild und präge die gesamte Gesellschaft.Wenn Untertanengeist zu Aufstieg und Erfolg führe, und Un-abhängigkeit bestraft werde, komme dabei eine duckmäuse-rische Gesellschaft zustande.

Die erschreckenden Ergebnisse des Milgram-Experiments

In den Sechzigerjahren führte eine Gruppe um StanleyMilgram5 in den Vereinigten Staaten eine Reihe von Ver-suchen durch, die alle diese Konzepte in Frage stellten. Die

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5 Milgram, Stanley (1993). Das Milgram Experiment. Zur Gehorsamsbereitschaft gegenüberAutorität. Reinbeck.

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Gruppe gab in einer kleinen amerikanischen Universitäts-stadt eine Anzeige auf, in der gegen geringe Bezahlung Teil-nehmer an einem Versuch über das Lernen gesucht wurden.Wer sich meldete, geriet als „Lehrer“ hinter das Pult mit denSchiebeschaltern mit dem schreienden Mann im Neben-zimmer.

Denn die Lose am Anfang waren getrickst. Auf beidenstand „Lehrer“. Die Schreie kamen vom Tonband und es gabkeine elektrischen Schocks. In Wirklichkeit ging es in demExperiment auch nicht um Lernen und Strafe. Es sollte viel-mehr die Bereitschaft von Menschen getestet werden, braveFolterer zu sein. Man wollte herausfinden, wie weit normaleMenschen gehen würden, wenn man ihnen ohne Zwang, nurunter der Autorität des weißen Labormantels und der univer-sitären Wissenschaft Anweisungen zum Foltern gab.

Milgram fragte zuerst 40 Psychiater einer führenden me-dizinischen Hochschule in den USA, Experten also in Men-schenkenntnis. Sie sollten schätzen, wie viele normale Men-schen bis zu der tödlichen Stärke von 450 Volt gehen würden.Die Psychiater waren sich einig, dass die Masse der Versuchs-personen bei 150 Volt aufhören würde – zu dem Zeitpunkt,wenn das Opfer erstmals darum bittet, aus dem Raum be-freit zu werden. Im Durchschnitt schätzten sie, würden umvier Prozent aller Versuchspersonen dem Opfer weiterhinElektroschocks verabreichen, selbst wenn das Opfer nichtmehr auf die Fragen des Lehrers reagieren würde (im Stan-dard-Versuch trat diese Situation bei 300 Volt ein).Weniger alsein Prozent der Versuchspersonen würde in der Einschätzungder Psychiater bis zur höchsten Voltzahl von 450 Volt gehen.Da waren sich die Psychiater einig.Und auch heute noch klingtes plausibel.

Was schätzen Sie? Wie viele gehen bis 450 Volt? Wie weitwürden Sie gehen, wenn ein Wissenschaftler sich durch dieSchreie nicht beunruhigt zeigt und Ihnen ruhig versichert,dass Sie keine andere Wahl haben, als weiterzumachen? Alsdie Versuchspersonen in einer Variante des Versuchs gebe-ten wurden, selbst vorauszusagen, wann sie aufhören wür-

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den, meinten alle, dass sie schon bei niedrigen Voltzahlenaufhören würden.

Der Versuch ist in vielen Kulturen wiederholt worden.Auch in Deutschland. Man nahm fest an, dass die Deutschenbesonders gehorsam sein würden. Weil der Versuch anfangsimmer nur mit Männern durchgeführt worden war, wurde ermit Frauen wiederholt. Es wurde angenommen, dass Frauenviel seltener bereit wären, andere Menschen zu quälen.

Ob Deutsche, Amerikaner, Australier oder Frauen, überallmachten über zwei Drittel aller Versuchspersonen mit bis zumSchluss. Sie hörten nicht bei 150 Volt auf, als das Opfer da-rum bat, den Versuch abzubrechen. Sie hörten auch nicht bei300 Volt auf, als das Opfer keinen Laut mehr von sich gab.Sie gingen die volle Strecke bis zu den tödlichen Stromstö-ßen von 450 Volt.

Es gab keine wesentlichen Unterschiede zwischen denKulturen oder Geschlechtern. Die Deutschen waren nichtschlimmer und die Frauen nicht besser als die anderen Men-schen. Alle waren sie bereit, ihnen völlig unbekannte Men-schen in einer völlig undramatischen Situation zu foltern, oh-ne jeden Anlass zu Rache, Hass oder sonstigen negativenEinstellungen gegen ihre Opfer, einfach so, weil es eine gleich-gültig vorgetragene Anweisung von einem Versuchsleiter imweißen Laborkittel gab.

Sie taten es selten freiwillig und freudig. Sie schwitzten,protestierten, zitterten, begannen zu stottern, zeigten alleZeichen von Stress. Doch wenn der Versuchsleiter ruhig bliebund sie mit gleichgültiger Stimme aufforderte, weiterzu-machen, folterten dennoch über zwei Drittel brav bis zumbitteren Ende. Auch die wenigen, die vorher abbrachen, mach-ten bis zu Voltzahlen mit, die keiner der Experten vorher fürmöglich gehalten hätte und die auch die Versuchsteilneh-mer in ihrer Selbsteinschätzung vor dem Experiment weitvon sich gewiesen hatten.

Wenn überall zwei Drittel und mehr bei dem Experimentbis zum Schluss mitmachen, sind wahrscheinlich auch zweiDrittel von uns, ja zwei Drittel in uns, bereit, bis zum Schluss zu

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gehorchen. Wenn wir Glück haben, ist das eine rebellischeund mutige Drittel in uns gerade wach und auf dem Sprung,wenn wir in eine vergleichbare Situation geraten. Dann kön-nen wir hoffen, dass wir zum Helden werden und das Fol-tern verweigern.

Was ist es, was uns zum Helden und was uns zum Folte-rer macht? Das ist eine überaus wichtige Frage. Denn dieAntwort könnte man benutzen, um mit ihrer Hilfe Gesell-schaften zu konstruieren, in denen Diktaturen nicht mehrmöglich wären. Sind es die Umstände oder die Persönlich-keit? Das herauszufinden, war die selbstgestellte Aufgabeder Milgram-Experimente. Ihr wichtigstes Ergebnis solltesein, Bedingungen aufzuzeigen, unter denen alle Menschendas Foltern ohne großen Aufwand ganz verweigern würden.Denn noch besser als eine Gesellschaft, die viele Helden hat,ist eine, die gar keine Helden braucht. Darum hat Milgramseine Versuchsbedingungen immer wieder verändert, um dasherauszufinden.

Die Mitleidshypothese

Zuerst hat er auf Mitleid gesetzt. Er hat ein schauspie-lerisch begabtes Teammitglied als Opfer zum Täter in denRaum geholt, es ihm gegenüber gesetzt und die Täter ge-zwungen, das Leiden, das sie zufügen, nicht nur zu hören,sondern direkt zu sehen. Tatsächlich sank die Bereitschaft, biszum bitteren Ende zu gehen, auf 40 Prozent, aber das warimmer noch zu viel.

Milgram verschärfte die Bedingungen weiter. Das Opferschüttelte in seinen Schmerzzuckungen die Elektroden abund die Täter mussten sie ihm selbst wieder ankleben. Wiedersank die Bereitschaft zum Gehorsam ein wenig. Dann musstendie Täter dem Opfer die Elektroden bei jedem Stromstoßselbst auf die Haut drücken. Selbst dann gingen noch 30

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Prozent der Versuchsteilnehmer bis zum vermeintlich töd-lichen Ende von 450 Volt. Mitleid wirkte, aber lange nichtstark genug, um das Foltern ganz zu verhindern.

Übertragen auf moderne Gesellschaften wäre Mitleidauch kaum ein geeignetes Mittel um das Morden zu verhin-dern. In ihnen gibt es immer weniger Situationen, in denenman das Leiden noch selbst miterlebt, das man anderen zu-fügt. In einer hochtechnisierten Geldgesellschaft brauchensich die Menschen zum einander Quälen nicht mehr direkt zubegegnen. In modernen Kriegen sehen sich die Gegner kaumnoch. In der Wirtschaft teilt man dem Untergebenen, den manentlassen oder degradieren will auf große Distanzen mitTechnik (Post, Telefon, Fax, E-Mail, Messaging) sein Schicksalmit, betont dass es nicht persönlich gemeint ist und man lei-der durch die Marktlage gezwungen sei. Da braucht man kei-nen Hass und kein Mitleid. Das wird ganz unpersönlich. Auchdie gegnerische Firma wird indirekt erledigt. Da braucht mannie miteinander zu reden. Der Bankrott kommt über denMarkt. Wenn man mit den Preisen unter die Gestehungskos-ten des Konkurrenten gehen kann, ist es aus mit ihm, ohnedass man je ein Wort wechselt. Mitleid hat kaum eine Chance.

Die Erziehungshypothese

Als nächstes setzte Milgram auf die Erziehung. Möglicher-weise unterschieden sich die Gehorsamen von den Unge-horsamen durch ihre Erziehung, und man könnte die Gesell-schaft entsprechend ändern, indem man einen bestimmtenErziehungsstil fördert. Persönlichkeitstests und Erforschungder Lebensläufe zeigten bei den gehorsamen Versuchsteilneh-mern tatsächlich eine stärkere Neigung zu autoritären Ein-stellungen. Sie hatten auch häufiger beim Militär gedient, hat-ten weniger Schuljahre hinter sich, arbeiteten häufiger intechnisch-naturwissenschaftlichen Bereichen als in sozialenBerufen und waren im Durchschnitt jünger.

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Doch waren das lediglich statistische Unterschiede, d.h.sie zeigten im Nachhinein an, welche Eigenschaften bei denGehorsamen mit größerer Wahrscheinlichkeit auftraten alsbei den Verweigerern. Diese Unterschiede lösten aber nichts.Denn auch unter den nicht autoritär Erzogenen gingen zuviele bis zum Maximum. Vielleicht waren es nicht die Eigen-schaften der Person, sondern die Besonderheiten der Situa-tion, die über Gehorsam oder Widerstand entschieden.

Die Bedeutung der Selbstdarstellung von Macht

Tatsächlich sank der Anteil der Gehorsamen drastisch,wenn man die Situation so veränderte, dass die Autorität desVersuchsleiters in Frage gestellt wurde: Die Milgram-Gruppeverlegte das Experiment aus den Räumen der renommiertenUniversität in eine schmuddelige Fabrikhalle. Sofort sank derProzentanteil derjenigen, die bis zum Schluss weiterfoltertenauf unter fünfzig Prozent, etwa so viel, wie zuvor nur die mas-sive Konfrontation mit dem Leiden der Opfer (die Mitleidshy-pothese) erreicht hatte.

Das ist eine Lehre, die von allen Inhabern der Macht seitalters her beherzigt wird und beherzigt werden muss. Machtmuss glänzen, einschüchtern und protzen. Sie muss sich unan-greifbar, fehlerfrei und überlegen darstellen, wenn sie daraufhoffen will, als legitime Herrschaft anerkannt zu werden. Weildie Wissenschaftler in Milgrams Experiment im Namen einerrenommierten Universität aufgetreten waren und weil ihrErscheinungsbild mit dem übereinstimmte, was Menschenvon Wissenschaftlern erwarteten, erhielten sie selbst unterStress Gehorsam. Autorität betätigt sich durch autoritativesAuftreten, durch eine herrschaftliche Erscheinung. Deshalbhaben früher die Königs- und Kaiserhäuser, die Kirchenober-häupter, heute die Parlamente, Gerichte, die Minister und

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Ministerpräsidenten ihre seltsamen Gebräuche und Gewän-der, ihre prunkvollen, umständlichen Rituale, ihre protzigenBauten mit ihrer einschüchternden Architektur, ihre Umzügeund Aufmärsche. Dieser Teil der symbolischen Politik erzeugtGehorsam auf der ganzen Linie, schüchtert ein und machtZivilcourage schwieriger.

In modernen Demokratien kommt die Herrschaft be-scheidener daher. Doch der neue Reichstag in Berlin, dasneue Bundeskanzleramt, Schloss Bellevue und das neue Prä-sidialamt, der Einzug der rotgerobten Verfassungsrichter, diePolizeieskorten zu den Staatskarossen, Ämterhierarchie undTitelei präsentieren weiterhin eine glänzende symbolischeOberfläche der Staatsmacht, die genügend einschüchtert, umder Macht den nötigen Gehorsam zu verschaffen, der sie inHerrschaft verwandelt. Zivilcourage, eigenständiges Denken,Widerstand wird da unwahrscheinlich.

Eine weniger selbstherrliche Selbstdarstellung der Machtist aber ein genauso ungenügend wirksames Rezept gegenden Gehorsam der Folterer, wie das Setzen auf das Mitleid mitden Opfern.

Distanz macht mitleidlos

Das zeigte drastisch die nächste Veränderung in der Ver-suchssituation: In der schmuddeligen Fabrik wurde nun einzweiter – eingeweihter – Lehrer in den Raum gesetzt. Dieserführte die Stromstöße aus, fügte also scheinbar das eigent-lich schlimme Leid zu. Der wirkliche „Lehrer“, die Versuchsper-son, gab lediglich die Befehle zum Foltern.

In dieser Konstellation stieg der Anteil der Versuchsper-sonen, die bis 450 Volt befahlen, auf 92,5 Prozent. Das machtverständlich, warum das Nazi-System so gut und so langefunktionieren konnte. Nur wenige führten die Grausamkei-ten an den Menschen selbst aus. Eine größere Zahl wirkte auf

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Distanz mit und fühlte sich selbst nicht schuldig, denn sie hat-ten ja nur Anordnungen getroffen. Der richtig Böse war derAndere. Und diejenigen, die mit eigener Hand folterten undmordeten, fühlten sich entlastet, denn sie führten ja nur An-ordnungen aus. Nicht sie waren die Schuldigen, sondern dieda oben. Darum müssen Gesellschaften mit menschlichemAnspruch vorsichtig sein mit der Aufteilung von Verantwor-tung, wenn es darum geht Menschen gegen ihren WillenNachteile zuzufügen, also im Strafvollzug, in der Sozialver-waltung, in den Erziehungsinstitutionen, den Krankenhäusernund vor Gericht.

Wenn die Autorität versagt, ...

Die Rolle des „Lehrers“ war als Erklärung für das Verhal-ten der Folterer ausgereizt. Nun blieb dem Team um Milgramnur noch eines übrig. Sie mussten die Versuchssituation aufder Seite der Versuchsleitung variieren. Das war besondersspannend, denn wenn man die Versuchssituation auf die Ge-sellschaft übertrug, entsprach der Versuchsleitung die Regie-rung. Gab es ein Regierungsverhalten, das so wirkte, dass dieMenschen sich nicht zum braven Folterer machen ließen?

In einer ersten Variante gab der Versuchsleiter seine An-weisungen, verließ dann aber den Raum. Danach waren nurnoch 25 Prozent so brave Bürger, dass sie selbständig ohneAufsicht bis zum Ende weiterfolterten. 75 Prozent brachenvorher ab, andere hielten sich nicht mehr an die Regeln. Siegaben nur noch schwache Schocks oder sagten dem Schülerdie Antworten vor.

Das ist auch das Ergebnis kriminologischer Forschung: DieRegeln bricht, wer meint, er käme damit ungestraft und un-erkannt davon. Deshalb ist es für den Zusammenhang der Ge-sellschaft und die Sicherheit der Bürger in einer Gesellschaftwichtig, dass die Einhaltung der Normen nicht nur durch die

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Polizei, die nicht überall sein kann, sondern durch die Bürgerund Bürgerinnen selbst mit ihrem Sinn für Recht und Ge-rechtigkeit überwacht und durchgesetzt werden. Doch ihnenfolgt man weniger als der offiziellen Autorität.

Das zeigt eine weitere Variante des Milgram-Experiments.Jetzt wurde der eigentliche Versuchsleiter nach den ersten In-struktionen per Telefon aus dem Raum gerufen, und zwarbevor er sagen konnte, dass mit jedem Fehler ein stärkererStromstoß versetzt werden soll. Dann betrat ein Vertreter desVersuchsleiters den Raum und verkündete die verschärfte Re-gel. Unter solchen Bedingungen machten noch weniger Ver-suchspersonen bis zum Ende mit (20 Prozent) als wenn dieVersuchspersonen alleine gelassen wurden. Das ist erstaun-lich. Es ist ein Indiz dafür, dass der für legitim erachtetenAutorität (im Experiment der Wissenschaft) gefolgt wird, we-gen ihrer Legitimität nicht wegen ihrer formalen Stellung. Eineangemaßte Autorität erreicht selbst bei physischer An-we-senheit weniger Gehorsam als eine für legitim gehaltene ab-wesende Autorität. Demnach musste man etwas an der Le-gitimität der Autorität ändern, wenn man den automatischenGehorsam der braven Folterer aufbrechen wollte.

Gewaltenteilung und Streit als Voraussetzungfür Zivilcourage

Dazu setzte Milgram zwei Leiter ein, die sich gegenseitigwidersprachen. Ab 150 Volt forderte der eine von ihnen, denVersuch abzubrechen, während der andere darauf bestand,weiterzumachen. Von 20 Versuchspersonen brach einer denVersuch sofort ab. 18 gingen noch eine Stufe weiter, brachendann aber auch ab.Nur einer ging auch noch eine Stufe weiter.Keine einzige der Versuchspersonen zog den Versuch bis zuden 450 Volt durch, wo doch unter allen anderen Bedingun-gen zwischen 20 und 92,5 Prozent bis zum bitteren Ende ge-

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gangen waren. Es war ein sensationelles, ein ermutigendesErgebnis.Was bedeutet es?

Eine mutige und menschliche Gesellschaft muss nicht aufHelden warten, um Wirklichkeit zu werden. Der Mut und dieMenschlichkeit der Menschen stecken schon in ihnen drin. Essind die äußeren Bedingungen, die darüber entscheiden, obsie zum Vorschein kommen oder nicht. Zivilcourage ist vorallem ein Resultat der Organisation der Gesellschaft. Wenn esnur eine für legitim erachtete, unbestrittene Autorität gibt, diemit einer Stimme spricht, ist es für die meisten Menschen schi-er unmöglich, ihrer eigenen inneren Stimme zur Mitmensch-lichkeit konsequent zu folgen. Sie befolgen die Befehle biszum unvertretbaren, bitteren Ende – mit Widerstreben zwar,aber sie folgen.

Sobald es aber mehrere sich widersprechende legitimeAutoritäten gibt, ändert sich die Situation völlig. Jetzt gibt esRaum für ihre durchaus vorhandene Mitmenschlichkeit, diesich ja im Schwitzen und Widerstreben zeigt. Jetzt können siedas, was in ihnen steckt, auch betätigen und wirklich wer-den lassen. Sie haben eine Möglichkeit, für sich selbst zu den-ken und zu entscheiden. Und dann wählen die meisten dieMenschlichkeit.

Frankreich, England und Amerika haben nicht deshalb diebesseren Zivilgesellschaften, weil es dort mehr mutige Men-schen gibt. Die Ergebnisse der Milgram-Experimente warendort nicht günstiger als in Deutschland. Sie haben vielmehrdeshalb mehr mutige Menschen, weil es dort seit Jahrhun-derten Gewaltenteilung und eine parlamentarische, streitbareDemokratie gibt.

Genau das, was viele Menschen bei uns an der Politik sosehr hassen, der Streit, die Uneindeutigkeit, das Hin und Herder Meinungen und Autoritäten, geschieht dort seit Jahr-hunderten: Man streitet sich, mit Respekt und nach gehei-ligten Regeln, aber man streitet sich. Regierung und Oppo-sition streiten sich. Regierung und Parlament streiten sich.Ober- und Unterhaus widersprechen sich. Das Verfassungsge-richt widerspricht Parlament und Regierung. Bei Wahlen wird

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gestritten bis aufs Messer. Die Regierung wird abgelöst unddie neue Regierung und neue Opposition streiten sich weiter.Das zwingt die Bürger und Bürgerinnen dazu, sich selbst einBild zu machen, sich selbst zu entscheiden.

Diesmal ist es nicht der Engel Satan, sondern der Sozial-wissenschaftler Milgram, der uns eine paradoxe Erkenntnisvermittelt. Wir, die wir in Deutschland so sehr auf Harmonieund Übereinstimmung setzen, die wir gerne hätten, dass alleseinverständig entschieden wird, müssen einsehen, dass derStreit, den wir in der Politik so verabscheuen, der sie uns sounsympathisch macht, genau die Bedingung ist, ohne die wiralle eine sehr geringe Chance hätten, gute und mutige Men-schen zu sein.

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Fünftes Kapitel:

Die Eine-Million-Pfund-Note – oder:Der Unterschied zwischen symbolischer und praktischer Politik

In einer anderen Geschichte von Mark Twain6 hat einschlimmer Sturm den Helden, einen naiven, aufgewecktenKleinstadtamerikaner, der mit seinem Freizeitboot zu weithinausgesegelt war, so weit über in den Atlantik RichtungOsten getrieben, dass ihm nichts anderes übrig blieb, als sichbei den vorherrschenden Westwinden auf ein zufällig vor-beifahrendes Schiff zu retten. Das war aber auf dem Weg nachLondon. So geriet der naive Kleinstadtamerikaner mittellosin die große Stadt. Denn der Kapitän des Schiffes, das ihn ge-rettet hatte, ließ ihn für Kost und Logis arbeiten und ließ ihn,da das Schiff in Richtung Afrika weiterfuhr, in London ohneGeld von Bord. Der Kleinstadtamerikaner zog durch die Stra-ßen Londons auf der Suche nach Essen und bückte sich in sei-ner Not sogar nach weggeworfenen Essensresten.

Da wurde er überraschend von einem Diener angespro-chen und in ein herrschaftliches Haus gebeten. Dort empfin-gen ihn zwei ältere Herren in einem prunkvoll eingerichtetenSalon und überreichten ihm einen Umschlag mit den bestenWünschen und der Anweisung, ihn erst abends zu öffnen.Kaum aus dem Haus, konnte der hungrige Amerikaner seineNeugier und seine Hoffnung auf eine Wende in seinem Schick-sal nicht mehr bezähmen und öffnete den Umschlag. Darinsah er eine große, ihm unbekannte Geldnote. In seiner Hoff-

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6 Mark Twain (1893/1986): Die Eine-Million-Pfund-Note und andere Erzählungen. (Diogenes)Zürich.

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nung bestätigt, steckte er den Umschlag weg und suchte nacheinem Wirtshaus, wo er eine Riesenportion essen bestellte.Der Wirt musterte seine heruntergekommene Erscheinungund wollte ihm nichts geben. Da zog der seltsame Gast sei-nen Umschlag hervor und zeigte dem Wirt die Geldnote.Dieser erstarrte, wollte seinen Augen nicht trauen, prüfte dieNote, starrte seinen Gast ungläubig an, gab die Note zurückund verwandelte sich in einen zuvorkommenden, geradezuunterwürfigen Gastgeber, der sofort die Bestellung annahmund Gratisgetränke auftischte. Denn es war eine Eine-Mil-lion-Pfund-Note. Natürlich konnte der Wirt nicht wechseln.Niemand konnte Wechseln. Aber bei einem offensichtlich sowohlhabenden Mann war Kredit kein Problem, wenn er auchetwas seltsam gekleidet war. Aber manchmal kamen die Rei-chen auf verrückte Ideen. Und bei den Amerikanern wussteman sowieso nie, woran man war.

Nun studierte auch der Amerikaner die Geldnote undmerkte, zu welch einem Vermögen er so unversehens gekom-men war. Das musste ein Irrtum sein. Doch da war noch einBegleitbrief in dem Umschlag. Darin stand, dass seine Gönnermiteinander eine Wette geschlossen hätten. Damit sich ent-scheiden könne, wer gewonnen habe, seien sie auf seine Hil-fe angewiesen. Er möge doch die beiliegende Geldnote füreinen Monat in Verwahrung zu nehmen. Er habe wie ein ehr-licher Mann gewirkt und darum hätten sie, die Geldgeber,volles Vertrauen, dass er nach einem Monat mit dem Geld wie-der zu ihnen zurückkehren und berichten werde, was in derZwischenzeit mit ihm geschehen sei. Der verdutzte Empfän-ger dieser Notiz saß minutenlang wie vom Blitz getroffen da,aß dann aber doch mit großem Appetit, unterschrieb beimWirt einen Schuldschein und eilte zurück dem Haus, in demihm der Umschlag ausgehändigt worden war. Doch da rea-gierte niemand auf sein stürmisches Klopfen. Er wartete undversuchte es immer wieder. Aber niemand antwortete ihm.Offensichtlich war er für den nächsten Monat Besitzer derEine-Million-Pfund-Note. Er konnte dieser Einsicht nicht weiterausweichen.

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Der Mann ging er zu einer Bank, um dort die Note wech-seln zu lassen. Doch auch die Bank hat nicht so viel Bargeld.Stattdessen räumte sie ihm gegen Hinterlegung der Note einGuthaben im Wert der Note ein. Damit kleidete er sich neu ein.Sein Reichtum sprach sich schnell herum. Überall wurde eräußerst zuvorkommend und freundlich als der skurrile Mil-lionär aus Amerika behandelt. Man lud ihn ein. Man unter-breitete ihm lukrative Angebote für Geldanlagen, Projekte.Einem Freund aus Amerika, den er auf einem zu seinen Ehrenveranstalteten Fest zufällig traf, dessen Aktien wegen Geld-mangel und auslaufenden Krediten radikal an Wert verlorenhatten und der sich vor dem Bankrott sah, konnte er helfen,indem er ihm erlaubte, ihn, den Inhaber der Eine-Million-Pfund-Note, bei seinen Geldgebern als Sicherheit zu nennen.Zum Ausgleich übergab ihm der Freund ein großes Paket derwertlos gewordenen Aktien. Deren Wert stieg jedoch mit derNachricht von der Garantie für die Kredite in wenigen Tagenrasant und Abschlüsse kamen zustande, die zu weiterenWertsteigerungen führten. Noch vor Ablauf der Monatsfristwar aus dem bloß virtuellen Millionär eine echter geworden.Er konnte die Eine-Million-Pfund-Note zurückgeben und auseinem Reichtum schöpfen, den er mit ihrer Hilfe selbst erwirt-schaftet hatte. Er war dabei ein anderer Mensch geworden,der sich auf dem Parkett der großen Welt in London mit Läs-sigkeit und Selbstbewusstsein bewegen konnte.

Genau darum hatten seine Gönner gewettet. Einer vonihnen war fest davon überzeugt, dass die Eine-Million-Pfund-Note zu nichts zu gebrauchen sei, weil sie keiner wechselnkönne. Der Inhaber müsse als reicher Mann hungern undkönne trotz des Geldes in seiner Tasche an seiner Situationnichts verändern. Sein Partner wettete dagegen, das Symbolvon viel Geld habe dieselbe Wirkung wie wirkliches Geld. DerInhaber des Symbols müsse die Substanz der Symbolik nieunter Beweis stellen. Die Symbolik genüge um ihm zu Reich-tum und Ansehen zu verhelfen.

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Symbolische und praktische Politik

So ist es auch häufig in der Politik: Der glaubwürdigeSchein, das überzeugende Symbol für Erfolg und Kompetenzkann genauso gut und genauso viel bewirken wie wirklicherErfolg und wirkliche Kompetenz. Man kann sagen: Die meistenWahlen werden durch symbolische Erfolge und nicht wegender Erfolge in der tatsächlich stattgefundenen praktischenPolitik gewonnen. Wenn es einer Partei gelingt, den Eindruckvon Kompetenz, Zuverlässigkeit und Sicherheit zu vermitteln,dann gewinnt sie Wahlen unabhängig davon, wie viel Kompe-tenz,Zuverlässigkeit und Sicherheit sie tatsächlich bieten kann.

Denn die Menschen werden von emotionalen Symbolenstärker angesprochen als von rationalen Argumenten. Sym-bole, wie der Kanzler, der mit sorgenvoller aber kompetent-selbstbewusster Miene zwischen Sandsackbarrieren an derüberfluteten Elbe steht oder das Bild vom Gegenkandidatenmit seiner blonden Gattin vor bayerisch-heiler Bergkulisse,wirken unbewusst und diffus auf den Betrachter ein und ma-chen ihn emotional geneigter, ohne dass er weiß weshalb.Praktische Politik bringt, wenn sie gut gelingt, für viele Men-schen Verbesserungen in einzelnen Bereichen. Die werdenzwar rational registriert und emotional erlebt, doch sie be-treffen immer nur einen mehr oder weniger kleinen Teilbe-reich des Lebens, nie die ganze Person. Praktische Politik kannüber Jahre hinweg ständige Verschlechterungen bringen unddennoch bleiben die Betroffenen emotional an ihre Parteigebunden, wenn die symbolische Politik stimmt.

Praktische Politik ist das Kleingeld der Politik, unspekta-kulär, unemotional, kleinkariert. Von ihr sind die Menschenimmer nur in Teilbereichen betroffen und nicht als emotionaleGesamtwesen wie bei der symbolischen Politik. Sie ist Glanzund Gloria, der große Schein, der mit großer Geste ausgege-ben wird. Darum ist symbolische Politik in der Regel derSchlüssel zur Macht. Mit ihr werden Wahlen gewonnen. Mitpraktischer Politik wird das Land zwar gestaltet und verändert.

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Mit ihr gewinnt man aber keine Herzen. Symbolische Politikbindet Loyalitäten nicht nur an einzelne Politiker oder Par-teien, sondern an das politische System insgesamt.

Praktische Politik in Aktion

Tatsächlich ist es für Nichtprofis kaum möglich, sich einenwirklichen Überblick über die praktische Politik zu verschaf-fen. Denn in einer Wahlperiode, die vier Jahre dauert unddie es bei der nächsten Wahl zu beurteilen gilt, werden über600 Gesetzesvorlagen in den Bundestag eingebracht. Nur et-wa hundert davon schaffen es bis zum Bundespräsidentenund werden wirklich Gesetz. Aber alle müssen beraten, in denAusschüssen vorbereitet und in Anhörungen den Expertenund interessierten Verbänden zur Stellungnahme vorgelegtwerden. Dazu kommen noch unzählige Verordnungen, dienicht vom Parlament beraten, sondern von den Verwaltungenerlassen werden, die praktische Politik aber stärker bestimmenals die großen Gesetze.

Meist sind die Gesetzesvorlagen sehr spezielle Regelun-gen, die nur einen kleinen Sektor der Bevölkerung betref-fen, einmal die Landwirte, dann die Zahnärzte, die Wirte oderdie Spediteure. Meist sind es Änderungsgesetze, in denennicht einmal der Zusammenhang zur alten Regelung deutlichwird. Jedem Gesetzesvorhaben sind Begründungen, Exper-tisen, Haushaltsberechnungen, Minderheitenvoten beigege-ben. Nicht einmal die Abgeordneten können die Flut an Pa-pier, die sie als Bundestagsdrucksache jede Woche zugestelltbekommen, durcharbeiten und überblicken.

Darum muss sich praktische Politik arbeitsteilig organisie-ren. In jeder Partei müssen sich die Abgeordneten auf be-stimmte Gebiete spezialisieren und sich so gut in das Gebieteinarbeiten, dass sie den Ministerialbürokraten und den Lob-byisten, die ein Leben lang in einem bestimmten Detailge-

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biet tätig sind, Paroli bieten können. Die Aufgabe der Lob-byisten ist es, dafür zu sorgen, dass die Verordnungen undGesetze die Interessen ihres Verbandes möglichst genau be-rücksichtigen, jedenfalls aber sich nicht gravierend gegen sieauswirken. Sie bringen in der Regel sehr viel Sachverstand undPersonal und häufig beträchtliche Geldmittel auf, um ihreZwecke durchzusetzen und ihre Interessen als das Gemein-wohl auszugeben. Sie können mit Werbekampagnen jedesSachthema zum Thema der symbolischen Politik machen undes der Kompetenz der Parteiexperten entziehen. Sie kön-nen mit Wahlkampfspenden und Investitionen in bestimm-ten Wahlkreisen zwar keine Politiker kaufen, aber sie dochzwingen, sich dreimal zu überlegen, ob sie in einer Detailfra-ge gegen das heftig geäußerte Interesse eines solchen Lob-byisten entscheiden. Es ist schwer gegen ihre Macht und ihreExpertise anzukommen. Zum Glück gibt es in den meistenFragen viele sich gegenseitig widersprechende Interessen, sodass Experten der Parteien die unterschiedlichen Lobbyistengegeneinander ausspielen und sich das Expertenwissen deseinen gegen das des anderen zu Nutze machen können. Dochall dies müssen sie mit im Vergleich geringen Mitteln und Per-sonal erreichen.

Erst wenn sie einen Ministerposten innehaben,steht ihnenein Regierungsapparat mit vielen Experten zur Verfügung, dieihnen zuarbeiten. Doch bei diesen Ministerialbürokraten kön-nen sich weder die Minister noch die Parlamentarier jemalsganz sicher sein, ob diese dem parteipolitischen Anliegen ih-rer Auftraggeber folgen. Häufig hat die Verwaltung eigeneInteressen. Die Minister kommen und gehen, die Verwaltungbleibt bestehen. Da sich die politische Führung eines Minis-teriums sowieso nur um ausgewählte Fragen kümmern kann,bleiben viele Detailfragen der Verwaltung selbst überlassen.Auch sie verfügt deshalb über eine Expertise und einen lan-gen Atem, dem ein Parlamentsmitglied kaum etwas entge-genzusetzen hat.

Im Wesentlichen müssen die Abgeordneten die gesam-te Arbeit der praktischen Politik,etwa der Finanzpolitik, selbst

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leisten gegen den versammelten Sachverstand und die Mit-arbeiterstäbe der Lobbys und Verwaltungen. Für dieses müh-same Geschäft interessiert sich jedoch kaum jemand ausihrem Wahlbezirk, höchstens diejenigen, die selbst Expertenoder direkt Betroffene sind. Und dennoch hängt Auf- undAbstieg eines Abgeordneten oder einer Abgeordneten an derguten Arbeit im Ausschuss. Denn in den Ausschüssen undAnhörungen stehen sie im Wettkampf mit Experten der ande-ren Parteien und dürfen sich nicht blamieren. MangelndeExpertise, Unwissen, schwache Verhandlungstaktik, lückenhaf-te Vorbereitung, jeder Fehler wird bemerkt und spricht sichschnell herum und wird von den gegnerischen Parteiexper-ten, vor allem aber von den politischen Konkurrenten in dereigenen Partei unbarmherzig zum eigenen Vorteil genutzt.

Die praktische Politik in Berlin gewinnt jedoch keine Wah-len. Die werden im Wahlkreis gewonnen. Für direkt gewähl-te Abgeordnete zählt dafür die symbolische Politik: die An-wesenheit bei Feuerwehrfesten, bei Vereinsjubiläen, bei derEröffnung der Kirmes oder einer Messe, beim Empfang einesprominenten Besuchers im Rathaus oder bei der Einweihungeiner neuen Straße. Um die Ausschussarbeit in Berlin küm-mert sich im Wahlkreis kaum jemand. Deshalb halten sich inBerlin auch direkt gewählte Abgeordnete über viele Jahre, diein der praktischen Politik kaum Vernünftiges leisten, in ihremWahlkreis aber dicke Mehrheiten erzielen. Die praktischePolitik in den Ausschüssen ist nur von Bedeutung, wenn manin Berlin innerhalb der Partei Karriere machen will. Dann zählt,ob man sich in einer Diskussion mit guten Argumenten undSachkenntnissen durchsetzen kann. Dann zählt, ob man beiden Experten der anderen Parteien als ein Experte undVerhandlungspartner anerkannt ist. Dann kann man in derFraktion aufsteigen und bekommt vielleicht sogar ein Minis-teramt, wenn die Partei die Regierung stellt.

Für politisch besonders wichtige und schwierige Detail-gebiete, für die es einer jahrelangen Einarbeitungszeit bedarf,etwa der Sozial- oder Gesundheitspolitik, leisten sich die Par-teien reine Spezialisten der praktischen Politik. Diese kommen

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regelmäßig auf einen sicheren Listenplatz, nur weil sie in ei-nem strategisch wichtigen Teilgebiet der Politik besonderserfahren und in der Auseinandersetzung mit Verbänden undVerwaltung besonders gut sind. Häufig bleiben diese außer-halb ihres Fachgebietes ein Leben lang unbekannt und tau-chen in der symbolischen Politik nie auf.

Da kein Mensch alle Details aller Sachgebiete überschau-en kann, müssen sich die anderen Mitglieder der Partei imBundestag, die Fraktion, auf ihre Experten verlassen. Das istder eigentliche Grund für die Fraktionsdisziplin. Denn in denmeisten Fragen – außer in solchen, die zur symbolischenPolitik werden – geben sie vor, wie die Fraktion abstimmt, undsprechen dann auch für die Fraktion im Plenum und begrün-den dort das Abstimmungsverhalten der Partei.

Das erklärt, warum in den meisten Sitzungen des Bun-destags kaum eine echte Debatte stattfindet und warum inder Regel nur wenige Abgeordnete anwesend sind, von denendie meisten Zeitung oder Akten lesen oder mit ihren Nach-barn reden und nur zuhören und Beifall geben, wenn derRedner aus ihrer Fraktion stammt. Meist ist auch nur der Ver-treter desjenigen Ministeriums anwesend, dessen Geschäfts-bereich die Gesetzesvorlage betrifft. Und von den wenigenAbgeordneten, die überhaupt da sind, springen immer einigemitten in der Debatte auf und eilen aus dem Raum, telefo-nieren draußen oder treffen jemanden und kommen erst zurAbstimmung wieder.

Viele Menschen empfinden diesen Anblick als Schandefür die Demokratie. Sie meinen, alle Mitglieder des Bundes-tages und das Kabinett müssten normalerweise zur Gesetz-gebung anwesend sein, aufmerksam zuhören und sich an derDebatte beteiligen. Doch dies geschieht nur bei den großenFragen der symbolischen Politik.

Die Spezialfragen der praktischen Politik machen die Ex-perten der Fraktionen unter sich in unzähligen Verhandlungs-runden, Ausschusssitzungen und öffentlichen Veranstaltun-gen aus. Dort treffen dieselben Fachleute aus den Parteien,aus der Verwaltung, aus den Interessenverbänden und aus

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Wissenschaft und Praxis schon seit Jahren immer wieder auf-einander. Sie tauschen immer wieder die gleichen Argumenteaus, wissen schon, wer wann was sagen wird. Dennoch nähernsie sich einander immer wieder an, entdecken neue Pro-blemlagen, suchen nach neuen Lösungen, verbeißen sich da-bei ineinander, testen Möglichkeiten aus und finden schließ-lich Regelungen, die von den wichtigsten Interessenvertreternnur noch mit verhaltenem Protest bekämpft werden. Dannwird ausgetestet, ob die Regelung in der eignen Fraktiondurchsetzbar ist. Man spricht mit den Kolleginnen und Kol-legen in sachverwandten Ausschüssen und handelt mit mög-lichen Konkurrenten in der eigenen Partei Gegengeschäfteaus: Lässt du mich hier machen, werde ich dir auch in deinerAngelegenheit nicht in die Quere kommen. Ein Politiker, derdas Handwerk der praktischen Politik beherrscht, bringt eineAngelegenheit erst vor die Fraktionsführung und in die Frak-tion, wenn der Weg geebnet ist und es dort eigentlich nichtsmehr zu diskutieren gibt. Daher folgt die Fraktion in der Regeldem Vorschlag und der kurzen Argumentation des Expertenaus dem einschlägigen Ausschuss. Danach ist die Debatteund die Abstimmung im Plenarsaal nur noch Formsache: Die-selben, die sich vorher schon überall begegnet sind, sagennoch einmal, was sie vorher schon immer gesagt haben. Siemachen dieselben Zwischenrufe, die sie immer schon ge-macht haben. Die anderen Mitglieder des Bundestages klat-schen gelegentlich bei den Beiträgen der eigenen Redner.Aber kein anderes Mitglied hört wirklich zu, denn es handeltsich nicht um ihr Sachgebiet und sie haben weder Ahnungnoch Interesse. Darum wechselt die Besetzung im Bundestagsobald ein neues Thema, eine Gesetzesvorlage aus einemanderen Bereich drankommt. Die Mitglieder des einen Aus-schusses gehen und die eines anderen übernehmen ihrePlätze. Darum kann man getrost während der Debatte drin-gende andere Gespräche führen oder Arbeiten erledigen.Denn Abgeordnete haben neben den Parlamentssitzungeneine kaum vorstellbare Menge an Aufgaben. Klingelt draußenin den Gängen und Zimmern des Parlamentsgebäudes die

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Glocke zur Abstimmung, eilt man zurück in den Plenarsaal,damit die Abstimmung auch so ausgeht, wie zuvor in derFraktion beschlossen. In den Landtagen und Kommunalpar-lamenten wiederholt sich das gleiche Verfahren mit leichtenAbweichungen. Auch dort wird eine Unzahl von Vorlagenvon Experten bearbeitet, zur Abstimmung vorbereitet unddann routiniert durch das Abstimmungsverfahren gebracht.Das ist praktische Politik in Aktion.

Wie sollen da Wähler und Wählerinnen, die ihren Berufund Familie und ihre Freizeitvergnügen haben, praktische Po-litik kontrollieren und beurteilen können? Müssen sie nichtvor dieser ungeheuerlichen Aufgabe kapitulieren und die Po-litik den Fachleuten überlassen?

Wie die Wahlentscheidung zustande kommt

Die Aufgabe der Wähler ist es, die Ziele der Politik zubestimmen. Sie wählen die Parlamentsmitglieder und diesemachen die Gesetze, die von Regierung und Verwaltung aus-geführt werden. So will es das Grundgesetz.

Schaut man sich jedoch die Wähler in Deutschland an,erlebt man eine Ernüchterung. In den Umfragedaten etwa vonALLBUS (Allgemeine Bevölkerungsumfrage der Sozialwissen-schaften) zeigt sich immer wieder dieselbe Tendenz: Die gro-ße Mehrzahl aller Wählerinnen und Wähler sind weder fähignoch interessiert, die Zusammenhänge von Politik und Ge-sellschaft zu begreifen. Nur 20 Prozent aller Wähler findenPolitik überhaupt wichtig. In den neuen Bundesländern ist dasInteresse mit 15 Prozent sogar noch geringer. Weniger als dieHälfte der Wähler (etwa 40 Prozent im Westen, 35 Prozent inden neuen Bundesländern) lesen regelmäßig den politischenTeil einer Tageszeitung. Zwar schauen 80 Prozent im Westenund 75 Prozent in den neuen Bundesländern regelmäßig imFernsehen die Nachrichten. Schon bei politischen Magazinen

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geht das Interesse auf etwa 30 Prozent zurück. Weniger alsfünf Prozent aller Wähler (in den neuen Bundesländern sogarnur 3,5 Prozent) sind zur aktiven Mitarbeit in der Politik bereit,sei es in einer Partei oder in einer Bürgerinitiative.

In der Theorie sollen die Wähler die Parteien nach ihremProgramm auswählen. Doch kaum einer der Wähler hat je dasProgramm einer Partei gelesen. Dem entsprechend hat dieWahlentscheidung eher selten etwas mit der Programmatikeiner Partei zu tun. Bei der Wahl 1998 haben Wissenschaftler500 Bürgerinnen und Bürger im Jahr vor der Wahl begleitetund sie immer wieder befragt, wie sie wählen würden und wasihre Wahlentscheidung beeinflusst hat. Alles deutet daraufhin, dass die Wahlentscheidung nach eher atmosphärisch-emotionalen und weniger nach rationalen Gesichtspunk-ten zustande kommt. Sie fällt meist im Freundeskreis, amStammtisch, in der Familie und am Arbeitsplatz. Nur wenigeder 500 Beobachteten gaben an, dass Wahlplakate,Wahlredenoder Fernsehspots einen Einfluss auf ihre Entscheidung ge-habt hatten.

Bedenkt man, wie wenige Prozent der Wahlstimmen oftgenügen, um einen Regierungswechsel herbeizuführen oderihn zu verhindern, wird deutlich, dass Wahlen und Wahlergeb-nisse nur marginal etwas mit der Rationalität und den Ergeb-nissen der praktischen Politik zu tun haben. Das gibt der zuvorschon gestellten Frage zusätzliche Schärfe, ob man nicht an-gesichts dieser Tatsachen die Politik nicht gleich den Expertenüberlassen sollte?

Das Dilemma der Demokratie

Die Politik steht vor einem Dilemma: Auf der einen Seitemuss sie sich um außerordentlich schwierige, kleinteilige undverwickelte Probleme kümmern, die nur Fachleute interessie-ren und überblicken. Auf der anderen Seite soll sie nicht zur

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Expertendiktatur verkommen, sondern als demokratische Re-gierung ihr Tun vom Wähler überprüfen und bestimmen las-sen. Die Wähler sind damit aber – wie gezeigt – überfordert.Sie können es nicht und – vor allem – sie wollen es nicht.Würde sich die Politik auf das Niveau der Kenntnisse der meis-ten Wähler beschränken, würde die Gesellschaft zum Geis-terschiff. Hält sie sich aber an die wirklichen Probleme in ihrerKomplexität, verselbständigt sie sich von den Wählern undhört auf, demokratische Politik zu sein.

Das ist das Dilemma der Politik in der Demokratie: Egalwofür sie sich entscheidet, es ist falsch. Entscheidet sie sichfür Effizienz, ist sie undemokratisch. Entscheidet sie sich fürdie Demokratie, ist sie ineffizient. Wie kommt sie aus dieserZwickmühle heraus?

Die Arbeitsteilung zwischen praktischer und symbolischer Politik

Die Lösung ist einfach und naheliegend: Für die Wählerwird der Teil der Politik ausgewählt, der unterhaltsam und vonallgemeiner Bedeutung, vor allem aber für die Imagebildungder Parteien und Politiker wichtig ist. Der wird vor dem ge-neigten Publikum in den Medien inszeniert und zelebriert.Dasist die symbolische Politik. In ihr präsentiert sich jede Parteiund jedes Mitglied der politischen Elite so wahltaktisch klugwie möglich. Da ist immer Wahlkampf. Man profiliert sich,setzt sich von der Konkurrenz ab, beschimpft und macht dieanderen Parteien lächerlich, unterstreicht die eigenen Vorzü-ge und mimt allgemein Engagement für das Gemeinwohl undden Fortschritt. Politiker, die ihren Job gelernt haben, witternvon Ferne her, ob eine Frage sich zu symbolischer Politik eig-net. Solche Fragen ziehen sie an sich, schicken Presseerklä-rungen ab, halten Pressekonferenzen, setzen eine Anhörungoder eine Tagung mit einem von ihm gehaltenen Festvor-

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trag an, starten eine große Anfrage im Parlament oder gebenein Exklusivinterview für einen Bekannten beim Fernsehen.

Symbolische Politik wirbelt viel Staub auf. Sie füllt die Blät-ter und Bildschirme. Hier muss sich bewähren, ob ein Politikerzum Wahlsieger taugt. Das hängt überhaupt nicht von seinerguten praktischen Politik ab. Entscheidender ist sein Ausse-hen, seine Art und Weise den Kopf zu halten, seine Ausstrah-lung, seine Verbindlichkeit im Auftreten und seine Unverbind-lichkeit im Inhalt.

Das gilt natürlich auch für Politikerinnen. Doch werden ansie vom sogenannten gesunden Menschenverstand viel wi-dersprüchlichere, kaum zu erfüllende Erwartungen gestellt.Frauen müssen besser als die Männer sein, dürfen es aber aufkeinen Fall zeigen. Sie müssen weiblich, aber dürfen nicht sexysein. Sie sollen genauso wie die Männer in der Politik ständigpräsent, gleichzeitig aber gute Mütter und Ehefrauen sein.Gerade symbolische Politik fordert Frauen in kaum erträgli-cher Weise.

Presse und Fernsehen sind wichtig für symbolische Politik,weil sie der einzige Weg sind, auf dem man nahezu alle Wäh-lerinnen und Wähler erreichen kann. Dabei ist es wichtiger,dass man in Bildern gezeigt wird, als welchen Text die Pressedazu schreibt oder welcher Kommentar im Fernsehen zu denBildern gesprochen wird. Symbolische Politik ist ein schwie-riges Geschäft. Man muss überzeugend und tiefsinnig klin-gen, voller Ernst und Engagement – und doch nichts Genauessagen, das eine Gruppe übel nehmen könnte. Man muss stän-dig in Höchstform sein, immer angemessen, hochkonzen-triert und darf sich keinen Schnitzer erlauben. Man darf sichkeinen Moment unbeobachtet wähnen, darf nie seinen Ärgerüber die Kameras und die lauernden Journalisten, über ihreoft dummen Fragen äußern, darf nie „die Sau raus lassen“. Da-rauf lauern Medien und die Gegner. Aber man darf auch nichtzu glatt sein. Denn dann bleibt man nicht haften im Gedächt-nis der Wähler. Eine gute Marketingfirma ist da eine großeHilfe. Sie hat Erfahrung damit, positive Gefühle, Sehnsüchteund Hoffnungen mit allen möglichen Produkten zu verknüp-

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fen, so dass die Sehnsucht nach der großen, erfüllenden Lie-be sich mit einer Autokarosse verbindet. Mit etwas Bega-bung kann das auch mit einem Politiker gemacht werden.

Das mag zynisch klingen. Doch es funktioniert. So wer-den Wahlen gewonnen und verloren. Und so kommt eingewaltloser, demokratischer Machtwechsel zustande. DerMachtwechsel ist zwar nicht nach rationalen Gesichtspunk-ten geschehen und auch nicht wie sich das Grundgesetz denpolitischen Wechsel vorgestellt hat. Doch er geschieht un-blutig und funktioniert. In einer Welt der Milliarden Leben desKolumbus und der nicht erreichbaren Wahrheit ist das auchkein Mangel oder Makel. Entscheidend ist, dass die Mehrheitdes Wahlvolkes aus welchen Gründen auch immer, seien sienoch so dumm und kurzsichtig oder weise und vorausschau-end, die herrschende Partei oder Koalition abgewählt undeiner anderen Parteienkonstellation die Mehrheit gegebenhat. Das korrekt eingehaltene formale Verfahren verschafftLegitimität, nicht dessen Inhalt.

Die Bedeutung der praktischen Politik

Hinter der alles beherrschenden und alles verdeckendenFassade der symbolischen Politik läuft das harte, zeitrauben-de, herausfordernde Geschäft der praktischen Politik. Von ihrmerkt die Öffentlichkeit kaum etwas. Da wird in unendlichenSitzungen, in unzähligen Gesprächen die Lösung für Proble-me ausgehandelt, die sich in der alltäglichen Praxis als re-gelungsbedürftig herausgestellt haben. Das ist hochgradigsachliche Arbeit. Viele Gesetze in der Bundesrepublik werdenzwischen den Verwaltungsbeamten der Länder und des Bun-des in den Ausschüssen des Bundesrates ausgehandelt. Daoptimiert die Verwaltung ihre Instrumente und Parteipolitikspielt meist kaum eine Rolle. Oft geht das Abstimmungsver-halten quer durch alle Parteien. Es geht um effiziente Lösun-

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gen für alltäglich auftretende Probleme und Verwaltungsab-läufe. Häufig tragen die Berufsverbände oder Wirtschaftsgre-mien ihre Probleme in den Ministerien bei der Verwaltung vorund diese formulieren daraus für ihren Minister Verwaltungs-vorschriften oder neue Gesetzesvorlagen. Der überprüft sienach sachlichen Gesichtspunkten aber auch, ob sie irgendwoden Keim zur symbolischen Politik in sich tragen, also dieWiederwahl seiner Partei befördern oder gefährden könnten.Ist das der Fall, zieht er die Initiative an sich und macht daraussymbolische Politik. Dann haben die Experten ausgedient.Dann wird nach politischen Maßstäben entschieden. Es wirderwogen, was bei den Wählern, die man sowieso schon hatund bei denen, die man dazugewinnen könnte, am bestenankommt. Sachliche Gesichtspunkte müssen zurücktreten.

Ergibt sich jedoch kein Anhaltspunkt für symbolische Be-deutung, wird die Initiative den Fachleuten überlassen. Jetztkönnen sie in aller Ruhe unter sich die ihnen optimal erschei-nende Lösung erarbeiten und durchsetzen. Die politischenGremien gehen automatisch mit. Die Fraktionen winken dieAngelegenheiten durch. Bundestag und Bundesrat werden zuAbstimmungsmaschinen, in denen kaum einer der Abstim-menden weiß, worüber er oder sie gerade befunden hat.

Das ist die große Chance der Lobbyisten. Wenn es keinewidersprechenden Interessenvertreter gibt, können sie sich inder praktischen Politik in aller Ruhe die für sie optimale Ge-setzgebung zurechtstricken. Ohne je über Politik oder Par-teien zu reden, werden Lösungen gesucht, mit der EU-Büro-kratie abgestimmt und in hochdifferenzierte Gesetzestexteumgesetzt, die in ihren Feinheiten nur von Verwaltungsjuris-ten verstanden werden, die dann die einschlägigen Kommen-tare dazu schreiben. Dabei wird viel bewegt und gestaltet,ohne dass es je zum politischen Spektakel wird, ohne dassjemand sich die Lorbeeren dafür holt und ohne dass es je indie Zeitung oder ins Fernsehen kommt.

Symbolische Politik holt sich „die Rosinen aus dem Ku-chen“ der praktischen Politik. Sie entscheidet über die Macht-frage. Das Funktionieren der Gesellschaft, das wovon sie lebt

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und in ihren Grundfunktionen abhängt, liefert die praktischePolitik.Wie in der Novelle von Mark Twain von der Eine-Million-Pfund-Note, wo der naive Kleinstadtamerikaner unter demsymbolischen Schutz seines papiernen Reichtums ein prakti-sches Millionenvermögen erwirtschaftet, verschafft die sym-bolische Politik mit ihrem einschüchternden Ansehen derpraktischen Politik genügend Raum, um die komplexen Sach-probleme und Verwaltungsroutinen einer hocharbeitsteiligenGesellschaft sachgemäß in aller Ruhe behandeln zu lassen.

So funktioniert Politik. Nicht wie es das Grundgesetz vor-sieht. Nicht wie es sich die politische Philosophie wünscht.Aber sie funktioniert und löst das Dilemma der Politik zwi-schen Demokratieanspruch auf der einen Seite und dem Man-gel an Wissen und Interesse beim größten Teil des Wahlvolkesauf der anderen Seite. Die Lösung ist brillant: Die symbolischePolitik sorgt für Machterhalt und Machtwechsel ohne die Wäh-ler zu überfordern. Gleichzeitig verschafft sie der praktischenPolitik genügend Zeit und Raum zur Ausarbeitung sachge-mäßer Lösungen.

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Sechstes Kapitel:

Der kleine Prinz und der König – oder:Was macht eine gute Regierung?

Antoine de Saint-Exupéry7 war in der ersten Hälfte des 20.Jahrhunderts ein Pionier der Motorfliegerei. Er überlebte vie-le Notlandungen und Unfälle, manche davon in der Wüste.Zudem war er auch ein großer Schriftsteller. Berühmt wurdeer mit der folgenden Geschichte:

Einmal hatte ihn wieder eine Motorpanne mitten inder Wüste zu Boden gebracht. Das Flugzeug war heilgeblieben. Doch er war ganz allein, ohne Mechaniker, undhatte für höchstens acht Tage Trinkwasser. Er musste dieReparatur alleine schaffen. Es ging um Leben und Tod.

Bei Tagesanbruch des ersten Tages nach der Notlan-dung hörte er eine seltsame kleine Stimme: „Bitte... zeich-ne mir ein Schaf!“ Als er sich überrascht umschaute,entdeckte er einen winzig kleinen Jungen. Im Gesprächstellte sich heraus, dass der ein Prinz von einem fremden,ebenfalls sehr kleinen Planeten war, dem Asteroiden B612. Während der Pilot weiter an seiner Maschine arbei-tete, lernte er den kleinen Prinzen und seine Welt immerbesser kennen und freundete sich mit ihm an. So erfuhrer von den Asteroiden, die der kleine Prinz auf dem Wegzu Erde besucht hatte. Auf einem hatte der kleine Prinzeinen König getroffen. Auf dem ganzen Planeten gab esnichts außer dem König.

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7 Antoine de Saint-Exupéry (1946/1956): Der Kleine Prinz. Mit Zeichnungen des Verfassers.(Rauch) Düsseldorf.

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„Der König thronte in Purpur und Hermelin auf einemsehr einfachen und dabei sehr königlichen Thron.’Ah! Sieh da, ein Untertan’, rief der König, als er den kleinenPrinzen sah.

Und der kleine Prinz fragte sich: wie kann er mich ken-nen, da er mich noch nie gesehen hat!

Er wußte nicht, daß für die Könige die Welt etwashöchst Einfaches ist: Alle Menschen sind Untertanen.“

Der König wollte dem Gast seine Macht demonstrie-ren und gab ihm allerlei Befehle, die der Prinz entwedernicht befolgen konnte oder nicht ausführen wollte. Alsalle Gebote und Verbote vergeblich waren, erklärte derKönig dem kleinen Prinzen das Geheimnis seiner Regie-rungskunst:

„’Wenn ich einem General geböte, nach der Art derSchmetterlinge von einer Blume zur anderen zu fliegenoder eine Tragödie zu schreiben oder sich in einen See-vogel zu verwandeln, und wenn dieser General den erhal-tenen Befehl nicht ausführte, wer wäre im Unrecht, eroder ich?’

’Sie wären es’, sagte der kleine Prinz überzeugt.’Richtig. Man muß von jedem fordern, was er leisten

kann’, antwortete der König. ’Die Autorität beruht vorallem auf der Vernunft.Wenn du deinem Volk befiehlst, zumarschieren und sich ins Meer zu stürzen, wird es revol-tieren. Ich habe das Recht, Gehorsam zu fordern, weilmeine Befehle vernünftig sind.’“

Bevor wir die Geschichte vom kleinen Prinzen und demKönig analysieren, will ich erzählen, wie es weitergeht: DieReparatur wollte nicht gelingen und mit jedem Tag, andem das Wasser weniger wurde, wechselte Saint-Exupé-ry mehr in die traurig-schöne Welt des kleinen Prinzenhinüber, bis der auf seinen Planeten zurückkehren willund ins Nichts verschwindet. Es klingt wie Tod. DochSaint-Exupéry wurde gerettet, denn später konnte er andie Stelle in der Wüste zurückkehren, wo der kleine Prinz

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verschwunden war, und darüber schreiben: „Das ist fürmich die schönste und traurigste Landschaft der Welt.“

Die Kunst des Regierens

Saint-Exupéry und seine Geschichte vom König und demkleinen Prinzen soll uns dazu dienen, die Kunst des Regie-rens näher zu betrachten. Dabei soll es nicht um Details gehenwie etwa die Kabinettsbildung, die Koalitionen und Konkur-renzen bei der Verteilung von Posten, die Kämpfe beimSchreiben des Regierungsprogramms oder der lange Weg derGesetzgebung. Auch soll es nicht um die inhaltlichen Fragenbeim Regieren gehen, etwa wie das Steuersystem beschaffensein soll, wodurch die Außenpolitik bestimmt wird, welcheMöglichkeiten und Fallstricke in der Europapolitik, der Sozial-politik oder der Gesundheitspolitik stecken. Das kann man inder Tageszeitung lesen. Der König und der kleine Prinz sollenuns vielmehr alleine dabei helfen, eine Antwort auf die Fra-ge zu finden: Wie schafft es eine Regierung am besten, vonihren Untertanen Gehorsam zu erlangen?

Die erste schnelle Antwort ist natürlich: Dazu braucht dieRegierung Macht. Denn Macht ist das, was den König zumKönig und alle anderen zu Untertanen macht. Macht, so hates bis heute weitgehend unbestritten der Begründer der So-ziologie, Max Weber, definiert, ist „die Chance, innerhalb einersozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Wider-streben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance be-ruht.“8 So denkt auch der König in der Geschichte mit demkleinen Prinzen, vertraut auf seine Insignien der Macht, demThron, dem Zepter und dem Hermelinmantel und gibt demkleinen Prinzen Befehle.

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8 Max Weber (1921): Wirtschaft und Gesellschaft Erster Teil: Die Wirtschaft und die gesellschaft-lichen Ordnungen und Mächte I. Soziologische Grundbegriffe im Internet: http://www.text-log.de/7312.html

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Damit scheitert er jedoch kläglich, denn als er dem kleinenPrinzen das Gähnen verbieten will, sagt der, er könne es nichtunterdrücken. Als ihm darauf der König befiehlt, zu gähnen, istder kleine Prinz so eingeschüchtert, dass er nicht mehr gäh-nen kann. Der König kann seinen Willen nicht gegen das Wi-derstreben des kleinen Prinzen durchsetzen. Selbst der Befehl,sich zu setzen, geht schief, weil es auf dem Planeten keinenPlatz dafür gibt. Der König hat keine Macht über den kleinenPrinzen.

Hätte er die Möglichkeit gehabt, das Leben des kleinenPrinzen zu bedrohen oder ihm sonst etwas sehr Wichtigesvorzuenthalten oder zu gewähren, hätte er dem kleinen Prin-zen sicher ein vorgespieltes Gähnen abzwingen können oderihn dazu gebracht, sich wenigsten nieder zu kauern, wenn erschon nicht sitzen konnte. Dann hätte er Macht gehabt überden kleinen Prinzen. Doch der will nichts von dem König undder König hat nichts, mit dem er drohen oder locken könnte.

Der König in der Geschichte von Saint-Exupéry ist kluggenug, um sein Scheitern im Machtkampf zu bemerken. Indieser Krise schwenkt er in seiner Politik um und wählt einenvöllig anderen Stil des Regierens: Er sagt, er habe das Recht,Gehorsam zu fordern, wenn und weil seine Befehle vernünf-tig seien. Er besteht also nicht mehr darauf, seinen Willen –gleichgültig worum es geht – durchzusetzen. Jetzt fordert erGehorsam auf vernünftige Befehle. Diese Art des Regierens,die auf Zustimmung setzt, nannte Max Weber Herrschaft: „DieChance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbarenPersonen Gehorsam zu finden.“

In der Alltagssprache gibt es meist keinen Unterschiedzwischen Macht und Herrschaft. Beide Worte werden mit demgleichen Inhalt verbunden, der Fähigkeit sich durchzusetzen.Doch die Geschichte vom kleinen Prinzen und dem Königmacht deutlich, dass es dazu zwei unterschiedliche Methodengibt: Die brutale Methode, die keine Rücksicht darauf nehmenmuss, ob die Untertanen zustimmen und die sanfte Methode,die auf Zustimmung setzt und deshalb ihre Befehle gar nichtdurchzusetzen braucht. Um sie auseinander zu halten, wollen

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wir hier die von Max Weber getroffene Unterscheidung über-nehmen: „Macht“ soll die Politik des Regierens heißen, dieauch gegen Widerstand ihren Willen durchsetzt, „Herrschaft“die Politik des Regierens, die auf Zustimmung setzt.

In der Alltagssprache wird zwischen beiden kein Unter-schied gemacht, weil sie auch in der Wirklichkeit oft kaumzu unterscheiden sind. So beginnen die Milgram-Experimen-te als Herrschaftssituation. Die Versuchspersonen folgenden Anweisungen, weil sie sich freiwillig gemeldet habenund Geld bekommen. Auch gehen sie davon aus, dass diewissenschaftlichen Mitarbeiter einer renommierten Univer-sität vernünftige Anweisungen geben. Später, wenn dieVersuchspersonen das Leiden sehen, dass sie verursachen,beginnen sie sich zu wehren. Nach und nach verwandelt sichHerrschaft in Macht. Sie entziehen dem Versuch ihre Zu-stimmung. Sie machen trotzdem weiter, weil sie den direk-ten Befehl dazu bekommen und sich – seltsamer Weise –nicht trauen, diesem Befehl zu widersprechen. Es ist eineklassische Machtsituation geworden: Die befehlende Insti-tution setzt ihren Willen in der sozialen Beziehung gegenWiderstreben durch.

Die Verwandlung von Macht in Herrschaft als historischer Prozess

Die meisten Gesetze einer Regierung sollen ein gesell-schaftliches Problem lösen. Die Lösung ist selten im Sinnealler Betroffenen. Denn die meisten gesellschaftlichen Pro-bleme entstehen aus einer Situation des ungleich verteiltenMangels. Um die Unzufriedenen im Zaum zu halten, setztdie Regierung ihren Verwaltungs- und Zwangsapparat ein.Verstöße gegen das Gesetz werden mit Strafandrohungen,Gebührenbescheiden, Anzeigen beantwortet. Widersprüchedagegen kommen vor Gericht. Wer deren Urteil nicht be-

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folgt, bekommt es mit der Polizei zu tun und landet womög-lich in der Justizvollzugsanstalt. All das ist Machtpolitik pur.

Mit der Zeit spielen sich die Verhältnisse ein. Es werdenMethoden gefunden, die Konflikte zu regulieren. Die Men-schen stellen sich auf die neue Politik ein, passen ihr Verhal-ten und ihre Denkweise der veränderten Gesetzeslage an.Sie bauen das Neue wie eine Auster das störende Sandkornin ihren Alltag ein und geben ihm mit der Zeit eine positiveDeutung. So wird die Regelung zum selbstverständlichen Teileiner legitim und vernünftig erscheinenden Welt. Niemand –oder kaum jemand – stellt sie noch in Frage. Sie verwandeltsich von einer Maßnahme der Macht in ein Element derHerrschaft. Die Regierung kann nun von ihren Untertanen –wie der König vom kleinen Prinzen – Gehorsam fordern, weilihre Befehle inzwischen für vernünftig gehalten werden.

Der historische Prozess der Politik besteht aus einemkomplizierten Gewebe von Regeln und Gesetzen, das unserLeben bestimmt und das wir unhinterfragt akzeptieren. Esentsteht aus anfangs häufig sehr umstrittenen politischenEntscheidungen, die zuerst mit Mitteln der Macht durchge-setzt werden und erst nach und nach zum Teil der Herrschaftwerden.

Macht und Ohnmacht

Der König auf dem Asteroiden war gegenüber dem klei-nen Prinzen ohnmächtig. Er konnte ihm Befehle geben wie erwollte. Der Prinz befolgte sie nicht. Eine erschreckende Si-tuation für einen König oder eine Regierung. Daraus ergibtsich die dringende Frage: Wie funktioniert Macht und wie ent-steht Ohnmacht?

Die Antwort scheint einfach zu sein: Macht hat, wer überMachtmittel verfügt z. B. Gewehre, Truppen, Geld. Ohnmäch-tig ist, wer über nichts verfügt als zum Beispiel über einen

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schäbigen Thron und einen riesigen Hermelinmantel. Dochbei genauerer Betrachtung wird diese Gleichung von Mit-tel = Macht fraglich.

Oft wird Macht mit den Machtmitteln verwechselt. DieMachtmittel alleine verleihen aber noch keine Macht. Ent-scheidend ist die Bedeutung der Frage, um die es in derMachtbeziehung geht. Denn Macht ist kein Ding, das man hatoder nicht hat. Macht ist das Resultat einer sozialen Bezie-hung. Den Willen setzt man zwar mit Machtmitteln durch,doch wie viele und welche Mittel dafür notwendig sind, hängtdavon ab, wie wichtig dem Gegenüber die Sache ist, um diees geht. Seinen Willen durchsetzen kann nur der, dem es ge-lingt, beim Gegenüber etwas zu finden, was diesem nochwichtiger ist.Erst wenn man das gefährden oder erfüllen kann,wird derjenige gegenüber erwägen, sein Verhalten in derSache zu verändern und das untergeordnete Ziel, das be-einflusst werden soll, zugunsten des Wichtigeren aufzuge-ben. Macht funktioniert in gewisser Weise als Erpressung oderBestechung.

Je nachdem wie wichtig den Menschen die Gegenstän-de der Gesetzgebung sind, hat die Regierung sehr unter-schiedliche Macht über sie. Deshalb verfügt eine Regierungimmer über einen gestaffelten Machtapparat, von einfachenMahnungen und Bußgeldern bis zu Haftstrafen. Die Drohungmuss immer noch gesteigert werden können. Doch wer kei-nerlei Bedürfnisse hat, wer sowieso Selbstmord begehen will,über den hat man keine Macht, gleichgültig über wie vieleMachtmittel man verfügt, denn der kann mit Drohungen oderVersprechungen nicht beeindruckt werden. Wem das eigeneLeben weniger bedeutet als das politische Ziel – wie denSelbstmordattentätern –, über den kann keine Regierung derWelt Macht haben.

Deshalb hatte auch der König keine Macht über den klei-nen Prinzen: Der kleine Prinz wollte nichts von ihm und es gabnichts, was der König für ihn hätte tun können, was den klei-nen Prinzen hätte dazu bringen können, sich dem Willen desKönigs zu beugen. Wäre dem kleinen Prinzen aber an der Zu-

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neigung des Königs gelegen gewesen, dann hätte der König,ohne dass sich seine Machtmittel vermehrt hätten, Machtüber den kleinen Prinzen gehabt. Er hätte ihn dazu bringenkönnen, zu gähnen, nicht zu gähnen, so zu tun als ob sich set-zen wolle, einfach indem er sich traurig gegeben hätte. Essind die eigenen Bedürfnisse, die den kleinen Prinzen ohn-mächtig gemacht hätten.

Macht funktioniert immer nach dem gleichen Schema:Erpressung oder Bestechung: Ich gebe dir, wenn ...! Oder: Ichnehme dir, wenn du nicht ...! Dazu braucht man aber Mittel.Bestechung kostet Geld. Erpressung kostet Waffen und Per-sonal, das die Drohung glaubhaft macht und zur Not auchdurchsetzt. Insofern ist Macht bei gegebener Bedürfnislagedurchaus proportional zur Menge der Mittel, über die jemandverfügen kann. Das unterstreicht aber nur, dass Macht mitKosten verbunden ist.

Die Vorteile der Herrschaft

Herrschaft dagegen verursacht kaum Kosten. Wer dasRecht hat, Gehorsam zu fordern, weil seine Befehle für ver-nünftig gehalten werden, braucht niemandem zu drohenund niemanden zu bestechen. Herrschaft kostet höchstensZeit, die es braucht, um die Menschen davon zu überzeugen,dass die Befehle vernünftig sind. Eine Regierung ist gut bera-ten, wenn sie danach strebt, in der Regel durch Herrschaftund nicht durch Macht zu regieren. Sie muss Widerständenicht mit Drohungen oder Bestechung überwinden, sie musskeine Mittel einsetzen und sie ist nicht von der Bedürfniskon-stellation ihrer Staatsbürger abhängig. Darum muss es dasZiel jeder vernünftigen Politik sein, Macht in Herrschaft zu ver-wandeln.

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Siebtes Kapitel:

Huckleberry Finn – oder: Wege aus der Hilflosigkeit.

Huckleberry Finn ist ein kleiner, frecher Junge aus denSüdstaaten der Vereinigten Staaten von Amerika. Ei-gentlich ist er in einer sehr hilflosen Situation. SeineMutter ist früh verstorben und sein alkoholkranker Va-ter kümmert sich nicht um ihn. Seine beiden Tanten sindrührend darum bemüht, ihn zu „zivilisieren“. Doch er ent-zieht sich ihren Bemühungen. Ihm ist seine Freiheit undSelbstbestimmung wichtiger als alles, was die „Zivilisa-tion“ zu bieten hat. Damit hat er sich bereits aus seinerHilflosigkeit gegenüber der „zivilisierten“ Welt befreit. Siehat keine oder nur geringe Macht über ihn, weil sie ihmnichts bedeutet.

So wächst er in beneidenswerter Freiheit auf, bis ihnsein Vater entführt, um ihm seine Art der „Zivilisation“ bei-zubringen: die völlige Ungebundenheit des Lebens ineiner Hütte im Busch. Dabei lernt Huck, sich selbst zuversorgen und noch weniger von den Segnungen derZivilisation abhängig zu sein. Doch der Vater ist in seinerchaotischen Lebensweise und in seinem Suff unbere-chenbar und gewalttätig.

Daraufhin täuscht Huck seinen Tod vor und flieht aufeine einsame Insel im Mississippi. Dort trifft er auf Jim,einen etwa gleichaltrigen entlaufenen Sklaven, den er ausder Stadt flüchtig kennt. Die beiden versuchen gemein-sam zu überleben und freunden sich dabei an. Huckmerkt, dass er in dem entlaufenen Sklaven einen ehrliche-ren, zuverlässigeren Partner hat als in all den weißen

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Menschen zuvor. Darum beschließen sie, sich bis nachOhio durchzuschlagen, wo es keine Sklaverei gibt. Dortwürde Jim frei sein.Auf ihrer Flucht treffen sie Räuber, Gauner, Schauspieler,Mörder und immer wieder und überall Rassisten, die allesdaran setzen, den entlaufenen Sklaven wieder in dieSklaverei zurückzuzwingen. Immer wieder werden siegefangen und nur der Einfallsreichtum und die FrechheitHucks rettet sie aus den verfahrensten Situationen.Dennoch endet die Reise dort, wo sie hergekommen sind.Jim liegt in Ketten, Huck soll wieder erzogen werden.Doch dann stellt sich heraus, dass Jim schon vor seinerFlucht frei gelassen worden und die ganze Flucht unnötiggewesen war.

Huckleberry Finn ist ein hilfloser kleiner Junge, derscheinbar den Mächten der Welt ausgeliefert ist und ihnenschließlich auch unterliegt. Selbst der Triumph der Freiheitist nicht durch ihn erkämpft, sondern ein verrückter Zufall.Dennoch ist die Geschichte von Huckleberry Finn das idea-le Beispiel dafür, wie man aus der Position der Hilflosigkeitherauskommen kann.

Die historische Bedeutung des Huckleberry Finn

Mark Twain hat „Die Abenteuer des Huckleberry Finn“ mitdem Untertitel: „Tom Sawyers Kamerad“ 1884 geschriebenund ist damit reich und berühmt geworden.9 In Amerika giltdas Buch als ein Beitrag Amerikas zur Weltliteratur. In

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9 Mark Twain (1884/1963): Huckleberry Finns Abenteuer. Mark Twain ausgewählt Werke. Band 8.(Aufbau) Berlin.

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Deutschland gilt es als Kinderbuch. Dabei ist der Roman einGeniestreich und ein wahrhaft revolutionäres Werk. Twaintraut sich erstmals in einem ganzen Buch, und nicht nur in ein-zelnen Dialogen, alle Regeln der Rechtschreibung und derGrammatik über Bord zu werfen und so zu schreiben, als obein Junge aus den Südstaaten die Geschichte selbst erzählt.Dazu wählte Mark Twain einen naiven Stil mit Slang, vielenWiederholungen und mit dem Wortschatz der rassistischenSüdstaaten vor dem Bürgerkrieg. In dieser rassistischen Spra-che wird aber das genaue Gegenteil von Rassismus erzählt,nämlich die Geschichte von der Befreiung aus solchen been-genden und menschenfeindlichen Vorstellungen. Huck Finnwird so zum Held der Freiheit.

Schon in seinem satirischen Bericht über seine Reisedurch Europa „Die Arglosen im Ausland“ hatte Mark Twaindas Selbstbewusstsein seiner Landsleute gegenüber demsnobistischen und dekadenten Europa gestärkt. Nun hatteer einen echten amerikanischen Helden geschaffen, der diefrohe Botschaft verkündete: Man kann ohne und gegen dieBildung Europas persönliche Freiheit und Humanität, wahreZivilisation erreichen. Seine Tanten hatten versucht, Hucknach europäischem Vorbild zu „zivilisieren“. Doch er entfliehtihnen und findet dabei zu mehr Zivilität als die meistenMenschen, denen er auf seiner Flucht begegnet.

Seine Zivilität äußert sich in seiner Zivilcourage. KeineAutorität zählt für ihn, keine Anweisung, kein Vorbild. Er über-prüft alles am Maßstab seines Gefühls für Menschlichkeit.Zwar benutzt er die Sprache des Rassismus, die Sprache seinerWelt, doch denkt er wie ein Mensch, für den allein die unbe-fangene Wahrnehmung der Menschen zählt und nicht dieHautfarbe oder das Herkommen.

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Huckleberry Finn und die Politik

Mark Twains Huckleberry Finn soll uns zum Schluss die-ses Buchs zu einem letzten unbefangenen Blick auf Politikverhelfen. Huckleberry Finn ist der Naivling, der Hilflose, dersich in der chaotischen Welt vor dem großen amerikanischenBürgerkrieg bewegt. Er ist in einer ganz ähnlichen Situationwie meine Eltern vor dem zweiten Weltkrieg. Dennoch gelingtes ihm, seine Welt wenigstens teilweise selbst zu gestaltenund sich seine Menschlichkeit gegen die Welt zu bewahren.Wie schafft er das? Was kann man daraus für Politik lernen?

Huckleberry Finn ist vor allen fremd gesetzten Bindun-gen geflohen, kann sich selbst versorgen, kennt alle Tricksder Natur und der ihm bekannten Welt und braucht sich nichtsund niemandem zu unterwerfen. Seine Freundschaft zu Jim,dem entlaufenen Sklaven, ist ihm wichtiger als alles an-dere. Darum fällt es ihm leicht, Zivilcourage zu zeigen. Dennkeines seiner anderen Bedürfnisse kann benutzt werden, umihn zum Verrat an seiner Freundschaft zu bringen. Niemandhat Macht über ihn, weil ihm die Freiheit und Mitmensch-lichkeit wichtiger ist als alles andere.

Darin liegt der Unterschied zu meinen Eltern. Trotz allenEntsetzens über die Unterdrückung und Verfolgung der Ju-den und über das Pogrom vom 9. November 1938 war ihnen –und mit ihnen den meisten Deutschen – ihre neu eingerich-tete Wohnung und ihre Familienidylle wichtiger. Sie bliebenund sie machten mit, wie fast alle.

Das Milgram-Experiment hat gezeigt, dass Gehorsam vonden strukturellen Bedingungen abhängt. Wenn sich die Au-toritäten widersprechen oder gar streiten, steigt die Wahr-scheinlichkeit der Zivilcourage. Huckleberry Finn zeigt jedochnoch eine weitere wichtige Voraussetzung für Zivilcourage:Ob und wie weit jemand Macht über eine andere Person ha-ben kann, hängt davon ab, was dieser Person wichtig ist. Dasist die Grundlage für Zivilcourage: Mitmenschlichkeit, Freiheit,Selbstbestimmung, Respekt müssen so wichtige Bedürfnisse

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sein, dass die üblichen Machtmittel, Erpressung oder Be-stechung, nicht greifen.

Huckleberry Finn hat es nur ausnahmsweise mit derStaatsgewalt zu tun. Die ist zu jener Zeit in Amerika auch nurselten anzutreffen. Seine Zivilcourage muss sich an anderenMenschen beweisen. Und auch hier ist Huckleberry Finn einspannender Lehrmeister. Denn er geht nie in eine direkteKonfrontation, lässt sich nie auf einen Machtkampf ein, den erals kleiner Junge, der einen entlaufenen Sklaven zu schützenhat, sowieso verlieren würde. Er setzt sich mit Einfallsreichtumund Witz durch. Er macht seine Schwäche zur Stärke, wenn erauf die Drohung, man wolle seinen schwarzen Freund lyn-chen, antwortet: „Wer zahlt dann dem Besitzer den Preis fürden Sklaven?“ Oder er schützt seinen Freund vor anderenSklavenjägern indem er ihn selbst in Ketten legt und vorgibt,er selbst habe ihn gefangen und bringe ihn nun zu seinemrechtmäßigen Besitzer zurück, um das Kopfgeld zu kassieren.

Mut, der meint, er müsste sich im Machtkampf beweisen,ist in Konfrontationen mit gewaltbereiten Menschen meistausgesprochen gefährlich. Denn das ist es, was sie suchen:den Strudel des Kampfes, den Adrenalinrausch, der alle Ra-tionalität und Rücksichtnahme zerstört. Huckleberry Finn ent-zieht sich solchen Machtkämpfen mit Wendungen, die seineSchwächen mit Witz und Hintersinn zu Stärken machen.

Mark Twains Roman über Huckleberry Finn zeigt auf sehreinfache und doch raffinierte Weise, dass Zivilcourage auchunter ungünstigen Bedingungen entstehen und sich durch-setzen kann. Insofern ist die Geschichte von Huckleberry Finneine eminent politische Geschichte, denn sie zeigt, wie mansich aus einer Position der Hilflosigkeit herausbewegen kannzu einer Position der Selbstbestimmung.

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Bürgerinitiative: Zivilcourage zusammen mit anderen

Die Lehre des Huckleberry Finn bekommt unter den hiesi-gen und heutigen Bedingungen einen anderen Sinn. Heutebedeutet Zivilcourage meist, zusammen mit anderen für daseinzustehen, was man für wichtig und richtig hält. Es gehtdabei in der Regel darum, in unserer extrem durchorganisier-ten Gesellschaft, die von der großen Politik und großen Or-ganisationen dominiert ist, an einzelnen Punkten für einzelneZwecke Stein des Anstoßes zu werden, die Routine zu störenund die Gesellschaft zum Nach- und Umdenken zu bringen.Solches zivilgesellschaftliches Engagement hat sich seit denSiebzigerjahren des 20. Jahrhunderts entwickelt und bietetheute für Menschen, die einzeln gegenüber den Großorgani-sationen zur Hilflosigkeit verdammt wären, vielfältige Mög-lichkeiten, diese zu überwinden. Mit solchen Gruppierungenkönnen sie in einer Frage, die ihnen wichtig ist, der großen Po-litik die Stirn bieten und sie zum Innehalten und Nachgebenzwingen, also punktuell Macht über die Politik gewinnen.

Die Hauptwaffe solcher Gruppen ist die symbolischePolitik: Sie sammeln Unterschriften, rufen zu originellen oderspektakulären Aktionen auf, veranstalten Feste und Basareoder lassen sich ein pressewirksames Happening einfallen.Wenn sie es schaffen, die Parteien mit ihrer symbolischenPolitik ins Eck zu drängen, so dass die Parteien weniger – odergar eine schlechtere – Publizität erreichen als die Bürger-initiative, dann gerät die offizielle Politik unter Druck. Danngibt sie häufig nach, weil sie sich keinen schweren Image-verlust leisten kann. Dann wird das Problem zur Lösung freigegeben. Danach kann man als Bürgerinitiative in aller Ruhemit den Machern der praktischen Politik verhandeln und ver-nünftige Lösungen suchen. Das geschieht häufiger als ge-dacht. Solche punktuellen Aktionen zu einem begrenztenThema bewirken in der Politik immer wieder Erstaunliches.

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Solche Initiativen sind der ideale Ausgangspunkt, umsich selbst in der Politik auszuprobieren, denn man legt sichnicht auf die Weltsicht einer Partei fest. Man engagiert sich fürein bestimmtes Thema und lernt bei dieser Art punktuellerPolitik viele interessante Menschen kennen, hat Freude undFrust, Hänger und Höhepunkte und merkt, dass Politik Spaßmachen kann – selbst dann, wenn sie nichts oder nur wenigerreicht. Schon das gemeinschaftliche Handeln gegen einescheinbare Übermacht macht Mut und führt aus der Hilflo-sigkeit.

Die Vorteile der Parteiarbeit

Wer seine Hilflosigkeit gegenüber der großen Politik aufDauer überwinden will, muss sich auf der Ebene der Par-teiarbeit einmischen. Ohne Parteimitgliedschaft ist jeder aufdas Einmischen an einzelnen Punkten verwiesen oder daraufbeschränkt, bei Wahlen seine Stimme abzugeben. Bei etwa60 Millionen Wahlberechtigten in der Bundesrepublik besitztder einzelne Bürger nur ein geringes Gewicht.

Doch 60 Millionen Wahlberechtigten stehen etwa 1,5 Mil-lionen Parteimitglieder gegenüber. Weniger als drei Prozentder Wahlberechtigten sind also in einer Partei. Von denen istweniger als die Hälfte wirklich aktiv. Mit aktiver Parteiarbeitkann das eigene Gewicht in der Politik verhundertfacht wer-den.

Dabei passiert in Parteien die Hauptsache der Politik:Parteien bestimmen die Kandidaten für alle Wahlen.Sie stellendas Personal für nahezu alle Positionen mit politischem Ge-wicht sowohl in den Parlamenten und Kabinetten wie in denMinisterien und sogar in den Gerichten. Sie legen die Rich-tung fest für die politische Entwicklung der BundesrepublikDeutschland. Sie sind die dominanten Akteure der Politik undhaben die Macht in den Händen. Wer Einfluss auf Politik neh-

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men möchte, wer wirklich etwas bewirken will, sollte in einepolitische Partei eintreten.

Gerade in der heutigen Zeit der Politikmüdigkeit sinddie Chancen, durch eine Parteimitgliedschaft Politik aktiv mit-gestalten zu können, so gut wie noch nie – besonders in denneuen Bundesländern. Dort hat jedes einigermaßen aktiveund redegewandte Mitglied die Chance auf eine große Kar-riere. Parteipolitik ist jedoch eine Sache für sich. Sie ähnelteinem dynamischen Strategiespiel und kann außerordentlichspannend sein. Denn die Regeln stehen nie fest. Es gibt immerneue Koalitionen und Gegnerschaften. Denn nur mit Koali-tionen und geschickten Schachzügen bekommt man seineLieblingskandidaten und Lieblingspositionen durch. Gemein-sam muss die ganze Partei um möglichst viele Stimmen kämp-fen. Aber ansonsten sind Parteifreunde Konkurrenten umÄmter und Einfluss. Dennoch: Mit dem Eintritt in eine politi-sche Partei vervielfacht sich das politische Gewicht einesMenschen. Es ist der wirksamste Schritt, um Hilflosigkeit ge-genüber Politik abzubauen.

Kommunalpolitik als Einstieg in Parteipolitik

Der beste Einstieg in die Parteiarbeit ist die Kommu-nalpolitik, insbesondere die in kleinen Gemeinden oder inländlichen Kreisen. Da zählt die einzelne Person. Parteizu-gehörigkeit spielt eine geringere Rolle als in den größerenStadträten der kreisfreien Städte oder gar den Landtagen. Esgibt häufig freie Wählervereinigungen, die manchmal sogarden Bürgermeister oder Oberbürgermeister stellen. Die Pro-bleme in der Gemeinde sind klar: Wo soll die Umgehungs-straße liegen? Soll die Ortsstraße verkehrsberuhigt werden?Wo kommt das Geld fürs Reparieren der Frostschäden her? Essind bürgernahe Probleme und ihre Lösung verschafft unmit-telbare Befriedigung. Erfolge werden schnell sichtbar.

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Auf kommunaler Ebene können beinahe spielerisch dieMechanismen der großen Politik erlernt werden. Auch dortgibt es die Arbeitsteilung auf unterschiedliche Ausschüsseund Arbeitsgebiete, das Expertentum, die Absprachen, An-hörungen, die Fraktionssitzungen und die perfekte Vorberei-tung der Plenarsitzungen, in denen dann die Punkte nur nochdurchgewinkt werden. Aber auf der kommunalen Ebene sinddie Fronten meist nicht so verhärtet, so dass sich manchmalsogar im Plenum das bessere Argument durchsetzt.

Auch geht es um wirkliche Macht. Denn die Entschei-dung für oder gegen ein Bauprojekt, für oder gegen dieEinstufung eines Gebiets als Bauerschließungsland, für odergegen die Definition einer Straße als Fußgängerzone be-schließt über viel Geld und über die Chancen, Einkommen,Vermögen, Lebensqualität vieler direkt betroffener Bürge-rinnen und Bürger, Unternehmen, Geschäfte und Vereine undtrifft dann auf viel Widerstand. Korruption findet darum vorallem auf der kommunalen Ebene statt. Kommunalpolitik istmit besonders viel Verantwortung verbunden und bietet dieChance zur wirksamen Kontrolle und Ausübung der Machtund zur Überwindung der Hilflosigkeit in einem für den All-tag besonders bedeutsamen Bereich.

Doch das ist nicht die Politik, die über Armut undReichtum, Krieg und Frieden entscheidet. Kommunalpolitikkann sich nur in dem engen Rahmen bewegen, der durchBundes- und Landesgesetze und durch EU-Regelungen vor-gegeben ist. Die Verhältnisse sind wie bei der klassischenMusik. Da gibt es den Komponisten. Der hat die Musik ge-schrieben. Dann gibt es die Orchester mit ihren Dirigenten,Solisten und normalen Orchestermitgliedern. Wie ein Orches-ter das Werk des Komponisten spielt liegt an der Interpre-tation, Qualität und Lesart des Dirigenten, der Qualität undCharakterstärke der Solisten und vor allem an der Disziplinund Hingabe des Orchesters. Die Aufführungen können sichimmens voneinander unterscheiden

Genau so ist es in der Politik. Komponiert wird die Mu-sik in Brüssel und Straßburg auf EU-Ebene, in Berlin auf

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Bundesebene und in den Landeshauptstädten auf Landes-ebene, und zwar in dieser Reihenfolge und mit diesem Ge-wicht. Gespielt wird sie auf der kommunalen Ebene. DasOrchester ist die gesamte Kommunalverwaltung mit Land-rat oder Oberbürgermeister als Dirigenten, Fraktionsvorsit-zende und prominente Ratsmitglieder und Dezernentenals Solisten und den sonstigen Ratsmitgliedern und Verwal-tungskräften als Orchestermitglieder. Es macht einen Rie-senunterschied wie die anderswo komponierte Musik vorOrt gespielt wird. Das kann man den Städten manchmal vonweitem ansehen. Vor allem aber spürt man es vor Ort. Aberob gut oder schlecht gespielt, gespielt wird immer die Mu-sik, die anderswo komponiert worden ist. Ob es wirklich guteoder schlechte Musik ist, hängt mehr vom Komponisten abals von den Dirigenten, Solisten und Orchestern.

Die Rolle von Parteimitgliedern in der Verwaltung

Je höher die Ebene, je näher man an den Stellen ist, indenen die Musik komponiert wird, desto wichtiger ist derfrüher bereits besprochene Unterschied zwischen symboli-scher und praktischer Politik. Es gibt Posten, in die man nurdurch allgemeine Wahlen gelangt. Wer gewählt und wieder-gewählt werden will, muss vor allem symbolische Politikbetreiben. Die ist dafür wichtiger als alles andere. In solcherPosition muss man zwar auch die Grundlinien der praktischenPolitik kennen und sich oft genug tief in sie verstricken. LangeNachtsitzungen mit Verhandlungen über Kompromisse beiDetails werden zwar im Wesentlichen zwischen den Expertengeführt, doch oft genug durch die Anwesenheit und die per-sönliche Vermittlung der höchsten Ebene entschieden. Prak-tische Politik kann in der Regel jedoch nur in zweiter Liniebetrieben werden. Entscheidend für die Wiederwahl ist deröffentliche Eindruck, nicht die wirkliche Leistung.

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In all den Positionen, die zwar auch parteipolitisch be-setzt werden, aber nicht durch Wahlen, ist das anders. IhreInhaber machen vor allem praktische Politik. Das geht los beiden Staatssekretärsposten auf höchster Ebene, reicht aberbis in die mittleren Ebenen der Ministerien, der Kommunal-verwaltung und der Justiz. Die parteipolitisch gebundenenMitglieder der Verwaltungen und Justiz erarbeiten in derRegel sachlich begründete, nur wenig parteipolitisch beein-flusste Urteile, Gesetzentwürfe, Verordnungen und Bescheide,um die Probleme des gesellschaftlichen Alltags zu bewältigen.Aber sie können Akzente setzten. Oft arbeiten sie eng mit denVerwalteten, den Hochschulen, Schulen, Krankenhäuser undBetrieben zusammen und suchen gemeinsam nach bestenLösungen. Parteizugehörigkeit und Parteiprogramme rückendabei meist in weite Ferne. Ohne ideologische Festlegungenwird der politische Alltag bearbeitet. Es wird Wirklichkeitgestaltet. Die parteipolitische Überzeugung ist zweitrangig.

Praktische Politik ist lange nicht so glanzvoll wie symbo-lische Politik. Sie gewinnt keine Wahlen und keine Macht.Praktische Politik ist für das zuständig, was symbolische Politikübrig lässt. Sie kann aber viel Befriedigung verschaffen. Undsie hat eine große Bedeutung für den Zusammenhalt derGesellschaft. Denn mit ihrer stetigen Arbeit gewährt sie unsein gutes, wenn auch manchmal etwas umständliches All-tagsleben, an dem wir uns selten stoßen. Diese Alltagszu-friedenheit mit dem selbstverständlich Gewordenen ist dieGrundlage der Herrschaft. Sie überzeugt mit ihrer Alltags-weisheit so sehr, dass die meisten Menschen dem Staatsge-bilde ihre Zustimmung geben, seine Herrschaft anerkennen,auch dann, wenn ihnen viele Aktionen der symbolische Poli-tik zuwider sind und sie sich in der symbolischen Politik nurwiderwillig der Macht beugen.

Wenn diese Ebene der praktischen Politik versagt, scha-det das dem Gemeinwesen und dem Ansehen des Staatesund damit der Politik mehr als alle Verrücktheiten der sym-bolischen Parteipolitik.

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Last und Reiz der symbolischen Politik

Symbolische Politik zielt auf die Medien, trifft sie abereher selten. Die Sendemöglichkeiten für politische Informa-tionen sind in Funk und Fernsehen bekanntlich sehr begrenzt.In der Massenpresse – das sind die lokalen Abonnements-zeitungen und die überregionale Boulevardpresse – kommtPolitik nur auf wenigen Seiten und nur mit starken Bildern undAussagen vor. Dennoch müssen die Akteure der symbolischenPolitik mit allen erreichbaren Journalisten reden, müssen jedeChance der Selbstdarstellung nutzen. Viel Zeit wird deshalbmit zeremoniellen Veranstaltungen verbracht. Es wird von ei-nem Termin zum anderen gerast und von anderen geschrie-bene Reden abgelesen, die abgelesenen Reden anderer sichangehört, Interviews gegeben, Hintergrundgespräche ge-führt und für die Probleme der praktischen Politik fehlt letzt-lich die Zeit. Die Probleme werden den Mitarbeitern über-lassen. Man prüft meist nur noch deren Ergebnisse.

Zugleich ist die symbolische Politik voller Reiz. Dort trifftman auf die wichtigen Personen. Dort bewährt sich, ob manselbst zu diesem Kreis zählt. Dort werden die wirklich gro-ßen und wichtigen Entscheidungen getroffen. Dort geht esum Armut und Reichtum und um Krieg und Frieden.Wer wirk-liche Macht haben und die Welt wirklich mitgestalten will,kommt um die symbolische Politik nicht herum.

Doch nur wenige Menschen halten das durch. Die Ar-beitstage sind lang und hektisch. Termine folgen Schlag aufSchlag mit kurzen Besprechungen dazwischen, wichtige Ent-scheidungen müssen unter Zeitdruck getroffen werden, frühmorgens Akten studieren, Unterschriften leisten, kaum Pri-vatleben, wenig Schlaf. Es ist ein hartes Geschäft: Politik alsBeruf. Die meisten Menschen scheuen den Aufwand. Vielewürden die Arbeitslast nicht durchstehen. Die Hauptgefahrdabei: Man vergisst, dass die Position wichtig ist, nicht die ei-gene Person. Leicht wird angenommen, die Aufmerksamkeit,der Wirbel und die Ehrungen gelten einem selbst, der eige-

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nen Bedeutung. Es kann dann schwer werden, ohne die Be-deutung eines Amtes zu leben, den Bedeutungsverlust ohneDepressionen zu ertragen. Dann kann man nicht mehr lebenohne Amt, denn man braucht die Illusion der eigenen Be-deutsamkeit.

Doch nur für sehr wenige Personen wird sich diesesProblem je stellen. Für die meisten geht es um das, worum esauch Huckleberry Finn ging. Sie leben ohne hervorgehobenePosition in ihrem normalen Alltag wie die meisten Menschenum sie herum. Sie sind umgeben von Entwicklungen undMenschen, auf die sie nur einen sehr geringen Einfluss habenund auf die sie reagieren müssen. In jeder dieser alltäglichenBegegnungen zeigt sich, ob ihnen Freiheit, Selbstbestim-mung und der Respekt vor der Würde eines jeden Menschenso wichtig sind, dass sie diese auch dann verteidigen, wennandere wichtige Ziele auf dem Spiel stehen. Dann sind dieVoraussetzungen für Zivilcourage gegeben, dem wichtigstenGut einer guten Gesellschaft.

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Fazit:

Das zweitbeste, aber einzig praktikable System

Figuren aus der Weltliteratur und das klassisch gewor-dene sozialwissenschaftliche Milgram-Experiment haben inden vorangegangenen Kapiteln unterschiedliche Aspekte vonPolitik beleuchtet.

Der Engel Satan

Der Engel Satan hat uns einen bescheidenen Blick aufdie Gesellschaftsform gelehrt: Zwar wäre eine Diktatur des all-wissenden Philosophen, der sich selbstlos dem Gemeinwohlwidmet, die ideale Form der Politik. Denn dann müssten nurnoch die richtigen Entscheidungen über straff organisierteKaderparteien und Verwaltungen weitergegeben und umge-setzt werden. Die komplizierten und fehleranfälligen Mecha-nismen der Demokratie wären überflüssig. Doch da nichteinmütig und eindeutig zu ermitteln ist, wer dieser allwissen-de Philosoph ist, müssen wir uns mit der zweitbesten Re-gierungsform zufrieden geben, der Demokratie. In ihr wirdder „allwissende Philosoph“ durch die Mehrheit bei Wahlenauf Zeit bestimmt.

Das gilt auch für die Verfasstheit der Gesellschaft: Dieideale Gesellschaft wäre eine, in der sich alle selbstlos für dasGemeinwohl aufopfern würden. Da dieses Gemeinwohl ge-nauso wenig einmütig festzustellen ist wie der allwissendePhilosoph, muss auch hier auf die zweitbeste Lösung zurück-

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gegriffen werden: die egoistische Gesellschaft. In ihr weißjede Einheit, was für sie gut ist und handelt danach. Dochauch die egoistische Gesellschaft hat ihre Konstruktionsfeh-ler. Etwa eine neue Generation heranzuziehen ist eine mü-hevolle und aufwendige Angelegenheit, die unter der Herr-schaft des reinen Egoismus nicht in genügendem Umfangund in der notwendigen Qualität geleistet werden könnte.Darum muss die egoistische Gesellschaft durch eine Politikergänzt werden, die solche nicht bloß wirtschaftlich begründ-bare Zwecke wahrnimmt. Das ist die zentrale Aufgabe derPolitik. Damit verwandelt sich die Frage nach der bestenGesellschaft in die nach der besten Politik.

Der Engel Satan mit seinen Milliarden Leben des Ko-lumbus hat gezeigt, dass Politik keine zuverlässigen Prog-nosen über zukünftige Entwicklungen leisten kann, dass sievielmehr nur in einem mehr oder weniger breiten Korridor derMöglichkeiten mit großer Ungewissheit über den wirklichenVerlauf der Ereignisse handeln kann. Auch daraus ergibt sicheine bescheidenere Haltung gegenüber Politik: Sie kann nichtdamit rechnen, die richtige Entscheidung getroffen zu ha-ben – außer mit Glück. Darum muss sie ihre Entscheidungenso ausrichten, dass sie korrigierendes Verhalten auch dannnoch ermöglichen, wenn sie im tatsächlich bewirkten Ergeb-nis gescheitert sind.

Robinson Crusoe

Robinson Crusoe war der Bote aus dem Beginn des17. Jahrhunderts von der Freiheit, die nur durch die eigenenFähigkeiten und Mittel begrenzt ist. Nach ihm haben diePhilosophen der Aufklärung viel engere Grenzen der Freiheitgezogen, nämlich dort, wo durch die eigenen Handlungen derFreiheitsraum anderer Menschen beeinträchtigt wird. In dersozialen Wirklichkeit stecken die meisten Menschen überall

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so tief in sozialen Netzwerken, dass sie mit nahezu allen ih-ren Handlungen in Freiheitsräume anderer Menschen ein-greifen und damit schnell und überall an die Grenzen ihrerFreiheit stoßen. Deshalb hat Robinson Crusoe heute wiederKonjunktur. Man macht sich zum Single und lebt wie auf einerInsel möglichst ohne Bindung und Verpflichtungen und Ab-hängigkeiten, isoliert von allen anderen, mit denen man nurnoch durch Medien wie Geld in Kontakt tritt. Es gibt abernoch einen anderen Weg, den Freiheitsraum zu erweitern:Weil Freiheit auch von der Menge der möglichen alternativenHandlungsmöglichkeiten abhängt und diese durch die eige-nen Fähigkeiten und mit den vorhandenen Mitteln erweitertwerden können, kann durch das Zusammenlegen von Fähig-keiten und Mitteln vieler Menschen der Freiheitsraum viel wir-kungsvoller erweitert werden als durch den Rückzug aus allenBindungen und Abhängigkeiten. Das ist der Sinn von Politik.

Milgram

Damit Politik und Demokratie überhaupt funktionierenkönnen darf die Regierung nicht autoritär als die einzige Trä-gerin der Wahrheit dastehen. Die Autoritäten der Politikmüssen sich öffentlich um die richtige Lösung streiten. An-dernfalls neigen die Menschen dazu, den Anweisungen dereinmal etablierten Autoritäten zu folgen, auch dann, wennsie unmenschlich, dumm und nur mit größter Überwin-dung auszuführen sind. Autoritäten, die glaubwürdig daher-kommen, wird immer und überall Gehorsam gezollt, wennihnen nicht von etwa gleichgestellten Autoritäten widerspro-chen wird. Das ist der große Vorzug der Demokratie: Der Streitder Autoritäten zwingt die Menschen dazu, sich selbst Ge-danken zu machen und ihrem Gefühl, ihren Wahrnehmun-gen zu trauen und sich für ihre eigene Wahrheit zu ent-

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scheiden. Die Politik der miteinander im Streit liegenden,konkurrierenden Wahrheiten schafft für die Einzelnen erstdie Voraussetzungen für das, was man Zivilcourage nennt, dieFähigkeit und Bereitschaft, für die eigenen Werte auch ge-gen Widerstand einzutreten.

Die Eine-Million-Pfund-Note

Der naive Amerikaner, der in London mit einer Eine-Million-Pfund-Note ein Vermögen erwirtschaftete, zeigte denUnterschied zwischen symbolischer und praktischer Politik.Denn so wie er mit einem bloßen Symbol ein reales Vermö-gen erzielte, kann symbolische Politik Wahlen auch danngewinnen, wenn der Gewinner mit seiner praktischen Poli-tik eigentlich versagt hat. Denn nur wenige Wähler sind wil-lens und fähig, die Details um die Erfolge und Misserfolgeder praktischen Politik zu verfolgen und sie mit der Pro-grammatik der politischen Parteien so zu vergleichen, dasssie auf die Frage antworten könnten: Hat die Partei ihre Zie-le erreicht, ihre Versprechungen erfüllt oder nicht? Der weitüberwiegende Teil der Wahlberechtigten trifft ihre Wahlent-scheidung emotional im Kreis der Familie oder der Freunde.Entscheidend sind dafür die Eindrücke der symbolischenPolitik. Sie spricht die Menschen als Ganze an. Die praktischePolitik berührt sie immer nur in einem kleinen Teil ihres Le-bens und ihrer Person.

Praktische Politik wird dadurch nur zu leicht zu einermehr oder weniger milden Diktatur der Experten, die zwar zueiner effektiven Politik führt, aber demokratischen Anforde-rungen nicht genügt und nach den Erfahrungen der Mil-gram-Experimente die Gefahr schlimmer Exzesse einschließt.Würden aber alle Fragen der praktischen Politik demokra-tisch etwa durch Volksentscheid entschieden werden, wür-de die Gesellschaft zum Stillstand kommen.

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Dieses Dilemma löst sich leicht auf, wenn man etwasbescheidenere Ansprüche an die demokratische Legitima-tion von Politik stellt: Praktische Politik löst praktische De-tailprobleme. Symbolische Politik präsentiert die großen Fra-gen der Gesellschaft und sorgt bei ihnen für eine mehr oderweniger rationale Entscheidung auf demokratischer Grund-lage und mit dem für die Zivilcourage so wichtigen Streitder Autoritäten. Vor allem aber ermöglicht symbolische Poli-tik den unblutigen Machtwechsel. Unter ihrem Schutz, bild-lich gesprochen unter dem Schutz der Eine-Million-Pfund-Note, kann praktische Politik eine sinnvolle, wenn auch oftbürokratische Regulierung des Alltags schaffen. Wenn sie all-zu sehr aus dem Ruder läuft, wird sie zum Thema der symbo-lischen Politik und bewirkt auf die Dauer den in anderenSystemen nicht möglichen unblutigen Machtwechsel. DasVerfahren ist häufig nicht sehr rational, aber es funktioniertund ist das einzig praktikable System.

Der kleine Prinz

Der „Kleine Prinz“ hat gezeigt, dass ein Regierungsstil,der allein auf Macht vertraut, seinen Willen schneller undeffektiver durchsetzen kann als ein Regierungsstil, der sich aufHerrschaft stützt. Der in der Macht enthaltene Zwang machteinen solchen Stil jedoch zum unzuverlässigen und teurenMittel der Politik. Ein Regierungsstil, der vor allem auf Herr-schaft setzt, braucht zwar länger, bis sein Wille allseits als ver-nünftig akzeptiert wird. Wenn dies jedoch einmal erreicht ist,wird das Regieren leicht und wenig aufwendig.

Die meisten Regierungen wenden eine Mischung bei-der Stile an. Die erste Lösung eines politischen Problemswird mit Mitteln der Macht durchgesetzt. Dann wird nachge-bessert, uminterpretiert und damit die Zustimmung von im-mer mehr gesellschaftlichen Gruppen gewonnen. Gewöh-

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nung und Anpassungsprozesse der Bürger und Bürgerin-nen tragen dann dazu bei, dass die anfangs umstrittene Re-gelung allseits akzeptiert und zur Politik der Herrschaft wird.

Herrschaft besteht dann aus einem Netzwerk allgemeinakzeptierter Regelungen. Politik fügt diesem Gewebe immerwieder neue Maschen hinzu, indem sie kontroverse Fragenmit Machtmitteln entscheidet und durchsetzt. Das Ziel da-bei muss aber sein, Macht in Herrschaft zu verwandeln.

Huckleberry Finn

Huckleberry Finn zeigte, wie eine Position der Hilflosig-keit überwunden und zur Zivilcourage gefunden werdenkann, auch wenn man keine formale Bildung in Politik hat.Es genügt, dass einem Freiheit, Selbstbestimmung und Mit-menschlichkeit so wichtig sind, dass ihnen Priorität einge-räumt wird und man sich durch keine Macht von ihnen ab-bringen lässt.

Auf dieser Grundlage gibt es viele und unterschiedli-che Mittel, mit denen das zivilgesellschaftliche Engagementwirksamer werden kann: Bürgerinitiativen, Kommunalpolitikoder – als wirksamstes, dauerhaftes Mittel – die Mitarbeit ineiner politischen Partei.

Die bescheidene Demokratie

Politik, so wie sie in der Demokratie der Bundesrepu-blik Deutschland funktioniert, mag nicht ideal sein. Doch siefunktioniert besser als alle bisherigen Versuche der deutschenGeschichte. Politik, so wie sie in der Bundesrepublik Deutsch-land funktioniert, mag nicht immer rational sein. Doch sie ist

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die einzig praktikable Lösung, um mit den wirklich vorhande-nen Menschen mit ihren wirklich vorhandenen Fähigkeitenund Wünschen, in wichtigen Fragen zu einer – mehr oderweniger rationalen – Entscheidung zu kommen und hin undwieder einen unblutigen Machtwechsel zu erreichen. Demo-kratie, so wie sie in der Bundesrepublik Deutschland funk-tioniert, mag nicht die beste aller denkbaren Regierungs-formen sein. Doch als zweitbeste hat sie sich dennoch in derGeschichte als die einzig praktikable Form erwiesen, in derbeides möglich ist: Freiheit und Effizienz.

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Glossar

Die Begriffe sind mit Texten aus dem copyrightfreien Wi-kipedia erklärt. Unter dem jeweiligen Stichwort findet mandort im Internet weitere Informationen, Quellen und Links.

9. November 1938 – Die Novemberpogrome 1938 –bezogen auf die Nacht vom 9. auf den 10. November 1938auch (Reichs-) „Kristallnacht“ oder Reichspogromnacht ge-nannt – waren eine vom nationalsozialistischen Regime or-ganisierte und gelenkte Zerstörung von Einrichtungen jüdi-scher Bürger im gesamten Deutschen Reich. Dabei wurdenvom 7. bis 13. November 1938 etwa 400 Menschen ermordetoder in den Selbstmord getrieben. Über 1.400 Synagogen,Betstuben und sonstige Versammlungsräume sowie tausendeGeschäfte, Wohnungen und jüdische Friedhöfe wurden zer-stört. Ab dem 10. November wurden ungefähr 30.000 Juden inKonzentrationslagern inhaftiert, von denen nochmals Hun-derte ermordet wurden oder an den Haftfolgen starben. DiePogrome markieren den Übergang von der Diskriminierungder deutschen Juden seit 1933 zur systematischen Verfol-gung, die knapp drei Jahre später in den Holocaust an deneuropäischen Juden im Machtbereich der Nationalsozialistenmündete.

alte Kämpfer – war seit Oktober 1933 eine Bezeichnungfür NSDAP-Mitglieder, die der Partei bereits vor der national-sozialistischen „Machtergreifung“ beigetreten waren oder für„Amtswalter der NSDAP“, die diese Funktion vor dem 1.Oktober 1933 schon seit einem Jahr ausübten. Die Zeit zwi-schen Februar 1925 bis Januar 1933 wurde bei den Natio-nalsozialisten auch als „Kampfzeit“ bezeichnet.

Altruismus – ist eine Verhaltensweise, die einem Indi-viduum mehr Kosten als Nutzen einbringt zugunsten einesanderen Individuums. Eine weitere, eingeschränktere Inter-pretation von Altruismus ist die willentliche Verfolgung der

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Interessen oder des Wohls anderer oder des Gemeinwohls.Altruistisches Handeln wird allgemein auch mit selbstlosemHandeln gleichgesetzt.

Ausschussarbeit – Ein Bundestagsausschuss ist eineArbeitsgruppe von Abgeordneten zu einem bestimmten The-ma. Derzeit hat der Deutsche Bundestag 22 ständige Aus-schüsse mit jeweils 15 bis 42 Mitgliedern und ebenso vielenstellvertretenden Mitgliedern. Jeder Ausschuss ist entspre-chend der Größe der einzelnen Fraktionen im Bundestag zu-sammengesetzt. Die Ausschüsse tagen normalerweise innichtöffentlicher Sitzung und bereiten inhaltlich die Sitzun-gen und Beschlüsse des Bundestages vor. Hier werden dieGesetzentwürfe beraten und Experten angehört.

Carnegie, Andrew – *1835 †1919; war ein aus Schott-land stammender US-amerikanischer Industrieller und Stahl-Tycoon. Geboren als Sohn eines Webers, wurde Carnegiezum reichsten Menschen seiner Zeit. Er war berühmt alsMenschenfreund.

Faschismus – Der Begriff Faschismus bezeichnete zuerstdie von Benito Mussolini 1922 zur Macht geführte politischeBewegung in Italien. Von dort aus wurde der Begriff für ähn-liche politische Strömungen und Systeme anderer Staaten,vorwiegend in Europa,besonders in den Jahren 1920 bis 1945,verwendet. Unter diesem Sammelbegriff werden verschiede-ne historische und ideologisch-politische Richtungen ein-geordnet, darunter der deutsche Nationalsozialismus sowieweitere, meist rechtsgerichtete politische Bewegungen, dieDiktaturen stützen oder anstreben. Vom Ursprung her sind esnational- und sozialrevolutionäre Bewegungen mit meist to-talitären Zügen.

Finanzpolitik – ist ein Politik-Bereich, der sich mit denEinnahmen und Ausgaben des Staatshaushaltes beschäftigt.Sie nutzt die Erkenntnisse der Finanztheorie und setzt sie inkonkretes politisches Handeln um. Dazu gehört die Festle-gung der Steuern und Subventionen, ggf. Aufnahme von neu-en Krediten und die Verabschiedung eines Haushaltes.

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Fleckfieber – oder Faulfieber, ist eine Infektion mit Mik-roorganismen, die durch Läuse, Milben, Zecken oder Flöheübertragen wird.

Fraktion – Eine Fraktion bilden in der Regel die Man-datsträger, die im Parlament einen Sitz haben und derselbenPartei angehören. Fraktionen gibt es in fast allen parlamen-tarischen (Bundestag, Landesparlamente) und sonstigen Ver-tretungen (z. B. Landschaftsverbände, Kreistage, Stadträteoder -vertretungen). Damit eine Gruppierung diesen Frak-tionsstatus erhält, ist meist eine Mindestzahl von Abgeord-neten beziehungsweise Mitgliedern vorgeschrieben. AuchAbgeordnete verschiedener Parteien können sich zu einerFraktionsgemeinschaft zusammenschließen.

Genfer Konvention – Die Genfer Konventionen sindzwischenstaatliche Abkommen und eine essentielle Kompo-nente des humanitären Völkerrechts. Sie enthalten für denFall eines Krieges oder bewaffneten Konflikts Regeln für denSchutz von Personen, die nicht an den Kampfhandlungen teil-nehmen.

Genom – Als Genom oder auch Erbgut eines Lebewe-sens wird die Gesamtheit der vererbbaren Informationeneiner Zelle bezeichnet, die als Desoxyribonukleinsäure (DNA)vorliegt.

Georg Elser – *1903 †1945; war ein deutscher Wider-standskämpfer gegen den Nationalsozialismus. Er verübteam 8. November 1939 im Münchener Bürgerbräukeller dasBombenattentat auf Adolf Hitler. Kurz vor Kriegsende wurdeer auf Hitlers Befehl hin ermordet.

Grüßen war zur politischen Nagelprobe geworden –Der Hitlergruß, im nationalsozialistischen Sprachgebrauchauch als „Deutscher Gruß“ bezeichnet, war zur Zeit des Na-tionalsozialismus die verpflichtende Grußform. Er war Aus-druck des nationalsozialistischen Personenkults um AdolfHitler. Es handelte sich zunächst um den Gruß der NSDAP-Mitglieder und wurde nach der Machtübernahme 1933 zumoffiziellen Gruß aller „Volksgenossen“. Beim Hitlergruß wurdeder rechte Arm mit flacher Hand auf Augenhöhe schräg nach

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oben gestreckt. Dazu wurden meist die Worte „Heil Hitler“oder „Sieg Heil“ gesprochen.

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich – *1770 †1831; warein deutscher Philosoph, der als wichtiger Vertreter desDeutschen Idealismus gilt. Hegels Philosophie erhebt denAnspruch, die gesamte Wirklichkeit in der Vielfalt ihrer Er-scheinungsformen einschließlich ihrer geschichtlichen Ent-wicklung zusammenhängend, systematisch und definitiv zudeuten.

Heinrich Himmler – *1900 †1945; war ein deutscherPolitiker in der Zeit des Nationalsozialismus. Als Reichsfüh-rer-SS war er während des Zweiten Weltkrieges hauptver-antwortlich für den Holocaust an den europäischen Juden,Sinti und Roma sowie für zahlreiche weitere Kriegsverbre-chen der Waffen-SS. Zwischen 1943 und 1945 war Himmlerzusätzlich Reichsinnenminister.

Jean Jacques Rousseau – *1712 †1778; war ein Gen-fer Schriftsteller, Philosoph, Pädagoge, Naturforscher undKomponist. Er gilt als einer der wichtigsten geistigen Weg-bereiter der Französischen Revolution und hatte großenEinfluss auf die Pädagogik und die politischen Theorien des19. und 20. Jahrhunderts.

John Rawls – *1921 †2002; gilt als wesentlicher Ver-treter der liberalen politischen Philosophie. In seinem Haupt-werk „A Theory of Justice“ bestimmt er die Rolle der Gerech-tigkeit als erste Tugend sozialer Institutionen. Die Aufgabevon Gerechtigkeitsgrundsätzen besteht ihm zufolge darin, dieGrundstruktur der Gesellschaft festzulegen, d. h. die institu-tionelle Zuweisung von Rechten und Pflichten und die Ver-teilung der Güter.

Karl Marx – *1818 †1883; war Philosoph, Gesellschafts-theoretiker, politischer Journalist, Protagonist der Arbei-terbewegung, Kritiker der bürgerlichen Gesellschaft, derdeutschen idealistischen Philosophie und der politischenÖkonomie. Er strebte eine wissenschaftliche Analyse undKritik des Kapitalismus an und gilt als einflussreichsterTheoretiker des Sozialismus und Kommunismus.

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Koalition – (vom lateinischen coalitio „Vereinigung, Zu-sammenschluss, Zusammenkunft“) in der Politik ist ein tem-poräres Bündnis von politischen Parteien für die Dauer einerLegislaturperiode. Parteien koalieren in vielen Staaten mit-einander, um eine stabile Regierung zu bilden. Dies ist nötig,weil – besonders in politischen Systemen mit Verhältnis-wahlrecht – eine Partei alleine nur selten über die dafür nöti-ge absolute Mehrheit an Mandaten im Parlament verfügt.

Kommunalpolitik – ist die politische Arbeit in Kom-munen, also in Gemeinden bzw. Städten oder in Landkreisenund Verwaltungsbezirken. Die Städte und Gemeinden derBundesrepublik Deutschland haben das im Grundgesetz Art.28 Abs. 2 garantierte Recht auf kommunale Selbstverwal-tung, d. h. sie können ihre eigenen Angelegenheiten im Rah-men der Gesetze selbst und eigenverantwortlich regeln undentscheiden. Die genaue Form der kommunalen Selbstver-waltung und die dafür zu wählenden Organe werden in denKommunalverfassungen, den Verfassungen und Gemeinde-ordnungen der Länder geregelt; die Regelungen differierenvon Bundesland zu Bundesland. Bei den Wahlen zu den Kom-munalparlamenten hat jeder, sobald er volljährig und EU-Staatsbürger ist, das Recht, die Gemeindevertreter zu wählen.

Kommunismus – (vom lateinischen communis = „ge-meinsam“) ist eine Ideologie und bezeichnet das politischeZiel einer klassenlosen Gesellschaft, in der das Privateigentuman Produktionsmitteln aufgehoben ist und das erwirtschaf-tete Sozialprodukt gesellschaftlich angeeignet wird, das heißtallen Menschen gleichermaßen zugänglich ist.

Konzentrationslager Sachsenhausen – war der Nameeines ab 1936 eingerichteten nationalsozialistischen deut-schen Konzentrationslagers im Oranienburger Ortsteil Sach-senhausen nördlich von Berlin.

Krupp – ist der Name einer deutschen Familiendynastievon Industriellen des 19. und 20. Jahrhunderts, die mit demKrupp-Konzern (Schwerindustrie) das zeitweise größte Un-ternehmen Europas aufbauten.

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Legitimität – (lat. legitimus - gesetzmäßig) bezeichnetin Soziologie, Politikwissenschaft und Rechtswissenschaftdie Anerkennungswürdigkeit beziehungsweise Rechtmäßig-keit von Personen, Institutionen, Vorschriften etc.

Lenin – Wladimir Iljitsch Uljanow, Kampfname Lenin,*1870 †1924; war ein kommunistischer Politiker, marxis-tischer Theoretiker und gilt als Begründer der Sowjetunion.

Listenplatz – Eine Wahlliste enthält die Kandidaten ei-nes gemeinsamen Wahlvorschlags in einer bestimmten Rei-henfolge. Die bei einer Listenwahl auf einen bestimmtenWahlvorschlag entfallenden Stimmenanteile bestimmen dieAnzahl der Kandidaten auf der Liste, die als gewählt gelten.Daher bestimmt die Reihenfolge der Kandidaten auf der Liste(ihr Listenplatz) entscheidend über ihre Wahlchancen mit. Dererstgenannte Kandidat (Kandidatin) wird Listenführer oderSpitzenkandidat genannt.

Lobbyismus – ist eine aus dem Englischen übernom-mene Bezeichnung (Lobbying) für eine Form der Interessen-vertretung in der Politik, in der Interessengruppen (Lobbys)die Exekutive und Legislative durch persönliche Kontakteoder die öffentliche Meinung über die Massenmedien be-einflussen. Unternehmensverbände, Gewerkschaften, Nicht-regierungsorganisationen und andere Verbände sowie grö-ßere Unternehmen bringen ihre Interessen gezielt in dasGesetzgebungsverfahren mit ein. Lobbyismus ist eine Me-thode der Einwirkung auf Entscheidungsträger und Entschei-dungsprozesse durch präzise Information im Rahmen einerfestgelegten Strategie.

Mark Twain – Samuel Langhorne Clemens, *1835 †1910;– Pseudonym Mark Twain – war ein US-amerikanischer Schrift-steller. Mark Twain ist vor allem als Autor der Bücher überdie Abenteuer von Tom Sawyer und Huckleberry Finn be-kannt. Er war ein Vertreter des amerikanischen Realismusund ist besonders wegen seiner humoristischen, von Lokal-kolorit und genauen Beobachtungen des sozialen Verhaltensgeprägten Erzählungen und aufgrund seiner Kritik an deramerikanischen Gesellschaft berühmt.

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Marktwirtschaft – bezeichnet eine arbeitsteilig orga-nisierte Wirtschaftsordnung, in der die Koordination vonProduktion und Konsum über das Zusammentreffen von An-gebot und Nachfrage auf Märkten erfolgt. GrundlegendeElemente einer Marktwirtschaft sind das Eigentumsrecht, dieVertragsfreiheit und die Wettbewerbsordnung. In der Markt-wirtschaft plant jedes Wirtschaftssubjekt prinzipiell für sichselbst. Elementar für eine entwickelte Marktwirtschaft ist einfunktionierendes Tauschmittel, also Geld, welches den indi-rekten Austausch von Waren und Dienstleistungen nachdem Muster „Ware gegen Geld, Geld gegen andere Ware“gegenüber einem einfachen Tauschhandel nach dem Mus-ter „Ware gegen andere Ware“ erst ermöglicht.

Max Weber – *1864 †1920; war ein deutscher Jurist,Nationalökonom und Mitbegründer der Soziologie. Er gilt alseiner der Klassiker der Soziologie als Wissenschaft sowie alsKlassiker der Kultur- und Sozialwissenschaften.

Ministerialbürokratie – umfasst die in den Ministe-rien des Bundes sowie der Länder Beschäftigten der öffent-lichen Verwaltung und deren vielfältige Funktionen. Imumfassenden Sinne gehören dazu die meisten Vollzeitbe-schäftigten, die nach der Statistik des öffentlichen Dienstes imAufgabenbereich „politische Führung und zentrale Verwal-tung“ tätig sind.

Moral – bezeichnet meist die faktischen Handlungs-muster, -konventionen, -regeln oder -prinzipien bestimmterIndividuen, Gruppen oder Kulturen, sofern diese wiederkeh-ren und sozial anerkannt und erwartet werden.

Murphys Gesetz – (engl. Murphy’s Law) ist eine aufden US-amerikanischen Ingenieur Edward A. Murphy, jr. zu-rückgehende Lebensweisheit, die eine Aussage über dasmenschliche Versagen bzw. über die Fehlerquellen in kom-plexen Systemen macht. Murphys Gesetz heißt in der be-kannten Form: „Alles, was schiefgehen kann, wird auch schief-gehen.“

Platon – (*428/427 v. Chr. †348/347 v. Chr.; war ein anti-ker griechischer Philosoph aus Athen.

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pluralistisches Verständnis von demokratischer Politik– Pluralismus oder auch Pluralität beschreibt die Idee derfriedlichen Koexistenz verschiedener Interessen, Ansichtenund Lebensstile.

Rassen – Der Terminus „Rasse“ gelangte aus der Tier-zucht in die frühe Biologie. Dort wurde er dann lange Zeitzur Klassifizierung und Einordnung von Organismen, auf ver-schiedenen taxonomischen Ebenen, d.h.Einordnungsebenen,auf oder unterhalb des Artniveaus, verwendet. Definitionund Gebrauch der „Rasse“ erfolgten nicht einheitlich, was ei-ne Vielzahl unterschiedlicher Typen von Rassen zur Folgehatte, die weder gegeneinander noch klar gegen höhere oderniedere Taxa (Ordnungsklassen) abgrenzbar waren. Zusätz-lich erschwert wurde die Situation dadurch, dass man Rassenals Arten niederen taxonomischen Ranges begriff und sieentsprechend dem damals vorherrschenden Artkonzept völ-lig typologisch definierte und behandelte, was viel Spielraumfür Willkür und subjektive Einschätzung ließ.

Reichsarbeitsdienst – war eine Organisation des na-tionalsozialistischen Machtapparates im Deutschen Reich derJahre 1933–1945. Ab Juni 1935 musste dort jeder jungeMann eine sechsmonatige, dem Wehrdienst vorgelagerteArbeitspflicht im Rahmen eines Arbeitsdienstes ableisten.

Rentenreform – ist ein legislativer Akt zur Neudefini-tion der Altersrenten in einer Sozialgesetzgebung. Rentenre-formen werden wiederholt durchgeführt, um eine Änderungder Rentenleistungen dem Beitragsaufkommen anzupassen.

Roosevelt – Franklin Delano Roosevelt, *1882 †1945;war von 1933 bis zu seinem Tod 1945 der 32. Präsident derVereinigten Staaten von Amerika (USA). Unter dem Schlag-wort New Deal führte er einschneidende Wirtschaftsreformenzugunsten größerer sozialer Verantwortung durch.

Satan – ist ein Begriff, der einen oder mehrere Engel be-zeichnet. Er hat seine Ursprünge im jüdischen Monotheis-mus und enthält antike persische religiöse Einflüsse. Satan istvor allem der Ankläger im göttlichen Gerichtshof, der die reli-giöse Integrität von Menschen testet und Sünden anklagt.

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Skorbut – eine Hypovitaminose bzw. Avitaminose, diedurch einen Mangel an Vitamin C ausgelöst wird. Die Leis-tungsfähigkeit und die Arbeitskraft lassen erheblich nach.Skorbut kann zum Tod durch Herzschwäche führen.

Solidarität – (abgeleitet vom lateinischen solidus fürgediegen, echt oder fest; Adjektiv: solidarisch) bezeichneteine, zumeist in einem ethisch-politischen Zusammenhangbenannte Haltung der Verbundenheit mit – und Unterstüt-zung von – Ideen, Aktivitäten und Zielen anderer. Sie drücktferner den Zusammenhalt zwischen gleichgesinnten odergleichgestellten Individuen und Gruppen und den Einsatz fürgemeinsame Werte aus.

Stalin – *1878 †1953; war ein sowjetischer Politiker undDiktator. Während seiner Regierungszeit errichtete Stalin ei-ne totalitäre Diktatur, ließ im Rahmen politischer „Säube-rungen“ (Stalinsche Säuberungen) vermeintliche und tatsäch-liche Gegner verhaften, in Schau- und Geheimprozessen zuZwangsarbeit verurteilen oder hinrichten sowie Millionenweiterer Sowjetbürger und ganze Volksgruppen besetzterGebiete in Gulag-Strafarbeitslager deportieren. Viele wurdendort ermordet oder kamen durch die unmenschlichen Be-dingungen ums Leben. Die durch ihn vorangetriebene Kol-lektivierung der Landwirtschaft führte in weiten Teilen derSowjetunion zu Hungersnöten denen ungefähr sechs Millio-nen Menschen zum Opfer fielen.

Stanley Milgram – *1933 †1984; war ein US-amerikani-scher Psychologe. Stanley Milgram wurde bekannt durchseine Arbeit zum Gehorsam gegenüber Autoritäten. In seinenheute als Milgram-Experiment bezeichneten Versuchen zeig-te er, dass die Mehrzahl der Durchschnittsmenschen sich vonangeblichen Autoritäten dazu bewegen lässt, Unbeteiligtesystematisch zu misshandeln.

Trotzki – Pseudonym von Lew Dawidowitsch Bronstein,*1879 †1940; war ein sowjetischer Politiker und marxistischerRevolutionär. Er war Volkskommissar (Minister) des Auswär-tigen, für Kriegswesen, Ernährung, Transport, Verlagswesensowie Gründer der Roten Armee. Nach ihm wurde die von der

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sowjetischen Parteilinie des Marxismus-Leninismus abwei-chende Richtung des Trotzkismus benannt. Nachdem er vonJosef Stalin entmachtet und 1929 ins Exil getrieben wor-den war, ermordete ihn 1940 ein sowjetischer Agent in Me-xiko.

Verordnungen – In den deutschsprachigen Ländern isteine Verordnung eine Rechtsnorm, die in der Regel durch eineRegierung oder Verwaltungsstelle erlassen wird. Eine Verord-nung (teilweise auch „Rechtsverordnung“ genannt, zum Bei-spiel in Art. 80 des Grundgesetzes) benötigt immer eineVerordnungsermächtigung in einem Gesetz. Urheber einerVerordnung ist nicht das Parlament, sondern die Exekutive;deswegen spricht man bei Verordnungen auch von exekuti-vem Recht.

Wahlkreis – jener – in der Regel geografisch zusam-menhängende – Teilraum eines Wahlgebietes, in dem dieWahlberechtigten über die konkrete Besetzung eines odermehrerer Sitze des entsprechenden Organs entscheiden. Diezu wählende Versammlung kann das nationale Parlamentoder jenes einer regionalen Körperschaft sein.

Wiederbewaffnung der Bundesrepublik – bezeichnetdie erneute Einführung militärischer Strukturen in der Bun-desrepublik Deutschland in den Fünfzigerjahren nach demZweiten Weltkrieg. Das Thema wurde von 1949 bis 1956 inder Öffentlichkeit und Politik im Hinblick auf den gerade erstzu Ende gegangenen Zweiten Weltkrieg sehr kontrovers dis-kutiert.

Zentralkomitee – (ZK) ist die Bezeichnung für ein zen-trales Organ einer großen Organisation.Besonders bekannt istder Begriff als Bezeichnung für ein Gremium der meisten kom-munistischen Parteien.

Zentrums-Partei – Kurzbezeichnung: ZENTRUM; war bis1933 als Vertreterin des katholischen Deutschland eine derwichtigsten Parteien des Kaiserreichs und der Weimarer Re-publik.

Zivilgesellschaft – Der Begriff Zivilgesellschaft hat zweiBedeutungen: Zum einen bezeichnet er einen Bereich in-

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nerhalb einer Gesellschaft, der zwischen staatlicher, wirt-schaftlicher und privater Sphäre entstanden ist – oder auch:zwischen Staat, Markt und Familie. Der Bereich wird als öf-fentlicher Raum gesehen, den heute eine Vielzahl vom Staatmehr oder weniger unabhängiger Vereinigungen mit un-terschiedlichem Organisationsgrad und -form bilden – etwaInitiativen, Vereine, Verbände.

„Zurück zur Natur“ – Wendung, die gegen den Fort-schritt gerichtet ist. Auch wenn Jean-Jacques Rousseau dieseWendung in seinem Beitrag »Discours sur les sciences et lesarts« nicht verwendet hat, wird sie ihm häufig zugeschrieben.

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