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Abend im Vergnügungsviertel Shimbashi in Tokio Aufnahme Jack Metzger Japanischer Bilderbogen Unterwegs durchs Land ihn'. Erst auf der Fahrt durch die offene Land- schaft stellt sich die Ruhe wieder ein, die im Ge- wimmel und Lärm von Tokio verloren gegangen war. Die KLM, die uns nach dem Flug über die Arktis auch zu diesem herbstlichen Aufenthalt ein- geladen hat, logierte uns im luxuriösen Riesenbau des «Imperial Hotel» ein; in den Exkursionen durch die Einzelstädte Tokios wurde aber das Gesicht dieser Metropolis und des ganzen Inselreiches nicht deutlich. Nun sind hier die Bauern beim einfachen Geschäft der Reisernte auf den Feldern. An langen Stangen trocknen die gelben Reisbüschel. Nahe der Straße rinnen aus kleinen Dreschmaschinen die. Korner. Gleichmäßig sind auf braunen Matten zier-" liehe Reisberge aufgeschüttet. In. . .Dörfchen mit leichtgebauten Häusern hängt Wäsche von hohen Gerüsten, die hier die Wäscheleine ersetzen. Manch- mal weist der Reiseführer auf eine Pagode hin, welche die Bäume übersteigt. Dann windet sich die Straße durch hellgrüne Bambuswälder, bestehend aus edlen Stangen und dem bewegten Flitter des Blattwerks. Am Fluß Hozu über Kioto besteigt die euro- päische Reisegesellschaft Boote, die gemächlich den Stromschnellen zugleiten. Die elastischen Weidlinge rollen von Stufe zu Stufe durch die weiße Gischt. Zwei Männer mit Ruder und vorn ein dritter mit langem Bambusstock lenken das Boot. Japanische Zypressen, Bambuswälder, vereinzelte hohe Kiefern und japanischer Ahorn ziehen sich abwechslungs- reich wie in einer Parklandschaft die steilen Hänge hinauf. Die roten Blätterbüschel des Ahorns, das reine Gelb des Ginkgobaumes, auch die phanta- stische Gliederung eines Felskopfes finden bewun- dernde Aufmerksamkeit. Farbige Blätter haben hierzulande den Wert von Blüten. Der Herbst ist eine zweite Zeit der Blüte, ja selbst der Winte r hat mit seinem Weiß eine eigene «Blüte». Zwar fehlt der Eremit am Ufer, der auf den Wanderer wartet; dafür hängt ein einsamer Fischer die Angel ins klare Wasser. Zwei Manner schleppen einen Kahn flußaufwärts; der dritte steuert das Boot zwischen den Felsbrocken hindurch. Nach anderthalb Stunden verbreitert sich der Fluß. Gemütliche Restaurants mit Lampions nisten an den Ufern, und kleine Boote mit Jungen und Mädchen kreuzen auf der bewegten, weiten Wasserfläche. Die frühe Morgensonne liegt über dem rot ge- strichenen Kasuga-Schrein im Wald über Nara, der alten Hauptstadt Japans vor Kioto und Tokio. Die Schulklassen, die jedes Denkmal und jeden Wall- fahrtsort überschwemmen, sind noch nicht in den stillen shintoistischen Tempelbezirk eingedrungen. Die Linien im Kies sind unzerstört, die spiegelnden Tanzflächen ohne Kratzer. Klares Wasser eilt durch den Graben. Die Wege zum Tempel sind mit Stein- laternen gesäumt, die sich wie Riesenpilze anein- anderreihen oder um mächtige Bäume scharen. Hirsche stehen auf den Stufen oder äsen in den Lichtungen. Als einst heilige Tiere leben sie heute zu Hunderten friedlich in dem weiten Park. Ein Wächter bläst eine Melodie auf seinem Waldhorn, und ein großes Rudel strömt vom Waldhang über die Wiesen herunter zu Hüter und Touristen. In dieser Region alter Heiligtümer zeigt sich die reich gegliederte Landschafe Japans in ungestörtem Glanz und gibt die Illusion eines Reiches, dem Industria- lisierung und westliche Zivilisation noch fremd sind. - ' : : '»" t Zauber im Bus In jedem japanischen Bus, der durch das Land rollt, steht neben dem Chauffeur ein Mädchen, das die Fahrkarten knipst, beim Ein- und Aussteigen neben der Türe steht und beim Parkieren mit ihrer Pfeife dem Chauffeur Anweisungen gibt. Obwohl unsere Reisegesellschaft keine .Fahrkarten benötigt, ..hat eine kleine Japanerin - in Uniform und» kecker* Mütze vom im -Uns Platz genommen,' und -wenn ^er: Reiseführer seine Erklärungen beendigt bat, nimmt " sie"" 3as* "Mikrophon in' ihr Händchen und singt uns Lieder ihrer Heimat. Ohne ein höchst gewinnendes' Gekicher und die höfliche Entschuldigung, daß sie schlecht singe, geht es die ersten Male kaum ab; zum Schluß bedankt sie 6icli oder entschuldigt sich, trotz dem vergnügten Beifall in allen Reihen, gar ein zweites Mal. Der- Mischung von Charme und Schüchternheit und dem einschmeichelnden kind- lichen Ton der hohen Stimme kann sich niemand entziehen. Der Blick wandert von 'der vorbeiziehen- den Landschaft stets wieder zur.- «Hostess», die selbst die «Lorelei» und das «Heideröslein» sie sollen in den .japanischen Schulen zum obligatorischen Lehrstoff gehören in ihrer Muttersprache singt. De r Zauber dieses Lächelns begleitet den Euro- päer durch das Land. In den Warenhäusern steht unten an den Rolltreppen rechts und links je ein Mädchen; die beiden verneigen sich, und ihr Lächeln begleitet den verwunderten Besucher auf der Fahrt ins obere Stockwerk. Von den Geishas, die sich im Restaurant bei gleichbleibender «lan- guage barrier» und schwindender Schüchternheit um den Gast bemühen, geht derselbe Zauber aus; selbst das Muskelzerren vom Knien und Hocken kann ihm nichts anhaben. In dieser Kultur, die vom Manne bestimmt und beherrscht wird, haben sich zauber- hafte Reservate erhalten; ja man ertappt sich bei der Ueberlegung, daß Manner und Frauen in Japan eigentlich verschiedenen Rassen angehören müssen. Obwohl das Programm dieser Reisetage großzügig und mit erstaunlicher Einfühlungsgabe ausgedacht ist, kann es die Lösung dieser Rätsel nicht garan- tieren. Die Zeit ist zu knapp, um weit über Impres- sionen hinaus zu wirklichen Einsichten zu gelangen. Stein und VA/asser Hinter einer Seidenweberei in Kioto eröffnet sich uns die Schönheit des japanischen Gartens. Im kla- ren, vom Morgenlicht durchwärmten Teich tummeln sich Karpfen und Goldfische, einzelne mit kühnen wie improvisiert hingesetztes Teehäuschen. 'Zwischen" schattigen Bäumen und kunstvoll gefügten Fels- gruppen und dem ruhigen Akzent einer' Steinlatcrnc wird der Spaziergänger wieder zu Teich und Insel zurückgeführt, wo die Fische voll unruhigen Eifers den Besuchern aus den Händen fressen. Die Unruhe und die Zahl der Menschen sind zu groß für dieso Komposition aus Stein, Erde, Wasser und Pflanze; - ' aber der Phantasiebegabte kann sich wenigstens in die Einsamkeit des stillen Betrachters hineindenken, für den diese köstliche Staffage ersonnen wurde. Ob der japanische Garten nicht als künstliche Traumlandschaft verstanden werden darf? Als Evo- kation eines natürlichen und doch genau geplanten Refugiums, als Paradies rii miniature? Dieses Traum- element mag wirksam sein; doch stehen die Gärten zugleich in einer umfassenden, sehr alten Ucber- lieferung. In den Städten finden sich vorbildliche Gartenanlagen verschiedener Epochen; «geheime» Gartenbücher belehren darüber, weiche Steinr, Bäume und Sträucher Verwendung finden und wie sie bearbeitet und geschnitten werden sollen. Aus den Elementen wird ein dauerhaftes Bild zusammen- gesetzt und konsequent geformt. Welche Varianten gibt es nicht in Stein ! Neben den vertikal aufstrebenden die horizontal aufruhenden, die kraftvoll gewölbten als Gegensatz der konkav ge- öffneten Blöcke. Die natürliche Form wird in der Be- arbeitung durch den Steinmetzen künstlich, die Kunst- form dagegen wieder der Natur angeglichen. In den- Steinbrüchen um Kioto soll sich in Form und Farbe besonders schönes Material finden. Bei Kioto liegt auch ein Gartenstein, der, berühmt um seiner Ge- stalt willen, im Laufe der Jahrhunderte viermal den Garten gewechselt hat. In den vierten Garten ließ der Besitzer den Stein in Seide gewickelt und unter Musikbegleitung einziehen. Die Schüttsteine im fließenden und stehenden Wasser, die Steinplatten, die Kunst der Stein- laternen und Steintürnichen die zur Schau ge- stellten Exemplare um die Werkstätten der Stein- metzen geben darüber Aufschluß. erweitern die Kunst des steinernen Elements ins Unabsehbare. Und die Garnitur rundgeschliffener schwarzer Stein- chen, die zusammen mit Baumstrünken und Chrys- anthemen die weiße Tafel des offiziellen Banketts im Pfauensaal des «Imperial» zierten, demonstrierte die Rolle des Stein s in der selbst unter Zürcher Hausfrauen populären Kunst des Blumenstelleiis. «Stein und Wasser», das wäre eine Formel für das Inselreich Japan, die im privaten Bereich der Gärten mit erlesenem Geschmack und Erfindungs- gabe abgewandelt wird. Ein kleiner Wasserfall, rin schweres rundes Wasserbecken, ein kunstvoll gefaß- ter Quell mit fragilem Ziegeldächlein darüber sind Zeugnisse für einen Kult des Wassers, wie er auch in andern Erdteilen lebendig war. Daneben gibt es jedoch Gärten mit Bachbett, durch das gar kein roten Flecken auf bleichen Schuppen, als hätte Tou- louse-Lautrec sie gemalt. Unregelmäßig gelegte Steine führen über ein Bächlein in ein verspielte« Bambusgeliölz. Jenseits davon liegt ein schlichtes, Wasser fließt: die natürlich gefügten Steine bedeu- ten einen Bach und haben die Illusion flüssigen . Elements zu wecken. Das berühmteste Beispiel für diese Reduktion ist der Garten des Ryoanji-Tempels in Kioto, eine Schöpfung im Geiste des Zen-Buddhis- mus. In einem rechteckigen, von Mauern ein- gefaßten Bezirk ragen auf weißer, sorgfältig gehark- ter Sandfläche fünfzehn in Gruppen zusammen- gefaßte Felsblöcke. Kein Baum und Strauch stört die Knappheit der Zeichnung. Diese abstrakte Welt von Sand und Stein dien t einzig der Meditation. Ueber dem ästhetischen Genuß der Gartenkunst steht die geistliche Uebung vor dieser Symbolik im - strengen Geviert des Klosters. Ost und West Nach einem landesüblichen Sukijaki-Essen mit Rindfleisch und Gemüse, aufgelockert durch den Gesang und Tanz von Geishas, begibt sich die euro- päische Gesellschaft, alle in schwarze Kimonos ge- - hüllt, die manchem nur bis unters Knie reichen, wieder ins untere Stockwerk. Wir defilieren an den Zimmern des Besitzers des Restaurants vorbei: er sitzt in westlicher Kleidung im westlichen Fauteuil vor dem Fernsehschirm. Der Kontrast ist so über- raschend und drastisch, daß man sich an den Kopf greift, um diesen kuriosen Circulus vitiosus zu ver- stehen. Wer ahmt hier wen nach? Wohin- .gelangt man bei diesem Gang im Kreise? Der Wunsch der Touristen nach Folklore und der Hang der Ein- heimischen nach westlicher Zivilisation sind in Ja- pan in ihrem Gegensatz akzentuierter als in andern Ländern; alles Fremde wird hier mit Eifer, ja mit Gier aufgenommen und imitiert, allerdings nicht, immer absorbiert. Tokio, das sich aus endlosen Vorstädten zusam- mensetzt, in denen die großen Geschäftsstraßen und die stille Insel des Kaiserlichen Palastes mit ihrem breiten Wassergraben verschwinden, wirkt als Mischung aus Mandschurei und amerikanischem «Middle West»; die Tradition eines Kriegervolkes und der Glaube an technischen Fortschritt und Kom- fort haben sich verschmolzen. In der ganzen Stadt scheint ein Zustand permanenter Improvisation zu herrschen. Tag und Nacht wird, an neuen Häusern gebaut, ohne Unterlaß an den Straßen geflickt. Der Fußgänger muß zugleich auf den Boden unter sich und die Baugerüste über sich achten. Dazu leiden im Fanatismus des Straßenverkehrs die Höflichkeit und die guten Manieren des Japaners. Die Lichtreklamen übertreffen «Times Square» . in New York an Intensität und Phantastik; dazu kommt die' dekorative Wirkung der' japanischen Schriftzeichen. In Schaufenstern und Warenhäusern läßt sich der Hang des Japaners zum «gadget», zu allen technischen Tricks und allem zivilisatorischen Komfort studieren. 'Kennzeichnend dafür sind die köstlichen, mit allem technischen Raffinement aus- gedachten Spielsachen. Letztes Beispiel für die fatiii- ti8che Aneignung des Fremden ist die Mode des «Hula-hoop». Die Regierung hat eine Untersuchung über die Folgen dieses Reifenspiels angeordnet. Auf der Straße ist das Spiel verboten' worden. Ein Junge . soll mit einem Riß in der Magenwand in ein Spital eingeliefert worden sein nach stundenlangem «Hula-hula» war er zusammengebrochen. Doch nicht nur die Technik und die wechseln- den Moden, auch die Kultur aus dem Westen wird mit Eifer und mit großem Ernst aufgenommen. In einer großen Ausstellung von Werken Van Goghs drängen sich Jungen und Mödchen in ihren dunklen Schuluniformen vor den Bildern und malen sich mit Bleistiften ihre Schriftzeichen ins Notizheftcheii. Es herrscht eine emsige, konzentrierte Aufmerksam- keit, welcher der Ausländer aus dem Westen noch nie in Ausstellungen begegnet ist. Wie sehr breite Schichten nach einem Super- anicrikanerlum streben, verrät eine Revue im «Kokusui Gekijo», das im alten Vergnügungsviertel Asakusa liegt. Eben hatten wir noch ein Fragment eines Kabuki-Schauspiels gesehen, weiches ebenso prächtig im Kostüm wie großartig in seiner srhati- >;piflrri>;rh-t;iM/i indien Vollkommenheit war. Nun jagt während anderthalb Stunden eine Aiisstattiings- revue pausenlos vor uns- vorüber, in der nichts au Lichteffekten und Bülinenverwandlungen gespart wird. Auch die traditionell japanischen Nummern sind aufs Show-mäßige hin gekürzt und aufgeputzt. Zu den Höhepunkten gehören die Nummern der «Atomic Girls»,' die es an tänzerischer Präzision mit ihren Vorbildern, den «Rockettes» der «Radio City» in New York, aufnehmen. In der Nummer «Auto- mation» stellen mehr als hundert Tänzerinnen die Herstellung eines Getränks am Fließband dar. Die . Mischung, aus. Raffinement und Naivität, die den Europäer 'in Amerika überrascht, ist hier noch ein Stück weiter getrieben/ Hat das unverbundene Nebeneinander von Tra- dition und Moderne, von Kimono und westlicher Kleidung vielleicht seinen Grund darin, daß diesem Inselreich, dem alten Reich der Mitte drüben auf dem Kontinent benachbart, die Mitte fehlt? Die latente Unbändigkeit, ja Explosivkraft des Neunzig- Millionen-Volke8, das sich auf der kleinen Insel- kette zusammendrängt, ist überall spürbar; Straßen, Warenhäuser, Theater sind von Menschen über- füllt. Eine Zentrifugalkraft scheint wirksam, die die Bewohner für alles Fremde so aufgeschlossen, jedem Einfluß so willig macht. Blick auf den Fuj i Der leibhaftige Fuji überrascht uns, obwohl wir durch so viele Phötographien und Holzschnitte auf den Anblick vorbereitet sind. Der isolierte Kegel überragt das umliegende Land: ein sanftes Blau mit weißem Schneesaum steht über dem rötlichen Dunst der Ebene. Die Form ist von letzter Einfach- heit; doch wenn man länger hinblickt, gewinnt die Kontur plötzlich eine zarte Bewegung voll sachter Unregelmäßigkeiten, als hätte ein Töpfer seinem Werk all die Geheimnisse überlieferter Kunst mit- gegeben. Auf dem Rückflug von Osaka stellt sich der Berg aber erst als der geheime Herrscher über Land und Wolkenmeer dar, der wachsum über Honschu und den andern Inseln Japans thront. Das Flugzeug nähert sich dem gigantischen Aufwurf und umkreist ihn im Sonnenuntergang. Schneefelder und Runsen, alle Einzelzüge des Antlitzes ziehen vor- bei. Breit liegt der Schatten auf der Wolkendecke, die alles übrige Land verhüllt. Am Tag der Abreise zeigt sich der Fuji wieder in anderer Gestalt. In der einbrechenden Dämme- rung windet sich das Flugzeug der KLM aus dem Dunstkreis und dem unabsehbaren Lichtermeer von Tokio heraus. Wie wir den Rand der Dunstschicht erreicht haben, wird im Westen, einem verkohlten Strunk gleich, der Fuji vor dem Gelbbraun des Abendhimmels sichtbar. Die Passagiere nehmen den Anblick, als gutes Omen; denn wer bei seiner Ab- reise nochmals den Fuji sieht so will es eine alte Regel wird auch Japan wiedersehen. Dies gibt nicht nur Hoffnung für ein Wiedersehen mit dem faszinierenden Arcliipelagus, sondern auch für einen guten Heimflug, der uns durch das Dunkel der Arktis über die Polarroute nach Europa zurück- bringen soll. Neue Zürcher Zeitung vom 29.11.1958

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Page 1: Japanischer Bilderbogen - Neue Zürcher Zeitung · Abend im Vergnügungsviertel Shimbashi in Tokio Aufnahme Jack Metzger Japanischer Bilderbogen Unterwegs durchs Land ihn'. Erst auf

Abend im Vergnügungsviertel Shimbashi in Tokio Aufnahme Jack Metzger

Japanischer BilderbogenUnterwegs durchs Land

ihn'. Erst auf der Fahrt durch die offene Land-schaft stellt sich die Ruhe wieder ein, die im Ge-wimmel und Lärm von Tokio verloren gegangenwar. Die KLM, die uns nach dem Flug über dieArktis auch zu diesem herbstlichen Aufenthalt ein-geladen hat, logierte uns im luxuriösen Riesenbaudes «Imperial Hotel» ein; in den Exkursionen durchdie Einzelstädte Tokios wurde aber das Gesichtdieser Metropolis und des ganzen Inselreiches nichtdeutlich. Nun sind hier die Bauern beim einfachenGeschäft der Reisernte auf den Feldern. An langenStangen trocknen die gelben Reisbüschel. Nahe derStraße rinnen aus kleinen Dreschmaschinen die.Korner. Gleichmäßig sind auf braunen Matten zier-"liehe Reisberge aufgeschüttet. In. . .Dörfchen mitleichtgebauten Häusern hängt Wäsche von hohenGerüsten, die hier die Wäscheleine ersetzen. Manch-mal weist der Reiseführer auf eine Pagode hin,welche die Bäume übersteigt. Dann windet sich dieStraße durch hellgrüne Bambuswälder, bestehendaus edlen Stangen und dem bewegten Flitter desBlattwerks.

Am Fluß Hozu über Kioto besteigt die euro-päische Reisegesellschaft Boote, die gemächlich denStromschnellen zugleiten. Die elastischen Weidlinge

rollen von Stufe zu Stufe durch die weiße Gischt.Zwei Männer mit Ruder und vorn ein dritter mitlangem Bambusstock lenken das Boot. JapanischeZypressen, Bambuswälder, vereinzelte hohe Kiefernund japanischer Ahorn ziehen sich abwechslungs-

reich wie in einer Parklandschaft die steilen Hänge

hinauf. Die roten Blätterbüschel des Ahorns, dasreine Gelb des Ginkgobaumes, auch die phanta-

stische Gliederung eines Felskopfes finden bewun-dernde Aufmerksamkeit. Farbige Blätter habenhierzulande den Wert von Blüten. Der Herbst isteine zweite Zeit der Blüte, ja selbst der Winter hatmit seinem Weiß eine eigene «Blüte». Zwar fehltder Eremit am Ufer, der auf den Wanderer wartet;dafür hängt ein einsamer Fischer die Angel insklare Wasser. Zwei Manner schleppen einen Kahnflußaufwärts; der dritte steuert das Boot zwischenden Felsbrocken hindurch. Nach anderthalb Stundenverbreitert sich der Fluß. Gemütliche Restaurantsmit Lampions nisten an den Ufern, und kleineBoote mit Jungen und Mädchen kreuzen auf derbewegten, weiten Wasserfläche.

Die frühe Morgensonne liegt über dem rot ge-

strichenen Kasuga-Schrein im Wald über Nara, deralten Hauptstadt Japans vor Kioto und Tokio. DieSchulklassen, die jedes Denkmal und jeden Wall-fahrtsort überschwemmen, sind noch nicht in denstillen shintoistischen Tempelbezirk eingedrungen.

Die Linien im Kies sind unzerstört, die spiegelnden

Tanzflächen ohne Kratzer. Klares Wasser eilt durchden Graben. Die Wege zum Tempel sind mit Stein-laternen gesäumt, die sich wie Riesenpilze anein-anderreihen oder um mächtige Bäume scharen.Hirsche stehen auf den Stufen oder äsen in denLichtungen. Als einst heilige Tiere leben sie heutezu Hunderten friedlich in dem weiten Park. EinWächter bläst eine Melodie auf seinem Waldhorn,und ein großes Rudel strömt vom Waldhang über

die Wiesen herunter zu Hüter und Touristen. Indieser Region alter Heiligtümer zeigt sich die reichgegliederte Landschafe Japans in ungestörtem Glanzund gibt die Illusion eines Reiches, dem Industria-lisierung und westliche Zivilisation noch fremdsind. -

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Zauber im Bus

In jedem japanischen Bus, der durch das Landrollt, steht neben dem Chauffeur ein Mädchen, dasdie Fahrkarten knipst, beim Ein- und Aussteigen

neben der Türe steht und beim Parkieren mit ihrerPfeife dem Chauffeur Anweisungen gibt. Obwohlunsere Reisegesellschaft keine .Fahrkarten benötigt,

..hat eine kleine Japanerin - in Uniform und» kecker*Mütze vom im -Uns Platz genommen,' und -wenn ^er:Reiseführer seine Erklärungen beendigt bat, nimmt

" sie"" 3as* "Mikrophon in' ihr Händchen und singt unsLieder ihrer Heimat. Ohne ein höchst gewinnendes'

Gekicher und die höfliche Entschuldigung, daß sieschlecht singe, geht es die ersten Male kaum ab;zum Schluß bedankt sie 6icli oder entschuldigt sich,trotz dem vergnügten Beifall in allen Reihen, garein zweites Mal. Der- Mischung von Charme undSchüchternheit und dem einschmeichelnden kind-lichen Ton der hohen Stimme kann sich niemandentziehen. Der Blick wandert von 'der vorbeiziehen-den Landschaft stets wieder zur.- «Hostess», die selbstdie «Lorelei» und das «Heideröslein» sie sollenin den .japanischen Schulen zum obligatorischen

Lehrstoff gehören in ihrer Muttersprache singt.

D er Zauber dieses Lächelns begleitet den Euro-päer durch das Land. In den Warenhäusern stehtunten an den Rolltreppen rechts und links je einMädchen; die beiden verneigen sich, und ihrLächeln begleitet den verwunderten Besucher aufder Fahrt ins obere Stockwerk. Von den Geishas,

die sich im Restaurant bei gleichbleibender «lan-guage barrier» und schwindender Schüchternheit umden Gast bemühen, geht derselbe Zauber aus; selbstdas Muskelzerren vom Knien und Hocken kann ihmnichts anhaben. In dieser Kultur, die vom Mannebestimmt und beherrscht wird, haben sich zauber-hafte Reservate erhalten; ja man ertappt sich beider Ueberlegung, daß Manner und Frauen in Japaneigentlich verschiedenen Rassen angehören müssen.Obwohl das Programm dieser Reisetage großzügig

und mit erstaunlicher Einfühlungsgabe ausgedachtist, kann es die Lösung dieser Rätsel nicht garan-

tieren. Die Zeit ist zu knapp, um weit über Impres-

sionen hinaus zu wirklichen Einsichten zu gelangen.

Stein und VA/asser

Hinter einer Seidenweberei in Kioto eröffnet sichuns die Schönheit des japanischen Gartens. Im kla-ren, vom Morgenlicht durchwärmten Teich tummelnsich Karpfen und Goldfische, einzelne mit kühnen

wie improvisiert hingesetztes Teehäuschen. 'Zwischen"schattigen Bäumen und kunstvoll gefügten Fels-gruppen und dem ruhigen Akzent einer' Steinlatcrncwird der Spaziergänger wieder zu Teich und Inselzurückgeführt, wo die Fische voll unruhigen Eifersden Besuchern aus den Händen fressen. Die Unruheund die Zahl der Menschen sind zu groß für diesoKomposition aus Stein, Erde, Wasser und Pflanze;

- ' aber der Phantasiebegabte kann sich wenigstens indie Einsamkeit des stillen Betrachters hineindenken,für den diese köstliche Staffage ersonnen wurde.

Ob der japanische Garten nicht als künstlicheTraumlandschaft verstanden werden darf? Als Evo-kation eines natürlichen und doch genau geplantenRefugiums, als Paradies rii miniature? Dieses Traum-element mag wirksam sein; doch stehen die Gärtenzugleich in einer umfassenden, sehr alten Ucber-lieferung. In den Städten finden sich vorbildlicheGartenanlagen verschiedener Epochen; «geheime»

Gartenbücher belehren darüber, weiche Steinr,Bäume und Sträucher Verwendung finden und wiesie bearbeitet und geschnitten werden sollen. Ausden Elementen wird ein dauerhaftes Bild zusammen-gesetzt und konsequent geformt.

Welche Varianten gibt es nicht in Stein ! Neben denvertikal aufstrebenden die horizontal aufruhenden,die kraftvoll gewölbten als Gegensatz der konkav ge-

öffneten Blöcke. Die natürliche Form wird in der Be-arbeitung durch den Steinmetzen künstlich, die Kunst-form dagegen wieder der Natur angeglichen. In den-Steinbrüchen um Kioto soll sich in Form und Farbebesonders schönes Material finden. Bei Kioto liegtauch ein Gartenstein, der, berühmt um seiner Ge-stalt willen, im Laufe der Jahrhunderte viermal denGarten gewechselt hat. In den vierten Garten ließder Besitzer den Stein in Seide gewickelt und unterMusikbegleitung einziehen.

Die Schüttsteine im fließenden und stehendenWasser, die Steinplatten, die Kunst der Stein-laternen und Steintürnichen die zur Schau ge-

stellten Exemplare um die Werkstätten der Stein-metzen geben darüber Aufschluß. erweitern dieKunst des steinernen Elements ins Unabsehbare.Und die Garnitur rundgeschliffener schwarzer Stein-chen, die zusammen mit Baumstrünken und Chrys-

anthemen die weiße Tafel des offiziellen Bankettsim Pfauensaal des «Imperial» zierten, demonstriertedie Rolle des Ste ins in der selbst unter ZürcherHausfrauen populären Kunst des Blumenstelleiis.

«Stein und Wasser», das wäre eine Formel fürdas Inselreich Japan, die im privaten Bereich derGärten mit erlesenem Geschmack und Erfindungs-gabe abgewandelt wird. Ein kleiner Wasserfall, rinschweres rundes Wasserbecken, ein kunstvoll gefaß-

ter Quell mit fragilem Ziegeldächlein darüber sindZeugnisse für einen Kult des Wassers, wie er auchin andern Erdteilen lebendig war. Daneben gibt esjedoch Gärten mit Bachbett, durch das gar kein

roten Flecken auf bleichen Schuppen, als hätte Tou-louse-Lautrec sie gemalt. Unregelmäßig gelegte

Steine führen über ein Bächlein in ein verspielte«Bambusgeliölz. Jenseits davon liegt ein schlichtes,

Wasser fließt: die natürlich gefügten Steine bedeu-ten einen Bach und haben die Illusion flüssigen

. Elements zu wecken. Das berühmteste Beispiel fürdiese Reduktion ist der Garten des Ryoanji-Tempelsin Kioto, eine Schöpfung im Geiste des Zen-Buddhis-mus. In einem rechteckigen, von Mauern ein-gefaßten Bezirk ragen auf weißer, sorgfältig gehark-

ter Sandfläche fünfzehn in Gruppen zusammen-gefaßte Felsblöcke. Kein Baum und Strauch störtdie Knappheit der Zeichnung. Diese abstrakte Weltvon Sand und Stein dient einzig der Meditation.Ueber dem ästhetischen Genuß der Gartenkunststeht die geistliche Uebung vor dieser Symbolik im

- strengen Geviert des Klosters.

Ost und West

Nach einem landesüblichen Sukijaki-Essen mitRindfleisch und Gemüse, aufgelockert durch denGesang und Tanz von Geishas, begibt sich die euro-päische Gesellschaft, alle in schwarze Kimonos ge- -

hüllt, die manchem nur bis unters Knie reichen,wieder ins untere Stockwerk. Wir defilieren an denZimmern des Besitzers des Restaurants vorbei: ersitzt in westlicher Kleidung im westlichen Fauteuilvor dem Fernsehschirm. Der Kontrast ist so über-raschend und drastisch, daß man sich an den Kopfgreift, um diesen kuriosen Circulus vitiosus zu ver-stehen. Wer ahmt hier wen nach? Wohin- .gelangt

man bei diesem Gang im Kreise? Der Wunsch derTouristen nach Folklore und der Hang der Ein-heimischen nach westlicher Zivilisation sind in Ja-pan in ihrem Gegensatz akzentuierter als in andernLändern; alles Fremde wird hier mit Eifer, ja mitGier aufgenommen und imitiert, allerdings nicht,immer absorbiert.

Tokio, das sich aus endlosen Vorstädten zusam-mensetzt, in denen die großen Geschäftsstraßen unddie stille Insel des Kaiserlichen Palastes mit ihrembreiten Wassergraben verschwinden, wirkt alsMischung aus Mandschurei und amerikanischem«Middle West»; die Tradition eines Kriegervolkesund der Glaube an technischen Fortschritt und Kom-fort haben sich verschmolzen. In der ganzen Stadtscheint ein Zustand permanenter Improvisation zuherrschen. Tag und Nacht wird, an neuen Häuserngebaut, ohne Unterlaß an den Straßen geflickt. DerFußgänger muß zugleich auf den Boden unter sichund die Baugerüste über sich achten. Dazu leidenim Fanatismus des Straßenverkehrs die Höflichkeitund die guten Manieren des Japaners.

Die Lichtreklamen übertreffen «Times Square».

in New York an Intensität und Phantastik; dazu

kommt die' dekorative Wirkung der' japanischen

Schriftzeichen. In Schaufenstern und Warenhäusernläßt sich der Hang des Japaners zum «gadget», zuallen technischen Tricks und allem zivilisatorischenKomfort studieren. 'Kennzeichnend dafür sind dieköstlichen, mit allem technischen Raffinement aus-gedachten Spielsachen. Letztes Beispiel für die fatiii-ti8che Aneignung des Fremden ist die Mode des«Hula-hoop». Die Regierung hat eine Untersuchung

über die Folgen dieses Reifenspiels angeordnet. Aufder Straße ist das Spiel verboten' worden. Ein Junge

.

soll mit einem Riß in der Magenwand in ein Spitaleingeliefert worden sein nach stundenlangem

«Hula-hula» war er zusammengebrochen.

Doch nicht nur die Technik und die wechseln-den Moden, auch die Kultur aus dem Westen wirdmit Eifer und mit großem Ernst aufgenommen. Ineiner großen Ausstellung von Werken Van Goghsdrängen sich Jungen und Mödchen in ihren dunklenSchuluniformen vor den Bildern und malen sichmit Bleistiften ihre Schriftzeichen ins Notizheftcheii.Es herrscht eine emsige, konzentrierte Aufmerksam-keit, welcher der Ausländer aus dem Westen nochnie in Ausstellungen begegnet ist.

Wie sehr breite Schichten nach einem Super-anicrikanerlum streben, verrät eine Revue im«Kokusui Gekijo», das im alten VergnügungsviertelAsakusa liegt. Eben hatten wir noch ein Fragmenteines Kabuki-Schauspiels gesehen, weiches ebensoprächtig im Kostüm wie großartig in seiner srhati->;piflrri>;rh-t;iM/i indien Vollkommenheit war. Nunjagt während anderthalb Stunden eine Aiisstattiings-revue pausenlos vor uns- vorüber, in der nichts auLichteffekten und Bülinenverwandlungen gespartwird. Auch die traditionell japanischen Nummernsind aufs Show-mäßige hin gekürzt und aufgeputzt.Zu den Höhepunkten gehören die Nummern der«Atomic Girls»,' die es an tänzerischer Präzision mitihren Vorbildern, den «Rockettes» der «Radio City»in New York, aufnehmen. In der Nummer «Auto-mation» stellen mehr als hundert Tänzerinnen dieHerstellung eines Getränks am Fließband dar. Die

. Mischung, aus. Raffinement und Naivität, die denEuropäer 'in Amerika überrascht, ist hier noch einStück weiter getrieben/

Hat das unverbundene Nebeneinander von Tra-dition und Moderne, von Kimono und westlicherKleidung vielleicht seinen Grund darin, daß diesemInselreich, dem alten Reich der Mitte drüben aufdem Kontinent benachbart, die Mitte fehlt? Dielatente Unbändigkeit, ja Explosivkraft des Neunzig-Millionen-Volke8, das sich auf der kleinen Insel-kette zusammendrängt, ist überall spürbar; Straßen,Warenhäuser, Theater sind von Menschen über-füllt. Eine Zentrifugalkraft scheint wirksam, die dieBewohner für alles Fremde so aufgeschlossen, jedemEinfluß so willig macht.

Blick auf den Fuji

Der leibhaftige Fuji überrascht uns, obwohl wirdurch so viele Phötographien und Holzschnitte aufden Anblick vorbereitet sind. Der isolierte Kegelüberragt das umliegende Land: ein sanftes Blaumit weißem Schneesaum steht über dem rötlichenDunst der Ebene. Die Form ist von letzter Einfach-heit; doch wenn man länger hinblickt, gewinnt dieKontur plötzlich eine zarte Bewegung voll sachterUnregelmäßigkeiten, als hätte ein Töpfer seinemWerk all die Geheimnisse überlieferter Kunst mit-gegeben. Auf dem Rückflug von Osaka stellt sichder Berg aber erst als der geheime Herrscher überLand und Wolkenmeer dar, der wachsum überHonschu und den andern Inseln Japans thront. Das

Flugzeug nähert sich dem gigantischen Aufwurf undumkreist ihn im Sonnenuntergang. Schneefelder undRunsen, alle Einzelzüge des Antlitzes ziehen vor-bei. Breit liegt der Schatten auf der Wolkendecke,die alles übrige Land verhüllt.

Am Tag der Abreise zeigt sich der Fuji wiederin anderer Gestalt. In der einbrechenden Dämme-rung windet sich das Flugzeug der KLM aus demDunstkreis und dem unabsehbaren Lichtermeer vonTokio heraus. Wie wir den Rand der Dunstschichterreicht haben, wird im Westen, einem verkohltenStrunk gleich, der Fuji vor dem Gelbbraun desAbendhimmels sichtbar. Die Passagiere nehmen denAnblick, als gutes Omen; denn wer bei seiner Ab-reise nochmals den Fuji sieht so will es einealte Regel wird auch Japan wiedersehen. Diesgibt nicht nur Hoffnung für ein Wiedersehen mitdem faszinierenden Arcliipelagus, sondern auch füreinen guten Heimflug, der uns durch das Dunkelder Arktis über die Polarroute nach Europa zurück-bringen soll.

Neue Zürcher Zeitung vom 29.11.1958