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1 Ist die Rechtswissenschaft überhaupt eine Wissenschaft? von Prof. Dr. U. Rühl [Vortrag – Bremen, 8.7.2005] Die juristische Standardantwort auf diese Frage lautet: Es kommt drauf an. Ich möchte in meinem Vortrag zeigen, worauf es ankommt. Ich werde also nicht einfach Ja oder Nein sagen. Mein Ziel ist es, Ihnen gleichsam das Ma- terial zu unterbreiten, das es Ihnen erlaubt, sich selbst ein Urteil zu bilden. Ob die Rechtswissenschaft eine Wissenschaft ist, hängt ersichtlich von der Vorfrage ab, was man unter Wissenschaft zu verstehen hat. Die Ursprünge des modernen Wissenschaftsverständnisses sind in der Antike zu suchen. Sie finden sich in der klassischen griechischen Philosophie. Zu diesen Wur- zeln ist also zunächst zurückzugehen. I. Das antike Wissenschaftsverständnis 1. Meinung (doxa) und Wissen (episteme) Im Begriff »Wissenschaft« steckt der Grundbegriff Wissen. Wissen wird in zwei platonischen Dialogen 1 definiert als gerechtfertigte, wahre Überzeu- gung (oder auch: wahre, begründete Meinung). In der antiken griechischen Philosophie hat man unterschieden zwischen doxa / Meinung (Überzeugung) einerseits und episteme / Wissen (Erkennt- nis) andererseits. 2 Danach ist eine Meinung im Sinn einer subjektiven Über- zeugung dann kein Wissen, wenn die Annahme nicht wahr ist. Und um echtes Wissen handelt es sich auch nur dann, wenn die wahre Behauptung auch (rational) begründet, d.h. aus Gründen gerechtfertigt werden kann; wer die Wahrheit nur zufällig trifft, verfügt nicht über echtes Wissen. Nach dieser Definition können subjektive Überzeugungen aller Art, wie das Meinen und das Glauben, unterschieden werden von echtem Wissen. Echtes Wissen muss per definitionem (1) wahr und (2) [rational] begründbar sein. Schon hier verbirgt sich ein erster Stachel des Zweifels, weil ethische und juristische Urteile schon nach dem allgemeinen Sprachgebrauch nicht wahr- heitsfähig sind: Wir sagen nicht, dass ein gerichtliches Urteil ›wahr‹ ist, sondern wir sprechen üblicherweise von einem ›richtigen‹ oder angemesse- nen Urteil. 1 Platon, Theaitetos, 201 c-d (200a-210b), Menon 97e-98a; Ricken, Philosophie der Antike, 2. Aufl. 1993, Rz. 91. 2 Vgl. Bächli / Graeser, Grundbegriffe der antiken Philosophie, Stuttgart 2000, S. 140 ff.

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Ist die Rechtswissenschaft überhaupt

eine Wissenschaft?

von

Prof. Dr. U. Rühl

[Vortrag – Bremen, 8.7.2005]

Die juristische Standardantwort auf diese Frage lautet: Es kommt drauf an. Ich möchte in meinem Vortrag zeigen, worauf es ankommt. Ich werde also nicht einfach Ja oder Nein sagen. Mein Ziel ist es, Ihnen gleichsam das Ma-terial zu unterbreiten, das es Ihnen erlaubt, sich selbst ein Urteil zu bilden. Ob die Rechtswissenschaft eine Wissenschaft ist, hängt ersichtlich von der Vorfrage ab, was man unter Wissenschaft zu verstehen hat. Die Ursprünge des modernen Wissenschaftsverständnisses sind in der Antike zu suchen. Sie finden sich in der klassischen griechischen Philosophie. Zu diesen Wur-zeln ist also zunächst zurückzugehen.

I. Das antike Wissenschaftsverständnis

1. Meinung (doxa) und Wissen (episteme)

Im Begriff »Wissenschaft« steckt der Grundbegriff Wissen. Wissen wird in zwei platonischen Dialogen1 definiert als gerechtfertigte, wahre Überzeu-gung (oder auch: wahre, begründete Meinung). In der antiken griechischen Philosophie hat man unterschieden zwischen doxa / Meinung (Überzeugung) einerseits und episteme / Wissen (Erkennt-nis) andererseits.2 Danach ist eine Meinung im Sinn einer subjektiven Über-zeugung dann kein Wissen, wenn die Annahme nicht wahr ist. Und um echtes Wissen handelt es sich auch nur dann, wenn die wahre Behauptung auch (rational) begründet, d.h. aus Gründen gerechtfertigt werden kann; wer die Wahrheit nur zufällig trifft, verfügt nicht über echtes Wissen. Nach dieser Definition können subjektive Überzeugungen aller Art, wie das Meinen und das Glauben, unterschieden werden von echtem Wissen. Echtes Wissen muss per definitionem (1) wahr und (2) [rational] begründbar sein.

Schon hier verbirgt sich ein erster Stachel des Zweifels, weil ethische und juristische Urteile schon nach dem allgemeinen Sprachgebrauch nicht wahr-heitsfähig sind: Wir sagen nicht, dass ein gerichtliches Urteil ›wahr‹ ist, sondern wir sprechen üblicherweise von einem ›richtigen‹ oder angemesse-nen Urteil.

1 Platon, Theaitetos, 201 c-d (200a-210b), Menon 97e-98a; Ricken, Philosophie der Antike,

2. Aufl. 1993, Rz. 91. 2 Vgl. Bächli / Graeser, Grundbegriffe der antiken Philosophie, Stuttgart 2000, S. 140 ff.

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2. Die antike Einteilung der Wissenschaften Physik - Ethik - Logik

Die antike griechische Philosophie hat über Jahrhunderte den Bereich der Wissenschaften in drei Bereiche eingeteilt:

PHYSIK – ETHIK – LOGIK Die antike Physik befasst sich mit der Erklärung von Naturphänomenen. Die Ethik befasst sich mit dem guten und gerechten Handeln, und zwar: indivi-duell und in Bezug zur Polis, d.h. der Gesellschaft. Die Logik befasst sich mit den Regeln des richtigen Denkens. Man kann diese Wissenschaftsbereiche auch wie folgt charakterisieren: Die Physik beschreibt und erklärt vorhandene Naturphänomene; sie befasst sich mit dem, was ist – mit dem Sein. Das ist bei der Ethik ersichtlich andres. Die Ethik sagt nicht, wie die Menschen sich tatsächlich verhalten, sondern wie sich verhalten sollen. Und das trifft auch für die Logik zu. Die Logik beschreibt nicht, wie die Menschen faktisch denken – denn tatsächlich den-ken sie oft falsch – , sondern wie sie denken sollen. Wenn man nun den drei Wissenschaftsbereichen diesen Gegenstandsbereich zuordnet, dann kommt dabei heraus:

SEIN – SOLLEN – SOLLEN. Die Ethik ist – wie die Logik – eine Sollens-Wissenschaft, oder, was das Gleiche bedeutet: sie ist eine normative Wissenschaft. Wir gelangen so zu der Unterscheidung zwischen Seinswissenschaften, die das, was ist, be-schreiben und erklären, und Sollenswissenschaften, die sagen, was sein soll.

Wenn man nun die Rechtswissenschaft in das antike Schema einordnet, dann gehört sie zur Ethik. Die Rechtswissenschaft ist ein Unterfall der sog. praktischen Ethik, die sich befasst mit (1) individueller Moral, (2) dem all-gemeinverbindlichen Recht, (3) der Politik und (4) der Ökonomie. Dadurch, dass die Rechtswissenschaft eine normative Wissenschaft bzw. eine Sollenswissenschaft ist, hat sie schon eine gewisse Sonderstellung. Denn die anderen Wissenschaften, egal ob Naturwissenschaften, Sozial- oder Sprachwissenschaften etc. sind Seinswissenschaften bzw. empirische Wissenschaften, die beschreiben und erklären, was ist.

3. Theorie - Praxis - Poiesis

Neben den drei Wissenschaftsbereichen kennt die antike griechische Philo-sophie eine Einteilung, die sich am Erkenntnisinteresse orientiert. Diese Einteilung ist von Aristoteles verwendet worden. Das ist deshalb von Be-deutung, weil das Studium Generale an den Artistenfakultäten vom Mittelal-ter bis in die Neuzeit, also über Jahrhunderte hinweg, aus dem Studium der Schriften des Aristoteles bestand. (Wir werden im Verlauf des Vortrags feststellen, dass sich das aristotelische Wissenschaftsverständnis bis heute als prägend erweist.)

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Nach Aristoteles3 gibt es drei Arten von Wissen, und diese drei Wissensar-ten werden von Aristoteles gleichsam in einer Rangordnung danach bewer-tet, ob sie einem äußeren Zweck dienen oder ob das jeweilige Wissen einen Selbstzweck darstellt. Diese drei Wissensarten bezeichnet Aristoteles als

THEORIE – PRAXIS – POIESIS. Es gibt also theoretisches, praktisches und poietisches Wissen. (Heute wür-de man das poietische als technisches [gr.: techne] Wissen bezeichnen.)

- [THEORIE] Theoretisches Wissen ist rein kontemplativ-betrachtend. Nach Aristoteles ist es die höchste Form von Wissen – und dem Weisen am an-gemessensten. Theorie in diesem Verständnis ist die völlig zweckfreie Be-trachtung der Natur und ihrer Gesetzmäßigkeiten und der ewigen und un-veränderlichen Strukturen von Logik und Mathematik. Man könnte auch von zweckfreier Grundlagenforschung sprechen. Theorie ist die Versenkung in den Logos, die Erkenntnis, das sich hinter dem vordergründigen Chaos der Phänomene, bspw. den Bewegungen der Gestirne, eine Ordnung ver-birgt. Theoretisches Wissen ist selbstzweckhaft; es wird erstrebt aus reiner Freude an der Erkenntnis. Die theoretische Erkenntnis ist ein Wert an sich. Auch heute streben Grundlagenforscher in der Physik nach Wissen um des Wissens willen; es geht um die Befriedigung des zweckfreien Wissensdran-ges. Einstein hat mit seiner Relativitätstheorie keinen Zweck verfolgt; es ging ihm um das Wissen an sich.

- [POIESIS / TECHNIK] Der extreme Gegensatz zur selbstzweckhaften Theorie ist bei Aristoteles die Poiesis bzw. das poietische Wissen. Das poietische Wissen ist immer auf die Hervorbringung eines Werkes gerichtet. Man spricht dann z.B. von der Dichtkunst, der Baukunst, der Schiffbaukunst oder der Kriegskunst etc. Poietisches Wissen ist technisches Wissen (gr.: techné). Technisches oder poietisches Wissen ist ein Wissen, wie man ein bestimm-tes Werk hervorbringen kann.

Man sieht also nebenbei bemerkt, wie die aristotelischen Begriffe sich zwar in der Alltagssprache festgesetzt, dabei aber auch einen Bedeutungswandel durchgemacht haben: Was wir heute als »praktisches« Wissen oder kurz als Praxis bezeichnen, heißt bei Aristoteles und den Griechen Poiesis oder Technik.

- [PRAXIS] Praxis hat es demgegenüber mit dem Handeln zu tun, allerdings nicht mit jedem beliebigen Handeln, denn insoweit muss die Praxis abge-grenzt werden von der Technik. Das praktische Wissen ist ein Wissen vom guten und gerechten Handeln – und es ist bezogen auf die Ethik und die Politik. Gerechtigkeit ist bei Aristoteles – und in der Antike allgemein – eine individuelle Tugend. Ein guter und gerechter Mensch kann nur sein, wer über das Wissen verfügt, was er seinen Mitmenschen schuldet. Und ein guter Bürger, der sich z. B. in der demokratischen Polis an Gesetzgebung, Rechtsprechung und Verwaltung beteiligt, kann nur sein, wer über Wissen vom Guten und Gerechten verfügt.

3 Nikomachische Ethik, VI. Buch.

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Praktisches Wissen in diesem Sinn ist nach Aristoteles nicht ganz so edel wie das theoretische. Es ist aber dem technischen Wissen überlegen, weil es doch selbstzweckhaft ist. Das gerechte Handeln dient nach Aristoteles kei-nem äußeren Zweck; es hat seinen Wert und seinen Zweck in sich selbst. Das gute und gerechte Handeln ist Selbstzweck.

Aus dem Gesagten wird deutlich, dass die Rechtswissenschaft im aristoteli-schen Verständnis zur Praxis gehört, weil sie sich mit dem gerechten Han-deln befasst bzw. über das rechtlich relevante Handeln urteilt.

4. Prinzipien

Nach Aristoteles beruht alles Wissen auf der Erfahrung. Erfahrung ist aber lediglich die Kenntnis des Einzelnen, und ist insofern erst der Anfang bzw. die Vorstufe zum Wissen. Schon die »Kunst« beruht auf der Kenntnis des Allgemeinen. Der Erfahrene kennt »nur das Daß, nicht aber das Warum«, der Weise kennt demgegenüber die Ursachen und die Prinzipien, die dem Erfahrungsmaterial zugrunde liegen.4 Kennzeichen des wahren Wissens – im Gegensatz zur bloßen Erfahrung – ist die Fähigkeit, das Wissen lehren zu können. Die Lehrbarkeit des Wissens beruht überhaupt auf der Kenntnis der Ursachen und Prinzipien. Kurz: Die Aufhäufung von bloßen Fakten ist noch kein echtes Wissen – und es kann deshalb weder »Kunst« noch Wissenschaft sein. Auf die Wissenschaft bezogen bedeutet das: Wissenschaft setzt die Erfor-schung von primären Ursachen und die Zurückführung auf Prinzipien vor-aus. Es reicht nicht zu wissen, dass ..., es muss das Wissen warum ... hinzu-treten: »Wo nämlich eine bestimmte Überzeugung vorliegt und man die Prinzipien kennt, [nur] da ist Wissenschaft.«5

5. Wissenschaft und Klugheit (phronêsis), Notwendigkeit und Kontigenz

Für den Wissenschaftsbegriff ebenso folgenreich ist, dass Aristoteles zwi-schen zwei Gegenstandsbereichen des Wissens unterscheidet. Nach Aristo-teles besteht der vernunftbegabte Teil der Seele wiederum aus zwei Teilen, die sich auf zwei verschiedene Wesenheiten richten: - Die Sachverhalte des einen Gegenstandsbereiches sind notwendigerweise so wie sie sind. Sie können sich gar nicht anders verhalten, als sie sich ver-halten [Notwendigkeit]. Und wenn sie notwendig sind, dann sind sie auch unvergänglich und ewig. - Die Sachverhalte des anderen Gegenstandsbereiches können so oder auch anders sein, sie sind zufälligerweise so wie sie sind [Kontingenz].6 (Im Zeitalter des Rationalismus hat man insoweit zwischen Vernunftwahr-heiten und Tatsachenwahrheiten unterschieden.)

4 Aristoteles, Metaphysik, 981 a-b.

5 Aristoteles, Nikomachische Ethik, VI. Buch, 1139 b 30.

6 A.a.O., 1139 b 20.

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Folgenreich ist die Festlegung, dass es Wissenschaft nur von dem geben kann, was notwendig, unvergänglich und ewig ist. Da Handlungen allge-mein nicht notwendig sind, weil man sowohl ethisch wie technisch immer so oder auch anders verfahren kann, Handlungen also immer kontingent sind, fällt die Ethik – und damit auch das Recht – aus den möglichen Ge-genstandsbereichen der Wissenschaft heraus. Was Gegenstand des Handelns ist gehört zur Klugheit (gr.: phronêsis). Denn Klugheit benötigt man bei der Überlegung. Niemand überlegt aber das, was sich gar nicht anders verhalten kann.7 Man kann das noch in dem Wort Jurisprudenz hören, denn Lateinisch iu-risprudencia bedeutet Rechtsklugheit bzw. Rechtsgelehrtheit, und das ist (nach Aristoteles) etwas anderes als Wissenschaft.

Was aber ist wirklich notwendig in dem strikten Sinn, dass es ›unvergäng-lich‹ und ›ewig‹ gar nicht anders sein kann? Es fallen einem nur die Natur-gesetze und die Gesetze der Logik und Mathematik ein. Über alles andere wäre – hätte Aristoteles das letzte Wort – eine Wissenschaft überhaupt nicht möglich.

II. Die Rechtswissenschaft und ihr

Gegenstand

Dies ist nun der rechte Ort, ein Wort zum Gegenstand der Rechtswissen-schaft – die ich weiter provisorisch als Wissenschaft bezeichnen will – zu sagen: Bisher bin ich ungenau gewesen. Wenn man genau ist, muss man unterscheiden zwischen der Wissenschaft und ihrem Gegenstand. Gegen-stand der Rechtswissenschaft ist das Recht; die Rechtswissenschaft ist die Disziplin, welche das Recht erforscht. Ein wenig rechtfertigen will ich meine Ungenauigkeit damit, dass die anti-ken Griechen noch keine Rechtswissenschaft kannten. Es ist das Verdienst des antiken Rom, die Rechtswissenschaft hervorgebracht zu haben.8 Recht-sprechung war im antiken Rom Aufgabe der Prätoren, also zeitlich befristet amtierenden Wahlbeamten, die juristische Laien waren. Deshalb mussten sich die Prätoren in schwierigen Fällen Rat von privaten Rechtsgelehrten holen, die in ihren Gutachten Vorschläge zur Entscheidung bestimmter Fälle oder Falltypen machten. Es gab im antiken Rom eine Zusammenarbeit zwischen Rechtsprechung und den privaten Rechtsgelehrten. Die Prätoren verkündeten in den ›Prätoren-edikten‹ am Anfang ihrer Amtszeit, unter welchen Voraussetzungen sie Kla-gen annehmen und an einen Spruchkörper (ebenfalls juristische Laien) wei-tergeben. (Darauf beruht das zivilistische Aktionensystem und unser System der Anspruchsgrundlagen). Die privaten Rechtsgelehrten haben Prä-torenedikte und Entscheidungen (wichtige Fälle) gesammelt, kommentiert und schließlich systematisiert und in Lehrbüchern übersichtlich dargestellt.

7 A.a.O., 1139 a 10.

8 Vgl. Peter G. Stein, Römisches Recht und Europa – Die Geschichte einer Rechtskultur,

3. Aufl., Ffm 1999.

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Dies geschah in den ersten 250 Jahren unserer Zeitrechnung in der sog. klassischen Epoche. Und im Kern hat die europäische Rechtswissenschaft bis heute die Aufgabe, welche die klassischen römischen Rechtsgelehrten wie Gaius, Ulpian, Paulus wahrnahmen: In ihrem Kernbereich (zum Rand komme ich noch) ist die Rechtswissenschaft bis heute Rechtsdogmatik. Dogmatik kommt von gr. dogma, und das bedeutet nichts anderes als Lehre oder Lehrsatz. Die Rechtswissenschaft als Rechtsdogmatik ist eine anwen-dungs- und entscheidungsbezogene Wissenschaft; sie macht Vorschläge, wie bestimmte Fälle und Falltypen entschieden werden sollen. Dazu gehört die oftmals gar nicht triviale Frage, welche Rechtsnormen auf einen Fall überhaupt anwendbar sind, und wie die einschlägigen Rechtsnormen ausge-legt werden müssen. Wenn man (etwas vergröbernd) annimmt, dass Rechtsnormen Regeln sind, dann hat man es mit dem trivialen Umstand zu tun, dass eine Regel nicht auch noch selbst regeln kann, wie und auf welche Fälle sie anzuwenden ist. Das ist Aufgabe der Rechtswissenschaft als Rechtsdogmatik: sie entwickelt Regeln über die Anwendung von Regeln. Seit über 2000 Jahren werden in Europa Gutachten, Kommentare und Streitschriften über juristische Fragen verfasst, und selbst die literarischen Formen sind dieselben geblieben.

Gegenstand der Rechtswissenschaft als Rechtsdogmatik ist nicht das Recht schlechthin, sondern das positive Recht. Das positive Recht ist das vom je-weiligen Gesetzgeber gesetzte und verkündete Gesetz: im antiken Rom das von der Volksversammlung oder dem Senat, später das vom Kaiser erlasse-ne Gesetz, heute das vom Parlament als Volksvertretung erlassene Gesetz. Die Rechtswissenschaft hat sich über 2000 Jahre überwiegend am positiven, dem »gesatzten« Recht abgearbeitet (Zwischenbemerkung: Zum sog. Natur-recht, besser: Vernunftrecht, werde ich noch kommen.)

Auf der Grundlage dieser Erkenntnis lässt sich die Ausgangsfrage präziser formulieren. Sie lautet dann: Ist die Rechtsdogmatik, die sich mit der An-wendung des positiven Rechts befasst, eine Wissenschaft?

III. Die Kritik und die Anpassungsstrategien

der Rechtswissenschaft

1. »Die Wertlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft« (von Kirchmann)

Die vielleicht bekannteste wissenschaftstheoretische Attacke gegen die Rechtswissenschaft knüpft an ihrem Gegenstand – dem positiven Recht – an: Im Herbst 1847 hielt der Staatsanwalt Julius Hermann von Kirchmann vor der Juristischen Gesellschaft in Berlin einen Vortrag mit dem Titel »DIE

WERTLOSIGKEIT DER JURISPRUDENZ ALS WISSENSCHAFT«. Von ihm stammt der berühmte Satz:

7

»Indem die Wissenschaft das Zufällige zu ihrem Gegenstande macht, wird sie selbst zur Zufälligkeit; drei berichtigende Worte des Gesetzgebers und ganze Bibliotheken werden zu Makulatur.«9

Kirchmann setzt hier zweierlei voraus: erstens, dass Gegenstand der Rechtswissenschaft das positive Gesetz ist, und zweitens, dass etwas so Flüchtiges und Zufälliges wie ein Gesetz nicht Gegenstand einer echten Wissenschaft sein kann. Denn ein Gesetz kann nach seiner Vorstellung die-sen oder jenen Inhalt haben und es kann beliebig geändert werden – und insofern ist es flüchtig und zufällig. Hieraus können wir ersehen: Wenn das Zufällige und Flüchtige nicht Gegenstand einer Wissenschaft sein kann, dann muss wohl dessen Gegenteil Gegenstand der Wissenschaft sein. Und das Gegenteil wäre dann das Notwendige und Beständige/Ewige. Das ist, wie wir bereits wissen, der aristotelische Wissenschaftsbegriff.

2. Die natur- bzw. vernunftrechtliche Gegenstrategie

Eine der Gegenstrategien der Rechtswissenschaft hat immer darin bestan-den, die Zweifel an ihrer Wissenschaftlichkeit durch Modifikation ihres Ge-genstandes zu parieren. Wenn das positive Recht flüchtig, historisch und geografisch zufällig und wandelbar ist: Gibt es nicht vielleicht ein Recht, das notwendig und ewig ist? a) Die Antwort lautet: Selbstverständlich ja. Denn seit es Reflexionen über das Recht gibt, kennt man den Gegensatz zwischen dem gesatzten, positiven Recht einerseits und dem Naturrecht bzw. Vernunftrecht andererseits.

»Nein, eine Grenze hat die Tyrannenmacht, Wenn unerträglich wird die Last – greift er Hinauf getrosten Muthes in den Himmel, Und hohlt herunter seine ewgen Rechte, Die droben hangen unveräußerlich Und unzerbrechlich wie die Sterne selbst ...«

[Schiller, Wilhelm Tell]

Das Naturrecht hat im Zeitalter des Rationalismus und der Aufklärung eine Blütezeit erlebt. Vom Anfang des 17. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts sind voluminöse Bücher mit Naturrechtssystemen publiziert worden. Ich nenne nur die bekanntesten Autoren wie Grotius, Pufendorf, Chr. Wolff und Thomasius. Das Zeitalter des Rationalismus strebt nach Gewissheit, und es findet sein Methodenideal in der Geometrie. Man nahm an, man könne die geometri-sche Methode auf das Vernunftrecht übertragen: Wenn man die richtigen Axiome bzw. Prämissen hat und dann logisch einwandfreie Schlüsse zieht, dann überträgt sich die Wahrheit der Prämissen auf die Schlüsse – und ex-akter geht es nun wirklich nicht. Autoren wie Grotius und Pufendorf waren

9 J. H. von Kirchmann, Die Wertlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft (1847), hrgg.

von H. Klenner, 1990, S. 23

8

so optimistisch anzunehmen, dass wir Menschen in der Lage sind, durch unsere Vernunft – also durch bloßes Nachdenken – Rechtsprinzipien zu er-kennen, die universell, notwendig und ewig sind. Freilich wissen wir heute, dass der Anspruch auf Universalität und Ewigkeit schlicht vom historischen Geschehen widerlegt worden ist: Die erwähnten naturrechtlichen Systeme galten im 19. Jahrhundert als antiquiert; das 19. Jahrhundert wird das Jahrhundert der großen Kodifikationen (Code Civil, BGB) und des Rechtspositivismus sein. b) Aber vielleicht gibt es doch wenigstens etwas im Recht, was wirklich notwendig, und zwar notwendig im strikten Sinn ist? Eine Antwort auf diese Frage gibt Kant in seiner ›Einleitung in die Rechts-lehre‹. Kant benötigt als Ausgangspunkt nur die Voraussetzung, dass viele Menschen auf einer begrenzten Fläche zusammen leben müssen. Und Recht ist dann ein Zustand, in dem die Betätigung der äußeren Freiheit eines jeden Menschen mit der Freiheit aller anderen Menschen verträglich ist – ein Zu-stand, der dieser Bedingung nicht genügt, ist kein rechtlicher Zustand, son-dern Willkür und Chaos. (»Recht ist der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allge-meinen Gesetz der Freiheit zusammen vereinigt werden kann.«10) Nach diesem vernunftrechtlichen Ansatz muss ein jedes Rechtssystem not-wendigerweise (und ewig) bestimmte Elemente enthalten: Das wichtigste Element ist das Prinzip der gleichen Freiheit aller – eine Ordnung, welche die Verwirklichung dieses Prinzips nicht wenigstens anstrebt, verdient den Namen ›Rechts‹-Ordnung nicht. Notwendig sind zudem bestimmte Begriffe wie Gesetz, Norm, Person, Sache, Besitz, Eigentum, Zurechnung, Verant-wortlichkeit (Wille) und Vertrag etc.

Notwendig und ewig sind jedoch nur die genannten Begriffe und Struktur-elemente. Im strengen Sinne eine Wissenschaft kann deshalb nach Kant nur die (philosophische) Rechtslehre sein, die uns sagt, was Recht überhaupt ist, und was Recht von Unrecht unterscheidet. Was die Rechtslehre als Wissenschaft nicht sagen kann, ist, was im Einzel-fall rechtens ist. Dazu bedarf es der Konkretisierung der notwendigen Beg-riffe und Strukturelemente in einer konkreten Rechtsordnung, und dazu be-nötigt man Gerichte, welche die Gesetze anwenden. Deshalb unterscheidet Kant strikt zwischen (wissenschaftlicher) Rechtsleh-re, die sich mit den notwendigen Elementen befasst, und der Jurisprudenz, die auf der Grundlage der kontingenten positiven Gesetze zu klären hat, was im kontingenten Einzelfall rechtens ist. Nach Kant ist die Jurisprudenz des-halb keine Wissenschaft, weil ihr Gegenstand die kontingenten Gesetze und Fälle sind, die eben so oder auch anders sein können. Rechtswissenschaft als Rechtsanwendung ist nach Kant nicht Wissenschaft, sondern iurispruden-cia, also Rechtsklugheit, phronêsis im aristotelischen Sinn.

10

Kant, Metaphysik der Sitten, AA VI, S. 230.

9

Hans Kelsen ist mit seiner ›REINEN RECHTSLEHRE‹11 einen ähnlichen Weg gegangen, der sich von dem Ansatz Kants nur darin unterscheidet, dass Kel-sen nicht im Vernunftrecht, sondern im positiven Recht die notwendigen Begriffe und die logischen Beziehungen zwischen den Rechtsbegriffen er-forschen wollte. c) Es ist offensichtlich, dass die Rechtswissenschaft hier einen hohen Preis für ihre Wissenschaftlichkeit zahlen muss. Denn wenn die Rechtswissen-schaft dem kantianischen und dem kelsenschen Ideal von Wissenschaftlich-keit entsprechen will, dann kann sie das nur, wenn sie sowohl ihren Gegen-stand als auch ihre Methoden künstlich zurückschneidet und auf das Forma-le beschränkt. (Der Staatsrechtler Hermann Heller hat insoweit polemisch von den »ausgeblasenen Eiern« der Reinen Rechtslehre gesprochen.12) Wis-senschaft wäre dann nicht die Rechtswissenschaft als Ganzes, sondern nur ihr rechtsphilosophischer Teil – nach Kant: eine reine Rechtslehre als Ele-ment einer Metaphysik des Normativen. Die Rechtsdogmatik und der An-wendungsbezug fielen aus der Wissenschaft heraus. In Kelsens Sicht bedeutet das nicht, dass akademische Juristen nicht weiter das tun sollen, was sie immer gemacht haben: der Rechtsprechung Ent-scheidungsvorschläge zu machen und die Rechtsprechung inhaltlich und methodisch mit ihrer Kritik zu begleiten. Nur ist das dann in Kelsens puris-tischer Sicht nicht Rechts-Wissenschaft, sondern Rechtspolitik.13

3. Rechtswissenschaft als Logik?

Bis an die Grenze des 21. Jahrhunderts haben Juristen sich der Illusion hin-gegeben, die Rechtswissenschaft sei deshalb eine Wissenschaft, weil die Subsumtion des Falles unter das Gesetz ein deduktiver Schluss sei.14 Was könnte wissenschaftlicher sein als die Logik und ein deduktiver Schluss?

Leider ist das ›Subsumtionsdogma‹ falsch. Die Subsumtion ist keine rein logische Operation. Spätestens im Staatsexamen haben Sie das leidvoll er-fahren:

Ob ein Stiefelabsatz ein gefährliches Werkzeug im Sinn des § 224 StGB

ist,

ob das Kind durch eine geschenkte, aber mit einer Grundschuld belastete

Eigentumswohnung »einen lediglich rechtlichen Vorteil erlangt« (§ 107

BGB)

und ob Grundrechte mittelbare oder unmittelbare Drittwirkung haben,

alle diese Fragen lassen sich nicht mit den Mitteln der Logik klären. Erst wenn diese Vorfragen geklärt sind, kann überhaupt subsumiert werden. Und darin besteht die eigentliche juristische Arbeit. Der Gesetzestext ist für die Rechtsdogmatik nichts anderes als das Rohmaterial, mit dem die Arbeit erst 11

2. Aufl. 1960. 12

H. Heller, Die Krisis der Staatslehre, Gesammelte Schriften Bd. II., S. 16. 13

Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl. 1960, S. 353. 14

Vgl. A. Kaufmann, Das Verfahren der Rechtsgewinnung, 1999, S. 30 f.

10

beginnt: Aus dem Normtext muss eine Norm herausgearbeitet werden, die erst das fallbezogene Lösungsmodell enthält. Und erst wenn diese Arbeit getan ist, kann subsumiert werden. Die Unterscheidung zwischen Normtext und fallbezogener Norm zeigt, dass die Rechtswissenschaft ihren Gegen-stand nicht einfach als Fertigprodukt des Gesetzgebers vorfindet, sondern zu einem relevanten Teil erst hervorbringt. Man versteht das Rechtssystem eines Landes nicht, wenn man nur die Gesetze, aber nicht die Rechtsdogma-tik, d. h. die Anwendungsregeln und -methoden, kennt.15

4. Rechtswissenschaft als Sozialwissenschaft

In den 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts bestand die Verteidigungsstrategie der Rechtswissenschaft darin, sich zur Sozialwissenschaft zu erklären, um so an deren Wissenschaftlichkeit zu partizipieren. Insoweit will ich es kurz machen: Rechtsgeschichte, Rechtssoziologie und Rechtsvergleichung sind Seins-Wissenschaften. Sie verfahren deskriptiv-erklärend und betrachten das Rechtssystem gleichsam von außen. Sie beschreiben und erklären, was ist, und was sich ggf. aus welchen Gründen geändert hat. Aber sie sagen nicht, was sein soll. Rechtswissenschaftler können ihre Kenntnis der Rechtsprechung dazu be-nutzen, eine Prognose abzugeben, wie der BGH oder das BVerfG in einem bestimmten Fall entscheiden werden. Man hätte in diesem Fall sogar ein empirisches Kriterium, mit dem die Wahrheit der Aussage zweifelsfrei überprüft werden kann. Aber die Kernaufgabe der Rechtswissenschaft als Rechtsdogmatik besteht nicht darin, vorherzusagen, wie ein Gericht ent-scheiden wird, sondern zu sagen, wie es entscheiden soll. Nicht die Ent-scheidung, sondern die richtige, gesollte Entscheidung ist von Interesse. Damit soll nicht gesagt sein, dass die Erforschung des Rechts in sozialwis-senschaftlicher Perspektive unwichtig ist. Im Gegenteil. Da der Richter un-parteilich urteilen soll, ist es wichtig zu wissen, ob und wie die soziale Zu-sammensetzung und die soziale Herkunft der Richterschaft sich auf die Ent-scheidungspraxis auswirken etc. Aus der Sicht der Rechtswissenschaft als Rechtsdogmatik und Sollenswis-senschaft handelt es sich jedoch bei ihren sozialwissenschaftlichen Zweigen eher um ›Hilfswissenschaften‹, die der Rechtsdogmatik – und der Rechtspo-litik – anzeigen, welche Probleme zu bearbeiten sind. Die Rechtswissen-schaft kann ihre Wissenschaftlichkeit nicht dadurch retten, dass sie sich in eine Sozialwissenschaft verwandelt.

4. Zweifel am aristotelischen Wissenschaftsbegriff und Neuansatz

Vielleicht haben Sie im Verlauf meines Vortrages Zweifel bekommen, ob der aristotelische Wissenschaftsbegriff das Wesen der Wissenschaft wirk-lich trifft. Denn wo steht eigentlich geschrieben, dass es echtes Wissen und Wissenschaft nur vom Notwendigen und Ewigen geben kann? Wieso ei-

15

Vgl. D. Grimm, Methode als Machtfaktor, in: ders., Recht und Staat der bürgerlichen

Gesellschaft, Ffm 1987, S. 347 ff.

11

gentlich soll das Wissen vom Kontingenten – von Staat, Recht, Gesellschaft, Geschichte, Sprache etc. – bloße Meinung / Vermutung (doxa) sein? Nach dem heutigen Wissenschaftsverständnis müssen sich wissenschaftliche The-sen der Kritik stellen – und das gilt auch für die aristotelische Wissen-schaftslehre. Wenn man den aristotelischen Wissenschaftsbegriff auf sich selbst anwen-det, kommt man zu der Frage: Kann es echtes Wissen über den Begriff der Wissenschaft geben? Voraussetzungsgemäß wäre dies nur dann möglich, wenn die Antwort sich aus dem Bereich des Notwendigen und Ewigen ab-leiten ließe. Die Antwort kann aber nicht aus den Naturgesetzen, der Logik oder der Mathematik abgeleitet werden. Die Schlussfolgerung lautet: Die Frage ›Was ist Wissenschaft?‹ ist gar keine wissenschaftliche Frage – und das klingt doch etwas paradox. Und nebenbei bemerkt wäre dann auch die Frage nach dem Begriff der Wahrheit keine wissenschaftliche Frage. Zudem ist der Gegensatz zwischen dem Notwendigen / Ewigen einerseits und dem Zufälligen / Flüchtigen andererseits doch etwas zu vereinfachend: Staat, Gesellschaft und Recht sind zwar kontingent in dem Sinn, dass sie auch anders sein können, dem Wandel unterliegen und nicht ewig sind. Das bedeutet aber nicht, dass sie vollständig zufällig wären. Zwischen Zufall und Notwendigkeit gibt es etwas Drittes: stabile Strukturen, die der Er-kenntnis zugänglich sind. Es gibt also hinreichend gute Gründe nach einem Neuansatz in der Wissenschaftstheorie zu suchen.

IV. Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft

[Kulturwissenschaft]

Dieser Neuansatz in der Wissenschaftstheorie wurde von deutschen Philo-sophen im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts entwickelt. Der Zeitpunkt ist sicher nicht zufällig. Denn gerade in diesem Zeitraum waren die Erfolge von Naturwissenschaft und Technik beispiellos. Dieser Siegeszug von Na-turwissenschaft und Technik übte einen hohen Rechtfertigungs- und Refle-xionsdruck auf die anderen Wissenschaften aus. Es schien so als hätte die Naturwissenschaft Lösungen parat, wo die anderen Wissenschaften nur ewige Fragen behandeln, ohne je Antworten geben zu können. D. h., nicht der Wissenschaftscharakter der Rechtswissenschaft allein, sondern der Wis-senschaftscharakter der Nicht-Naturwissenschaften überhaupt stand und steht seitdem auf dem Prüfstand. Der Neuansatz in der Wissenschaftstheorie ist verbunden mit den Namen Wilhelm Dilthey und Heinrich Rickert. Von Dilthey stammt die heute ge-bräuchliche Unterscheidung zwischen Naturwissenschaft und Geisteswis-senschaft, die wiederum auf der Differenzierung zwischen physischen und psychischen Gegenständen aufbaut.16

16

Vgl. H. Schnädelbach, Philosophie in Deutschland 1831-1933, Ffm 1983, S. 154 ff.

12

Ich werde mich auf Rickert konzentrieren, weil sein Ansatz zum einen prä-ziser ist und sich zum anderen auch für die Rechtswissenschaft als fruchtba-rer erwiesen hat. Rickert entwickelt seine Wissenschaftstheorie in seiner Schrift »KULTURWISSENSCHAFT UND NATURWISSENSCHAFT«, die auf einem Vortrag aus dem Jahr 1898 beruht und bis 1926 sieben Auflagen erlebte.17 Nach Rickert zerfallen die vielen Spezialwissenschaften in zwei Hauptgrup-pen, wenn man sie unterteilt nach den zwei Kriterien: Gegenstand und Me-thode.

1. GEGENSTAND

- [Natur] Gegenstand der Naturwissenschaft ist die Natur. Natur kann man definieren als den Inbegriff des von selbst Entstandenen. Eine kurze Überle-gung zeigt uns, dass dazu auch der menschliche Geist gehört. Denn der Geist kann von der Neurophysiologie etc. wie ein Naturobjekt studiert wer-den. (Das ist ein triftiger Einwand gegen Dilthey.)

- [Kultur] Der Gegenstand der anderen Wissenschaften muss demnach der Inbegriff dessen sein, was nicht von selbst entstanden, sondern von Men-schen im Hinblick auf einen gewerteten Zweck hervorgebracht worden ist. Und der Inbegriff davon ist der Begriff der Kultur.

Wenn man die Wissenschaften also unter einem formalen Gesichtspunkt nach ihren Gegenständen einteilt, dann wäre die richtige Einteilung die von NATURWISSENSCHAFTEN und KULTURWISSENSCHAFTEN. Obwohl diese Ein-teilung m. E. richtiger und präziser ist als die heute gebräuchliche von Na-tur- und Geisteswissenschaft, hat sie sich leider nicht durchgesetzt. Aber dies ist relativ unschädlich, so lange man sich vergegenwärtigt, dass der wirkliche Gegenstand der sog. ›Geisteswissenschaft‹ eigentlich Kulturphä-nomene und Kulturobjekte sind, die mehr oder weniger absichtsvoll von Menschen im Hinblick auf als wertvoll angesehene Zwecke hervorgebracht werden. Und in diesem Sinn gehört die Rechtswissenschaft, wenn man sie von ihrem Gegenstand her bestimmt, zu den Kulturwissenschaften. Denn ihr Gegen-stand ist das Recht, und das Recht ist ein Kulturphänomen. Das Recht ge-hört zur Sphäre von Sinn und Bedeutung. Rechtsnormen haben Bedeutun-gen und sie dienen einem werthaften Zweck. Man denke nur an individuelle Freiheitsrechte, die das Individuum als Wert und Selbstzweck voraussetzen. Und es gilt für Strafnormen, die ebenfalls den Zweck haben, das Individuum zu schützen etc. Insoweit kann man als Zwischenergebnis festhalten: Unter dem materialen Gesichtspunkt ihres Gegenstandes betrachtet, ist die Rechtswissenschaft eine Kulturwissenschaft.

17

H. Rickert, Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, Stuttgart 1986 (nach der 6. & 7.

Aufl. 1926 [2. Aufl. 1910]).

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2. METHODE: Erklären - Verstehen

Betrachtet man nun die beiden Hauptgruppen unter dem formalen Aspekt der Methode, dann muss man leider sagen, dass die Methodenfrage nur auf Seiten der Naturwissenschaften als hinreichend geklärt betrachtet werden kann:

- [Naturwissenschaft] Zum einen sind die Naturwissenschaften empirische Wissenschaften. Idealtypisch versuchen die Naturwissenschaften aus Ein-zelbeobachtungen mittels Induktion auf allgemeine Naturgesetze zu schlie-ßen. Sind diese gefunden, dann ist die Methode der Naturwissenschaft de-duktiv-nomologisch (Rickert: nomothetisch). Wenn man über ein Naturge-setz verfügt, das in mathematischer Formelsprache formuliert ist, dann muss man nur noch die konkreten Daten (Anfangsbedingungen) in die Formel einsetzen, und man kann das Ergebnis ableiten bzw. berechnen. Auf diese Weise kann man mittels Naturgesetz plus Daten (›Anfangsbedingungen‹) vergangene Ereignisse erklären und künftige Ereignisse vorhersagen.

- [Kulturwissenschaft] Was aber ist die Methode der Kulturwissenschaften? Gibt es überhaupt eine einheitliche Methode, welche als einigendes Band alle Kulturwissenschaften umschlingt? Die Kulturwissenschaften haben es mit Kulturphänomenen zu tun, die von Menschen absichtsvoll hervorgebracht werden. Allgemein gesprochen, hat man es also mit Handlungen zu tun. Wie ›erklärt‹ man aber Handlungen? Nicht mittels allgemeiner Naturgesetze. Handlungen erklärt man durch Zwecke und Motive. Wenn wir fragen: Warum hat X so gehandelt?, dann besteht für uns eine befriedigende Antwort darin, dass ein Zweck oder ein Motiv genannt wird. Erst wenn wir das Motiv oder den Handlungszweck kennen, können wir die Handlung verstehen. Unter dem formalen Metho-denaspekt gelangt man so zu der strikten terminologischen Unterscheidung zwischen ERKLÄREN und VERSTEHEN: Naturwissenschaften versuchen, Na-turphänomene zu erklären; die Kulturwissenschaften versuchen, Kulturphä-nomene zu verstehen. So wie allgemein die Physik als beispielhaft für die Naturwissenschaften angesehen wird, so hat H. Rickert die Geschichtswissenschaft als paradig-matisch für die Kulturwissenschaften angesehen. Das führt dazu, dass er einen Gegensatz zwischen allgemeinen Naturgesetzen und einmaligen histo-rischen Ereignissen konstruiert. Diesen Gegensatz bezeichnet er mit den Begriffen nomothetisch und idiographisch. Während die Naturwissenschaft in der Vielfalt das Allgemeine sucht, weil sie die chaotischen Phänomene mittels allgemeiner Naturgesetze erklären will, versuchen die Kulturwissenschaften das Individuelle und Einmalige in einem Kulturphänomen – geschichtliches Ereignis, Kunstwerk, Recht – zu verstehen.

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Gustav Radbruch – dessen Werk unverändert aktuell ist, und glücklicher-weise als Studienausgabe erhältlich ist – hat sich in seiner ›RECHTSPHILOSO-

PHIE‹ (1932) der Auffassung von Rickert angeschlossen: Die Rechtswissen-schaft sei eine verstehende, individualisierende (idiographische) und wert-beziehende Kulturwissenschaft.18 Daran ist sicher so viel richtig, dass die Rechtsdogmatik eine VERSTEHENS-

WISSENSCHAFT ist: Ihr Gegenstand sind Texte in Gestalt von Gesetzen, Ge-setzesmaterialien und Präjudizien, welche die Rechtsdogmatik mittels her-meneutischer Methoden zu verstehen und auf konkrete Fälle anzuwenden versucht.

3. Der WERTBEZUG der Rechtsdogmatik

Ich möchte die Frage, ob die Rechtsdogmatik tatsächlich individualisierend verfährt zurückstellen, und mich vordringlich dem Thema Wertbezug zu-wenden. Was ist damit gemeint? Ich komme zurück auf die Definition von Wissen vom Anfang meines Vor-trages: Wissenschaftlich kann danach nur sein eine Aussage, die (1.) wahr und zudem (2.) rational begründet bzw. gerechtfertigt ist. Es liegt nun in der logischen Konsequenz dieser Definition, dass eine falsche Aussage nicht wissenschaftlich sein kann. Nun ist allerdings die Geschichte der Wissenschaften – einschließlich der Naturwissenschaft – nicht nur eine Geschichte der Wahrheiten, sondern auch der Irrtümer. Der Begriff der Wissenschaft ist nicht mit dem der Wahrheit identisch. Deshalb ist es richtig und treffend formuliert, wenn das BVerfG den Schutzbereich der Wissenschaftsfreiheit wie folgt bestimmt: Im verfassungsrechtlichen Sinn ist Wissenschaft jede Tätigkeit, die »nach In-halt und Form als ernsthafter und planmäßiger Versuch zur Ermittlung der Wahrheit anzusehen ist«.19 Was die Wissenschaft also zur Wissenschaft macht, ist nicht, dass ihre Aus-sagen schlechthin wahr sind oder sein müssen, sondern ihr Bezug auf den Wert der Wahrheit. Wissenschaft ist methodische Suche (Streben) nach der Wahrheit. Und der Gegensatz zur wissenschaftlichen Aussage ist dann nicht der Irrtum, sondern die unwahrhaftige Aussage – d. h. die bewusste Fäl-schung und die Immunisierung gegen kritische Überprüfung. Soweit die Rechtswissenschaft eine verstehende Kulturwissenschaft ist, weist sie wie andere Kulturwissenschaften auch den Bezug zum Wert der Wahrheit auf. Soweit die Rechtsdogmatik jedoch eine normative Kulturwis-senschaft ist, reicht der Bezug auf den Wert der Wahrheit nicht aus. Denn als Rechtsdogmatik hat es die Rechtswissenschaft mit der Entscheidung von Fällen zu tun: als forensische Disziplin mit der Entscheidung von Einzelfäl-len und als akademische Disziplin mit der Entwicklung von Lösungsmodel-len für Falltypen.

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Vgl. G. Radbruch, Rechtsphilosophie (Studienausgabe), 2. Aufl. 2003, S. 115 f. 19

BVerfGE 35, 79 [113]; 90, 1 [12]; kursive Hv. des Verf.

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(Ich weise darauf hin, dass dies eine vereinfachende Sichtweise ist, weil Revisi-onsgerichte und das BVerfG ihre Entscheidungen zwar aus Anlass von Einzelfäl-len, aber mit Blick auf Rechtsfragen von grundlegender und allgemeiner Bedeu-tung, also auch Falltypen, fällen.)

Letztlich zielt die Rechtsdogmatik auf eine Entscheidung im konkreten Ein-zelfall, und das bedeutet: sie läuft auf den Ausspruch von Rechtsfolgen hin-aus, die zuletzt zwangsweise vollstreckt werden können. Die Rechtswissen-schaft als Rechtsdogmatik sucht jedoch nicht nach irgendeiner Entschei-dung, sondern nach der richtigen, angemessenen Entscheidung. Als Teil der praktischen Ethik weist die Rechtswissenschaft den Bezug zum Wert der Gerechtigkeit auf. Das mag etwas pathetisch klingen. Denn wir wissen, dass Recht, Rechtswissenschaft und Rechtsprechung nicht identisch sind mit Gerechtigkeit. Aber so, wie es vorhin auf die methodische Suche nach der Wahrheit ankam, so kommt es hier auf die methodische Suche nach der ge-rechten Entscheidung an. (Selbst in einem kontradiktorischen Verfahren, in dem die Parteivertreter parteilich sein dürfen und sogar sein sollen, ist das Verfahren als Ganzes auf die Rechtsidee ausgerichtet.) Eine Rechtsdogma-tik, die diesen Wertbezug auf die Idee der Gerechtigkeit aufgibt, verkommt zu einer zynischen Herrschaftstechnik.

Nochmals: Das mag pathetisch klingen. Aber die Menschen brauchen kein juristi-sches Staatsexamen, um den Unterschied zwischen dem NS-Volksgerichtshof und einem Gericht zu erkennen, das sich um Objektivität und Unparteilichkeit wenig-stens bemüht (!).

V. Ausblick und Schluss

Die Dreh- und Angelpunkte, an denen die Wissenschaftlichkeit der Rechts-dogmatik als einer normativen Kulturwissenschaft hängt, sind somit (1) ihr Wertbezug und (2) ihre Methode. Den Wertbezug habe ich soeben behan-deln. Es bleibt die Frage nach der Methode. Obwohl dies leider viel zu wenig Eingang in die juristische Ausbildung ge-funden hat und findet, so sind die Fortschritte im Bereich der juristischen Methodenreflexion beachtlich. Genauer gesagt, gibt es nicht die eine juristi-sche Methode, sondern es gibt eine Pluralität von Methoden. Diesen Refle-xionsschub gibt es in Deutschland seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts, also seit circa 200 Jahren. Ich will mich hier auf einige Stichworte be-schränken:

- Die Erkenntnisse von Begriffsjurisprudenz (v. Savigny), Interessenjuris-prudenz (Ihering) und der historischen Rechtsschule sind heute noch aktuell. - Mit Schleiermacher beginnt die Epoche der HERMENEUTIK, die über Dil-they und schließlich Gadamer20 zu maßgeblichen Werken im Bereich der juristischen Hermeneutik geführt hat. Ich will hier nur kurz drei Namen

20

Gadamer, Wahrheit und Methode - Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik,

6. Aufl. 1990.

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nennen: Esser für das Zivilrecht21, A. Kaufmann und seine ›Schule‹ für das Strafrecht22 und F. Müller für das Verfassungsrecht.23 - Die normlogischen Reflexionen der Kelsenschen Schule der reinen Rechtslehre haben im Öffentlichen Recht, insbesondere im allgemeinen Verwaltungsrecht, wichtige rechtstaatliche Fortschritte angestoßen.24 - Wichtige und unverzichtbare Erkenntnisse hat die juristische Argumenta-tionstheorie erbracht. Ich nenne nur R. Dworkin, ›Bürgerrechte ernstge-nommen‹25 und R. Alexy ›Theorie der juristischen Argumentation‹ (1978) und die ›Theorie der Grundrechte‹ (1985). Juristische Methodenreflexion ist Aufklärung im besten Sinn. Sie klärt uns darüber auf, was wir eigentlich machen, wenn wir auslegen, anwenden und entscheiden. Juristische Methodenreflexion ist kein akademischer Selbst-zweck. Denn das gelebte Recht steckt nicht in den Gesetzen, sondern es entsteht erst im Prozess der Anwendung durch die Rechtsdogmatik. Die Rechtsdogmatik ist eine Kulturwissenschaft, die ihren Gegenstand – das Recht – nicht nur erforscht, sondern (zu einem nicht unwesentlichen Teil) erst hervorbringt. Methodische Selbstreflexion der Rechtswissenschaft kann so zu einer Veränderung – und hoffentlich: Verbesserung – des Rechts füh-ren. Das ist ein spannendes Thema. Aber sie erkennen auch, dass dies ein neues Thema wäre, das ich heute nicht mehr behandeln kann – aber unseren Ab-solventinnen und Absolventen wenigstens mit auf den Weg geben will.

* * *

21

J. Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, Ffm 1972; ders.,

Grundsatz und Norm, 4. Aufl., Tübingen 1990. 22

A. Kaufmann, Rechtsphilosophie, München 1997; ders., Das Verfahren der Rechtsge-

winnung – Eine rationale Analyse, München 1990; Kaufmann / Hassemer / Neumann

(Hrg.), Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 7. Aufl.

2004. 23

F. Müller, Strukturierende Rechtslehre, Berlin 1984. 24

Zu den Themen (1.) Gesetzesvorbehalt in der Leistungsverwaltung und (2.) zur Begrün-

dung der Bestandskraft rechtswidriger Verwaltungsakte schon im Jahr 1913: Kelsen, Zur

Lehre vom öffentlichen Rechtsgeschäft (Teil II), AöR 31 (1913), S. 190 ff., 205 ff. 25

Frankfurt/M. 1984.