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Jubiläen 2004 Personen | Ereignisse

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Jubiläen 2004Personen | Ereignisse

Jubiläen 2004Personen | Ereignisse

Impressum

Herausgeber: Rektor der Universität LeipzigRedaktion: Volker Schulte, PressestelleSatz: Anja Landsmann, ÖffentlichkeitsarbeitISBN 3-934178-42-1Redaktionsschluss: 01.11.2004Preis: 2,00 €

Kontakt

PressestelleRitterstraße 26, 04109 LeipzigTelefon 0341 97-35020E-Mail [email protected]/presse

Geleitwort

Erinnern, einer Sache inne werden, zeitgemäßer gesagt, etwas im Ge-dächtnis bewahren und sich dessen wieder bewusst werden, erinnern also wird man sich nicht ohne ein gewisses Maß an innerer Energie. Sie zu entwickeln, braucht es Gegenstände, Material oder eben auch Anlässe. Sie sollen mit dieser kleinen Publikation dem Leser in die Hand gegeben werden.

Vorgelegt wird eine Ansammlung von 16 Kalenderblättern, auf Jubiläen des Jahres 2004 bezogen, geschrieben von Autoren dieser Universität über bedeutende Personen oder Ereignisse dieser Universität für Mitglieder und Freunde unserer Universität und darüber hinaus: für einen größeren Kreis von Menschen, die an Wissenschafts- und Universitätsgeschichte interessiert sind.

Dass sich diese Broschüre mit ihrem Leitmotiv des Erinnerns dem großen Jubi-läum von 2009, der Gründung der Universität Leipzig vor 600 Jahren, ver-dankt und verpflichtet weiß, liegt auf der Hand. Und nahe liegt der Wunsch, dass in den Jahren bis dahin immer wieder ein solches oder ähnliches universi-tätsgeschichtliches Mosaik vorgelegt werden kann.

Neben Bekanntem, vielleicht auch allzu Bekanntem wird der Leser in die-sem Bändchen aber sicherlich auch weniger Bekanntes finden oder gar Entdeckungen zu machen haben, die sein Bild von der Alma mater Lipsien-sis erweitern können.

In diesem Sinne wünsche ich den „Jubiläen 2004“ ein reges Interesse und eine gute Aufnahme.

Prof. Dr. iur. Franz HäuserProf. Dr. iur. Franz HäuserRektor der Universität Leipzig Rektor der Universität Leipzig

Geleitwort 3

Arnold Gehlen 7Zum 100. Geburtstag am 29. Januar 2004

Hans Schulze 13Zum 100. Geburtstag am 30. März 2004

Paul Oskar Morawitz 19Zum 125. Geburtstag am 3. April 2004

Christian Wolff 23Zum 250. Todestag am 9. April 2004

Otto Linné Erdmann 27Zum 200. Geburtstag am 11. April 2004

Paul Koschaker 31Zum 125. Geburtstag am 19. April 2004

Wilhelm His 35Zum 100. Todestag am 1. Mai 2004

Karl Gottlob Kühn 39Zum 250. Geburtstag am 12. Juli 2004

Paul Flechsig 43Zum 75. Todestag am 22. Juli 2004

Friedrich Ratzel 47Zum 100. Todestag am 9. August 2004

Inhalt

Fakultät für Journalistik 53Zum 50. Jahrestag der Gründung am 20. September 2004

Zur Reichsgerichtsfeier 59Zum 100. Jahrestag der zehn Ehrenpromotionen der Juristenfakultät am 1. Oktober 2004

Wilhelm Eduard Weber 63Zum 200. Geburtstag am 24. Oktober 2004

Martin Greiner 69Zum 100. Geburtstag am 23. November 2004

Das Anatomische Theater 75Zum 300. Jahrestag der Eröffnung

Institut für Experimentelle Psychologie 79Zum 125. Jahrestag der Gründung

Autorenverzeichnis 85

Bildnachweise 87

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Arnold GehlenZum 100. Geburtstag am 29. Januar 2004

Am 29. Januar 2004 wäre der in Leipzig geborene Philosoph und Sozi-ologe Arnold Gehlen (1904 – 1976), der an der Universität Leipzig stu-diert und promoviert hat, sich an ihr habilitierte und von 1934 bis 1937 hier einen Lehrstuhl für Philosophie innehatte, 100 Jahre alt geworden. Er gehört zu den bedeutenden Philosophen des 20. Jahrhunderts, die ihr Augenmerk auf „den Menschen“ lenkten, um Geschichte und Gesellschaft zu verstehen.

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Den Menschen bringt Gehlen in seinem Hauptwerk „Der Mensch“ (zuerst 1940) auf den Begriff des „Mängelwesens“. Aus Sicherheiten instinktgeleiteten Verhaltens entlassen, erläutert der Philosoph Hermann Lübbe in einem Gedenkbeitrag Gehlens Ansatz, existiert der Mensch relativ umweltungebunden. Aber die Folgelasten dieser naturalen Emanzipation erzwingen kompensatorisch die Herausbildung sozial gestützter, institutionell auf Dauer gestellter und zugleich höchst differenziert sich ausprägender Eigenwelten, Kulturen nämlich, die den Menschen selbst noch unter extremen Naturbedingungen existenzfähig halten. Die Kultur, von der Natur uns aufgezwungen, bleibt damit ihrerseits ein Naturphänomen.

Das Mängelwesen Mensch in seiner Instinktarmut kann seine Existenzrisiken mindern durch die Schaffung von Institutionen. An deren Leistungen bindet sich ein weiterer zentraler Begriff von Gehlen, der der „Entlastung“. Die Institutionen verlangen ihrerseits Rückbindung an die Regeln, die sie funktionstüchtig machen. Lassen wir uns durch die Institutionen in Anspruch nehmen, dann werfen sie über ihre Entlastungswirkungen hinaus noch einen Überschussgewinn aus, nämlich „Freiheit“. In dieser Freiheit wird die Kultur über ihre Reproduktivität hinaus innovativ, setzt also intellektuelle und künstlerische Potenzen frei. Den konservativen Grundzug in Gehlens Denken mag folgendes Zitat unterstreichen: „Ob nun die Geschichte langen oder kurzen Prozeß macht, die Kultur in einem menschenwürdigen Sinne erhält sich dadurch, dass junge Menschen in vernünftige Einrichtungen hineinwachsen, die von langen Erfolgen legitimiert sind; sonst werden unersetzbare Erbschaften verschlissen: die Disziplin, die Geduld, die Selbstverständlichkeit und die Hemmungen, die man nie logisch begründen, nur zerstören und dann nur gewaltsam wiederaufrichten kann.“

Arnold Gehlen hat, wie er selbst sagt, mehrere Wechsel seines philosophisch-theoretischen Standortes eingenommen. Seine Leipziger Habilitationsschrift „Wirklicher und unwirklicher Geist“ steht noch für einen phänomenologischen Existenzialismus. Nach einem Anschlussversuch an den Objektivismus des Hegelianischen Weltdenkens bemühte er sich um eine erfahrungswissenschaftliche Anreicherung seines Philosophierens durch biologische und psychologische Gegenstandsbereiche und Methoden, womit er eine Wendung zur philosophischen Anthropologie mit der Schlüsselkategorie des Menschen als Mängelwesen vollzog. Der nächste große Einschnitt, der Übergang zur Soziologie, war auch den einschneidenden gesellschaftspolitischen und persönlichen Veränderungen geschuldet.

Gehlen, der 1933 der NSDAP beigetreten war, verlor 1945 als „Reichsdeutscher“ seine Philosophie-Professur in Wien, auf die er 1940 berufen worden war, und

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musste sich einem Entnazifi zierungsverfahren stellen. Er wurde als „Mitläufer“ eingestuft und sollte ein Bußgeld zahlen, was er aber durch einen Einspruch zu verhindern mochte. Philosophen-Kollege Nicolai Hartmann unterstrich 1946 in einem Entlastungsschreiben: „Davon, dass Herr Professor Gehlen sich in seinen Schriften als ‚überzeugter Anhänger der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft erwiesen hätte’, kann gar keine Rede sein … Ohne Zweifel hat die Partei damals von ihm eine wenigstens zustimmende Stellungnahme zu ihrer bekannten Rassentheorie erwartet und war dann schwer enttäuscht, von einer solchen keine Spur zu fi nden.“

Zweifellos war Gehlen kein Nazi-Philosoph, wenngleich er im Dritten Reich Karriere gemacht hat, wie seine Berufungen auf den Kant-Lehrstuhl in Königs-berg und nach Wien zeigen. Allerdings gab es bei seiner Berufung auf den Leip-ziger Lehrstuhl von Driesch 1934 Vorbehalte, sah doch das „Amt Rosenberg“ damit seine Bemühungen durchkreuzt, eine Berufung jenseits der „Schulphiloso-phie“ zu erreichen. Gehlens Denken wurde ein Mangel an Gemeinschaftsbezug vorgeworfen, es bleibe individualistisch und unpolitisch. Andererseits fi ndet man Anlehnungen an die NS-Terminologie bei einigen Begriffsbildungen („Zuchtbil-der“, „Führungssysteme“, „Durchsetzung germanischer Charakterwerte“), die er nach dem Kriege mit den Risiken erklärt hat, die man mit der Publikation eines Buches („Der Mensch“) einging, das die Einheit der Gattung Mensch vertrat und dabei die Rassenidee völlig ignorierte. Im übrigen habe er diese Begriffe „umgedeutet verwandt“. „Zuchtbilder“ und „Führungssysteme“ bezeichnete er jene „höchsten und abschließenden Systeme“, wie der Herausgeber der Gehlen-Gesamtausgabe Karl-Siegbert Rehberg schreibt, in denen dem Menschen die „Probleme seiner Existenz“ kulturell geformt entgegentreten und zugleich durch kollektive – früher religiöse, jetzt (1940!) „weltanschauliche“ – Deutungsent-würfe bewältigbar werden. Außerdem verwies Gehlen darauf, dass in seiner ge-samten ziemlich umfangreichen Publikation nicht eine antisemitische Äußerung zu fi nden sei. Ein Detail mag diese Haltung bestätigen. So hat Gehlen in seiner Zeit am Philosophischen Institut in Leipzig die Anschaffung und den Zugang zur Werkausgabe „des Juden“ Freud durchgesetzt und wenigstens eine Dissertation zu dessen Psychoanalyse angeregt. Überdies empfahl er dem Doktoranden, sie nicht in Deutschland, sondern in Zürich einzureichen. Keine Frage, so handelte kein überzeugter Nationalsozialist.

1948 wurde Gehlen rechtskräftig amnestiert. Inzwischen lehrte er Soziologie an der Hochschule für Verwaltungswissenschaft in Speyer (1947 – 1961), später dann an der TU Aachen (1962 – 1969). Für Gehlen war Deutschland „aus der Geschichte gefallen“. Aber während 1945 viele Zeitgenossen – so Karl-Siegbert Rehberg im jetzt erschienenen 6. Band der Gesamtausgabe „Die Seele im tech-

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nischen Zeitalter und andere sozialpsychologische, soziologische und kultur-analytische Schriften“ – die Katastrophik beschworen, „ging Gehlen zur Tages-ordnung der Mikrobeobachtung einer Gesellschaft über, die den entscheidenden Mächten nur noch ausgeliefert sein würde“. Mit dem Zusammenbruch des terro-ristischen Systems schien für ihn auch die Philosophie an ein Ende gekommen zu sein, die Realität sei nur noch in Spezialwissenschaften zu refl ektieren. Die Soziologie wurde für ihn somit zur adäquaten Wissenschaft für die Beobachtung dieser nach-politischen Zustände. Den Zug der Zeit erkennend, brachte er sich in einer Karlsruher Bibliothek durch ein umfangreiches Quellenstudium der ein-schlägigen englischen und amerikanischen Literatur auf den neuesten Stand die-ser Wissenschaft. Er setzte nunmehr auf die Selbstevidenz des Empirischen, was sein Schüler, Freund und Kollege Helmut Schelsky so formulierte: Aufgabe der Soziologie sei es zu zeigen, „was sowieso geschieht und gar nicht zu ändern ist“. So arbeitete Gehlen in der Folgezeit an der empirischen Analyse des Wohlfahrts-staates, der Neuverteilung der Machtressourcen unter den Gesetzmäßigkeiten der Bürokratie, des Verbände- und Parteienstaates und der von ihm kritisierten Macht der Intellektuellen. Die kritische Sicht auf diese „privilegierten Kreise“ begründet er mit der Tatsache, dass diese „die Folgen ihrer Agitation nicht zu verantworten haben, weil sie diese mangels Realkontakt gar nicht ermessen oder sich alles erlauben können“. Dabei hat Gehlen, selbst Autor von literari-schem Rang, dessen Bücher hohe Aufl agen erreichten, dessen Essays vielfach im Rundfunk zu hören, im Feuilleton zu lesen waren, „Redakteure, Theologen, Philosophen und Soziologen, alle ideologisierenden Gruppen, erhebliche Teile der Lehrerschaft, Studenten und schließlich die generellen Nutznießer der gesell-schaftlichen Nachsicht: Künstler und Literaten“ vor Augen.

Der Übergang zur Soziologie, der für ihn auch ein Neuanfang war, sieht man von seinen Berührungen mit der „Leipziger Schule“ der Soziologie und Sozial-philosophie Hans Freyers in den 30er Jahren ab, folgte der Einsicht, dass unter den Bedingungen der pluralen Welt vom Wissenschaftler „Wertfreiheit“ und Re-lativismus verlangt wird. Mit der Soziologie glaubte er die neuen gesellschaftli-chen und politischen Verhältnisse am besten verstehbar machen zu können. Mit Schelsky zu sprechen: Soziologie sollte und wollte als nach-ideologisch gelten, weil die „skeptische Generation“ unter dem Leitwort „Wiederaufbau“ einen un-gebremsten „Realitätsdrall“ entfaltete.

Gehlen selbst sah sich als unabhängigen Geist, der sich gegen die wechselnden Zeitströmungen zu behaupten hatte, als Vertreter der in Deutschland so seltenen „empirischen Philosophie“, der sich unter Ausklammerung aller metaphysi-schen Denkinhalte und Denkformen (Sein oder Nichtsein), aber auf der Ebene

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der Tatsachen, des Praxisbezugs und der engen Verbindung zu verschiedenen Wissenschaften den großen Themen wie „Mensch“ oder „Geschichte“ zuwand-te. In einem Antwortversuch auf die Frage nach dem Ende der Persönlichkeit heute erklärt er Mitte der 50er Jahre als Hauptkriterium der Persönlichkeit den Realitätssinn. Statt des ewigen Hinschielens auf das Öffentliche und Soziale plädiert er für den Verzicht auch in Bezug auf das „große Weltbild“. Kein Wort von „Abendland“ oder „Existenz“, nichts von „Aufschwung“ oder dem „heute so beliebten kompetenzfreien Sichverantwortlichfühlen für alles“, stattdessen sprach er von der Unwahrscheinlichkeit des Gelingens, von Trockenheit und Dürre, vom Verzichten.

Wie aktuell das 50 Jahre später klingt, mag jeder für sich entscheiden.

Volker Schulte

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Hans SchulzeZum 100. Geburtstag am 30. März 2004

Am 30. März 2004 jährte sich der Geburtstag des Kunstpädagogen Prof. Dr. Hans Schulze zum hundertsten Mal. Mehrfach für sein künstlerisches Werk durch Ausstellungen und Auszeichnungen gefeiert, wird in den letzten Jahren nun auch seine wissenschaftliche Arbeit an der Universität Leipzig eingehender untersucht und gewürdigt.

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Bereits im Jahre 2002, anlässlich des 50-jährigen Bestehens des Institutes für Kunstpädagogik, wurde er als Künstler, Kunstpädagoge und Wissenschaftler an der Universität Leipzig geehrt. In diesem Zusammenhang widmete das Institut für Kunstpädagogik der Universität Leipzig gemeinsam mit der Kustodie im Kroch-Haus eine Ausstellung dem künstlerischen Schaffen von Hans Schulze.

Hans Schulze wurde als Sohn des Reichsoberamtsmannes Gustav und seiner Frau Frieda Schulze in Dittersbach im ehemals schlesischen Gebiet geboren. Seiner bildungsbürgerlichen Herkunft entsprechend, besuchte er in Liegnitz das Städtische Realgymnasium und legte dort 1923 seine Reifeprüfung ab. Schon hier offenbarten sich seine Interessen hinsichtlich der künstlerisch-musischen Fächer wie auch für Geschichte und Germanistik. Nach anfänglichen Überlegungen, ein Architekturstudium zu beginnen, entschied er sich jedoch für das neueingerichtete Studium des künstlerischen Lehramts für höhere Schulen an der Staatlichen Akademie für Kunst und Kunstgewerbe in Breslau. Zu seiner Zeit galt die Kunstakademie Breslau als eine der innovativsten Deutschlands, an der namhafte Künstler wie August Endell, Carlo Mense, Hans Schlemmer, Georg Muche und auch seine Lehrer Eduard Kaempffer, Oskar Moll, Otto Müller und Alexander Kanoldt unterrichteten. An dieser Akademie konnte Hans Schulze ein relativ frei gestaltetes Studium genießen. Dabei stand ihm offen, nicht nur zwischen den einzelnen Zeichen- und Malklassen zu wählen, sondern auch Fächer wie Psychologie, Kunstgeschichte, Methodik und darstellende Geometrie zu belegen. So hörte er u. a. Vorlesungen in Kunstgeschichte bei Prof. Griesebach und Philosophie bei den Professoren Hönigswald und Kühnemann.

Das Examen legte er erfolgreich im Jahre 1929 an der Staatlichen Kunstschule Berlin ab und absolvierte im Anschluss daran seine Referendarzeit am Breslauer Provinzialkollegium unter Leitung von Paul Holz und Georg Nerlich. Drei Jahre später legte er seine Assessorprüfung ab und unterrichtete anschließend in Striegau und Reichenbach. Nebenbei intensivierte er auch weiterhin seine künstlerischen Studien. Auch in der Zeit des Zweiten Weltkrieges blieb er als Soldat, soweit er Gelegenheit fand, künstlerisch tätig. Nach sehr kurzer Zeit in amerikanischer Kriegsgefangenschaft in den letzten Kriegstagen konnte Hans Schulze schnell in den Schuldienst zurückkehren. Bereits im Januar 1946 wurde er an einer Schule in Reichenbach eingesetzt, wo er insbesondere in der Neulehrerausbildung, aber auch als Kulturreferent im Kulturbund und Kursleiter innerhalb der Lehrerfortbildung tätig wurde.

Anfang des Jahres 1948 erfolgte die Berufung von Hans Schulze an die Technische Universität Dresden, die einen völlig neuen Abschnitt in seiner

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wissenschaftlichen Laufbahn einleitete und wohl den bedeutsamsten Einschnitt in seinem persönlichen Werdegang darstellte. In Dresden erhielt er den Auftrag, die Ausbildung für Kunsterziehung innerhalb der Pädagogischen Fakultät institutionell zu gestalten und auszubauen. Im März 1948 habilitierte sich Hans Schulze an der Technischen Universität Dresden, wobei nicht seine wissenschaftliche Arbeit, sondern sein künstlerisches Werk als Qualifi zierung anerkannt wurde. Seine Habilitation erfolgte aufgrund fehlender Regelungen ohne eine vorangehende Promotion, was für die Nachkriegszeit jedoch nicht untypisch war. Für die abzuhaltende Probevorlesung wählte Hans Schulze ein Thema aus dem kunstpädagogisch-didaktischen Bereich: „Die Krise der Darstellungsfreudigkeit in der Pubertät und ihre methodische Überwindung“.

Im Jahre 1950 musste Hans Schulze jedoch seine Arbeit am Aufbau eines Instituts für Kunsterziehung an der Technischen Universität Dresden aufgeben, da auf der Suche nach einer generellen Lösung für die Kunsterzieherausbildung in der DDR zunächst beschlossen wurde, alle bisherigen Institutionen außer Greifswald und Berlin aufzulösen, um eine neue Standortverteilung vorzunehmen.

Zum gleichen Zeitpunkt erfolgte, ausgehend vom Dekan der Pädagogischen Fakultät der Universität Leipzig, Prof. Dr. Hugo Müller, die Berufung an die Universität Leipzig. Die Beziehung zu Hugo Müller reichte bereits in das Jahr 1946 zurück, wo sie sich bei einem Neulehrer- und Weiterbildungslehrgang in Löbau bei Lauba kennenlernten. Ein gemeinsames Arbeiten begann aber erst an der Universität Leipzig, an der Hans Schulze zunächst als Dozent die Fachausbildung Zeichnen/Kunsterziehung ab 1950 übernahm. Längerfristig zielte seine Arbeit an der Universität Leipzig jedoch auf die Errichtung eines Institutes für Kunsterziehung ab. Schon nach einem Jahr wurde Hans Schulze zum Fachrichtungsleiter für die Abteilung Kunsterziehung an der Pädagogischen Fakultät ernannt. Trotz erheblicher Schwierigkeiten in materieller und personeller Hinsicht gelang ihm bereits im Jahre 1952 die Gründung des Institutes für Kunsterziehung an der Pädagogischen Fakultät, mit dessen Leitung er betraut wurde. Er selbst äußerte sich in der Beschreibung seines Lebens- und Bildungsganges zur ungünstigen Ausgangslage der Gründungsphase des Institutes wie folgt: „Der Aufbau der Abteilung war außerordentlich schwierig, da ich fast allein, mit unzulänglichen Hilfskräften und ohne Stellen- und Kaderplan die meisten Teilfachbereiche selbst entwickeln musste.“

Zunächst allein für die Ausbildung von Kunsterziehern tätig, gelang es ihm schnell, die anfänglich missliche Lage zu überwinden. Er erweiterte in nur kurzer Zeit das Lehrangebot durch zahlreiche Seminare, Übungen und später

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auch Vorlesungen wie beispielsweise Kinderzeichnung, Wandtafelzeichnen, Kunstschrift, Methodisches Zeichnen und Farbige Gestaltungsübungen sowie Kunstbetrachtungen und Methodik des Zeichenunterrichts. Damit einher schritt die Vergrößerung des Lehrkörpers.

Die Lehrtätigkeit von Hans Schulze umfasste ein sehr breit gefächertes Spektrum. Dazu zählten Lehrveranstaltungen wie z. B. zur Kunsterziehung, Methodik des Zeichnens, Psychologie des bildnerischen Gestaltens und zum kindlichen Schaffen sowie Kunstbetrachtungen. In den ersten Jahren entwickelte er ein Lehrprogramm und legte inhaltliche Schwerpunkte für die von ihm neu konzipierten Seminare und Vorlesungen fest, womit er entscheidend die weitere Entwicklung des Institutes beeinfl usste und prägte. Im Unterschied zu vorangegangenen Studienjahren entwickelte Hans Schulze dieses Lehrprogramm ausschließlich für Studierende der Kunsterziehung. Die umfassenden Interessen und der Wissensreichtum Hans Schulzes wie auch seine freie geistige Haltung spiegelten sich dabei besonders in der Themenwahl für die Vorlesungen und Seminare in Kunstgeschichte, -theorie und -didaktik wider.

Die Studierenden im ersten und dritten Semester konnten bei ihm Einführungen in die Kunstbetrachtung, Entwicklung der Künstler, Stilformen und ihr Verhältnis zur Gesellschaft sowie in Probleme der vorgeschichtlichen Kunst und der Kunst der Antike hören. In älteren Semestern wurden hingegen spezifi sche Aspekte, u. a. die Plastik und Architektur des Mittelalters im Norden Europas bis Ende des 15. Jahrhunderts, thematisiert. Zudem erteilte er Zeichnen für Kunsthistoriker, hielt Vorlesungen zur Technologie der Malerei am Institut für Kunstgeschichte und hospitierte an Schulen. An die Lehrtätigkeit von Hans Schulze erinnern sich zwei seiner Studenten, Günther Berger und Siegfried Ratzlaff:

Hans Schulze war bemüht, sich ständig die humanistischen Werte sowie die progressiven Traditionen deutscher Kultur und eine eng damit verknüpfte umfassende geistige und künstlerische Bildung anzueignen, die ihn dazu befähigen sollten, alle Aufgaben zu meistern. Hinzu kamen seine langjährigen Erfahrungen in der Schulpraxis. Die Vorlesungen und Seminare von Hans Schulze auf dem Gebiete der Kunstgeschichte waren darauf gerichtet, kulturell-künstlerische Zusammenhänge und Prozesse in ihrer widerspruchsvollen dialektischen Bewegung zu verdeutlichen. Die Darstellung von Bezügen zwischen bildender Kunst, Musik und Literatur war für ihn hierbei eine bevorzugte Methode, die bei den Studenten eine über das Spezifi sche des Fachgegenstandes hinausgehende Sichtweise förderte.

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Sein umfangreiches Arbeitspensum galt aber nicht nur dem Engagement am Lehrstuhl. Neben seinen hauptamtlichen Tätigkeiten schrieb er seine wissenschaftliche Arbeit zur Nachholung der Promotion, auch intensivierte er weiterhin seine künstlerische Arbeit.

Nach den ersten Jahren der Gründung und des Aufbaus des Institutes für Kunsterziehung, wo er noch weitestgehend unabhängig aus seiner Leitungsposition heraus freie Entscheidungen treffen und eigene Wege einschlagen konnte, entwickelte sich Mitte der 50er Jahre ein immer stärker kontrolliertes und begrenztes Arbeits- und Handlungsfeld. Noch während er seine Promotion im Jahre 1955 zum Thema „Die Bewertung der Farbe als eines Mittels der bildnerischen Darstellung und zur Hervorhebung des Wesentlichen in der ästhetischen Literatur vorzugsweise Deutschlands von der Mitte des achtzehnten bis zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts“ zum Abschluss brachte, wurde auf Hans Schulze immer stärkerer Druck ausgeübt. Seine bildungsbürgerlich geprägte freie geistige Haltung und Lehre sollte den neuen Zielstellungen und Grundgedanken der Deutschen Demokratischen Republik weichen. Der ehemalige Student Roland R. Richter erinnert sich an die bislang jedoch nur lückenhaft erschlossenen Vorfälle, die zum Rückzug von Hans Schulze aus dem Amt der Institutsleitung führten:

Als Promovierter hat er nicht mehr lange Zeit bis zu seiner Absetzung als Direktor gehabt. Er war nicht Genosse und dies war natürlich für viele ein Dorn im Auge, dass er als Parteiloser ein wichtiges Institut leitete. Es gab da jede Menge Intrigen, um ihn von hinten ‚abzuschießen‘. Eine Rolle spielten dabei auch Leitungsmitglieder des Instituts.

Der spätere Kollege Günther Berger beschreibt in gleicher Weise in einem Nachruf zu Hans Schulze dessen freie künstlerische und künstlerisch-pädagogische Position und deren Vermittlung und kommt zu dem Schluss: Das ist besonders deshalb bemerkenswert, weil vor allem in den 50er Jahren durchaus manche Unsicherheiten, ja oft mechanistische Auffassungen die Diskussionen über Realismus und Formalismus in der Kunst bestimmten.

Nach der Abgabe der Institutsleitung blieb Hans Schulze als Dozent am Institut für Kunsterziehung und konzentrierte sich zunehmend auf seine Spezialgebiete wie die Erarbeitung von Kunstgeschichtsvorlesungen für angehende Kunsterzieher, die auch für Studierende anderer Fächer offen stand. Noch bis kurz vor seinem Tode am 7. September 1982 lehrte Hans Schulze am Institut für Kunsterziehung

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der Universität Leipzig. Sein unermüdliches kunstpädagogisches Wirken, sein künstlerisches Schaffen und seine Ausstrahlungskraft als Persönlichkeit prägten über drei Jahrzehnte das Institut für Kunsterziehung der Universität Leipzig. Günther Berger fasst die Haltung von Hans Schulze zur künstlerischen Arbeit treffl ich wie folgt zusammen:

Künstlerische Tätigkeit war für Prof. Schulze immer zunächst eine Frage des Charakters, eine ‚Haltungsfrage‘ der gesamten Persönlichkeit. Prämissen seiner Lehre wie der eigenen künstlerischen Arbeit waren Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit sich selbst und dem künstlerischen Gegenstand gegenüber, Konsequenz im künstlerischen Denken und Tätigsein und nicht zuletzt ständiges Streben nach Vervollkommnung seiner Persönlichkeit.

Katja Weber

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Mit dem Namen Paul Morawitz (1879 – 1939), dessen Geburtstag sich im Jahr 2004 zum 125. Mal jährte, werden vor allem seine hervorragenden Leistungen als Internist und Begründer der modernen Blutgerinnungslehre verbunden. Auch die Planung und der Bau der Leipziger Medizinischen Klinik, die damals als Musteranstalt für ähnliche medizinische Einrichtun-gen Deutschlands galt, gehören zu den unvergesslichen Leistungen dieses Arztes.

Paul Oskar MorawitzZum 125. Geburtstag am 3. April 2004

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Paul Oskar Morawitz wurde am 3. April 1879 in der Hauptstadt Russlands, St. Petersburg, geboren. Sein Vater war als Gelehrter der Zoologie an der Russi-schen Akademie der Wissenschaften tätig. Im Jahre 1893 kam die Familie von St. Petersburg nach Blankenburg im Harz. Hier verbrachte Morawitz seine Jugend. Nach dem Besuch des Gymnasiums folgte das Medizinstudium in Jena, München und Leipzig. Im Jahre 1901 schloss Morawitz die ärztliche Staatsprüfung ab und verteidigte seine Dissertation „Zur Kenntnis der Knorpelkapseln und des Chon-dringehaltes des hyalinen Knorpels“. Nach dem darauffolgenden Militärdienst und der Tätigkeit am Landeskrankenhaus in Braunschweig wurde Morawitz 1903 Assistenzarzt an der Tübinger Klinik bei Ludolf von Krehl (1861 – 1937). Krehl, der als Vertreter der Ganzheitsmedizin galt und daher den Standpunkt vertrat, dass am Krankheitsgeschehen der gesamte Organismus beteiligt ist, übte starken Einfl uss auf die Persönlichkeit des jungen Arztes und auf seine medizi-nischen Interessen und Ansichten aus. Auf Anregung Krehls begann Morawitz mit Forschungen zur Physiologie der Blutgerinnung und publizierte dazu seine ersten wissenschaftlichen Arbeiten. In den nachfolgenden Jahren stellte Mora-witz regelmäßig die Ergebnisse seiner weiteren Forschungen über verschiedene Blutkrankheiten, deren Diagnostik und Therapie in medizinischen Zeitschriften dar (darunter z. B. im „Deutschen Archiv für Klinische Medizin“), was ihm bald Anerkennung bei Fachkollegen einbrachte. Im Jahre 1907 verteidigte Morawitz in Heidelberg seine Habilitationsschrift „Klinische Untersuchungen über Blut-verteilung und Blutmenge bei Gesunden und Kranken“, die er am Straßburger Physiologisch-chemischen Institut bei Franz Hofmeister (1850 – 1922) schrieb.

1909 wurde Morawitz an die Medizinische Poliklinik in Freiburg (Breisgau) berufen und damit der jüngste Extraordinarius Deutschlands. Ende 1913 ging Morawitz nach Greifswald, wo er das Ordinariat für Innere Medizin erhielt. Nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges war er an der Front in verschiedenen Feldlazaretten tätig und erkrankte schwer an Typhus. Nach der Entlassung aus dem Heeresdienst Ende 1918 kehrte er nach Greifswald zurück. Im Jahre 1921 wurde Morawitz Ordinarius in Würzburg, und 1926 nahm er den Ruf nach Leipzig an. Er wurde Nachfolger von Adolf von Strümpell (1853 – 1925). Die Leipziger Medizinische Klinik, an deren Bau Morawitz aktiv wirkte, erfüllte eine doppelte Aufgabe als städtisches Krankenhaus und als medizinisches Forschungsinstitut, was besondere Anforderungen an den Leiter stellte und eine feste Verbindung zwischen ärztlicher Praxis und wissenschaftlicher Forschungstätigkeit erforderte. Morawitz nahm diese Herausforderung an.

Im Jahre 1928 wurde die Leipziger Medizinische Klinik, in der damaligen Zeit die größte deutsche Universitätsklinik (zeitweilig mit 615 Betten), fertiggestellt, und

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für Morawitz begannen Jahre unermüdlicher Arbeit. Seine wissenschaftlichen Forschungen zur Physiologie und Pathologie des Blutes brachten Morawitz internationale Anerkennung. So erklärte er z. B. die Rolle der Calciumionen bei der Thrombinbildung und entdeckte die Thrombokinase. Morawitz konstruierte einen Kapillarthrombometer und isolierte als erster Thrombozyten. Er forschte zur physiologischen Hämostase und deren Störungen, über Fibrinogen und Blutplättchen. Seine Arbeiten zum Blutgasgehalt liefern wertvolle Grundlagen für die Arbeits- und Sportmedizin. Seine wissenschaftlichen Arbeiten über die Blutgerinnung ermöglichten die erfolgreiche Weiterentwicklung der Hämatologie und besaßen für dieses noch junge Fachgebiet einen unschätzbaren Wert.

Auch die Therapie mit Bluttransfusionen bekam durch Morawitz wesentliche Impulse. Die Blutspenderorganisation sollte den steigenden Bedarf von Blut absichern, meinte Morawitz. Kontinuierlich baute er deshalb in Leipzig einen der ersten Blutspendernachweise in Deutschland (nach Frankfurt am Main und Berlin) auf. Die Medizinische Klinik der Universität Leipzig wurde so ab 1933 zur Keimzelle des Blutspendewesens. Die Bluttransfusionen wurden zum festen Bestandteil der Therapie bei Anämien (hier vor allem der perniziösen Anämie), hämorrhagischen Diathesen und verschiedenen Vergiftungen.

Zu den Schwerpunkten seiner Forschung gehörte neben der Hämatologie und Transfusionsmedizin auch die Kardiologie. 1917 erfolgten die ersten Veröffentlichungen über Koronarerkrankungen, ihre Diagnostik und Therapie. So führte er an der Leipziger Medizinischen Klinik die Chinidinprophylaxe für alle vom Infarkt bedrohten Patienten ein, was zu einer wesentlichen Mortalitätssenkung führte. Auch viele andere Gebiete der inneren Medizin fanden in den wissenschaftlichen Arbeiten von Morawitz Beachtung. Die Liste der wissenschaftlichen Veröffentlichungen von Morawitz, die in der Bibliothek der Medizinischen Klinik der Universität Leipzig vorhanden sind, weist für die Jahre von 1902 bis 1936 182 Arbeiten aus.

Neben der Forschungsarbeit und Arbeit in der Klinik sollte man auch sein Engagement in der Ausbildung von Medizinstudenten erwähnen. Welche Popularität Morawitz als Hochschullehrer genoss, bezeugt die Tatsache, dass die Studenten im Frühjahr 1932 nach der Bekanntgabe seiner Berufungsablehnungen nach Wien und Berlin ihm zu Ehren einen bunten Umzug durch die Leipziger Straßen veranstalteten.

Die Leipziger Medizinische Klinik wurde unter der Leitung von Morawitz zur bedeutenden Lehrstätte für praktische Medizin und experimentelle

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Forschung, nicht nur für deutsche, sondern auch für viele ausländische Ärzte. Die Persönlichkeit von Paul Oskar Morawitz als begabter Arzt und Forscher, der neben einem umfangreichen Fachwissen über eine außergewöhnliche Allgemeinbildung verfügte, schuf eine einzigartige schöpferische Atmosphäre, die seine zahlreichen Schüler zu schätzen wussten. Leider wurde sein erfülltes Leben vorzeitig beendet.

Am 1. Juli 1936 starb Morawitz im Alter von 57 Jahren an einem Herzinfarkt, als er einem schwerleidenden Patienten zu Hilfe eilte.

Natalja Decker

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Vor 250 Jahren starb Christian Wolff, der bedeutendste deutsche Philosoph der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, der in den Jahren 1702 bis 1706 auch an der Universität Leipzig wirkte.

Christian WolffZum 250. Todestag am 9. April 2004

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Christian Wolff wird am 24. Januar 1679 in Breslau geboren, studiert an der Universität Jena Theologie, Mathematik und Philosophie, legt gegen Ende 1702 in Leipzig das Magisterexamen ab und habilitiert sich mit einer Schrift über diePhilosophia practica universalis mathematica methodo conscripta, in der er die praktische Philosophie durch die Anwendung der mathematischen Methode zu reformieren sucht. Von 1703 bis 1706 lehrt Wolff in Leipzig, predigt auch mit einigem Erfolg u. a. in der Nikolaikirche und hält Vorlesungen zur Mathematik, aber auch zur Theologie und Philosophie; daraus sollen seine allerdings viel spä-ter erschienenen Schriften wie die deutsche Logik und die deutsche Metaphysik hervorgegangen sein. Vor allen Dingen aber ist seine Leipziger Zeit durch die Beschäftigung mit der Mathematik geprägt; er diskutiert mit Tschirnhaus über die Infi nitesimalrechnung, arbeitet an den berühmten Acta eruditorum Otto Menckes mit, der als Professor für Moralphilosophie und Politik nicht nur seine Habilitationsschrift zensiert, sondern seine mathe matischen Arbeiten an Leibniz schickt, woraus sich der berühmte Briefwechsel zwischen Leibniz und Wolff ergibt, in dem Wolff sich sowohl in mathematischen als wohl auch in philosophi-schen Fragen von Leibniz belehren lässt, ohne dadurch seine Eigenständigkeit zu verlieren. Obwohl Wolff über Jahre in Leipzig lehrt, hat er hier – wie viele Pri-vatdozenten heute auch – niemals eine Stelle oder „würcklich locum in Facultate erhalten“. Denn er ist „nicht so lange in Leipzig verblieben, bis sich eine Vacanz ereignet“, sondern ist, als die Schweden in Sachsen einfi elen und „aus Leipzig alles fl üchtete und die studiosi weggingen“, erst nach Gießen gegangen, um dann Ende 1706 eine Professur zunächst für Mathematik in Halle anzutreten. Dort pu-bliziert er die umfangreiche Reihe seiner philosophischen Schriften, von denen die Vernünftigen Gedanken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt als seine deutsche Metaphysik die bedeutendste ist. In überhaupt als seine deutsche Metaphysik die bedeutendste ist. In überhauptHalle stand er nicht nur in Konkurrenz zum ebenfalls von Leipzig nach Halle gegangenen Christian Thomasius, sondern in ideologisch aufgeladener Ausein-andersetzung mit Joachim Lange und anderen Vertretern der pietistischen Theo-logie, die es 1723 erreichten, dass ihn Friedrich Wilhelm I. unter (für den König) beschämenden Umständen seines Lehrstuhls enthob und aus Preußen auswies. Wolff ging ins hessische Marburg und kehrte 1740, von Friedrich II. kurz nach der Thronbesteigung zurückgerufen, im Triumph nach Halle zurück.

In seinem umfangreichen Werk proklamiert Wolff eine am Vorbild der Ma-thematik orientierte wissenschaftliche Methode, die verlangt, „alles, was man behauptet, aus unwidersprechlichen Gründen unumstößlich darzutun“. Dem-entsprechend entwirft er in seinem sowohl in deutscher als auch in lateinischer Fassung publizierten Werk die Philosophie als ein geschlossenes System der Wissenschaften, in dem alle verwendeten Begriffe defi niert und alle behaupteten

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Sätze erwiesen und syste matisch miteinander verknüpft sein sollen. Grundlage dieses wissenschaftlichen Systems ist die Metaphysik; sie gliedert sich in die vier Disziplinen der Ontologie, der Kosmologie, der Psychologie und der Theologie. Dabei entwickelt die Ontologie die Grundbegriffe und Prinzipien, die für alles Seiende gelten wie z. B. die Begriffe des Möglichen und Unmöglichen und des Einfachen und des Zusammengesetzten oder den Satz vom Widerspruch und den vom zureichenden Grunde. Die allgemeine Kosmologie entwickelt den Begriff der Welt als einer zusammengesetzten „Maschine“, deren „Bewegungen in der Art der Zusammensetzung gegründet sind“, und formuliert die Grundbegriffe der allgemeinen Physik, auf denen dann wiederum vielfältig gegliederte Einzeldiszi-plinen wie die Meteorologie, die Hydrologie oder die Physiologie aufbauen. Die Psychologie untergliedert sich in die empirische und die rationale Psychologie; sie thematisiert die Grundbegriffe der Seelenlehre wie den Begriff des Bewusst-seins, der Vorstellungskraft, der Begierde und des Willens und legt damit sowohl die Grundlagen für die Logik als auch für die praktische Philosophie; darüber hinaus erörtert sie das Problem der Vermittlung zwischen Körper und Seele und löst es mithilfe der von Wolff ausdrücklich so genannten „Hypothese“ der prästabilierten Harmonie. Und die natürliche Theologie schließlich enthält den Wolffschen Gottesbeweis, in dem mithilfe des Satzes vom zureichenden Grunde aus dem Bewusstsein unserer Existenz als kontingente und abhängige Wesen auf die Existenz eines notwendigen und selbständigen Wesens geschlossen wird, das wir Gott nennen, erörtert dann die Eigenschaften Gottes und zeigt, dass wir nach dem Beweis eines allmächtigen Wesens, das nach Absichten handelt, berechtigt sind, die bisher – in der allgemeinen Kosmologie und der Physik – bloß kausal ausgelegte Welt in der „Teleologie“ als zweckmäßiges Ganzes auszulegen. In der praktischen Philosophie vertritt Wolff die These, dass das höchste Ziel des Han-delns in der Vervollkommnung des Menschen besteht, auf dieser Grundlage ent-wickelt er in der „Politik“ das Konzept eines wohlfahrtsstaatlichen Erziehungs-staates, in dem der Herrscher absolut regiert, was zwar der politischen Realität in der Mitte des 18. Jahrhunderts in Deutschland weitgehend entspricht, aber in deutlichem Kontrast zu liberalen Staatskonzeptionen steht.

Wolffs Bedeutung für die Geistes- und Kulturgeschichte des 18. Jahrhunderts ist dennoch kaum zu überschätzen; in der Mitte des Jahrhunderts sind die meisten Professuren an den deutschen Universitäten von Wolffi anern besetzt, auch in Leipzig lehren mit Gottsched und Ludovici einfl ussreiche Wolffi aner. Mit seiner schulmäßig aufgebauten Begriffl ichkeit prägt er die philosophische, aber auch die psychologische Terminologie des Deutschen bis über Kant hinaus; durch die lateinische Fassung seiner Werke wird er aber auch in anderen europäischen Ländern einfl ussreich: Zwar wird Wolff in Frankreich u. a. von Voltaire als Scho-

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lastiker kritisiert, aber die Defi nitionen seines lateinischen Werkes beeinfl ussen unter der Hand noch die Begriffl ichkeit der berühmten Encyclopédie von Dide-rot und d‘Alembert und bestimmen die philosophische Diskussion in Nord- und Osteuropa, aber auch in Italien bis ins 19. Jahrhundert hinein. In Deutschland allerdings schwindet die Bedeutung Wolffs mit dem Siegeszug der kritischen Philosophie Immanuel Kants schon gegen Ende des 18. Jahrhunderts: Kant lobt Wolff zwar als „Urheber … des Geistes der Gründlichkeit in Deutschland“ und benutzt die Lehrbücher einfl ussreicher Wolffi aner jahrzehntelang als Grundlage seiner Vorlesungen, entwickelt seine kritische Philosophie aber in deutlicher Frontstellung gegen Wolff und tadelt in der theoretischen Philosophie den un-kritischen Dogmatismus und in der praktischen Philosophie den Eudämonismus Wolffs; Kants Einfl uss verdunkelt Woffs Bild in den Philosophiegeschichten bis ins 20. Jahrhundert. Das beginnt sich erst zu ändern, nachdem seit 1965 die – Regale füllende – Neuedition von Wolffs Gesammelten Werken durch Jean École u. a. seine Schriften wieder neu greifbar gemacht hat; seitdem ist die Zahl der Publikationen zu und über Wolff sprunghaft angestiegen und die Forschung zu seiner Philosophie neu belebt worden. Davon hat auch der 1. Internationale Christian-Wolff-Kongress Zeugnis abgelegt, der vom 4. – 9. April 2004 unter dem Titel Christian Wolff und die Europäische Aufklärung in Halle stattfand.Christian Wolff und die Europäische Aufklärung in Halle stattfand.Christian Wolff und die Europäische Aufklärung

Jürgen Engfer

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Otto Linné ErdmannZum 200. Geburtstag am 11. April 2004

Am 11. April 2004 jährte sich zum 200. Male der Geburtstag des vier-maligen Rektors der Universität Leipzig Otto Linné Erdmann, der hier von 1830 bis 1869 das erste Ordinariat für Technische Chemie bekleidete. Er zählt zu den bedeutenden Wegbereitern der Chemie.

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Genie ohne Fleiss hat in den Wissenschaften noch nie Grosses geleistet und andererseits, wenn irgend Etwas das Genie in den Wissenschaften ersetzen kann, so ist es der Fleiss.

Otto Linné Erdmann, Ueber das Studium der Chemie, 1861

Die Chemie, traditionell als Hilfswissenschaft in der Medizinischen Fakultät angesiedelt, gewann mit Otto Linné Erdmanns Ordinariat in der Philosophischen Fakultät (1835) ihre disziplinäre Eigenständigkeit. Dieser Prozess wurde mit der Einführung des modernen Laboratoriumsunterrichts und einer spezifi schen Chemikerausbildung für die Universität Leipzig realisiert. Erdmann verstand es, zeitgemäß im Sinne von Justus von Liebig (1803 – 1873), allseitig gebildete Chemiker heranzubilden, die imstande waren, in der Wissenschaft, in Künsten und Gewerben, in der Hüttenkunde und der Agrikultur tätig zu sein. Seine langjährig gesammelten Erfahrungen fi nden sich im „Lehrbuch der Chemie“ (1851, 4. Aufl age) und dem „Grundriß der Warenkunde“ (1857, 3. Aufl age). Grundlegende Gedanken zur Chemikerausbildung veröffentlichte er im Jahre 1861 in einer „lichtvollen kleinen Schrift“ „Ueber das Studium der Chemie“. Sie haben bis heute nichts an Aktualität verloren:

Wer die Methoden der Wissenschaft nicht kennt, der muss ihre Lehren nur auf die Autorität grosser Namen hin annehmen, Beweise hat er nicht, denn die Beweiskraft des Experiments existiert nur für den, der genaue Kenntnisse von der Art seiner Anwendung hat, wie sie allein durch die Erfahrung gewonnen wird.

Otto Linné Erdmann war im Prozess der Etablierung der wissenschaftlichen Chemie engagierter Gestalter, welcher in engem Kontakt mit führenden Chemikern stand, wie zum Beispiel die in der Bibliotheca Albertina bewahrten Briefe von Friedrich Wöhler (1800 – 1882) zeigen. Mit der Berufung von Erdmann im Jahr der großen Universitätsreform von 1830 bekam die Universität Leipzig in der Medizinischen Fakultät ein zweites Ordinariat für Technische Chemie neben der im gleichen Jahr erfolgten Umwandlung des Extraordinariats für Chemie in das Ordinariat für Allgemeine (Theoretische) Chemie mit der Besetzung von Otto Bernhard Kühn (1800 – 1863) als Nachfolger von Christian Gotthold Eschenbach (1753 – 1831). Somit hatte die Leipziger Universität frühzeitig zwei exponierte Vertreter der Chemie in ihren Reihen und etablierte sich im Vorderfeld der deutschen Universitäten bei der Entwicklung dieses Wissenszweiges.

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Der Forscher. Nach dem Studium der Medizin in Dresden und Leipzig, der Promotion an der hiesigen Medizinischen Fakultät (1824) und der Habilitation (1825) wirkte er zunächst als Leiter einer Nickelhütte in Hasserode im Harz (1826). Aus dieser Tätigkeit resultierten stark beachtete Forschungsleistungen zur Chemie, Analytik und Legierungsbildung des Nickels einschließlich technologischer Verfahren. Von nachhaltigem Einfl uss auf die Entwicklung der Chemie waren die exakten Atommassebestimmungen der Elemente Kohlenstoff, Wasserstoff, Calcium, Quecksilber, Schwefel, Eisen und Kupfer, die Erdmann gemeinsam mit dem Hallenser Professor Richard Felix Marchand (1813 – 1850) ausführte. Sie wurden begleitet von seinen zahlreich vorgenommenen und publizierten Analysen von Erzen, Mineralien und Schlacken. So ist es nur folgerichtig, dass der Hüttenchemiker aus dem Blaufarbenwerk Niederpfannenstiel bei Aue/Erzgebirge, der spätere Analytiker und berühmte Entdecker des chemischen Elementes Germanium, Clemens Winkler (1838 – 1904), im Jahre 1864 mit einem Erstgutachten von Erdmann an der Universität Leipzig „in absentia“ promoviert wurde. Mit der Synthese der Verbindung Ammoniumdiammin-tetranitrocobalt(III), NH4[Co(NH3)2(NO2)4], die später Erdmannsches Salz genannt wurde, gelang ihm ein früher Einstieg in Salz genannt wurde, gelang ihm ein früher Einstieg in Salzdie heute hoch entwickelte und an der Universität Leipzig traditionell gewachsene Komplexchemie. Besondere Verdienste von Erdmann betreffen das damals noch junge Gebiet der Organischen Chemie. Unabhängig von dem Franzosen Augustin Laurent (1807 – 1853) entdeckte er bei seinen Untersuchungen über Indigo den Farbstoff Isatin und dessen Derivat, die Isatinsäure. Im Jahre 1846 konnte Erdmann durch Einwirkung von Salpetersäure auf verschiedene Harze Styphninsäure gewinnen.

Der Wissenschaftsorganisator. Hervorhebenswert für die Chemie im nationalen und internationalen Rahmen ist die Begründung der Fachzeitschrift „Journal für praktische Chemie“ im Jahre 1834. Er hat dieses bedeutende Leipziger Chemie-Journal, dessen Erscheinen erst 2000 durch den Verlag Wiley-VCH eingestellt wurde, bis zu seinem Ableben (09.10.1869) geführt. Durch sein Engagement entstand neben dem in der Pleißenburg durch Otto Bernhard Kühn weiterhin genutzten Labor ein modernes Erstes Chemisches Laboratorium im Fridericianum (1843). Das im 2. Weltkrieg zerstörte Gebäude war vom Universitäts- und Stadtbaumeister Albert Geutebrück (1801 – 1868) entworfen worden und befand sich gegenüber der Moritzbastei. Schon 1837 repräsentierte und vertrat er die Universität Leipzig in der sogenannten „Ständeversammlung“. In den Jahren 1848, 1854, 1855 und 1862 stand Otto Linné Erdmann als Rektor der Universität vor. Dazu schreibt der gleichfalls berühmte Leipziger Chemiker Hermann Kolbe (1818 – 1884):

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Wie er seine Stellung als Lehrer aufs Vollkommenste ausfüllte, so auch die Ehrenstellen, welche die Universität wiederholt ihm übertrug. Unter den schwierigen Bedingungen der Jahre 1848 und 1849 gelang es ihm, als Rector magnifi cus sich im Ansehen zu erhalten und Vertrauen zu erwerben [ … ]

Wirken für die Stadt Leipzig und die Region. Neben seiner Tätigkeit an der Universität war Erdmann von 1831 bis 1837 Lehrer der Chemie und Physik sowie der Warenkunde an der öffentlichen Handels-Lehranstalt zu Leipzig. Darüber hinaus engagierte er sich mit Sonntagsvorlesungen über Gewerbetechnik und Chemie für die Weiterbildung Leipziger Bürger. Im Direktorium der Leipzig-Dresdener-Eisenbahn-Gesellschaft und durch angewandte Forschung zum Ersatz von teurem englischem Steinkohlenkoks durch preiswerten sächsischen mittels Zuschlag von Kalkhydrat zur Entschwefelung und besseren Asche-Verschlackung half er die enorm wichtige und 1837 realisierte erste deutsche Fernbahnverbindung vorzubereiten und funktionsfähig zu machen. Als Vorsitzender der Polytechnischen Gesellschaft zu Leipzig gehörte er zu den zwanzig Mitgliedern des Gründungsvereins der am 1. Juli 1846 gegründeten Königlich Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften zu Leipzig, die ab 1919 zur Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig wurde. Schließlich sei noch aus der Vielzahl wahrgenommener Funktionen die im Vorsitz des Leipziger Kunstvereins hervorgehoben, die nicht nur in der „Behandlung geschäftlicher Gegenstände“ bestand, sondern die auch durch eigene wissenschaftliche Aufsätze und Vorträge über Kunst und künstlerische Fragen ausgefüllt wurde.

So erhellt das Bild eines hervorragenden Gelehrten der Alma mater Lipsiensis, dessen Andenken in Ehren gehalten wird und dessen Vermächtnis einer praxisnahen, lehrbezogenen Forschung und des Wirkens für die Universität, die Stadt und die Region bei der Fakultät für Chemie und Mineralogie in guten Händen liegt.

Lothar Beyer

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Paul KoschakerZum 125. Geburtstag am 19. April 2004

Mit Paul Koschaker erinnert die Universität Leipzig aus Anlass seines 125. Geburtstages an einen der bedeutendsten Juristen und Rechtshisto-riker der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, der hier, wie der Leipziger Altorientalist Manfred Müller zum „100.“ schrieb, „21 seiner besten und fruchtbarsten Jahre als Ordinarius“ gewirkt hat.

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Koschaker wurde am 19. April 1879 in Klagenfurt/Kärnten geboren. In Graz studierte er zunächst Mathematik und wechselte dann, wie er selbst sagte, im „Bedürfnis nach konkreter Anschaulichkeit“ in die Rechtswissenschaft. Koschakers Interesse am römischen Recht führte ihn zum Studium das erste Mal nach Leipzig. 1905 habilitierte er sich, zurück in Graz, mit der Arbeit „Translatio iudicii. Eine Studie zum römischen Zivilprozeß“. Seine akademischen Wanderjahre verbrachte Koschaker in Innsbruck, Prag und Frankfurt/M., bis er schließlich 1915 auf den Lehrstuhl für römisches und deutsches bürgerliches Recht nach Leipzig berufen wurde. 1936 nahm er einen Ruf an die Universität Berlin an, die er jedoch schon 1941 wieder verließ, um nach Tübingen zu gehen. Nach seiner Emeritierung 1946 lehrte Koschaker als Gast an den Universitäten Halle und Ankara; er starb 1951 in Basel.

Koschakers wissenschaftliches Werk betrifft vor allem zwei große Bereiche, das klassisch-antike Recht und das altorientalische Recht. Daneben beschäftigte er sich mit Rechtsvergleichung.

Koschaker galt als ein hervorragender Lehrer im römischen Recht, weil er das Fachgebiet rechtsvergleichend betrachtete und diese Betrachtungsweise auch seinen Schülern eindrucksvoll vermittelte. Koschaker hat zwar auch eine Reihe von Detailstudien zum antiken römischen Recht veröffentlicht: nämlich zu Problemen des Prozessrechts, zu Mitgift, Adoption, Vermächtnis, weiterhin auch zum antiken griechischen Recht bei Brautgabe und Handgeld. Seine Berühmtheit als Romanist gründet sich freilich nicht auf diese Detailstudien, sondern auf seine erwähnte Lehrtätigkeit und auf sein sehr allgemeinverständlich formuliertes Buch

„Europa und das römische Recht“. Darin beschrieb Koschaker das Entstehen der gemeineuropäischen Rechtswissenschaft an den mittelalterlichen Universitäten ab dem 12. Jahrhundert, gestützt auf Lehrsätze des römischen Rechts und des Kirchenrechts, und die Ausbreitung („Rezeption“) dieser Wissenschaft in allen Ländern Europas und deren Kolonien in Übersee.

Koschaker pries die „Rezeption“ als einen tragenden Pfeiler der europäischen Kultur, weil nämlich dadurch zahlreiche bis dahin bestehende Verschiedenheiten im Recht der einzelnen Regionen verdrängt wurden und insgesamt das Recht den Regeln der Logik und der Vernunft unterworfen wurde. Mit dem Buch antwortete Koschaker auf Propaganda der Nationalsozialisten, die behauptet hatten, die Rezeption des römischen Rechts sei ein nationales Unglück für Deutschland gewesen. Koschakers Buch wurde erstmals 1947 gedruckt, vielfach neu aufgelegt und in andere Sprachen übersetzt. Seine Hauptthese hatte

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Koschaker schon 1938 in einer kleinen Schrift „Die Krise des römischen Rechts und der romanistischen Rechtswissenschaft“ verteidigt.

Die altorientalische Rechtsgeschichte oder, wie sie auch genannt wird, Keil-schriftrechtsgeschichte sieht in Koschaker ihren Begründer. Angeregt durch die von Hugo Winckler 1904 veröffentlichte deutsche Übersetzung des kurz zuvor in Susa (Iran) ausgegrabenen berühmten Kodex Hammurapi – ein Gipsabguss lässt sich im Altorientalischen Institut der Universität Leipzig bewundern –, arbeitete Koschaker sich in die auf Tontafeln mit Keilschrift geschriebenen Sprachen, besonders das Babylonisch-Assyrische und Sumerische, ein. In diesen Sprachen ist eine ungeheure Fülle – die Zahl geht in die Hunderttausende – von Texten unterschiedlichsten Inhalts aus den drei vorchristlichen Jahrtausenden in den Ländern des Vorderen Orients (besonders in Irak und Syrien, dem alten Mesopotamien) abgefasst worden und auf uns gekommen. Mit den philologischen Grundlagen hatte sich Koschaker die bis heute unabdingbare Voraussetzung für eine fruchtbare Arbeit auf dem Gebiet des altorientalischen Rechts angeeignet und schuf in der Folgezeit durch eine Reihe bahnbrechender Arbeiten vor allem während seiner Leipziger Zeit die Grundlagen dieser neuen Disziplin, von denen hier nur die wichtigsten genannt werden können. 1911 erschien in Leipzig die bis heute grundlegende Studie „Babylonisch-Assyrisches Bürgschaftsrecht“. Das Buch „Rechtsvergleichende Studien zur Gesetzgebung Hammurapis, Königs von Babylon“ (1917) stellte erstmals die bis heute diskutierte Frage nach dem Charakter des Kodex Hammurapi. Der besterhaltenen Tafel der mittelassyrischen Gesetze, dem sogenannten „Frauenspiegel“, widmete Koschaker nur ein Jahr nach ihrer Edition „Quellenkritische Untersuchungen zu den ‚altassyrischen Gesetzen’“ (Leipzig 1921). Die Monographie „Neue keilschriftliche Rechtsurkunden aus der El-Amarna-Zeit“ (Leipzig 1928) leistete Pionierarbeit in der Erschließung und Deutung mittelassyrischer Rechtsurkunden und solcher aus Nuzi beim heutigen Kirkuk (Irak). In der Abhandlung „Über einige griechische Rechtsurkunden aus den östlichen Randgebieten des Hellenismus“ (Leipzig 1931) beschäftigte Koschaker sich u. a. mit dem „Eigentums- und Pfandbegriff nach griechischen und orientalischen Rechten“.

Abgesehen von diesen Einzelstudien leistete Koschaker auch in mehreren Vorträgen und Aufsätzen entscheidende Beiträge für die theoretische Abgrenzung der Wissenschaftsdisziplin vom altorientalischen Recht, für die er den Begriff

„Keilschriftrecht“ prägte und deren Gegenstand er in einer seiner Arbeiten als „rechtshistorisch abgrenzbaren Kulturkreis mit geschichtlichem Eigenleben und eigenen Problemen“ bezeichnete.

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Obwohl Koschaker selber die altorientalischen Sprachen und die Keilschrift beherrschte, sah er die Notwendigkeit einer Zusammenarbeit mit den Spezialisten der Altorientalistik. So veröffentlichte er 1923 in Leipzig zusammen mit Arthur Ungnad die Monographie „Hammurabis Gesetz. Bd. VI. Übersetzte Urkunden mit Rechtserläuterungen“. Vor allem aber entwickelte sich eine enge Kooperation mit dem Vorläufer des heutigen altorientalischen Instituts der Universität Leipzig, dem damaligen „Semitistischen Institut“. Dort lehrten Heinrich Zimmern, Franz Heinrich Weißbach, Benno Landsberger und Johannes Friedrich – eine Quadriga, die in den Worten Koschakers dieses Institut zu einer Einrichtung machte, „die man mit einigem Recht wohl als eine einzigartige bezeichnen kann“ und Leipzig zum weltweit führenden Zentrum der Altorientalistik erhob. Besonders mit Landsberger führte Koschaker gemeinsame Lehrveranstaltungen durch. Als er 1926 die Möglichkeit bekam, an der Universität Leipzig ein „Seminar für orientalische Rechtsgeschichte“ zu gründen, geschah dies mit Selbstverständlichkeit in räumlicher Gemeinschaft mit dem Semitistischen Institut. Die Vertreibung Landsbergers und Weißbachs durch die Nationalsozialisten 1935 war der Grund für Koschakers Weggang von Leipzig nach Berlin. Eine ruhmvolle Epoche der Altorientalistik und der altorientalischen Rechtsgeschichte war damit in Leipzig jäh beendet worden.

Vom Weltruf des Gelehrten zeugen seine fünf Ehrendoktorate, darunter die selten verliehene Würde eines Ehrendoktors der Universität Oxford. Koschakers Leistungen lassen sich kaum besser abschließend würdigen als mit einem Wort aus der ihm gewidmeten dreibändigen Festschrift aus dem Jahr 1939: „Ihnen war beschieden, was den höchsten Ruhm des Gelehrten begründet und was nur wenigen erreichbar ist: der Wissenschaft ein neues Ziel zu weisen …“ In diesem Sinne habe er das weite Gebiet der keilschriftlichen Quellen der rechtsgeschichtlichen Betrachtung erschlossen. „Denn Sie haben als erster Jurist die Sprache dieses Kulturkreises mit jener Sicherheit beherrschen gelernt, die bis dahin nur den Philologen zur Verfügung stand und ohne die ein scharfes Erfassen auch der rechtlichen Erscheinungen nicht möglich ist.“

Michael P. StreckGero Dolezalek

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Wilhelm HisZum 100. Todestag am 1. Mai 2004

Am 1. Mai 2004 jährte sich zum 100. Male der Todestag des bedeuten-den Anatomen Wilhelm His sen., der in der zweiten Hälfte des 19. Jahr-hunderts an der Leipziger Medizinischen Fakultät zu den Fachvertretern zählte, die Studenten, Ärzte und Wissenschaftler aus aller Welt in die hunderts an der Leipziger Medizinischen Fakultät zu den Fachvertretern zählte, die Studenten, Ärzte und Wissenschaftler aus aller Welt in die hunderts an der Leipziger Medizinischen Fakultät zu den Fachvertretern

Universitäts-, Messe-, Buch- und Musikstadt zogen.

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Ein ehemaliger Student der Medizin schrieb rückblickend: „In Summa beherbergte in den siebziger bis neunziger Jahren [des 19. Jahrhunderts] keine deutsche Fakultät eine so große Zahl führender Männer und weithin anerkannter Gelehrter wie Leipzig.“

Wilhelm His nahm im Jahr 1872 die Berufung auf den Leipziger Lehrstuhl für Anatomie an. Aus einer angesehenen Baseler Patrizierfamilie stammend, hatte er seine medizinische Ausbildung vor allem in Berlin, Würzburg, Bern, Wien und Paris erhalten. Bereits 1857, im Alter von nur 26 Jahren, wurde His in Basel ordentlicher Professor der Anatomie und Physiologie. In Leipzig errichtete man nach seinen Plänen und Vorgaben ein schon lange geplantes neues anatomisches Institut, das am 26. April 1875 eröffnet wurde und wegen seiner Zweckmäßig-keit und Schönheit als mustergültig, auch für andere Institutsbauten, galt. Neben seinen umfangreichen Lehrverpfl ichtungen versah His mehrfach akademische Ämter, so als Dekan (1877/78, 1883/84, 1887/88 und 1898/99) sowie 1882 als Rector magnifi cus der Universität.

In die Anatomie führte His zahlreiche methodische Neuerungen ein, so einen „Embryographen“ zum Zeichnen von histologischen Schnitten auf Wachsplatten, ein verbessertes Mikrotom (zum Erstellen von Gewebeschnitten), einen „mikrophotographischen Apparat“ und nicht zuletzt die berühmten „His-Steger-Modelle“ für den anatomischen Unterricht der Studenten. Doch jede freie Minute verwendete er für die Forschungsarbeit. Seine wissenschaftlichen Interessen blieben dabei nicht auf einige wenige Gebiete begrenzt, denn er war, wie in einem der Nekrologe betont wird, eine „groß angelegte Gelehrtennatur durch und durch“.

Von His’ Arbeiten seien vor allem erwähnt die durch ihn angeregte und in großen Teilen realisierte Reform der anatomischen Nomenklatur („Baseler Nomenklatur“), seine auf der Histogenese beruhende Klassifi kation der Gewebe, vor allem aber die Forschungen auf dem Gebiet der embryonalen Entwicklung des Nervensystems. Bis ans Lebensende beschäftigte ihn dieses Gebiet, und sein letztes, 1904 erschienenes Werk trägt den Titel „Die Entwicklung des menschlichen Gehirns während der ersten Monate“.

Vielseitig begabt, verfügte His über eine bemerkenswerte Fähigkeit, innerhalb der Anatomie und der gesamten experimentellen Medizin grenzüberschreitend zu arbeiten und zu denken. Dies führte auch zu einer seiner wichtigsten Entdeckungen, nämlich der Beschreibung der embryonalen Nervenzelle, des Neuroblasten, womit His im Streit um die Feinstruktur des Nervensystems und

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um die sogenannte Neuronentheorie ein wichtiges Argument lieferte. Denn nachdem die Histologen bereits die Nervenzelle mit ihren Fortsätzen beschrieben hatten, entbrannte eine heftige Auseinandersetzung um die Art der funktionellen Verknüpfung der Nervenzellen. War die Nervenzelle eine morphologische und funktionelle Einheit oder Teil eines Kontinuums, eines Nervennetzes?

Wilhelm His vertrat „als feststehendes Princip [...] den Satz: daß jede Nervenfaser aus einer einzigen Zelle als Ausläufer hervorgeht. Diese ist ihr genetisches, ihr nutritives und ihr functionelles Centrum, alle anderen Verbindungen der Faser sind entweder nur mittelbare, oder sie sind secundär entstanden.“ Mit diesen Ergebnissen der Neuroembryologie, Resultaten aus Degenerationsversuchen und histologischen Befunden wurde schließlich die „Neuronentheorie“ formuliert, die sich gegen die Auffassung von einem Nervennetz wandte. Der Begriff

„Neuron“ für die Nervenzelle mit ihren Fortsätzen stammt vom Anatomen Wilhelm Waldeyer, der ihn 1891 in einer referierenden Darstellung neuerer Ergebnisse der Anatomie des Zentralnervensystems einführte. Der englische Physiologe Charles Sherrington prägte 1897 den Begriff „Synapse“ für die Schaltstellen zwischen einzelnen Neuronen bzw. zwischen Neuron und dem innervierten Organ.

Der Streit zwischen Anhängern und Gegnern der Neuronentheorie, zwischen „Neuronisten“ und „Retikularisten“, dauerte auch an, als die Histologen Santiago Ramón y Cajal und Camillo Golgi, die den beiden verschiedenen Lagern angehörten, 1906 gemeinsam den Nobelpreis für ihre Untersuchungen zur Feinstruktur des Nervensystems erhielten. Die klassische Neuronentheorie blieb der unter physiologischen Gesichtspunkten einleuchtendste Erklärungsansatz für die Funktion des Nervensystems, wenn auch scheinbar Gesichertes mit der ständigen Verbesserung von Methoden, dem Eindringen in immer kleinere Subeinheiten, relativiert werden musste. Für die Anhänger der Neuronentheorie bildete die Entdeckung der embryonalen Nervenzelle aber ein wesentliches Argument, und die Beschreibung des Neuroblasten bleibt eine der hervorragenden wissenschaftlichen Leistungen von His.

His hat sich sehr engagiert für sein Fachgebiet, die Anatomie, eingesetzt. So war er einer der Gründer der „Anatomischen Gesellschaft“, deren erste Versammlung 1887 in Leipzig stattfand, er war Mitbegründer der „Zeitschrift für Anatomie und Entwicklungsgeschichte“ sowie des „Archivs für Anthropologie“. His hatte auch großen Anteil an der Gründung der Brain Commission, einer Vorläuferin der International Brain Research Organization (IBRO). Gemeinsam mit dem Leipziger Psychiater Paul Flechsig (beide als Mitglieder der

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Königlich Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften zu Leipzig) schlug er der Versammlung der assoziierten deutschen Akademien vor, spezielle Hirnforschungsinstitute zu schaffen nach dem Vorbild der Zoologischen Station von Anton Dohrn in Neapel. Zur 1904 stattfi ndenden Generalversammlung der internationalen Assoziation der Akademien, zu der auch die bedeutendsten Hirnforscher aller Länder eingeladen waren, gelang es der Brain Commission, die Arbeit „Interakademischer Hirnforschungsinstitute“ (Wien, Frankfurt am Main, Budapest, Pavia, Madrid) zu koordinieren und in Amsterdam ein Zentralinstitut für Hirnforschung zu gründen. Diese wesentlich auf die Anregung von His zurückgehende wissenschaftsorganisatorische Leistung förderte die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Hirnforschung und fi ndet bis heute in der IBRO ihre Fortsetzung.

His hat sogar im Leipziger Stadtbild Spuren seines wissenschaftlichen Wirkens hinterlassen, denn er schuf die Voraussetzung für das Bach-Denkmal des Bildhauers Carl Seffner an der Leipziger Thomaskirche durch die Identifi zierung der Gebeine von Johann Sebastian Bach samt Rekonstruktion von dessen Skelett, Schädel und Gesichtsweichteilen. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts war nämlich die Grabstätte Bachs auf dem Johannisfriedhof allmählich in Vergessenheit geraten, und erst im Zusammenhang mit dem Neubau der Johanniskirche bemühten sich Bachverehrer und der Stadtrat, die Gebeine des berühmten Thomaskantors wieder aufzufi nden. His, der einer speziell eingesetzten Kommission vorstand, gelang es bei der im Jahre 1894 durchgeführten Ausgrabung, die in einem Eichensarg befi ndlichen Gebeine eines älteren Mannes als das Skelett von Bach zu identifi zieren und mit einer speziellen plastischen Methode die Weichteile über dem Schädel zu rekonstruieren. Anhand dieser Rekonstruktion und der überlieferten Bach-Porträts war dann dem Bildhauer eine weitgehend authentische Darstellung von Bach möglich.

So hat sich His als bedeutender Forscher, Wissenschaftsorganisator und Hochschullehrer in die Geschichte des Fachgebietes Anatomie und in die Annalen der Alma mater Lipsiensis sowie der Leipziger Stadtgeschichte eingeschrieben.

Ingrid Kästner

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Karl Gottlob KühnZum 250. Geburtstag am 12. Juli 2004

In der Geschichte der Leipziger Universität steht der Name Karl Gottlob Kühns für die Einführung des Faches Chirurgie an der Alma mater Lipsien-sis und dessen Etablierung als selbständiges Lehr- und Forschungsgebiet. Er ist als erster Professor für Chirurgie an der Universität Leipzig in die Annalen eingegangen.

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Sein Doktorjubiläum, das sich am 29. August 1833 zum fünfzigsten Male jährte, wollte Karl Gottlob Kühn (1754 – 1840), Professor für Physiologie und Pathologie der Leipziger Medizinischen Fakultät, ohne große Feierlichkeiten und in aller Bescheidenheit verbringen. Aber seine Pläne gingen nicht auf, und auch das Verreisen half ihm nichts. Eine so bekannte Persönlichkeit wie Kühn, die seit Jahrzehnten nicht nur an der Medizinischen Fakultät der Alma mater Lipsiensis ehrenvoll wirkte, sondern auch im gesellschaftlichen und kulturellen Leben Leipzigs eine bemerkenswerte Rolle spielte, wollte besonders gewürdigt und geehrt sein. Nach seiner Rückkehr am 14. September 1833 erhielt Kühn von der Stadt die Urkunde über seine Ernennung zum Ehrenbürger Leipzigs. Außerdem wurden ihm ein Ehrenpokal und ein Gedicht, das im Namen der praktischen Leipziger Ärzte, Schüler des Jubilars, verfasst worden war, feierlich überreicht. Daraufhin folgten zahlreiche Gratulationsschreiben, so vom Dekan der Medizinischen Fakultät Karl August Kuhl (1774 – 1840) und von seinen Fachkollegen der Medizinischen Fakultät Johann Christian Gottlieb Jörg (1779 – 1856), Justus Radius (1797 – 1884) und Ernst Heinrich Weber (1795 – 1878), um nur einige zu nennen. Auch die Medizinische Gesellschaft zu Leipzig, ein Verein von 109 Ärzten, überreichte Kühn eine ihm gewidmete medizinische Schrift. Aber besonders erfreute Kühn, dass die von ihm im Jahre 1821 begonnene Ausgabe der Schriften des antiken Arztes und Naturforschers Galen mit dem 20. Band glücklich vollendet wurde.

Seinem achtzigsten Lebensjahr sich nähernd konnte Kühn auf ein erfülltes Leben und auf ein bedeutendes wissenschaftliches Werk zurückblicken. Geboren wurde Kühn am 12. Juli 1754 in Spergau bei Merseburg. Die ersten Unterrichtsstunden gab ihm sein Vater, Pfarrer Johann Christian Kühn. Nach dem Besuch der Schule in Merseburg und anschließend der Fürstenschule in Grimma studierte Kühn an der Leipziger Universität alte Sprachen und Medizin. Im Jahre 1779 wurde er Magister Philosophiae und promovierte 1783 zum Dr. med. mit der Dissertation „De forcipibus obstetriciis recens inventis“. In der folgenden Zeit verfasste Kühn die Schrift über die Philosophen als Förderer der Medizin vor Hippokrates „De Philosophis ante Hippocratem medicinae cultoribus, ad Celsi de medic[ina] praefat[ionem]“, in der seine fundierten Kenntnisse der alten Sprachen, Philosophie und Medizin ihren Niederschlag fanden. Diese Arbeit bildete die Grundlage für seine Habilitationsschrift. Seine Interessen galten auch aktuellen Problemen der damaligen Zeit, so entstand in den Jahren 1783 – 1785 seine „Geschichte der medicinischen und physikalischen Elektricität und der neuesten Versuche in dieser Wissenschaft“. Dieses zweibändige Werk weckte das Interesse eines anderen bedeutenden Arztes dieser Zeit – Ch. W. Hufeland (1762 – 1836) – und führte zu einer langjährigen Freundschaft beider Gelehrter.

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Im Jahre 1785 wurde Kühn zum außerordentlichen, 1801 zum ordentlichen Professor der Medizin ernannt. 1802 bis 1804 war er Ordinarius für Anatomie und Chirurgie, erhielt 1804 die Professur für Therapie und hatte dieses Ordinariat bis 1812 inne. Im Jahre 1812 übertrug man ihm nach der im Zuge der Neustrukturierung der Fakultät erfolgten Teilung dieses Lehrstuhls in Anatomie und Chirurgie die neu geschaffene Professur für Chirurgie. In dieser Eigenschaft wirkte er bis 1820. Im Jahre 1820 wurde Kühn die Professur für Physiologie und Pathologie verliehen. In dieser Stellung blieb er bis zu seinem Tode im Jahre 1840.

Alle wichtigen Gebiete der Medizin wurden von Kühn erfolgreich vertreten. Außerdem wurde Kühn 1805/06, 1809/10 und 1813/14 zum Rektor Magnifi cus der Universität gewählt, was von der besonderen Hochschätzung seiner Verdienste durch die akademische Gemeinschaft zeugte. Neben der Lehre entfaltete er eine rege Tätigkeit als Übersetzer, Herausgeber oder Bearbeiter medizinischer Werke des Altertums und der neueren Zeit. Zusätzlich verfasste er zahlreiche eigene Schriften. Seine Interessengebiete waren vor allem die antike Medizin, die therapeutische Anwendung der Elektrizität, die Pockenschutzimpfung (er gehörte zu ihren Befürwortern), die Geburtshilfe und Nahrungsmittelvergiftun-gen. So übersetzte Kühn u. a. Werke von W. Hunter (1784 f.), Th. Beddoes (1803, 1810), Ch. Bell (1822), edierte die Werke von Th. Sydenham (1826) und G. Baglivi (1827 – 28) und bearbeitete das Medizinische Lexikon von St. Blancard neu (1832 f.). Er war Mitherausgeber der „Neuen Sammlung der auserlesensten und neuesten Abhandlungen für Wundärzte“ (1782 – 1789) und gab 1789 – 1808 die „Commentarii de rebus in scientia naturali et medicina gestis“, 1816 – 36 die „Neue Sammlung auserlesener Abhandlungen zum Gebrauch practischer Ärzte“ heraus. Außerdem war er seit 1803 Mitredakteur der „(Neuen) Leipziger Literaturzeitung“ und seit 1808 des „Magazins der neuesten Erfi ndungen, Entdeckungen und Verbesserungen“, die interessierte Leipziger Leser mit den Neuigkeiten aus der Wissenschaft und Literatur bekannt machten.

Kühns größtes editorisches Unternehmen galt aber den antiken Ärzten. Als bibliographische Werke von herausragender Bedeutung verdienen Erwähnung die „Bibliotheca medica continens scripta medicorum omnis aevi etc.“ (1794), die „Addimenta“ zu dem Verzeichnis alter Ärzte in Fabricius’ Bibliotheca Graeca, sowie die unter dem Titel „Medicorum graecorum opera quae extant“ herausgegebene mehrbändige Sammlung der Werke von Hippokrates, Galenos, Aretaeos und Dioskurides (zus. mit K. Sprengel). Seine Abhandlungen über griechische Ärzte, über die medizinische Schule von Alexandria und arabische Medizin machten ihn in der Medizingeschichte berühmt.

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Als praktischer Arzt trat Kühn eher bescheiden in Erscheinung, was mit den Möglichkeiten des Faches Chirurgie in dieser Zeit zusammenhing. Seine Verdienste lagen mehr auf theoretischem Gebiet. Er war ein hervorragender Hochschullehrer, der bei seinen zahlreichen Schülern ein hohes Ansehen genoss, und ein anerkannter Medizinhistoriker, der durch seine Abhandlungen über Ärzte und Philosophen der Antike geschätzt wurde.

Kühn starb am 19. Juni 1840 in Leipzig.

Natalja Decker

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Paul FlechsigZum 75. Todestag am 22. Juli 2004

Vor 75 Jahren, am 22. Juli 1929, verstarb Paul Emil Flechsig, der langjäh-rige Ordinarius für Psychiatrie an der Universität Leipzig und „nach Wer-nicke … originellste unter den Hirnforschern der Neuzeit“ (Henneberg) in Leipzig. Mit seinen bahnbrechenden Arbeiten zur Anatomie des Gehirns ist Flechsig zu Recht zu den „Vätern der Neuroanatomie“ gerechnet wor-den.

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Paul Flechsig wurde am 29. Juni 1847 in Zwickau geboren. Nach dem Besuch des Gymnasiums studierte er von 1865 bis 1870 Medizin in Leipzig, u. a. bei den Gebrüdern Weber und bei Carl Ludwig, der früh seine Begabung erkannte und sein lebenslanger Förderer wurde. Mit 23 Jahren promovierte er 1870 mit einer Arbeit „Bemerkungen über meningitis luetica“. Nach zweijähriger Militärzeit wurde er 1872 Assistent am Pathologischen Institut und der Medizinischen Poliklinik unter Ernst Leberecht Wagner. 1873 betraute ihn Carl Ludwig mit der Leitung der histologischen Abteilung am Physiologischen Institut. Nach seiner Habilitation 1875 wurde er, der bis dahin keine nachweisbare Berührung mit der Psychiatrie gehabt hatte, auf Empfehlung des Internisten Adolf Kußmaul und auf Betreiben Carl Ludwigs auf den in Leipzig zu gründenden Lehrstuhl für Psychiatrie berufen und mit dem Aufbau der neuen Nervenklinik beauftragt. Gleichzeitig wurde er von der Fakultät freigestellt, um sich an den wichtigsten europäischen Kliniken auf seine klinische Tätigkeit vorzubereiten. Ludwig soll zu dieser auch für die damaligen Verhältnisse Aufsehen erregenden und ungewöhnlichen Berufung geäußert haben: „… von der Psyche wissen die Psychiater nichts, Flechsig weiß wenigstens etwas vom Gehirn!“. 1882 hielt Flechsig seine Antrittsrede als Direktor der Nervenklinik, aber erst 1884 wurde er zum Ordinarius für Psychiatrie berufen und war in dieser Funktion bis 1921 tätig.

Obwohl Flechsig die Aufgaben als Direktor der Klinik gewissenhaft und durchaus erfolgreich wahrnahm, gehörten sein Herz und seine Lebensarbeit der Hirnforschung. Bereits als Assistent am pathologischen Institut war Flechsig bei der Sektion eines totgeborenen Kindes die zeitlich unterschiedliche Entwicklung der Markscheiden (Myelinhülle) im Gehirn aufgefallen. Er erkannte sofort die grundlegende Bedeutung dieser Beobachtung, die zur Grundlage seiner gesamten späteren hirnanatomischen Forschung wurde. Indem er in seinem

„Myelogenetischen Grundgesetz“ zeigen konnte, dass die Nervenfasern einer defi nierten Leitungsbahn ihre Myelinhülle gleichzeitig, andere Fasersysteme aber in gesetzmäßiger Reihenfolge zeitlich versetzt entwickeln, hatte er zum ersten Mal eine verlässliche Methode gefunden, Ursprung und Verlauf der Nervenfasern im Gehirn durch die histologische Analyse der Entwicklung der Myelinhülle zu bestimmen. In jahrzehntelanger Arbeit untersuchte Flechsig die unterschiedlichen Faserzüge des Rückenmarkes (der tractus spinocerebellaris dorsalis wurde lange Zeit nach ihm genannt), und des Gehirns. U. a. charakterisierte er Ursprung und Verlauf der Pyramidenvorderstrangbahn, den Verlauf der zentralen Hörbahn und viele weitere Fasersysteme, deren Bezug zum Namen Flechsig heute kaum noch bekannt ist. In mühevoller Arbeit war er bis zuletzt dabei, eine myelogenetische Gliederung der Hirnrinde zu erstellen. Dabei unterschied er jene Rindenfelder,

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welche schon vor der Geburt reifen und mit den Sinnessphären verbunden sind, von jenen kortikalen Gebieten, die keine direkte Verschaltung mit den Sinnessphären mehr zeigen und die er „Assoziationszentren“ nannte. In ihnen sah er die höheren Gehirnleistungen lokalisiert. („Die geistigen Centren sind also Apparate, welche die Thätigkeit mehrerer innerer (und somit auch äusserer) Sinnesorgane zusammenfassen zu höheren Einheiten. Sie sind Centren der Association von Sinnes-Eindrücken verschiedener Qualität … sie können also specieller auch Associations-…Centren heissen…“ 1896). Hiermit erfasste er nicht nur mit großem Weitblick die grundlegenden Prinzipien multimodaler Informationsverarbeitung in der Hirnrinde, sondern formulierte zugleich die sich daraus ergebenden Konsequenzen funktioneller Störungen in diesen Gebieten („Die Erkrankung der Associations-Centren ist es vornehmlich, was geisteskrank macht; sie sind das eigentliche Object der Psychiatrie.“ 1896).

Flechsig erkannte darüber hinaus den Zusammenhang zwischen der gesetzmäßigen Reihenfolge der Reifung bestimmter Fasersysteme während der Hirnentwicklung und den Unterschieden in der Beteiligung dieser Systeme an neuropsychiatrischen Erkrankungen. Er schuf damit wesentliche, bis in die Gegenwart gültige Grundlagen für das Prinzip der selektiven neuronalen Vulnerabilität, welches für das Verständnis einer Vielzahl von Erkrankungen wie beispielsweise der Alzheimerschen Erkrankung von entscheidender Bedeutung ist.

Flechsig war stets fest davon überzeugt, dass alle seelischen Vorgänge direkt Erzeugnisse des Gehirns und durch die exakte neuroanatomische Analyse untersuch- und aufklärbar seien. In seiner Rektoratsrede von 1894 „Gehirn und Seele“, die ihn auch außerhalb seines Fachgebietes bekannt und berühmt machte, fasste er diese Gedanken zum ersten Mal zusammen.

Auch eine kurze Würdigung der Person Flechsigs wäre unvollständig, wenn man nicht auch auf seine Wirkung innerhalb wie außerhalb der Fakultät eingehen würde. Seine zahlreichen Schüler bezeugen, dass er ein Forscher aus Leidenschaft war, der seine Schüler mit seinen Ideen und seiner leidenschaftlichen Neugier mitzureißen verstand. Sein hirnanatomisches Laboratorium übte große Anziehungskraft auf Forscher aus aller Welt aus, und die Zahl großer und bekannter Namen auf der Liste der Gäste und Schüler ist lang.

Flechsigs Lokalisations- und Erklärungsversuche der höheren Hirnfunktionen auf dem Boden seiner neuroanatomischen Analysen, schon zu seinen Lebzeiten heftig umstritten, waren dem Zeitgeist verhaftet und hatten keinen Bestand.

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Geblieben aber ist sein großer Beitrag zur Erforschung der Struktur des Gehirns, mit dem er dazu beigetragen hat, die Grundlagen für die faszinierende Entwicklung der modernen Neurowissenschaften zu legen.

Das Institut für Hirnforschung der Leipziger Medizinischen Fakultät, das den Namen Paul Flechsigs trägt, begeht im Dezember 2004 den 30. Jahrestag seiner Gründung.

Volker Bigl

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Neben Ferdinand von Richthofen, Albrecht Penck und Alfred Hettner gehört der Leipziger Geograph Friedrich Ratzel zu jenen Wissenschaftlern, deren Arbeiten die deutsche Geographie im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts weltweit bekannt gemacht haben.

Friedrich RatzelZum 100. Todestag am 9. August 2004

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Während jedoch die Schriften der anderen heute oft nur noch Disziplinhisto-rikern vertraut sind, wurden Ratzels Gedanken schon zu Lebzeiten auf breiter gesellschaftlicher Basis rezipiert und sind auch heute noch Anlass zu wissen-schaftlichen Disputen. Wesentlich zu diesem Erfolg hat das geistige Milieu an der Universität Leipzig beigetragen, das von anregenden transdisziplinären Ge-sprächen geprägt war, die auch im Werk Ratzels ihre Spuren hinterlassen haben.

Geboren als jüngster von drei Brüdern am 30. August 1844 in Karlsruhe, begann Ratzel auf Wunsch seines Vaters, eines badischen Kammerdieners, zunächst eine Apothekerlehre und war nach seiner pharmazeutischen Prüfung 1863 anschlies-send einige Jahre als Apothekergehilfe tätig. Sein lebhaftes Interesse an den Na-turwissenschaften ließ ihn jedoch nach einer universitären Ausbildung streben, die er, nachdem er im Abendstudium das Abitur nachgeholt hatte, 1866 zunächst in Karlsruhe begann und dann in Heidelberg, Jena und Berlin fortsetzte. Bereits 1868 promovierte der 24-jährige mit der zoologischen Arbeit „Beiträge zur ana-tomischen und systematischen Kenntnis der Oligoschäten“ in Heidelberg. Ei-gentlich wollte Ratzel seine Studien danach in Montpellier und Cette vertiefen; fortgesetzter Geldmangel und der Verlust seines Mikroskopes veranlassten ihn jedoch, sich zunehmend auf die Abfassung von Reiseberichten zu verlegen, die er mit großem Erfolg seit Anfang der 1870er Jahre für die „Kölnische Zeitung“ schrieb (zusammengefasst veröffentlicht in: „Wanderungen eines Naturfor-schers“, 2 Bände, Leipzig 1873/74; „Städte- und Culturbilder aus Nordamerika“, 2 Bände, Leipzig 1876; „Aus Mexico“, Breslau 1878).

Durch die als Auslandskorrespondent unternommenen zahlreichen Reisen ent-deckte er seine Liebe zur Geographie, für die er sich nach kurzen weiteren Studi-en Ende 1875 an der Technischen Hochschule in München mit einer Arbeit über chinesische Auswanderung habilitierte. Seit 1876 außerordentlicher und seit 1880 ordentlicher Professor begann Ratzel schon während seiner Münchener Zeit eine rastlose Publikationstätigkeit. Er veröffentlichte zahlreiche größere und kleinere Aufsätze in verschiedensten geographischen Fachblättern, aber auch in Zeitschriften allgemeinen Inhalts und behandelte dabei eine breit gefächerte geographische Thematik, die von allgemeinen landeskundlichen Schriften über Gebirgsstudien bis hin zu Refl exionen über Fjordbildung reichten. Zusätzlich verfasste er umfangreiche Monographien wie z. B. „Die Erde in 24 allgemein-verständlichen Vorträgen über allgemeine Erdkunde“ (Stuttgart 1881) oder die zweibändige, vor allem auf Auswanderungswillige zielende Länderkunde über „Die Vereinigten Staaten von Nord-Amerika“ (München 1878/80). Daneben engagierte er sich nach wie vor in der Publizistik und kommentierte so manches (welt-)politische Ereignis aus geographischer Sicht.

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Diese die zeitgenössischen politischen und fachlichen Diskussionen immer wieder aufnehmenden und konturierenden Publikationen machten Ratzel rasch über Bayern hinaus bekannt. Mehrfach lehnte er an ihn ergangene ehrenvolle Angebote ab, folgte aber schließlich 1886 dem Ruf auf das Ordinariat für Ge-ographie an der Universität Leipzig, das er 36 Semester bis zu seinem Tod am 9. August 1904 bekleiden sollte. Wenngleich er sich in München nicht unwohl gefühlt hatte, wurde Ratzel doch von der Reputation der Leipziger Universität angelockt. Schnell fand er Anschluss an einen anregenden Kreis von Kollegen, zu dem neben dem Nationalökonomen Wilhelm Roscher der Chemiker Wilhelm Ostwald, der Anglist Richard Wülker, der Psychologe Wilhelm Wundt, der The-ologe Rudolf Knittel und der Historiker Karl Lamprecht zählten. In der Regel traf sich dieses „Leipziger Kränzchen“ Freitagabend zu einem zwanglosen Ge-dankenaustausch, der schon bald auch in Friedrich Ratzels Arbeiten deutliche Spuren hinterließ.

Unter Ratzels Ägide nahm das ehedem kleine Geographische Seminar, das zu-nächst im 3. und dann im 2. Stock des alten Paulinums an der Universitätsstraße untergebracht war, einen schnellen Aufschwung. Die kleine Bibliothek wuchs im Laufe seiner Amtszeit auf über 4 000 Bände, einschließlich etwa 50 laufenden Fachzeitschriften, sowie 200 Atlanten und einige tausend Landkarten an und umfasste auch ein umfangreiches Fotoarchiv. Ratzel war (in späteren Jahren zu seinem ausgesprochenen Leidwesen) ein sehr beliebter Hochschullehrer. Wäh-rend er in den ersten Jahren seiner Leipziger Zeit im Schnitt zwischen 40 und 70 Studierende unterrichtete, stieg deren Zahl nach der Gründung der Leipziger Handelshochschule, zu deren geistigen Vätern er zählte, auf über 300 an. Im Unterschied zu vielen seiner Fachkollegen nahm er jedoch so gut wie nie an Ta-gungen und internationalen Kongressen teil. Gleichwohl engagierte er sich sehr für den Leipziger Verein für Erdkunde, gehörte dem Vorstand der Sektion Leip-zig der Deutschen Kolonialgesellschaft an, war Mitglied der Kgl. Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften und der Kommission für sächsische Geschichte sowie Ehrenmitglied der Geographischen Gesellschaften in München, Halle, Frankfurt a. M., Hamburg, Bern, London, Rom und Bukarest.

Ratzel war ein Gelehrter, der neben dem Hochschulunterricht vor allem über seine Publikationen wirkte. Sein über 1 200 Titel umfassendes Oeuvre sucht sei-nesgleichen; wie kein zweiter Geograph war er auf dem Buch- und Zeitschriften-markt, aber auch in Reaktion auf tagespolitische Ereignisse in der Presse präsent, erfasste und kommentierte Zeitströmungen in Texten, die oft einen mehr intuitiv-ästhetischen als systematisch-begriffl ichen Zugang verrieten. Das hat ihm bei so manchem um methodische Stringenz bemühten Fachgenossen mehr oder minder

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unverhohlene Kritik eingetragen, nicht zuletzt auch deshalb, weil sich dieser Freigeist nicht in die spanischen Stiefel der die Geographie damals prägenden positivistischen Fachphilosophie einschnüren ließ. Man rezipierte Ratzel, tat es aber ungern, zumal er für die Begriffe der Fachgenossen äußerst heikle Themen ansprach. So etwa mit seiner zweibändigen Anthropogeographie (1882/91), de-ren erster Teil die Grundzüge der Anwendung der Erdkunde auf die Geschichte refl ektierte und damit einen Themenbereich wieder in den disziplinären Diskurs einbrachte, der die Nähe des Faches zur übermächtigen Geschichtswissenschaft formulierte. Auch die dreibändige, 1885 – 1888 veröffentlichte „Völkerkunde“, die ebenso wie die „Anthropogeographie“ auf Anregungen von Adolf Bastian und Moritz Wagner fußte, erwies sich in den Augen von vielen als ein mitt-lerweile unstatthaftes Wildern auf bereits besetztem Terrain. Als grenzwertig erlebten zahlreiche Fachvertreter desgleichen die 1897 publizierte „Politische Geographie“, die das Verhältnis von Staat und Raum diskutierte und einer auf die unbedingte Bedeutung von Naturgrenzen eingeschworenen Disziplin den unangenehmen Gedanken aufnötigte, dass Räume nicht statisch, sondern pro-zessual zu fassen seien. Noch viel befremdlicher erschien das 1904 publizierte Werk „Über Naturschilderung“, das den Versuch unternahm, wissenschaftliche, ästhetische und künstlerische Wahrheit zu einer Naturwahrheit zu verschmelzen und die Geographie zur Repräsentantin dieser zwischen den Kulturen stehenden Darstellungspraxis zu machen.

So eigenartig und schwer verdaulich Ratzels Veröffentlichungen für die damali-ge Geographie waren, so verlegerisch erfolgreich erwiesen sie sich im gesamtge-sellschaftlichen Rahmen. Viele seiner Monographien erlebten noch zu Lebzeiten eine zweite Aufl age und wurden auch nach seinem Tode noch gedruckt. Sein Einfl uss auf andere Forschungsgebiete, insbesondere die Kulturwissenschaf-ten, war nicht von der Hand zu weisen. Seine Landeskunde von Deutschland (Leipzig 1898) stand in der Bibliothek vieler kolonial- und fl ottenbegeisterter Bildungsbürger.

Wie kein anderer Geograph seiner Zeit hat sich Ratzel von der Ambivalenz der Globalisierung inspirieren lassen und eine Welt neu gedeutet, die mit rasanter Geschwindigkeit zu einem globalen Ganzen zusammenwuchs und dadurch gleichzeitig ein neues Bedürfnis nach Heimat und Nähe entstehen ließ. In der Geographie selbst sind Ratzels Gedanken erst allmählich, dann aber umso intensiver rezipiert worden. Noch im Kaiserreich wurden seine Vorstellungen zur Grundlage eines mit anschaulichen Charakterbildern operierenden Erdkun-deunterrichts, der ein Verständnis sowohl von weltweiten Zusammenhängen als auch von lokalen Besonderheiten zu wecken versuchte. Der von ihm bekannt

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gemachte Begriff „Anthropogeographie“ wurde zu einer heute erst verblas-senden Sammelbezeichnung für alle sich mit dem Menschen beschäftigenden Forschungsbemühungen des Faches. Seine „Politische Geographie“ wurde zur Basis der sich in der Weimarer Republik über die Fächergrenzen hinweg formie-renden Geopolitik und in der Rezeption Karl Haushofers zu einer der Quellen der nationalsozialistischen Lebensraumideologie. Nachdem es in der Nachkriegszeit lange Zeit still um Ratzel geworden war, werden seine Schriften derzeit, nicht zuletzt im Zuge der Renaissance der Politischen Geographie und der Wiederent-deckung des Raumes in den Kulturwissenschaften, abermals auf breiter Ebene diskutiert. Wer indessen Ratzel im Original lesen möchte und sich nicht von seiner Marotte abschrecken lässt, Postkarten bisweilen zugleich längs und quer zu beschreiben, kann dies in Leipzig tun: sein umfangreicher Nachlass wird im Leibniz-Institut für Länderkunde in Leipzig-Paunsdorf aufbewahrt.

Ute Wardenga

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„Damals war Gründerzeit …“. So charakterisiert Hans Mayer die endvier-ziger und frühen fünfziger Jahre in der SBZ/DDR und auch an der Leip-ziger Universität. In dieser Gründerphase erhält das Institut für Publizistik und Zeitungswissenschaft am 20. September 1954 den Rang einer selb-ständigen Fakultät. Zum Dekan der Fakultät für Journalistik wird Profesor Dr. Hermann Budzislawski berufen.

Fakultät für JournalistikZum 50. Jahrestag der Gründung am 20. September 2004

Hermann Budzislawski (1901 – 1978)

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Die journalistischen Medien waren von Anfang an Sorgenkinder der SED-Führung. Die 1. Pressekonferenz des Parteivorstandes der SED vom 9. und 10. Februar 1950 hatte die geringe Wirksamkeit der Presse und des Radios moniert, die ungenügende Qualifi zierung der Journalisten beklagt und sich mit der Aus-bildung des Nachwuchses für die Redaktionen befasst. Gleiche Töne wurden ein Jahr später auf der 2. Pressekonferenz des ZK der SED am 7. und 8. März 1951 angestimmt, gipfelnd in der Forderung, das im Januar reorganisierte Leipziger Institut für Publizistik und Zeitungswissenschaft beschleunigt weiter auszubau-en. Schon ab September 1951 sollten 200 Studierende am Institut in einem drei-jährigen Studium zu Journalisten herangebildet werden. Mit dem Häuserkom-plex Fockestraße 8, Tieckstraße 2 – 6 und Kurt-Eisner-Straße 1 in der Leipziger Südvorstadt erhielt das Institut eigene Lehr- und Internatsgebäude. Die Zäune und Mauern, die seit je dieses Areal umgeben hatten, trugen das Ihre dazu bei, die Bildungsstätte mit der Metapher „Rotes Kloster“ zu apostrophieren. Ab Ja-nuar 1953 wurden, ebenfalls Beschluss der 2. Pressekonferenz, Wissenschaftler des Instituts verpfl ichtet, neben der Erfüllung ihrer universitären Aufgaben in Vier-Monate-Kurzlehrgängen bereits praktisch tätige Journalisten zu schulen. Im September 1953 wurde am Institut eine Abteilung Fernstudium gegründet. Ausgewählte Redakteure sollten auf dem Wege eines Fernstudiums Universitäts-bildung erhalten. Sofort wurden 250 Fernstudenten immatrikuliert.

Alle diese und weitere Maßnahmen (Journalistenausbildung an der Universität Halle, Errichtung einer Journalistenschule in Putbus auf Rügen u. a.) erwiesen sich als Stückwerk. Mit ihnen ließ sich letztlich der Mangel an talentierten und der DDR treu ergebenen Journalisten in den Redaktionen nicht beheben. In der SED-Parteiführung setzte sich die Erkenntnis durch, dass eine akademische Journalistenausbildung umfassender, vielseitiger und fundierter sein muss, als das bei den bisherigen Ansätzen der Fall war. Zu dieser Einsicht trug auch die bittere Erfahrung des Aufstands vom 17. Juni 1953 bei, der die politische und ideologische Wirkungslosigkeit der eigenen Agitations- und Propagandamittel in der Bevölkerung der DDR vor aller Welt dokumentiert hatte.

Auf der Ebene eines Universitätsinstituts, das nur über einen beschränkten Wirkungsradius verfügte und keine eigenen Weichenstellungen vornehmen konnte, sondern an die Beschlüsse der übergeordneten Philosophischen Fakul-tät gebunden war, ließen sich ohne ständige Reibung keine so weitreichenden Veränderungen herbeiführen, wie sie der SED-Führung vorschwebten. Die Gründung der Fakultät für Journalistik war aber nicht nur eine organisatorische, sondern eine prononciert politische Entscheidung. Auf eine eigenständige Fa-

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kultät konnte schließlich in direkter Weise lenkend Einfl uss genommen werden, beginnend mit der Auswahl des Lehrpersonals, der Studierenden, der Festlegung von Grundsätzen und Akzentuierungen des Studien- und Forschungsprogramms bis zum Einsatz der Absolventen. So bekam die junge Fakultät von Anbeginn einen Sonderstatus, der nach der Hochschulreform ab 1969 auch auf die Sektion Journalistik überging: Es gab die doppelte Unterstellung unter das Hochschul-ministerium und die Abteilung Agitation des ZK der SED. Wer innerhalb dieser zwei Machtzentren das Sagen hatte, beantwortet sich von selbst. Erst nach der Absetzung Honeckers im Oktober 1989 löste sich der Rat der Sektion aus dieser doppelten Klammer.

An einer deutschsprachigen Universität hatte es bisher noch keine Journalisten-fakultät gegeben. Das Schaffen einer solchen Einrichtung erweckte deshalb weit über die Landesgrenzen hinaus Interesse. Auch in der Bundesrepublik wurde das Ereignis aufmerksam registriert, journalistikwissenschaftliche Forschung und Lehre waren an den traditionellen Publizistikinstituten wenig entwickelt. Als Vorbild für die Leipziger Gründung diente offenkundig das sowjetische Modell der akademischen Journalistenausbildung. Die Moskauer Lomonossow-Universität führte seit 1952 eine Fakultät für Journalistik. Zur Unterstützung des Aufbaus der jungen Schwesterinstitution in der DDR delegierte die Universität Kiew von 1954 bis 1956 den Pressehistoriker Wladimir Andrejewitsch Ruban als Gastprofessor nach Leipzig. Er las über russische, bolschewistische und sowje-tische Pressegeschichte.

Durch die Fakultätsgründung erfuhr das Fach mit seinen zahlreichen Einzeldiszi-plinen eine starke Aufwertung. Sie bildete nicht nur eine Zäsur für die Lehre im neuen Hauptstudiengang Diplom-Journalistik, nicht minder bedeutsam war sie für die Profi lierung der Forschung. Allerdings kann nicht verschwiegen werden, dass das Bemühen um die Etablierung der jungen Wissenschaft vom Journalis-mus und seinen Medien innerhalb und außerhalb der Universität, auch bei den Journalisten selbst, auf mancherlei Vorbehalt traf. Das war nicht nur politisch begründet, es ging auch um die Anerkennung der Journalistik als eigenständige Wissenschaft selbst. Dabei hatte das Fach an der Universität Leipzig eine lange Tradition. Anfänge einer wissenschaftlichen Beschäftigung mit Pressethemen reichten bis in das 17. Jahrhundert zurück, ehe schließlich im Jahre 1916 der Nationalökonom Karl Bücher, durch nicht unbedeutende Geldspenden des Zei-tungsverlegers Edgar Herfurth, Herausgeber der „Leipziger Neuesten Nachrich-ten“, unterstützt, hier das erste deutsche Universitätsinstitut für Zeitungskunde gründete.

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Die Fakultät gliedert sich zunächst in das Institut für Theorie und Praxis der Pressearbeit und das Institut für Pressegeschichte. 1957 entsteht das Institut für Rundfunkjournalistik (ab 1967 Institut für Rundfunk- und Fernsehjournalistik), 1959 kommt das Institut für Literarische Publizistik und Stilistik hinzu. Inner-halb des Instituts für Theorie und Praxis der Pressearbeit wird im gleichen Jahr eine Abteilung Bildjournalistik gegründet. Das Direktstudium umfasst vier, das Fernstudium fünf Jahre. Die Studierenden gehören zumeist der SED oder einer anderen Blockpartei an, es gibt aber auch parteilose Studenten.

Der Ruf der jungen Fakultät verbindet sich über lange Zeit vor allem mit dem Namen seines ersten Dekans. Den siebenundvierzigjährigen Dr. Hermann Budzislawski erreichte 1948 in seinem US-amerikanischen Exil das Angebot der Universität Leipzig, als Ordentlicher Professor für Internationales Pressewesen und Direktor des Instituts für Publizistik der Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät in die Messestadt überzusiedeln. Die lapidare Begründung des Fakultätsrates lautete, dass Journalisten erzogen werden sollten, „die über die Entwicklung des internationalen Pressewesens, über ihre ökonomischen Hintergründe und Verfl echtungen, wie sie charakteristisch in den USA“ ausgeformt sind, Kenntnisse haben müssten. Den damals Verantwortlichen war mit dieser Wahl ohne Zweifel ein großer Wurf gelungen. Es gab zu dieser Zeit aus fachlicher Sicht in der SBZ und späteren DDR für die Neuprofi lierung der akademischen Journalistenausbildung kaum eine kompetentere Persönlichkeit als den vielfach publizistisch und auch wissenschaftlich ausgewiesenen Hermann Budzislawski.

Aufhorchen ließ die Fachwelt noch ein zweiter Name: Wieland Herzfelde. Er gehörte in den ersten Jahren gleichfalls zum Lehrkörper der jungen Fakultät für Journalistik. Der einstige Dada-Autor, später als Lyriker, Erzähler, Gründer des renommierten Malik-Verlages sowie in New York des Aurora-Verlages bekannt geworden, war zusammen mit Ernst Bloch aus den USA zurückgekehrt und hatte 1949 in Leipzig eine Professur für Literatursoziologie angenommen. Seine zwi-schen 1954 und 1956 Woche für Woche gehaltenen Vorlesungen über moderne Weltliteratur im Hörsaal 1 der Tieckstraße 2 bleiben für alle, die es erlebten, unvergessen.

Beiden Männern blieben freilich unmittelbar nach der Rückkehr Enttäuschun-gen nicht erspart. Sie gerieten als Westemigranten in das Mahlwerk der von Stalin gesteuerten Verfolgungskampagne, bei der Mitglieder einer vorgeblichen Agentenorganisation um Noel H. Field ausfi ndig gemacht werden sollten. Für Budzislawski kam die Berufung zum Dekan einer Rehabilitierung gleich. Wer

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sich mit dem Wissen von heute abschätzig über das Leben und Werk dieser Persönlichkeiten äußert, wie es zum Beispiel in Bezug auf Budzislawski nach der Wende in nicht wenigen Medienbeiträgen geschehen ist, sollte die schlimme Erfahrung auch dieser Jahre nicht unterschlagen.

Hermann Budzislawski hatte entscheidenden Anteil an der Profi lierung der Fakultät. Sein Grundkonzept prägte noch lange nach seinem Ausscheiden den Leipziger Lehr- und Forschungsbetrieb: Neben theoretischen Kenntnissen über die Medien Presse, Hörfunk und Fernsehen und deren Geschichte muss der künftige Journalist die Möglichkeit erhalten, sich während des Studiums erste handwerkliche Fähigkeiten und Fertigkeiten anzueignen. Darüber hinaus sind ihm an der Universität mit ihren vielen Wissenschaftszweigen und Spezialisierungen solide Sachkenntnisse auf mindestens einem Gesellschaftsgebiet (Politik, Wirtschaft, Kultur usw.) zu vermitteln. In diesem Sinne inspirierte Hermann Budzislawski auch die Forschung. Weniger durch eigene historische oder theoretische Erkundung, dazu verblieb ihm kaum Zeit, als vielmehr durch unkonventionelles Anregen von Forschungsthemen bei seinen jüngeren Mitarbeitern hat er Verdienste erworben. Hier wurde der Boden für wissenschaftliche Leistungen bereitet, die auf dem Fachgebiet bis heute ihre Gültigkeit behalten haben.

In der Amtszeit von Hermann Budzislawski als Dekan gab es in der Lehre und Forschung Spielräume, die später nicht mehr existierten. Um diese Freiräume hat Budzislawski gekämpft. Wenn die „Leipziger Journalistik“ keine Parteihomiletik, keine „reine Predigtlehre“ wurde, ist das wesentlich ihm zu danken. Seine Auffassung vom Berufsbild des Journalisten, die der niemals zur Gänze angepasste Wissenschaftler entwickelt hat, unterschied sich erheblich von entsprechenden Bekundungen, wie sie die SED-Spitze bereits zu dieser Zeit und in späteren Jahren noch viel deutlicher trifft. In seinen Lehrveranstaltungen, vor allem in seinen Vorlesungen zur deutschen Pressegeschichte, glänzte er durch freie Rede und eine brillante Rhetorik. Leider begegneten ihm seine Studenten mit den Jahren immer weniger direkt. Die Wirkungssphäre des Gelehrten blieb nicht auf Leipzig beschränkt. In den fünfziger und sechziger Jahren war der erfahrene Wissenschaftler häufi g im In- und Ausland auf diplomatischem und politischem Parkett tätig. Er vertrat die DDR in mehreren internationalen Gremien. In den Zeiten der diplomatischen Blockade der DDR sandte ihn die Regierung als Sonderbotschafter nach Indien, wo er von Nehru empfangen wurde. Budzislawskis Studenten revoltierten, mussten sie doch in der Vorlesung häufi g mit seinen Assistenten vorlieb nehmen. Wenn er dann wieder einmal zu Hause war, entschädigte der liebenswürdige, humorvolle, oft selbstironische

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Mann, der nie eine Krawatte trug, sondern sich mit einem „Mascherl“ zierte, sein Auditorium mit einem geistvollen Vortrag. Er brachte „Welt“ in die grauen Gemäuer.

Bis 1962 übte Budzislawski das Amt des Dekans der Fakultät für Journalistik aus, aus heutiger Sicht eine unvorstellbar lange Zeit. Der Wechsel erschien nach außen als normale Stafettenübergabe an einen Jüngeren. In Wirklichkeit wollten oder mussten politisch einfl ussreiche Freunde von Budzislawski in Berlin den oft unbotmäßigen Mann aus der Schusslinie des mächtigen Leipziger SED-Be-zirkssekretärs Paul Fröhlich nehmen. An der Journalistenfakultät sollte endlich ein schärferer Wind wehen. Da stand Budzislawski im Wege.

Wer heute an die Gründung der Fakultät für Journalistik erinnert, muss konze-dieren, dass durch diese Institution wie durch die ganze Universität Leipzig der Riss geht, der die zweite Hälfte des konfl iktreichen vergangenen Jahrhunderts, die Zeit des Kalten Krieges, insgesamt prägte. Die Journalistenausbildung stand im Dienste einer Partei, für die Demokratie und Meinungsfreiheit nichts galten. Studenten, aber auch Wissenschaftler, wurden reglementiert und diszipliniert. Es gab Zuspitzung und Übereifer. Mancher hat Schaden erlitten, wurde gede-mütigt, gemaßregelt, berufl iche Karrieren wurden beeinträchtigt oder ganz un-terbrochen. Unter den Mitgliedern des Studentenkabaretts „Rat der Spötter“, die verhaftet und angeklagt wurden, befanden sich auch Studierende der Fakultät für Journalistik. Für alle, die Unrecht erlitten haben, relativiert sich verständlicher-weise die Erinnerung an diese Institution und auch der Klang manchen Namens. Wenn bis zur 600-Jahrfeier 2009 eine vollständige Geschichte der Universität Leipzig erarbeitet werden soll, kann um die widerspruchsvolle Entwicklung der presse- und journalistikwissenschaftlichen Disziplinen kein Bogen geschlagen werden. Die Gründung der Fakultät für Journalistik vor fünfzig Jahren wird da-bei mehr als eine Fußnote sein.

Siegfried Schmidt

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Anfang Oktober 2004 veranstaltete die Juristenfakultät der Universität Leip-zig aus Anlass des 125. Jahrestages der Gründung des Reichsgerichts ein Festkolloquium. Bereits 100 Jahre zuvor, zum 25. Geburtstag des höchsten ordentlichen Gerichts des Deutschen Reiches, hatte die Juristenfakultät mit der Ehrenpromotion zehn seiner Mitglieder die besonderen Beziehungen zum Reichsgericht verdeutlicht.

Zur ReichsgerichtsfeierZum 100. Jahrestag der zehn Ehrenpromotionen der Juristenfakultät am 1. Oktober 2004

Reichsgericht in Leipzig, jetzt Sitz des Bundesverwaltungsgerichts

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Am 1. Oktober 1879 wurde in der Aula der Universität Leipzig das Reichsgericht feierlich eröffnet. Das höchste deutsche Gericht beging den 1. Oktober in den folgenden Jahren immer festlich, mit besonderem Glanz am 1. Oktober 1904, dem ersten „runden“ Geburtstag. An diesem Tag feierte das Reichsgericht sein 25-jähriges Bestehen mit einem großen Festmahl, das im großen Festsaal des Gesellschaftshauses vom Palmengarten etwa 200 Gäste zusammenführte. Als Vertreter der Juristenfakultät nahmen die Professoren Adolf Wach, Karl Binding, Emil Friedberg und Emil Strohal teil. Der Senatspräsident Löwenstein gedachte in seinem historischen Rückblick der „vortreffl ichen Beziehungen des Reichsge-richts zur Stadt Leipzig und zur juristischen Fakultät der hiesigen Universität“. Im Gegenzug toastete der Dekan der Juristenfakultät Strohal auf das Reichsge-richt. Das Festmahl endete mit einem Frühstück, das in der Mittagsstunde des 2. Oktober in einem abgeschlossenen Raum des Ratskellers stattfand.

Die Beteiligung der Juristenfakultät an dieser Jubelfeier beschränkte sich indes-sen nicht auf den geschilderten Besuch der vier Professoren. Vielmehr kam es zu den im Titel angesprochenen zehn Ehrenpromotionen „aus Anlass der Reichsge-richtsfeier“. Die Promotionsurkunden überreichte eine Deputation, die aus dem Dekan und den Professoren Binding und Friedberg bestand, am Jubiläumstage

„in feierlicher Weise“.

Ausgezeichnet wurden zwei Senatspräsidenten, sechs Reichsgerichtsräte sowie ein Reichsanwalt und ein Rechtsanwalt am Reichsgericht. Dabei handelte es sich um die Senatspräsidenten Leberecht Fürchtegott Wilhelm Maßmann und Ludwig Treplin. Wilhelm Maßmann (1837 – 1916) gehört zu den drei Reichs-gerichtsräten, die, am 1. Oktober 1879 ernannt, 1904 noch im Amt waren. 1899 war er zum Senatspräsidenten ernannt worden. Ludwig Treplin (1834 – 1924) kam 1885 als Reichsanwalt an das Reichsgericht. Wann er in das Richteramt wechselte, ist nicht bekannt. Senatspräsident wurde er 1897.

Die Ehrenpromotion erhielten zudem die Reichsgerichtsräte Heinrich Ferdinand Konstantin Beer, Bernhard Gottlieb Konrad Förster, Gustav Wilhelm Ludwig Kaufmann, Hugo Wilhelm Sigmund Allwill Planck, Heinrich Friedrich Schütt und Adolf Richard Stellmacher. Beer (1829 – 1926) gehörte dem Reichsgericht seit 1885 an, Schütt (1835 – 1918) seit 1886, Stell macher (1831 – 1907) seit 1890, Kaufmann (1842 – 1919) und Planck (1846 – 1922) seit 1893 sowie Förs-ter (1842 – 1906) seit 1895. Stellmacher war allerdings bereits 1903 aus diesem Amt ausgeschieden.

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Als Reichsanwalt wurde Arthur Zweigert (1850 – 1923) ausgezeichnet. Er war 1897 zum Reichsanwalt ernannt worden und wurde 1907 Oberreichsanwalt.

Als beim Reichsgericht zugelassener Anwalt wurde schließlich noch Franz Julius Robert Patzki (1836 – 1905) geehrt. Er hatte seine Zulassung als Rechtsanwalt beim Reichsgericht bereits zum 1. Oktober 1879 erhalten.

Über die Entscheidungsfi ndung in der Juristenfakultät ist nichts überliefert. Ebenso wenig ist über die formalen Voraus setzungen für eine solche Ehrung bekannt. Die damals geltende Promotionsordnung der Leipziger Juristenfakultät enthält keine Regelung der Ehrenpromotion.

Einige Rückschlüsse lassen sich aus der Verteilung der Ehrun gen ziehen. Auf-fällig ist, dass der damalige Präsident des Reichsgerichts Karl Konrad Gutbrod nicht zum Doktor h. c. ernannt wurde. Er war allerdings schon promoviert. Auf der Ebene der Senatspräsidenten wurden die Zivil- und die Strafsenate gleich-mäßig bedacht, während bei den Reichsgerichtsräten die Zivilrichter deutlich überwiegen. Lediglich Stellmacher gehörte einem Strafsenat an. Die Verteilung auf die Zivilsenate erfolgte so, wie sich fünf (mit Maßmann sechs) Ehrungen auf sieben Senate verteilen lassen, also relativ gerecht. Aus den vier Strafsenaten wurde kein aktiver Reichsgerichtsrat geehrt! Von den fünf Reichsanwälten wur-de einer ehrenhalber promoviert. Über das Zahlenverhältnis bei den Rechtsan-wälten beim Reichsgericht lässt sich nichts sagen. Auf die landsmannschaftliche Herkunft wurde vermutlich keine Rücksicht genommen. Unter den Geehrten befi nden sich neun Preußen und ein Mecklenburger, also kein Sachse und kein Süddeutscher!

Bernd-Rüdiger Kern

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Wilhelm Eduard WeberZum 200. Geburtstag am 24. Oktober 2004

Wilhelm Eduard Weber, dessen Geburtstag sich am 24. Oktober 2004 zum 200. Male jährte, gehört zu den bedeutendsten Physikern des 19. Jahrhunderts. Sein Wirken ist vor allem mit Göttingen verbunden, doch für die Jahre 1843 bis 49 folgte er einem Ruf an die Universität Leipzig, wo ihn seine Forschungen zum Grundgesetz der elektromagnetischen Wir-kung führten.

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Wilhelm Eduard Webers Lebenszeit (24. Oktober 1804 – 23. Juni 1891) füllt fast das gesamte 19. Jahrhundert aus; sechs Jahre seines Lebens verbrachte Weber als Professor der Physik in Leipzig (1843 – 1849), in einer Stadt, der er seit seiner Jugend sehr verbunden war, denn zwei seiner Brüder waren an der Leipziger Universität Professoren: Ernst Heinrich Weber (1795 – 1878) für Physiologie und Eduard Weber (1806 – 1871) für Anatomie. Bereits in seiner Schulzeit hatte Wilhelm Weber mit dem älteren Bruder Ernst Versuche über die Wellenbewegung angestellt, wozu er sich, für längere Zeit vom Schulbesuch befreit, nach Leipzig begeben hatte. Das Ergebnis war schließlich eine Buchveröffentlichung,

„Wellenlehre, auf Experimente gegründet“ (1825). Auch mit dem jüngeren Bruder Eduard hat Wilhelm Weber zusammen gearbeitet.

Wilhelm Weber war das fünfte Kind von zwölf des Wittenberger Professors für Theologie Michael Weber und seiner Frau. Durch den Napoleonischen Krieg kam die Familie nach Halle, wo Wilhelm das Abitur ablegte und sich 1822 als Mathematikstudent immatrikulierte. Vier Jahre später wurde er mit einer Arbeit über Orgelpfeifen promoviert, und bereits 1827 folgte die Habilitation. Weber wurde damit 1827 Privatdozent an der halleschen Universität und dort schon 1828 zum außerordentlichen Professor ernannt. Mittel für eine Studienreise nach Göttingen und Paris, zwei Hochburgen der Naturwissenschaft, wurden ihm allerdings abgeschlagen. Gemeinsam mit seinem Bruder Ernst reiste er jedoch zu der von Alexander von Humboldt 1828 in Berlin organisierten 17. Tagung der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte, wo sein Vortrag Carl Friedrich Gauß, den princeps mathematicorum, so beeindruckte, dass er den jungen Mann nach Göttingen holte, wo Weber 1831 Nachfolger des verstorbenen Tobias Mayer wurde. Die Wertschätzung des großen Mathematikers, der sehr sparsam mit Lob umging, fi ndet sich ungeschminkt in einem Brief an Johann Franz Encke: „In der Tat ist mir mein Leben durch sein [Webers] Hiersein viel lieber geworden. Er ist ebenso liebenswürdig von Charakter als talentreich“ (12.05.1832).

Es folgten Jahre fruchtbarer wissenschaftlicher Zusammenarbeit mit Gauß, die vor allem geomagnetischen Forschungen gewidmet war. Ein „Nebenprodukt“ war die Einrichtung eines elektrischen Telegraphen 1833 gewesen, bei welchem galvanische Ströme festgelegte Zeichen und so Informationen zwischen dem physikalischen Institut und der Sternwarte, die etwa 1,5 km voneinander entfernt waren, übermittelten. Gauß schrieb an Alexander von Humboldt: „Unser Weber hat das Verdienst, diese Drähte [des Telegraphen] gezogen zu haben ... ganz allein. Er hat dabei unbeschreibliche Geduld erwiesen“ (13.06.1833). Weber war es, der in unermüdlichem Einsatz die praktischen Voraussetzungen für den Einsatz des Telegraphen schuf und die weitreichende Vision von Gauß

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wenigstens in einer „kleinen“ Versuchsanordnung zu verwirklichen half; aber ein Budget von 150 Talern pro Jahr ließ Gauß zurecht klagen, dass dies nicht ausreiche, um die Tragweite der neuen Erfi ndung bei der gerade in Erscheinung tretenden Eisenbahn oder im ausgedehnten russischen Reich wirkungsvoll zu nützen. Neben den umfangreichen elektromagnetischen Untersuchungen widmete sich Weber auch physikalisch-physiologischen Versuchen und brachte beispielsweise mit seinem Bruder Eduard 1836 eine „Mechanik der menschlichen Gehwerkzeuge“ heraus.

Der Protest von Weber gegen die Aufhebung der 1833 errungenen liberalen Verfassung im Königreich Hannover im Zusammenhang mit der Thronbesteigung Ernst Augusts im Jahre 1837 brachte ihn um sein Amt. Die Anteilnahme am Schicksal der protestierenden Göttinger Professoren, den sogenannten Göttinger Sieben, zu denen neben den Brüdern Grimm, dem Schwiegersohn Ewald von Gauß u. a. auch Weber gehörte, schlug sich in Sammlungen für die demokratischen Männer nieder, die übrigens von Leipzig aus koordiniert wurden und bis Ende 1842 insgesamt 22.357 Rthlr. einbrachten. Dieser Fonds erlaubte es dem stellungslosen Weber, in Göttingen in der Nähe des verehrten Gauß zu bleiben und noch 1841 die Direktorenstelle der technischen Lehranstalt in Dresden abzulehnen, aber die bedrückende Abhängigkeit ließ ihn schließlich 1842 einen Ruf nach Leipzig annehmen, und Ostern 1843 trat er sein neues Amt an. Zwar entfernte sich Weber damit von Gauß, aber er fand einen gewissen Ersatz im Umgang mit den ihm so eng verbundenen Brüdern Ernst Heinrich und Eduard. Gauß hat er übrigens häufi g von Leipzig aus besucht. Gauß schrieb nach Webers Weggang an diesen, dass er in mathematische Spekulationen viel Zeit gesteckt hätte und sich bei dieser Gelegenheit auch mit dem barycentrischen Calcul seines früheren Schülers August Ferdinand Möbius befasst habe, der inzwischen in Leipzig Professor der Astronomie war. Weber war in Leipzig der Nachfolger von Ernst Theodor Fechner geworden, der seine Physikprofessur aus Krankheitsgründen ruhen ließ und nach seiner Genesung in die Philosophie und Psychologie wechselte. Weber fand jedoch in Fechner einen interessierten und kompetenten Gesprächspartner für naturwissenschaftliche Fragen.

Zu Webers Zeit, also mit dem Beginn des 19. Jahrhunderts, gab es allgemeingültige mechanische Gesetze, insbesondere die Newtonschen Bewegungsgesetze, aus denen für wägbare Körper im Prinzip die gesamte Bewegungslehre ableitbar war, was etwa durch die Erfolge in der Astronomie augenfällig wurde. Allerdings ließen sich so nicht alle damals bekannten physikalischen Phänomene erklären und behandeln, denn wie die unwägbaren Substanzen Elektrizität, Magnetismus und Wärme einzuordnen sind, blieb unklar

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und war ein Feld intensiver Forschung. Weber setzte zunächst die magnetischen Forschungen in Leipzig fort und sorgte dafür, dass – wie in Göttingen – ein eisenfreies Observatorium errichtet wurde. Da aber Gauß nach Webers Weggang sich andern wissenschaftlichen Themen zuwandte, änderte auch Weber seine Forschungsrichtung. Seine Leipziger Forschungen gipfelten in dem allgemeinen Grundgesetz der elektromagnetischen Wirkung (1846).

Das Revolutionsjahr 1848 erzwang auch von Ernst August größere Liberalität, und damit war es Weber im folgenden Jahr möglich, wieder nach Göttingen zu kommen und dort das Amt des Direktors der Sternwarte anzunehmen. In seiner zweiten Göttinger Zeit entwickelte Weber ein System der absoluten Maße der Stromstärken und der elektromagnetischen Kraft und entwarf eine Theorie der elektromagnetischen Struktur der Materie. Gauß war ihm mit einem System der Einheiten für den Magnetismus vorangegangen. Messungen, die Weber gemeinsam mit Rudolph Kohlrausch zur Bestimmung des Verhältnisses der elektrodynamischen und elektrostatischen Ladungseinheiten durchgeführt hatte (1856), dienten später James Clerk Maxwell als die entscheidende Stütze für seine elektromagnetische Theorie des Lichtes. Das besagte Zahlverhältnis entsprach nämlich dem Betrag der Lichtgeschwindigkeit (im Vakuum) und verband damit in überraschender Weise Optik und Elektrizitätslehre. Nach Kohlrauschs Tod im Jahre 1858 fand Weber in dem Leipziger Astrophysiker Johann Karl Friedrich Zöllner einen interessierten Mitarbeiter. Zöllner unterstützte in seiner charakteristischen Art Weber in einigen wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit Hermann von Helmholtz, in denen es um die Energieerhaltung bei Webers Prinzip für die elektrische Kraft ging; aber Zöllners beständig anwachsende spiritistische Neigungen warfen auch Schatten auf Webers Reputation.

1870 wurde Weber emeritiert. An seinem Lebensende entwickelte er für die elektrische Ladung atomistische Konzepte von Zöllner weiter, dass nämlich Materie aus elektrisch geladenen Teilchen bestehe, die in verschiedenen stabilen Lagen mittels seines Weberschen Kraftgesetzes angeordnet werden können. Auch die Gravitationskraft vermochte Weber innerhalb dieses Modells zu erklären. Die von Weber und Franz Neumann entwickelte Fernwirkungs-elektrodynamik prägte bis zum Siegeszug der Maxwellschen Feldtheorie die theoretischen elektrischen Auffassungen. Während Webers Kraftgesetz, das den Physiker frühzeitig bekannt gemacht hatte, durch Maxwells Feldtheorie an Bedeutung verloren hatte, erwiesen sich Webers atomistische Vorstellungen auch weiterhin als fruchtbar bei der Erklärung elektrischer, magnetischer und thermischer Eigenschaften der Materie. Das Maßsystem von Gauß und Weber

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wurde auf einer internationalen Konferenz in Paris 1881 akzeptiert, wobei der Leiter der deutschen Delegation, Hermann von Helmholtz, die Bezeichnung „Ampère“ für die Einheit der Stromstärke vorschlug, obwohl die Bezeichnung „Weber“ bereits weit verbreitet war. Der Ausdruck „Weber“ wurde jedoch 1935 offi ziell als Einheit des magnetischen Flusses eingeführt, und in der Tat war Weber über Ampères Theorie des Magnetismus hinausgegangen.

Weber waren viele Ehrungen, auch in Frankreich und England, zuteil geworden, u. a. war ihm der in der damaligen Zeit gewichtige Titel Geheimrat zuerkannt worden, die Royal Society in London hatte ihm die Copley Medal verliehen. Unverheiratet starb Weber 1891 in Göttingen im Alter von 87 Jahren. Man darf ihn zu den bedeutendsten Physikern des 19. Jahrhunderts zählen.

Rüdiger Thiele

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Martin GreinerZum 100. Geburtstag am 23. November 2004

Der Leipziger Literaturwissenschaftler Martin Greiner, talentiert und hoch-gelobt von seinen akademischen Lehrern, ist nahezu in Vergessenheit ge-raten. In seiner Biographie spiegeln sich Eingriffe und Umbrüche durch die Diktaturen des 20. Jahrhunderts. Sein 100. Geburtstag am 23. November 2004 ist Anlass, sich seiner zu erinnern.

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Martin Greiner wurde als Sohn des Notenstechers Richard Greiner im Leipziger Osten geboren. Nach dem Besuch der Bürgerschule folgte die renommierte Nikolaischule. Dort bestand er 1925 die Reifeprüfung und nahm noch im gleichen Jahr an der Universität seiner Vaterstadt das Studium der Germanistik, Philosophie und Geschichte auf. Sein Hauptinteresse galt der neueren deutschen Literatur. Zu seinen herausragenden akademischen Lehrern gehörten die Germanisten Hermann August Korff, Theodor Frings und Georg Witkowski, die Historiker Erich Brandenburg, Alfred Doren und Siegmund Hellmann, die Philosophen Hans Driesch und Theodor Litt sowie der Religionsphilosoph Paul Tillich. Von den Genannten gehörten allein sechs nach 1933 zu den verfolgten, vertriebenen oder, wie im Falle Hellmann, zu den im KZ umgekommenen Professoren.

Als Greiner 1929 mit der Arbeit „Das frühromantische Lebensgefühl in der Lyrik von Tieck und Novalis“ bei Korff und Frings mit dem Prädikat „Sehr gut“ promovierte, schien die Welt noch leidlich in Ordnung. Die Arbeit ist, so Korff, durch „eine ganz ungewöhnliche Sprachmeisterschaft des Verfassers charakterisiert“. Wir fi nden diese bildhafte und geschliffene Sprache wieder in seinen späteren Werken, insbesondere in seinen Arbeiten zur spätmittelalterlichen Prosa, beispielsweise zu Heinrich Seuse (1295 – 1366). In dieser Zeit verfügte Martin Greiner über kein eigenes Einkommen. Sein Vater hatte einen wöchentlichen Lohn von 73,00 Reichsmark. Damit konnte die Familie gerade den Lebensunterhalt bestreiten. Für die Kosten des Promotionsverfahrens musste Greiner ein Darlehen von 350,00 Mark aufnehmen. Den Druck der Dissertation in Höhe von ca. 850 Reichsmark konnte er nicht bestreiten. Immerhin gewährte ihm die Philosophische Fakultät einen Druckzuschuss von 150 Mark.

Ausgerüstet mit einem Stipendium der Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft konnte Greiner seine Studien fortsetzen. Bei Walter Brecht in München wollte er sich für neuere deutsche Literaturgeschichte habilitieren. Das Jahr 1933 mit dem Machtantritt der Nationalsozialisten beendete diese Pläne. Greiner war verlobt mit einer sogenannten nichtarischen Frau, der Tochter des Komponisten und Senators Prof. Robert Kahn. Im September wechselte Greiner in das Verlagswesen, erst zu Koehler & Volkmar und später als Lektor zum L. Staackmann Verlag. Ende 1934 erfolgte seine Eheschließung. Aus der Ehe mit der Musiklehrerin Irene, geb. Kahn, sind drei Kinder hervorgegangen: Gottfried (1940), Martina (1944) und Thomas (1948). 1937, so schreibt Martin Greiner in einem späteren Lebenslauf, wurde „ein Verfahren wegen Ausschluss aus der Reichsschrifttumskammer gegen mich eingeleitet“, für die Dauer des Krieges

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aber ausgesetzt. Die Gestapo verhaftet Greiner 1944 und verschleppt ihn in das Zwangsarbeitslager Osterode im Harz.

Unmittelbar nach Kriegsende kehrt er nach Leipzig zurück. „Das Jahr 1945“, schreibt Therese Poser, seine Leipziger Assistentin in den 2005 erscheinenden

„Sächsischen Lebensbildern“, Band 6, „brachte ihm die Rückkehr zu seiner Frau, die sich in einem mecklenburgischen Dorfe bei Freunden verborgen gehalten hatte, und zu seinen beiden im Kriege geborenen Kindern“. Greiner ist anerkanntes Opfer des Faschismus (OdF) und gehört zu den Gründungsmitgliedern der CDU, deren Mitglied er am 24. September 1945 wird. Zunächst baut er den L. Staackmann Verlag wieder auf und wird literarischer Berater des Insel-Verlages für die sowjetisch besetzte Zone. Sein Ziel bleibt aber die Universitätslaufbahn. Bereits 1947 habilitiert er sich im wesentlichen mit seiner alten Arbeit „Das Naturgefühl in der Lyrik des XIX. Jahrhunderts“, die von Walter Brecht damals angenommen worden ist, vermehrt um ein großes neues Kapitel, den dritten Band. Betreut wird die Arbeit von den Germanisten Hermann August Korff und Theodor Frings. Korff schreibt in seinem Gutachten vom 8. Juli 1947: „Herr Dr. Greiner ist einer meiner ältesten und begabtesten Schüler. Er hat mit einer vortreffl ichen Arbeit über das romantische Naturgefühl im Jahre 1932 promoviert und die Absicht gehabt, mit der Fortführung dieser Arbeit aus bestimmten privaten Gründen“, gemeint ist der Schutz seiner jüdischen Frau, „sich in München“ und nicht in Leipzig „zu habilitieren.“ Korff fährt fort, dass das nach 15 Jahren hinzugefügte Kapitel „aus einem 3. Bande“ besteht, „der von Heine handelt und den Dr. Greiner im letzten Jahr geschrieben hat“.

Dem positiven Urteil von Korff schließt sich Frings einen Tag später an: „Einverstanden, vor allem auch mit Rücksicht auf Persönlichkeit und Lehrbegabung und Verantwortungsbewußtsein.“ Bereits am 30. Juli 1947 konnte Greiner das Habilitationsverfahren mit einem Vortrag „Die Wissenschaft von der Dichtung“ abschließen. Das Gesamturteil ist überwältigend: „Die vorzüglichen Leistungen werden als voll befriedigend anerkannt.“ Noch Ende des Jahres schlägt Korff seinen Assistenten der Philosophischen Fakultät für ein Extraordinariat vor. Greiner selbst sah sich in der Tradition von Georg Witkowski und refl ektierte auf dessen außerordentliche Professur, die 1945, sechs Jahre nach dem Tod des großen deutsch-jüdischen Literaturwissenschaftlers, aus Kostengründen gestrichen worden war .

Die Landesregierung, besonders das Ministerium für Volksbildung, hatte kaum Zeit gehabt, auf den Vorschlag der Fakultät zu reagieren, als schon ein Angebot

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der Universität Rostock für eine ordentliche Professur vorlag. Noch stand die öffentliche Lehrprobe aus. Am 21. Januar 1948 hält Greiner die einstündige Vorlesung „Christian Fürchtegott Gellert als Erzieher“ im größten damals zur Verfügung stehenden Saal in Leipzig, dem Hörsaal III des Handelshochschul-Gebäudes in der Ritterstraße. „Die Vorlesung war klar“, so Korff in seinem Bericht, „zeigte einen zielsicher fortschreitenden Gedankengang und rundete sich zu einem wohlgeformten Ganzen, so dass sie auch pädagogisch allen Anforderungen an eine Lehrprobe entsprach.“

Am 10. April wird Greiner durch die Landesregierung Sachsen zum Professor mit vollem Lehrauftrag für neuere Sprache und Literatur ernannt. Nur ein Jahr später, 1949, erhält er einen Ruf an die Universität Jena, den er ablehnt, weil er auf ein gleiches Angebot durch die Universität Leipzig hofft. Für die Durchführung der Studienpläne in deutscher Literaturgeschichte an der Universität Leipzig hält ihn sein Lehrer Korff 1952 für „schlechterdings unentbehrlich“. Das für Berufungen jetzt zuständige Staatssekretariat für Hoch- und Fachschulwesen der DDR sieht offenbar von einer Ernennung Greiners zum ordentlichen Professor ab. Stattdessen wird der aus der Emigration zurückgekehrte Hans Mayer, der seit 1948 in der Gesellschaftswissenschaftli-chen Fakultät Kultursoziologie und Geschichte der Nationalliteraturen lehrt, im Juli 1952 auch zum ordentlichen Professor an die Philosophische Fakultät berufen. Dort vertritt er das Fach Geschichte der deutschen Literatur von 1848 bis zur Gegenwart. Es ergeben sich Überschneidungen und schließlich folgen Eingriffe in Greiners Vorlesungsangebote. Folgerichtig verlässt der Antifaschist Martin Greiner mit seiner Familie im Herbst 1952 die DDR und geht zunächst über Berlin nach Bayern. Erneut steht er vor einem Neuanfang und großen wirtschaftlichen Problemen. Erst 1955 erhält Greiner an der Universität Gießen einen Lehrauftrag für Literaturwissenschaft und 1958 eine ordentliche Professur für Literaturwissenschaft und deutsche Literaturgeschichte.

Therese Poser hat sein Werk in grundsätzlich „drei bestimmte Epochen“ gegliedert und dafür Beispiele genannt. Die Aufklärung ist vertreten in dem von ihr selbst nach Greiners Tod herausgegebenen Buch „Die Entstehung der modernen Unterhaltungsliteratur. Studien zum Trivialroman des 18. Jahrhunderts“, Reinbeck 1964; für die zweite Gruppe sei beispielhaft genannt „Zwischen Biedermeier und Bourgeoisie. Ein Kapitel deutscher Literaturgeschichte im Zeichen Heines“, Leipzig 1954 und Lizenzsausgabe Göttingen 1953; und schließlich befasst sich Greiner auch mit der Literatur des 20. Jahrhunderts.

„In zahlreichen Vorträgen und Aufsätzen“, berichtet Therese Poser, „hat sich

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Greiner mit Rilke und Thomas Mann, mit Zuckmayer und Brecht, mit Kafka, Broch und Musil auseinandergesetzt.“

Martin Greiner starb noch nicht 55-jährig an den Folgen eines Autounfalls am 7. November 1959 in Gießen. Sein letzter Vortrag ist überschrieben „Lessing oder die Vernunft des Herzens“. Zur angekündigten Vorlesung über Lessing ist es nicht mehr gekommen.

Gerald Wiemers

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ANATOMIA CLAVIS ET CLAVUS MEDICINAE (Die Anatomie ist Schlüssel und Steuerruder der Medizin) steht über dem Eingang zum Hörsaal des Instituts für Anatomie. Die Inschrift weist auf die zentrale Stellung der Ana-tomie und ihre lange Tradition innerhalb der medizinischen Wissenschaft hin.

Das Anatomische TheaterZum 300. Jahrestag der Eröffnung

Theatrum Anatomicum, eröffnet 1704 im Mittelpaulinum

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Eine Lehrstelle für Anatomie und Chirurgie wurde an der Universität Leipzig bereits 1542 eingerichtet. Nur ein Jahr später ermöglichte ein Erlass des Kurfürsten Moritz von Sachsen (1521 – 1553) die erstmalige Durchführung einer öffentlichen Sektion des menschlichen Körpers, „Anatomia publica“ genannt. Diese grundlegende Veränderung der Lehre war ebenso an anderen europäischen Universitäten zu beobachten. Padua gehörte beispielsweise zu den ersten Hochschulen, an denen die Sektion zur Erforschung der menschlichen Anatomie erlaubt wurde. Dort schuf Andreas Vesalius (1514 – 1564) sein ebenfalls 1543 erschienenes Werk „De humani corporis fabrica libri septem“ (Über den Körperbau des Menschen) und begründete die neuzeitliche, an eigener Beobachtung orientierte Anatomie.

Die Änderung der anatomischen Lehrinhalte – von der reinen Theorie zur praktischen Übung – zog die Notwendigkeit zur Bereitstellung spezieller Arbeitsräume nach sich. In Leipzig konnte dieser Wunsch, wiederum ein Jahr später, wenigstens teilweise in Erfüllung gehen. Nachdem das ehemalige Paulinerkloster 1544 in den Besitz der Universität übergegangen war, durften die zwischen Universitätsstraße und Augustusplatz gelegenen Gebäude von den Medizinern für praktische Demonstrationen mitgenutzt werden. Für die wenigen Sektionen genügten zunächst von Fall zu Fall notdürftig hergerichtete Räume. Erst 1555 wurde den Medizinern von der Artistenfakultät, der späteren Philosophischen Fakultät, ein ständig benutzbares und heizbares Zimmer überlassen. Wie aber sollte man den immer zahlreicher werdenden Zuschauern eine gute Sicht auf die anatomische Demonstration ermöglichen? Wiederum aus Italien stammte die Idee, die Form des antiken Amphitheaters aufzugreifen und die Sichtverhältnisse durch den Einbau seitlich gestufter Hochsitze zu verbessern. Aus diesem Konzept leitet sich die noch heute übliche Bezeichnung „Anatomisches Theater“ ab.

In Leipzig wurde das erste Anatomische Theater im Jahre 1704 unter dem ordentlichen Professor für Anatomie und Chirurgie Johann Christian Schamberg (1667 – 1706) eröffnet. Der Architekturtradition des 16. und 17. Jahrhunderts folgend, baute man das „Theatrum Anatomicum“ in das erste Stockwerk des Mittelpaulinums nachträglich ein. (siehe Abb. S. 75) Dadurch stand erstmals ein nach funktionalen Aspekten konzipierter Raum allein für medizinische Lehrzwecke zur Verfügung. Die anfangs nur einmal im Jahr durchgeführte „Anatomia publica“ war ausschließliches Privileg der Universität und galt als feierlicher Akt. Zu dieser Veranstaltung ließ der Professor der Anatomie im Namen der Medizinischen Fakultät ein Programm drucken und lud den Rektor, die Würdenträger der Universität, den Rat der Stadt und die Studenten ein.

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Das älteste überlieferte Programm stammt aus dem Jahre 1706. Es wurde von Schamberg in besonders feierlicher Form verfasst, vermutlich, weil es sich um die Ankündigung der ersten im neuen Anatomischen Theater durchgeführten öffentlichen Sektion handelte. Die Studierenden, die an der Demonstration teilnehmen wollten, hatten 1⁄2 Taler zu zahlen und die anschließende Präparation nochmals mit 1⁄2 Taler zu entlohnen. Das Geld erhielt der Professor für Anatomie zur Anschaffung der Instrumente und der zur Beleuchtung notwendigen Kerzen sowie zum Druck des Programms.

Die erste Beschreibung des Anatomischen Theaters stammt aus dem Jahre 1800 und wurde von dem Professor für Anatomie Johann Christian Rosenmüller (1771 – 1820) verfasst. Obwohl die Aufzeichnung fast 100 Jahre nach der Eröffnung des Anatomischen Theaters datiert ist, darf davon ausgegangen werden, dass sich der bauliche Zustand des Hörsaals in der Zwischenzeit kaum verändert hatte. Nach diesem Bericht „befand sich der Eingang des Anatomischen Theaters unmittelbar neben dem der Universitätsbibliothek und war durch eine Aufschrift über der Tür kenntlich gemacht. Durch einen Vorraum gelangte man in den eigentlichen Zergliederungssaal, der von beträchtlicher Höhe war, eine quadratische Grundfl äche hatte und 160 Schritte im Umfang maß … Die Sitze für die Zuhörer erhoben sich amphitheatralisch in sieben Reihen um den in der Mitte stehenden beweglichen Seziertisch. Über diesen Reihen befand sich eine für die Wundärzte bestimmte verschlossene Loge und noch höher auf jeder Seite eine vergitterte Loge für die Hebammen.“ Fünf Gemälde schmückten die Decke des Saales. Hatte das Theatrum Anatomicum ursprünglich nur aus dem Hörsaal bestanden, waren bis zum Ende des 18. Jahrhunderts zwei weitere Räume, in denen Präparierübungen stattfanden, hinzugekommen. Sie beherbergten außerdem die Bibliothek und die 800 Teile umfassende Sammlung mit in Weingeist und anderen Flüssigkeiten konservierten Präparaten.

Inzwischen sprach man nicht mehr vom Anatomischen Theater, sondern vom Anatomischen Institut, das 1818 zum zweiten Mal erweitert wurde. Eine separate Leichenkammer, weitere Präparierzimmer und ein Raum für die anatomische Gemäldesammlung kamen hinzu. Der Hörsaal wurde ebenfalls grundlegend er-neuert. Er besaß nun vier Sitzreihen und eine Galerie (siehe Abb. S. 78). Durch den Einbau größerer Fenster konnte wesentlich mehr Licht in das Innere dringen. Die Umbauten waren allerdings an den insgesamt beengten Raum des Mittelpau-linums gebunden. Da die anatomische Forschung seit Mitte des 19. Jahrhunderts stetig zunahm und die Bedeutung des Instituts als Lehr- und Forschungseinrich-tung ebenfalls wuchs, nahmen in den Folgejahren Überlegungen zum Neubau ei-nes eigenen Gebäudes außerhalb der Leipziger Innenstadt stetig zu. Sie duldeten

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auch keinen Aufschub, denn das Theatrum Anatomicum war inzwischen baufäl-lig geworden. Zeitgenössische Schilderungen bezeichnen die Räume als zu klein, unheizbar und weder mit fl ießendem Wasser noch mit Abfl üssen versehen.

Hörsaal des Anatomischen Instituts aus dem Jahre 1818

Wilhelm His, Direktor des Anatomischen Instituts von 1872 bis 1904, ist es zu verdanken, dass 1875 das neue Anatomische Institut der Universität Leipzig an der Ecke Liebigstraße/Nürnberger Straße eröffnet werden konnte. Dieses Gebäu-de und ein großer Teil der wertvollen Sammlung wurde im Zweiten Weltkrieg vollständig zerstört. Als erster Nachkriegsneubau der Medizinischen Fakultät konnte das Institut für Anatomie 1956 am ursprünglichen Standort wieder in Be-trieb genommen werden. Der erneut in der Tradition des Anatomischen Theaters erbaute Hörsaal steht heute unter Denkmalschutz und wird als besondere Archi-tekturleistung der 50er und 60er Jahre des 20. Jahrhunderts angesehen. Nach umfangreicher Sanierung und Modernisierung wird er seit Mai 2004 wieder für den anatomischen Unterricht genutzt.

Cornelia Becker

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Institut für Experimentelle PsychologieZum 125. Jahrestag der Gründung

Eine Weltpremiere mit unvergänglichem Verdienst war die Gründung des Institutes für Experimentelle Psychologie, das 1879 auf Initiative von Wil-helm Wundt (1832 – 1920) zunächst als Privatinstitut ins Leben gerufen und bereits 1883 Universitätsinstitut mit festem Etat wurde.

Wilhelm Wundt (1832 – 1920), der Gründer des Instituts für Experimentelle Psychologie

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Wie der Leipziger Historiograph und Universitätsprofessor Wolfram Meischner 1975 in den „Beiträgen zur Wundt-Forschung“ in seinem Artikel „Wilhelm Wundt und die Psychologie als Wissenschaft“ schrieb, wurde das Wundtsche Institut schnell zum Mekka der Psychologie für Hörer in aller Welt – von Japan bis Kanada. Mit dem Namen Wundt ist die Erste Leipziger Schule in der Psychologie unmittelbar verbunden. Hervorzuheben sind hier die Methoden Experiment und Introspektion, vor allem die physiologische und experimentelle Psychologie. Wundt beschränkte sich erst auf „einfache psychische Prozesse“ wie Wahrnehmung, Empfi ndung und Vorstellung. Als wissenschaftliche Leistung ist die Entwicklung einer Methodenlehre zu bemerken, die Experiment und Statistik zusammenbrachte und damit den Einzug der empirischen Forschung ermöglichte; nicht zu vergessen sind auch Nutzung oder Entwicklung von Demonstrationsmitteln und wissenschaftlichen Geräten. Mit Wundt und seinen ab 1883 veröffentlichten insgesamt 30 Bänden der „Philosophischen Studien“ erlangte ein naturwissenschaftliches, empirisch-quantitatives Vorgehen in der psychologischen Forschung große Bedeutung.

Ab 1900 arbeitete Wundt an der „Völkerpsychologie“, in der er die Erforschung komplexer psychischer Funktionen, die Beschreibung der sozialen Dimension des Psychischen und die Darstellung psychischer Prozesse unter historischem und dem Anlage-Aspekt vorantrieb. Wundt erschloss so psychologisches Neuland in kollektiven Phänomenen. In seiner „Völkerpsychologie“ ist unter anderen besonders der Entwicklungsgedanke enthalten, weil hier Änderungen und Beständigkeiten – bezogen auf Kultur, Mythos, Religion, Sprache, Sitte und Kunst – beschrieben werden.

Zu dieser Zeit gehört auch, dass sich die heutige Sozialpsychologie mit ihren Wurzeln eigenständig entwickelte. Zuvor betrachtete man entwicklungspsycho-logische und sozialpsychologische Fragestellungen unter einem gemeinsamen Gesichtspunkt.

Wundt hatte über sein detailliertes experimentelles Vorgehen hinaus ganzheitliche, umfassende Ansichten vom Psychischen, beschäftigte sich mit Prinzipien kreativer Synthese, der psychischen Wirklichkeit, der Mutation von Motiven und der Heterogenität von Ergebnissen.

Als Wundt 1917 emeritiert wurde, hatten bei ihm 184 Doktoranden promoviert, darunter 60 Ausländer – allein 18 aus den USA. In vielen Ländern waren bald Institute nach dem Muster des Leipziger Instituts entstanden.

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Nach Wundts Rücktritt gab es zwei psychologische Einrichtungen, die Psychophysik wurde als Psychophysisches Seminar unter Wilhelm Wirth (1876 – 1952) eigenständig. Die Leitung des Instituts übernahm Felix Krueger (1874 – 1948). Nach Wundts erster Leipziger Schule, die sich besonders dem psychologischen Experiment zuwandte, entwickelte sich nun die zweite Leipziger Schule der Ganzheitspsychologie. Sie ist mit dem Namen Krueger eng verbunden, welcher die bekannte Schriftenreihe „Neue Psychologische Studien“ mit dem richtunggebenden Beitrag „Über psychische Ganzheit“ begann. Die „Genetische Ganzheitspsychologie“ nimmt den Entwicklungsgedanken auf, und zwar im Sinne einer Entelechie, die in philosophischer Bedeutung eine im menschlichen Organismus liegende Kraft zur Entwicklung und Vollendung der eigentlichen (Erb-)Anlagen als Verwirklichung einer Wertidee annimmt. Im Endeffekt sind die Begriffe „Entwicklung“ und „Ganzheit“ die tragenden Grundelemente der Zweiten Leipziger Schule. Dabei entwickelt sich „Ganzheit“ aus einem Zustand des Einfachen, Undifferenzierten und Diffusen hin zu einem Zustand größerer Klarheit und Differenzierung. Diese ganzheitliche Betrachtungsweise bezog Gesichtspunkte von Phylogenese (siehe Wundts Völkerpsychologie, das „Ganze“ hatte neue, direkt ihm zugehörende Eigenschaften und entsteht aus den einzelnen Elementen durch „schöpferische Synthese“), Ontogenese (ontogenetische Betrachtungsweisen vor allem in den Jahren 1915 bis 1930 bei Felix Krueger und Hans Volkelt) und Aktualgenese (von Friedrich Sander geprägt) ein.

1925 erfolgte eine Umbenennung des „Instituts für experimentelle Psychologie“ in „Psychologisches Institut“. Es gab folgende Abteilungen: Angewandte Psychologie und experimentelle Pädagogik, Maßmethodik und Psychologie der Wahrnehmung, Psychologie der höheren Funktionen und Entwicklungspsycholo-gie – einschließlich der Psychologie des Kindes.

1939 begann unter Philipp Lersch (1898 – 1972) die Erweiterung des Instituts durch eine tierpsychologische Abteilung, es bestand ein enger Kontakt zum Zoologischen Garten. 1943 wurde das Institut mit der Universität ausgebombt.

Nach der Neueröffnung der Universität 1946 stand das Institut zunächst unter Leitung des Dekans der Philosophischen Fakultät, Hans-Georg Gadamer. 1949 übernahm Ernst Bloch die kommissarische Leitung. Ab 1955 wurde die Leitung des Instituts an Werner Fischel übertragen, das 1964 den Namen „Wilhelm Wundt“ erhielt. Beispiele für die wissenschaftliche Arbeit dieser Zeit waren unter anderen die Arbeiten in der Kinderpsychologie, der Beginn der Betrachtung des Jugendalters und die Beschäftigung um 1970 mit der Lernpsychologie.

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Als herausragendes Ereignis ist die Ausrichtung des Weltkongresses für Psychologie im Jahr 1980 zu sehen.

Nicht zu vergessen sind die tierpsychologischen Forschungen unter Werner Fischel. Exemplarisch für die entwicklungspsychologische Arbeit stellten zum Beispiel Günter Clauß und Hans Hiebsch Entwicklungsphasen der vorgeburtlichen Entwicklung bis zum Klein- und Schulkindalter, eine Pathopsychologie des Kindes- und Jugendalters sowie eine Analyse des menschlichen Handelns inklusive der Entwicklung der Persönlichkeit vor. Walter Friedrich erkannte Entwicklung als einen sich durch praktische und geistige Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Umwelt vollziehenden Prozess. Positiven Einfl uss auf die Entwicklung des menschlichen Sozialverhaltens hatten seiner Meinung nach eine gelungene Interiorisation (Verinnerlichung im Sinne der Anerkennung der Verbindlichkeit gesellschaftlicher Normen), ein gewisses Maß an Steuerungsfähigkeit und auch das Lernen am Erfolg.

Unter Adolf Kossakowski wurde das Institut Leiteinrichtung der Pädagogischen Psychologie, er ging in seiner Forschung zum Beispiel auf psychische Veränderungen in der Pubertät, auf Fehlinterpretationen des Jugendalters und auf nicht genügend durchdachte theoretische Konzeptionen in diesem Zusammenhang ein. So betonte er die Bedeutung wesentlicher Lebensbedingungen sowie der Alters- und Gruppennormen, die neben den biologischen Momenten für die Veränderungen im Jugendalter ausschlaggebend sind. Hans Löwe war für die Entwicklungspsychologie und für die Erwachsenenpädagogik zuständig, eine tiefgründige Beachtung des Lernens bei Erwachsenen wurde durch das allgemein höher gewordene Bildungsniveau und den wissenschaftlichen Fortschritt sowie durch die sich bis heute vollziehende „Informationsrevolution“ bedeutungsvoll. Mit diesen Untersuchungen rückte das Erwachsenenalter in den Mittelpunkt von Forschung und Lehre. Adolf Kossakowski und Klaus Udo Ettrich untersuchten die theoretischen Voraussetzungen und die Entwicklung der menschlichen Handlungsregulation. Sie gingen theoriegeleitet von der Klärung der Komponenten (Gliederung in Orientierungs-, Antriebs- und Ausführungsteil) aus, bestimmten psychische Struktureinheiten unter Nutzung des Kleingruppenexperiments und zogen Schlüsse zur Wirksamkeit detaillierter und generalisierter verbaler Orientierungsformen.

Alle Leipziger Psychologen fühlen sich der Wundtschen Tradition bis heute verpfl ichtet. Mit der Neugründung der Fakultäten 1993 entstand eine Struktur mit drei Instituten an der Fakultät für Biowissenschaften, Pharmazie und Psychologie. Die heutige Struktur beinhaltet zwei Institute.

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Zusammenfassend kann man sagen, dass in Leipzig die Traditionen der experimentellen Psychologie von Weber, Fechner und Wundt sowie der philosophischen Psychologie mit ihren Kerninhalten von Entwicklungs- und Sozialpsychologie mit wissenschaftlichem Herz und Engagement fortgeführt werden.

Einen historischen Rückblick und einen Überblick über gegenwärtige Forschungen gab es zur 125-Jahr-Feier des „Ersten Psychologischen Instituts“ der Welt, deren Nachfolger die zwei Psychologischen Institute an der Universität Leipzig sind. Organisiert wurde sie durch Prof. Dr. Klaus Udo Ettrich, ausgestaltet und mit Leben erfüllt wurde sie durch die Institute und alle, die sich mit der Leipziger psychologischen Tradition verbunden fühlen. Sie fand am 27. März 2004 statt und wurde zu einem Wiedersehen für Absolventen, ehemalige Mitarbeiter, den Lehrkörper, Studenten, für Freunde der Institute und insgesamt zu einem denkwürdigen und unvergesslichen Ereignis: Alle Institute besannen sich auf ihre gemeinsamen Wurzeln und stellten ihre wissenschaftliche Arbeit als untereinander fruchtbringend verfl ochten dar.

Klaus Udo EttrichThomas Mende

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Autorenverzeichnis

Cornelia BeckerÖffentlichkeitsarbeit der Medizinischen Fakultät

Prof. em. Dr. Dr. h. c. Lothar BeyerProfessor für Anorganische Chemie (Koordinationschemie), Institut für Anorganische Chemie

Prof. Dr. Dr. h. c. Volker BiglProfessor für Neurochemie, Paul-Flechsig-Institut für Hirnforschung

Dr. Natalja Decker Karl-Sudhoff-Institut für Geschichte der Medizin und der Naturwissen-schaften

Prof. Dr. Gero DolezalekProfessor für Bürgerliches Recht, Römisches Recht/Gemeines Recht,Juristenfakultät

Prof. Dr. Jürgen EngferProfessor für Geschichte der Philosophie, Institut für Philosophie

Prof. em. Dr. Klaus Udo EttrichProfessor für Entwicklungspsychologie, Institut für Entwicklungs- und Per-sönlichkeitspsychologie und Psychodiagnostik

Prof. Dr. Ingrid KästnerKarl-Sudhoff-Institut für Geschichte der Medizin und der Naturwissen-schaften

Prof. Dr. Bernd-Rüdiger KernProfessor für Bürgerliches Recht, Rechtsgeschichte und Arztrecht, Juristen-fakultät

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Thomas MendeDoktorand, Institut für Psychologie I, Professur Entwicklungspsychologie

Prof. em. Dr. Siegfried Schmidt Institut für Kommunikations- und Medienwissenschaft

Volker SchultePressesprecher der Universität Leipzig

Prof. Dr. Michael P. StreckProfessor für Altorientalistik, Altorientalisches Institut

Dr. Rüdiger ThieleKarl-Sudhoff-Institut für Geschichte der Medizin und der Naturwissen-schaften

Dr. Ute WardengaLeibniz-Institut für Länderkunde e. V.

Katja WeberDoktorandin, Institut für Kunstpädagogik

Prof. Dr. Gerald WiemersDirektor des Universitätsarchivs

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Bildnachweise

S. 7: Arnold Gehlen (1904 – 1976), Universitätsarchiv

S. 13: Hans Schulze (1904 – 1982), Adolf Schmidt,Institut für Kunstpädagogik

S. 19: Paul Oskar Morawitz (1879 – 1939), Universitätsarchiv

S. 23: Christian Wolff (1679 – 1754), Martin-Luther-Universität Halle-Wit-tenberg

S. 27: Otto Linné Erdmann (1804 – 1869)Lithographie. Original im Kupferstichkabinett Dresden. 1848, Gus-tav Schlick (1804–1869), Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden

S. 31: Paul Koschaker (1879 – 1951), Universitätsarchiv

S. 35: Wilhelm His (1831 – 1904), Karl-Sudhoff-Institut für Geschichte der Medizin und Naturwissenschaften

S. 39: Karl Gottlob Kühn (1754 – 1840), Universitätsarchiv

S. 43: Paul Emil Flechsig (1847 – 1929), Bildersammlung des Karl-Sud-hoff-Instituts

S. 47: Friedrich Ratzel (1844 – 1904), Universitätsarchiv

S. 53: Hermann Budzislawski (1901 – 1978), Universitätsarchiv

S. 59: Das Reichsgericht, der heutige Sitz des Bundesverwaltungsgerichts, Pressestelle

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S. 63: Wilhelm Eduard Weber (1804 – 1891), Pressestelle

S. 69: Martin Greiner (1904 – 1959), Universitätsarchiv

S. 75: Theatrum Anatomicum,Kolorierte Federzeichnung von J. C. Heßler, aus: Johann Wolfgang Goethe und Leipzig. Leipzig, 1999

S. 79: Hörsaal des Anatomischen Institutes aus dem Jahre 1818.Abbildung aus: Rabl, Carl: Geschichte der Anatomie an der Uni-versität Leipzig. Leipzig: Barth, 1909, Taf. I

S. 81: Wilhelm Wundt (1832 – 1920), Universitätsarchiv