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http://www.univie.ac.at/juridicumlawreview/ In dieser Ausgabe (2/2014): EDITORIAL Online-Glücksspiel in Österreich Martin Schwertmann: Seiten 74- 91 Schutz bestehender Rechte bei der Vergabe der neuen generischen Top-Level-Domains Martin Miernicki: Seiten 92-110 Die rechtsgeschichtliche Entwicklung der Doppelbesteuerungsabkommen Johannes Warter: Seiten 110-136 Die Rechtsstellung der Massegläubiger im Insolvenzverfahren Sebastian Ksiazek: Seiten 137-158 2014 Editors-in-Chief: Gabriel M. Lentner Georg Gutfleisch Editor: Martin Schwertmann English Language Editor: Adnan Sarwar [JURIDICUM LAW REVIEW] Herausgegeben durch die Studienvertretung Jus Doktorat & PhD mit freundlicher Unterstützung von LexisNexis Österreich

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http://www.univie.ac.at/juridicumlawreview/

In dieser Ausgabe (2/2014):

EDITORIAL

Online-Glücksspiel in Österreich – Martin Schwertmann: Seiten 74-

91

Schutz bestehender Rechte bei der Vergabe der neuen generischen

Top-Level-Domains – Martin Miernicki: Seiten 92-110

Die rechtsgeschichtliche Entwicklung der

Doppelbesteuerungsabkommen – Johannes Warter: Seiten 110-136

Die Rechtsstellung der Massegläubiger im Insolvenzverfahren –

Sebastian Ksiazek: Seiten 137-158

2014

Editors-in-Chief:

Gabriel M. Lentner

Georg Gutfleisch

Editor:

Martin Schwertmann

English Language Editor:

Adnan Sarwar

[JURIDICUM LAW REVIEW] Herausgegeben durch die Studienvertretung Jus Doktorat & PhD mit

freundlicher Unterstützung von LexisNexis Österreich

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Juridicum Law Review Vol 1:2

JLR 2014/2

Editorial

Wir freuen uns in Zusammenarbeit mit LexisNexis die 2. Ausgabe des Juridicum Law Review (JLR) der StV Jus Doktorat & PhD präsentieren zu dürfen. Das Juridicum Law Review versteht sich als frei zugängliche Plattform zur Förderung des jung wissenschaftlichen Austauschs in sämtlichen Rechtsgebieten und soll die Sichtbarkeit ausgezeichneter studentischer Arbeit (Diplom-, Doktorats-, und PhD-Studierende) zu aktuellen (auch interdisziplinären) Fragen der Rechtswissenschaften erhöhen.

In dieser Ausgabe beleuchtet Martin Schwertmann Rechtsfragen des Online-Glücksspiels in Österreich (Seiten 74-91). Martin Miernicki widmet sich dem Schutz bestehender Rechte bei der Vergabe der neuen generischen Top-Level-Domains (Seiten 92-110), Johannes Warter beschreibt die rechtsgeschichtliche Entwicklung der Doppelbesteuerungsabkommen (Seiten 111-136) und Sebastian Ksiazek untersucht schließlich die Rechtsstellung der Massegläubiger im Insolvenzverfahren (Seiten 137-158).

Anregende Lektüre wünschen euch,

Gabriel M. Lentner und Georg Gutfleisch im Namen des FV Jus Team Doktorat

In dieser Ausgabe:

Online-Glücksspiel in Österreich – Martin Schwertmann: Seiten 74-91

Schutz bestehender Rechte bei der Vergabe der neuen generischen Top-Level-Domains – Martin Miernicki: Seiten 92-110

Die rechtsgeschichtliche Entwicklung der Doppelbesteuerungsabkommen – Johannes Warter: Seiten 111-136

Die Rechtsstellung der Massegläubiger im Insolvenzverfahren – Sebastian Ksiazek: Seiten 137-158

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Online-Glücksspiel in Österreich

MARTIN A. SCHWERTMANN*

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung 75 2. Gesetzesgrundlage 76 2.1 Konzessionsarten 77 2.1.1 § 5 GSpG: Landesausspielungen mit Glücksspielautomaten 77 2.1.2 § 14 GSpG: Lotteriekonzession 77 2.1.3 § 21 GSpG: Spielbankkonzession 78 2.1.4 § 22 GSpG: Pokerkonzession 78 2.2 Vertriebsformen 78 2.3 Einfluss der EuGH-Judikatur 79 2.3.1 EuGH 09.09.2010: Engelmann (C-64/08) 80 2.3.2 EuGH 15.09.2011: Dickinger/Ömer (C-347/09) 81 3. Kohärenzprüfung von Online-Glücksspiel in Österreich 83 3.1 Empirisch strukturierte Intrakohärenzprüfung 84 3.2 Materieller Intrakohärenznachweis 86 3.3 Empirisch strukturierte Interkohärenzprüfung 86 3.4 Materieller Interkohärenznachweis 87 3.4.1 Online-Glücksspiel vs Sportwetten 87 3.4.2 Online-Glücksspiel vs Automatenglücksspiel 88 3.4.3 Online-Glücksspiel vs stationärem Glücksspiel 89 4. Conclusio 90

* Martin A. Schwertmann, Mag.iur., Doktorand an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien.

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1. Einleitung

Der Ausgang eines Glücksspiels hängt maßgeblich von einem aleatorischen Moment - einer nicht beherrschbaren Kausalität - ab. Eine Neuverteilung von Vermögen aufgrund eines nicht beeinflussbaren Elements, und die damit eintretenden wechselseitigen Gewinne und Verluste, führten schon zu frühen Zeiten, aus religiösen, sittlichen oder auch kulturellen Gründen, zu rechtlichen Einschränkungen und Verboten.1

Die monetären, psychischen und auch sozialen Konsequenzen für den individuellen Spieler, sowie die schwer messbaren sozioökonomischen Auswirkungen auf die Gesellschaft als Ganzes, führten schon früh zu staatlichen Eingriffen in die Privatautonomie.2 Um die eben angesprochenen negativen Folgewirkungen des Glücksspiels zu minimieren, verlangte es nach einem gesetzlichen Regelwerk.3 Es handelt sich bei der rechtlichen Sonderstellung, die das Glücksspiel heute innehat, also um kein neues Phänomen.

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts kam es zu einer Rechtszersplitterung in Europa. Die meist religiös induzierte prohibitive Regulierung des Glücksspiels wurde nach und nach vonseiten der Staaten aufgrund möglicher Steuereinnahmen aufgeweicht. So ist das Wechselspiel von Verboten, Monopolen und unterschiedlichen Konzessionssystemen innerhalb einzelner Staaten, neben der Gewährleistung eines ausreichend hohen Spielerschutzniveaus, immer auch als Kampf um etwaige Steuereinnahmen zu betrachten.4 Diese Fragmentierung ist größtenteils auch heute noch vorhanden, das Internet als Vertriebskanal von Dienstleistungen stellt die teils jahrhundertealten glücksspielrechtlichen Strukturen jedoch vor neue Herausforderungen. Die Möglichkeit, durch eine quantitative Einschränkung des Glücksspielangebotes ein hohes Schutzniveau im Bereich Verbraucherschutz und Kriminalitätsprävention und -bekämpfung zu gewährleisten, scheint nun in Anbetracht der Ubiquität des Internets als nicht gegeben.5

1 Der Corpus Iuris Civilis beschränkte bereits im 6. Jahrhundert die Durchführung diverser Würfelspiele auf gewisse Feierlichkeiten und unternahm überdies Versuche die teilnehmenden Spieler zu schützen. Während die Römer, aufgrund pragmatischer Gesichtspunkte, das Glücksspiel unter gewissen Voraussetzungen erlaubten, erhob der Aufstieg des Christentums die Regulierung des Glücksspiels zur Glaubensfrage. Insb der Protestantismus sah im Glücksspiel eine Gefahr. Zum einen würden Spieler nicht begreifen, dass alleine Gott über ihr Glück oder Unglück entscheidet - das Glücksspiel sei demnach eine Herausforderung der Macht Gottes - zum anderen wurde die Teilnahme an Glücksspielen als unproduktive und nutzlose Tätigkeit angesehen, somit eine Tätigkeit, die im krassen Widerspruch zur protestantischen Arbeitsethik steht. – Vgl Planzer, Empirical Views on European Gambling Law and Addiction (2014) 4 f mwN. 2 Vgl bspw die Beschränkungen des Corpus Iuris Civilis, angeführt in FN 1, oder das von Richard I, König von England, ausgesprochene Glücksspielverbot im Rahmen der Kreuzzüge. – Vgl Hardaway, No Price Too High: Victimless Crimes and the Ninth Amendment (2003) 166. 3 So verabschiedete bereits unter Richard II, im Jahr 1388, das englische Parlament das erste Glücksspielgesetz, da das Glücksspiel viele Bürger von der Ausübung ihrer Berufe abhielt. Dies ging so weit, dass die militärische Bereitschaft nichtmehr gegeben war, da Soldaten ihre Zeit lieber mit dem Glücksspiel, als mit militärischem Training verbrachten. – Vgl Hardaway, No Price Too High 166. 4 Vgl Planzer, European Gambling Law 5 f. 5 Vgl Zankl, Online-Glücksspiel in Europa (2011) 17.

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„Aufgrund des Online-Umfelds können Glücksspiel-Websites in der EU ohne jegliche Form der Kontrolle durch Regulierungsbehörden in der EU betrieben werden. Die europäischen Verbraucher suchen auch jenseits der Ländergrenzen nach Online-Glücksspieldienstleistungen, die - sofern sie nicht ordnungsgemäß reglementiert werden - erhebliche Risiken bergen können.“6

Daher sehen sich die verbleibenden staatlichen Glücksspielmonopole, wie in Österreich, nun mit mehreren Problemen konfrontiert. Zum einen mit der faktischen Möglichkeit der Nutzung von ausländischen Glücksspielanbietern seitens der Verbraucher und zum anderen mit der Rechtfertigung eines restriktiven Monopols unter Berücksichtigung der Grundfreiheiten der Europäischen Union.

1. Gesetzesgrundlage in Österreich

Nach Art 10 Abs 1 Z 4 B-VG ist der Bund zur Gesetzgebung und Vollziehung in Monopolangelegenheiten berufen. Der Bund machte von dieser Kompetenz 1989 Gebrauch, und am 01. Jänner 1990 trat das Glücksspielgesetz7 als (einfaches) Bundesgesetz in Kraft.

Der österreichische Gesetzgeber führte in den Erläuterungen zum GSpG aus, dass ein gänzliches Verbot von Glücksspielen die sinnvollste Regelung wäre.8 Um jedoch eine Abwanderung der Verbraucher in die Illegalität zu vermeiden, entschied er sich bewusst dazu, ein staatliches Monopol zu schaffen und den Glücksspielbetrieb, unter der Maxime des Spielerschutzes, zu überwachen.9

Nach dem GSpG ist ein Glücksspiel ein Spiel, „bei dem die Entscheidung über das Spielergebnis ausschließlich oder vorwiegend vom Zufall abhängt.“10 Das GSpG bezieht sich also explizit auf den aleatorischen Moment, um Glücksspiele von „herkömmlichen“ Spielen rechtlich zu differenzieren. Die Formulierung der „vorwiegenden“ Abhängigkeit des Zufalls bietet jedoch Spielraum für Auslegungsdifferenzen, ist es doch bei manchen „Glücksspielen“ dem Spieler möglich, durch individuelles Geschick den Spielausgang zu seinem Vorteil zu beeinflussen und so einen positiven Erwartungswert zu kreieren. Um solche Auslegungsprobleme gar nicht erst entstehen zu lassen, zählt § 1 Abs 2 GSpG demonstrativ einige Spiele auf, die neben einem aleatorischen Moment auch geschicklichkeitsabhängig sind (bspw Poker und Blackjack).

6 Europäische Kommission, Ein umfassender europäischer Rahmen für das Online-Glücksspiel, KOM(2012) 596 endg vom 23.10.2012, 3. 7 GSpG BGBl 1989/620. 8 Sten Prot 28.11.1989/119, 17. GP. 9 „In ordnungspolitischer Hinsicht muß gesagt werden, daß idealerweise ein gänzliches Verbot von Glücksspielen die sinnvollste Regelung wäre. Angesichts des bekannten Umstandes, daß der Spieltrieb dem Menschen nun einmal immanent gegeben zu sein scheint, ist es aber wesentlich sinnvoller, diesen Spieltrieb im Interesse des einzelnen und der Gemeinschaft in geordnete Bahnen zu lenken. Dadurch wird zweierlei erreicht: Eine in Staaten mit gänzlichem Glücksspielverbot zu beobachtende Abwanderung des Glücksspieles in die Illegalität wird vermieden, gleichzeitig erhält sich der Staat die Möglichkeit, die nun auf legaler Basis betriebenen Glücksspiele zu überwachen.“ - Sten Prot 28.11.1989/119, 17. GP 123. 10 § 1 Abs 1 GSpG.

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Einen engeren Begriff als das Glücksspiel gem § 1 Abs 1 GSpG stellt die „Ausspielung“ gem § 2 GSpG dar. Eine Ausspielung liegt vor, wenn das Glücksspiel von einem Unternehmer angeboten wird11, der Spieler einen Einsatz erbringen muss12, und ihm ein Gewinn in Aussicht gestellt wird13.

Damit es sich um eine Ausspielung gem § 2 GSpG handelt, müssen alle drei Tatbestandsmerkmale kumulativ erfüllt sein. Die rechtliche Qualifikation als Ausspielung ist vor allem im Hinblick auf das in § 3 GSpG normierte staatliche Glücksspielmonopol („Das Recht zur Durchführung von Glücksspielen ist, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt wird, dem Bund vorbehalten (Glücksspielmonopol).“14) von Bedeutung, da nur Ausspielungen unter das Glücksspielmonopol fallen.15 Auch § 5 GSpG („Landesausspielungen mit Glücksspielautomaten“) und § 14 GSpG („Lotterien“16) knüpfen an den Begriff der Ausspielung an.

Die Durchführung des österreichischen Glücksspielmonopols erfolgt durch ein viergeteiltes Konzessionssystem. Während § 5 iVm § 4 Abs 2 GSpG den Bundesländern Kompetenzen in Hinblick auf das Automatenglücksspiel einräumt, behält sich der Bund die Vergabe der Konzessionen im Bereich der Lotterien17, Spielbanken18 und Pokersalons19 vor. Zur Überwachung dieser Konzessionäre ist gem § 19 Abs 1 und 31 Abs 1 GSpG ebenfalls der Bund durch den Bundesminister für Finanzen berufen. Damit einher geht auch das Recht zur Bucheinsicht oder das Betreten der Geschäftsräume des Konzessionärs.

1.1 Konzessionsarten

1.1.1 § 5 GSpG: Landesausspielungen mit Glücksspielautomaten

Gem § 4 Abs 2 GSpG fallen Landesausspielungen mit Glücksspielautomaten nicht unter das staatliche Glücksspielmonopol. Der Landesgesetzgeber kann demnach, innerhalb des Rahmens des § 5 GSpG, maximal drei Bewilligungen für das Automatenglücksspiel vergeben. Den Bundesländern steht es also frei, das Automatenglücksspiel gänzlich zu verbieten oder als Monopol bzw Oligopol auszugestalten.

1.1.2 § 14 GSpG: Lotteriekonzession

Nach § 14 GSpG ist der Bundesminister für Finanzen ermächtigt, die Durchführung der Ausspielungen nach §§ 6 bis 12b GSpG (Lotto, Totto, Zusatzspiel, Sofortlotterien, Klassenlotterie, Zahlenlotto, Nummernlotterien, elektronische Lotterien, Bingo und Keno) durch Erteilung einer Konzession zu

11 Vgl § 2 Abs 1 Z 1 GSpG. 12 Vgl § 2 Abs 1 Z 2 GSpG. 13 Vgl § 2 Abs 1 Z 3 GSpG. 14 § 3 GSpG. 15 Vgl § 4 Abs 1 Z 1 GSpG. 16 Die verschiedenen Ausspielungsformen sind in §§ 6 bis 12b GSpG aufgelistet. 17 Vgl §§ 6 bis 12b GSpG. 18 Vgl § 21 GSpG. 19 Vgl § 22 GSpG.

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übertragen. Diesem Konzessionsinhaber steht als einziger der Vertriebskanal über elektronische Medien offen.20

1.1.3 § 21 GSpG: Spielbankkonzession

Hierbei handelt es sich um die Möglichkeit zum Angebot stationären Glücksspiels. Der Bundesminister für Finanzen hat die Möglichkeit 15 Konzessionen zu vergeben, wobei die Casinos Austria AG momentan Inhaber von 12 Spielbankkonzessionen ist.

1.1.4 § 22 GSpG: Pokerkonzession

Die Konzession zum Betrieb drei weiterer Spielbanken, die ausschließlich Pokerspiele anbieten, fand erst 2010 Eingang in das GSpG21 und wurde 2014 nach einem VfGH-Urteil22 von einer auf drei Konzessionen ausgeweitet.23

1.2 Vertriebsformen

Die Lotteriekonzession gem § 14 iVm § 12a Abs 1 GSpG („elektronische Lotterien“) ist die einzige Konzessionsart, die es erlaubt, die Ausspielungen über elektronische Medien durchzuführen. Spielteilnahme, Gewinnermittlung und Ergebnismitteilung erfolgen hierbei auf elektronischem Weg.

Während § 5 GSpG und § 21 GSpG de iure die Möglichkeit eines Oligopols schaffen, beschränkt § 14 GSpG die Lotteriekonzession auf einen einzigen Konzessionsinhaber, die Österreichische Lotterien GmbH, womit ein Monopol bei Online-Glücksspiel in Österreich entsteht. Inhaber einer Bewilligung nach § 5 GSpG, § 21 GSpG oder § 22 GSpG ist es nicht gestattet, eine digitale Vertriebsform für ihr Angebot zu wählen.

Wie bereits eingangs erwähnt, wäre ein Verbot des Glücksspiels für den österreichischen Gesetzgeber der Idealzustand. Auf Grund der faktischen Nichterreichbarkeit eines völligen Verbots ohne Abwanderung hin zu illegalem Glücksspiel, entschied sich der Gesetzgeber jedoch für ein staatliches Monopol. Während jedoch im Bereich der Spielbanken und Glücksspielautomaten die Möglichkeit von Wettbewerb und Angebotsausweitung24 geschaffen wird, sind alle Spiele der Lotteriekonzession gem § 14 GSpG - und damit der komplette Vertriebskanal Internet - weiterhin monopolisiert.

Konzession § 5 (Automaten)

§ 14 (Lotterie) § 21 (Spielbanken) § 22 (Pokersalon)

Anzahl bis 27 1 15 3

Online-Glücksspiel ✕ ✓ ✕ ✕

20 Vgl Kapitel 2.2. 21 BGBl I 2010/73. 22 VfGH 27.06.2013, G 26/2013-11, G 90/2012-14. 23 BGBl I 2014/13. 24 Vgl ua die Erhöhung der Spielbankkonzession auf 15 durch die GSpG-Novelle BGBl I 2010/73 und die Erhöhung der Pokersalonkonzession auf 3 durch die GSpG-Novelle BGBl I 2014/13.

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1.3 Einfluss der EuGH-Judikatur

Obwohl der Glücksspielsektor auf europäischer Ebene nicht harmonisiert ist, so hat, durch die Qualifikation als Dienstleistung25 und die damit einhergehende Subsumtion unter die Dienstleistungsfreiheit nach Art 56 AEUV, die Rechtsprechung des EuGH in den letzten Jahren immer mehr an Relevanz für die innerstaatliche Glücksspielgesetzgebung gewonnen. So sind beinahe alle Novellen des GSpG der jüngsten Vergangenheit auf Urteile des EuGH zurückzuführen, und ein Studium der relevanten Entscheidungen ist somit unumgänglich.

Bereits 1994 sprach der EuGH in der Rs Schindler26 aus, dass nationale Normen, die das Durchführen von Glücksspielen in einem Mitgliedstaat verhindern oder verbieten, eine Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit27 darstellen. Sind die nationalen Rechtsvorschriften jedoch nicht diskriminierend, so können sie durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt werden. Der Begriff des Allgemeininteresses wird durch die Rechtsprechung des EuGH laufend weiterentwickelt und umfasst ua die Sozialpolitik, Betrugsbekämpfung oder den Verbraucherschutz.

In den letzten 20 Jahren konkretisierte der EuGH den Begriff des Allgemeininteresses in Hinblick auf das (Online-)Glücksspiel immer weiter. Nach der 2003 ergangenen Entscheidung in der Rs Gambelli28 muss eine Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit „kohärent und systematisch zur Beschränkung der Wetttätigkeit beitragen.“29 Die verwendete Formulierung der „kohärenten und systematischen Beschränkung“ des EuGH bleibt in ihrer Bedeutung jedoch der Interpretation überlassen.30 Basierend auf den darauffolgenden Entscheidungen des EuGH kann jedoch davon ausgegangen werden, dass die Kohärenz und Systematik jedenfalls dann nicht gegeben ist, wenn eine Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs widersprüchlich zu den proklamierten Zielen steht und die Maßnahme deshalb auch nicht in der Lage ist, diese Ziele zu erreichen. So entwickelte sich die Kohärenzprüfung - als Teil der Verhältnismäßigkeitsprüfung einer restriktiven Maßnahme - zu einem Dreh- und Angelpunkt bei der Beurteilung nationaler Glücksspielregelungen.

Erst unlängst urteilte der EuGH in den Rs Stoß31 und Carmen Media32, wann ein Glücksspielmonopol die Voraussetzungen einer systematischen und kohärenten Beschränkung nicht erfüllt. Eine häufig auftretende Inkohärenz ist bspw die expansive Politik bei Glücksspielen, die von dem jeweiligen Glücksspielmonopol ausgenommen sind und uU von alternativen Konzessionären betrieben werden.

Obwohl die Rechtsprechung des EuGH zu Online-Glücksspiel in den letzten Jahren immer umfangreicher wurde, darf nicht vergessen werden, dass es nicht

25 Vgl EuGH 24.03.1994, C-275/92, Schindler Rz 25. 26 EuGH 24.03.1994, C-275/92, Schindler. 27 Vgl EuGH 24.03.1994, C-275/92, Schindler Rz 45. 28 EuGH 06.11.2003, C-243/01, Gambelli ua. 29 EuGH 06.11.2003, C-243/01, Gambelli ua Rz 67. 30 Vgl Talos/Strass, Das Kohärenzgebot im Glücksspielsektor, wbl 09/2013, 481. 31 EuGH 08.09.2010, C-316/07 et al, Stoß. 32 EuGH 08.09.2010, C-46/08, Carmen Media Group.

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Aufgabe des EuGH ist zu beurteilen, ob eine konkrete nationale Beschränkung kohärent und systematisch ist. Dies ist auf die mangelnde Harmonisierung auf europäischer Ebene und die damit verbundene Unzulässigkeit der Überprüfung nationalen Rechts im Zuge eines Vorabentscheidungsverfahrens zurückzuführen.33 Kommt der EuGH zu der Entscheidung, dass gewisse Beschränkungen nicht in der Lage sind, die Spieltätigkeit kohärent und systematisch zu begrenzen, so fällt es schlussendlich in die Kompetenz des nationalen Gerichts dies auch festzustellen.34

1.3.1 EuGH 09.09.2010: Engelmann (C-64/08)

Die Entscheidung des EuGH in der Rs Engelmann beschäftigt sich vordergründig mit stationärem Glücksspiel in Österreich. Die Vertriebsformbeschränkung durch die unterschiedlichen Konzessionsarten, und die damit zusammenhängende Systematik und Kohärenz des österreichischen Glücksspielmonopols im Bereich der elektronischen Medien, macht die Erläuterung dieser Entscheidung für das weitere Verständnis jedoch unumgänglich.

Der deutsche Staatsbürger Ernst Engelmann betrieb in Österreich zwei Spielcasinos, ohne die dafür notwendige Konzession zu besitzen. Am 05. März 2007 verurteilte das BG Linz Herrn Engelmann, wegen Veranstaltung unerlaubter Glücksspiele gem § 168 Abs 1 StGB, in erster Instanz zu einer Geldstrafe von EUR 2.000,00. Das LG Linz hatte jedoch Zweifel an der Europarechtskonformität der österreichischen Glücksspielregelungen und leitete am 19. Februar 2008 ein Vorabentscheidungsverfahren vor dem EuGH ein.

Darin stellte der EuGH ua fest, dass eine Regelung, die den Betrieb einer Spielbank nur Wirtschaftsteilnehmer mit Sitz im Inland erlaubt, der Niederlassungsfreiheit nach Art 49 AEUV entgegensteht: „[Es] genügt hierzu die Feststellung, dass der kategorische Ausschluss von Wirtschaftsteilnehmern, die ihren Sitz in einem anderen Mitgliedstaat haben, als unverhältnismäßig anzusehen ist, da er über das hinausgeht, was zur Bekämpfung der Kriminalität erforderlich ist. Es gibt nämlich mehrere Mittel, die Tätigkeit und die Konten dieser Wirtschaftsteilnehmer zu kontrollieren.“35 Im Hinblick auf das Rechtsformerfordernis enthält sich der EuGH einer Antwort und überträgt die endgültige Entscheidung, mangels zusätzlicher Angaben, den nationalen Gerichten.36

Sowohl die begrenzte Anzahl der Konzessionen, als auch deren Laufzeit von 15 Jahren, sieht der EuGH als gerechtfertigt an. Bezüglich der Anzahl sprach der EuGH aus, dass die Begrenztheit dazu beitrage, die Gelegenheiten zum Glücksspiel einzuschränken und damit ein Ziel des Allgemeininteresses

33 Vgl Art 267 AEUV. 34 Klappstein, Die Bindungswirkung der Vorabentscheide des EuGH, in Busch/Kopp/McGuire/Zimmermann (Hrsg), Europäische Methodik: Konvergenz und Diskrepanz europäischen und nationalen Privatrechts 233. 35 EuGH 09.09.2010, C-64/08, Engelmann Rz 37. 36 Vgl EuGH 09.09.2010, C-64/08, Engelmann Rz 31.

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darstelle.37 Bei der fünfzehnjährigen Laufzeit der Konzession muss darüber hinaus die Möglichkeit des Konzessionsinhabers Berücksichtigung finden, seine Investitionen zu amortisieren.38

Auch bei der Vergabe der Konzessionen sieht der EuGH europarechtliche Mängel. Das Transparenzgebot39 sei zwingende Vorbedingung für das Recht eines Mitgliedstaates, überhaupt Konzessionen zu erteilen. Laut EuGH ist hierfür ein System erforderlich, das auf „objektiven, nicht diskriminierenden und im Voraus bekannten Kriterien beruhe, damit der Ermessensausübung durch die nationalen Behörden zum Schutz vor willkürlichen Entscheidungen hinreichende Grenzen gesetzt werden.“40 In Österreich sei jedoch selbst das geringste Maß an Öffentlichkeit und Transparenz nicht gewahrt worden und die erfolgte Konzessionsvergabe stehe deswegen sowohl Art 49 AEUV, als auch Art 56 AEUV entgegen.41

Obwohl sich der EuGH nicht zu der Gesamtkohärenz des österreichischen Glücksspielmonopols geäußert hat42, so hat das Verfahren dennoch zu wichtigen Novellen des GSpG geführt. Das Sitzerfordernis wurde gestrichen und nunmehriger Anknüpfungspunkt ist ein Sitz innerhalb der Europäischen Union oder den Staaten des EWR.43 Dennoch muss der ausländische Konzessionär über eine Glücksspielkonzession in seinem Heimatstaat verfügen, die eine vergleichbare Aufsicht und Kontrolle im Ausland44 zulässt. Die Beurteilung des Vorliegens dieser Voraussetzungen obliegt den österreichischen Behörden und bietet diesen damit einen erheblichen Ermessensspielraum. Ferner wurde die Anzahl der § 22 GSpG Spielbankkonzessionen von 12 auf 15 erhöht und die § 23 GSpG Pokersalonkonzession geschaffen.

1.3.2 EuGH 15.09.2011: Dickinger/Ömer (C-347/09)

Ungefähr ein Jahr nach der Rs Engelmann musste sich der EuGH erneut mit dem österreichischen Glücksspielmonopol auseinandersetzen. Den Geschäftsführern der österreichischen bet-at-home.com Entertainment GmbH45, Jochen Dickinger

37 Vgl EuGH 09.09.2010, C-64/08, Engelmann Rz 45. 38 Vgl EuGH 09.09.2010, C-64/08, Engelmann Rz 48. 39 Abgeleitet aus Art 49 AEUV und Art 56 AEUV, vgl EuGH 09.09.2010, C-64/08, Engelmann Rz 49. 40 EuGH 09.09.2010, C-64/08, Engelmann Rz 55. 41 Vgl EuGH 09.09.2010, C-64/08, Engelmann Rz 56. 42 Dies wurde ua von GA Mazák gefordert: Vgl Schlussanträge GA Mazák, C-64/08, Engelmann Rz 70 ff. 43 Vgl § 14 Abs 3 GSpG. 44 ErläutRV 981 BlgNr 24. GP 147: “Zur Sicherstellung einer effektiven ordnungspolitischen Aufsicht muss bei Entfall eines inländischen Sitzes aber eine geschlossene Aufsichtskette zur Glücksspielaufsicht im Sitzstaat hergestellt werden können, die der österreichischen Glücksspielaufsicht entsprechende Kontrollauskünfte erteilen und für sie Kontrollmaßnahmen bei der die Konzession haltenden Gesellschaft vor Ort durchführen kann. Davon kann nur dann ausgegangen werden, wenn die Kapitalgesellschaft im Sitzstaat eine gleichartige Lotteriekonzession besitzt.“ 45 Dabei handelt es sich um eine Tochtergesellschaft der deutschen bet-at-home.com AG, die wiederrum Muttergesellschaft drei maltesischer Unternehmen ist, wovon zwei mit einer maltesischen „Class One Remote Gaming License“ die Internetseite www.bet-at-home.com, auch in Österreich, betrieben.

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und Franz Ömer46, wurde vorgeworfen, Online-Glücksspiel in Österreich ohne die erforderliche Konzession47 angeboten zu haben.

Die Strafbarkeit ergab sich, wie auch schon bei der Rs Engelmann, aus § 168 Abs 1 StGB. Das BG Linz hegte jedoch Zweifel an der Kohärenz des österreichischen Glücksspielrechts und leitete ein Vorabentscheidungsverfahren beim EuGH ein.

Das GSpG legt dem Lotteriekonzessionär einige restriktive Beschränkungen auf.48 Während der EuGH bei dem Rechtsformerfordernis49 und der Mindesthöhe des Gesellschaftskapitals50, die spezifischen Beschränkungen unionsrechtlich für unbedenklich hält, ja sogar als erforderlich ansieht51, sieht er ein Sitzerfordernis oder ein Verbot, in anderen Mitgliedstaaten Filialbetriebe zu errichten, wesentlich kritischer.

Da es sich bei einem Sitzerfordernis naturgemäß um eine diskriminierende Beschränkung handelt, kann diese nicht durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt werden.52 Solch eine Beschränkung ist reduziert auf die Rechtfertigungsgründe des Art 52 AEUV53. In Anbetracht dieser restriktiven Rechtfertigungsmöglichkeiten ist es zu bezweifeln, dass ein Sitzerfordernis den unionsrechtlichen Kriterien der Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit entspricht. Dementsprechend trägt der EuGH dem BG Linz die Prüfung etwaiger weniger restriktiver Mittel auf.54

In Bezug auf das Verbot der Errichtung von Filialbetrieben in anderen Mitgliedstaaten55 stellt der EuGH klar, dass die Freiheit eines einzelnen Mitgliedstaates, den Glücksspielbetrieb auf seinem Hoheitsgebiet selbst zu regeln, keinen Selbstzweck darstellt. Diese Freiheit ist weder Rechtfertigungsgrund noch legitimes Ziel des Allgemeininteresses.56

In der Rs Dickinger/Ömer ging der EuGH auch erstmal auf die Kohärenz der österreichischen Glücksspielpolitik und des österreichischen Glücksspielmonopols ein. Durch die „sittlichen, religiösen oder kulturellen Besonderheiten und die mit Glücksspiel und Wetten einhergehenden sittlich und finanziell schädlichen Folgen für den Einzelnen wie für die Gesellschaft“57 wird den Mitgliedstaaten seitens des EuGH ein erheblicher Ermessensspielraum zuerkannt. Auch bei der Bestimmung des jeweiligen nationalen Schutzniveaus und der Wahl der Mittel um dieses zu erreichen, sind die Mitgliedstaaten grundsätzlich frei.

46 Bei beiden handelt es sich um österreichische Staatsbürger. 47 Gemeint ist die Lotteriekonzession gem § 14 GSpG. 48 Vgl § 14 Abs 2 GSpG. 49 Vgl § 14 Abs 2 Z 1 GSpG. 50 Vgl § 14 Abs 2 Z 3 GSpG. 51 EuGH 15.09.2011, C-347/09, Dickinger/Ömer Rz 72. 52 EuGH 15.09.2011, C-347/09, Dickinger/Ömer Rz 79. 53 „[A]us Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit“. 54 EuGH 15.09.2011, C-347/09, Dickinger/Ömer Rz 84. 55 Vgl § 15 Abs 1 GSpG. 56 Vgl EuGH 15.09.2011, C-347/09, Dickinger/Ömer Rz 87. 57 EuGH 15.09.2011, C-347/09, Dickinger/Ömer Rz 45.

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Entscheidet sich ein Mitgliedstaat jedoch für ein Monopol, um den, mit dem Glücksspiel verbundenen Gefahren zu begegnen, so hat dieser restriktive Eingriff in die Dienstleistungsfreiheit auf verhältnismäßige, systematische und kohärente Weise zu erfolgen.

Die österreichische Regierung sieht die Legitimationsberechtigung für ein staatliches Glücksspielmonopol vor allem im Schutz der Sozialordnung und hier besonders bei adäquaten Spielerschutzmaßnahmen. Die Eignung dieser Maßnahme ist aber - laut EuGH - nur dann auch geeignet das geltend gemachte Ziel zu gewährleisten, wenn es in kohärenter und systematischer Weise erreicht wird.58

Eine expansionistische Politik des Lotteriekonzessionärs ließ im vorliegenden Fall das BG Linz an der Kohärenz des österreichischen Glücksspielmonopols zweifeln. Während Herr Dickinger, Herr Ömer und die maltesische Regierung die Auffassung vertraten, dass die Werbemaßnahmen des Monopolisten lediglich die Maximierung der Einnahmen zum Ziel hatten59, argumentierte die österreichische Regierung mit dem Ziel, die Spiellust der Verbraucher, durch Aufzeigen attraktiver legaler Alternativen, in kontrollierbare und rechtmäßige Bahnen zu lenken.

Werden Verbraucher angereizt und ermuntert, aktiv an Glücksspielen teilzunehmen, so steht dies einer restriktiven Glücksspielpolitik in Form eines Monopols diametral entgegen. Der Gerichtshof billigt zwar eine expansionistische Politik eines Monopolisten unter dem Gesichtspunkt, den Glücksspielbetrieb in geregelte und kontrollierbare Bahnen zu lenken, die damit einhergehende Werbung hat jedoch auf maßvolle Weise zu geschehen. Werbung, die über legalisierte Spielangebote informiert, ist hierbei zu unterscheiden von Werbung, die zur aktiven Teilnahme an Glücksspielen auffordert, anregt oder das Spiel als solches verharmlost.

Die abstrakte Eignung von Werbung, Nutzer illegalen Glücksspiels hin zu rechtmäßigen Alternativen zu bewegen, reicht jedoch alleine nicht aus. Vielmehr müssen kriminelle und betrügerische Aktivitäten in Zusammenhang mit Glücksspielen und Spielsucht auch ein faktisches Problem in dem jeweiligen Mitgliedstaat darstellen, um eine expansionistische Geschäftspolitik des Monopolisten zu rechtfertigen.60 Die mit dem Fall betrauten Behörden und Gerichte haben demnach die innerstaatliche Glücksspielpolitik in ihrer Gesamtheit auf eine etwaige Inkohärenz hin zu prüfen.

2. Kohärenzprüfung von Online-Glücksspiel in Österreich

Das Glücksspielmonopol, das die Durchführung von Online-Glücksspielen in Österreich von einer Konzession abhängig macht, die nur einem einzigen Wirtschaftsteilnehmer erteilt wird, greift in den Schutzbereich der Dienstleistungsfreiheit gem Art 56 AEUV ein. Das Glücksspielmonopol - als

58 Vgl EuGH 15.09.2011, C-347/09, Dickinger/Ömer Rz 56. 59 Vgl EuGH 15.09.2011, C-347/09, Dickinger/Ömer Rz 53. 60 Vgl EuGH 15.09.2011, C-347/09, Dickinger/Ömer Rz 100 lit b.

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restriktive Maßnahme - muss demnach gerechtfertigt werden und der jeweilige Mitgliedstaat muss darlegen, dass die Beschränkung der Dienstleistungsfähigkeit auf kohärente und systematische Weise erfolgt.

Um die Untersuchungs-, Darlegungs- und Nachweispflichten der Mitgliedstaaten, die sich aus der Glücksspieljudikatur des EuGH ergeben, anschaulich darzustellen bediente sich Koenig einer Pyramidenform61:

Das Fundament der Kohärenzpyramide bildet die Festlegung des zu überprüfenden Marktes, in unserem Fall der Markt von Online-Glücksspiel in Österreich. In der darauffolgenden empirisch und prozedural strukturierten Intrakohärenzprüfung muss der Mitgliedstaat wissenschaftliche Erkenntnisse und Informationen heranziehen oder Daten erheben, auf deren Grundlage eine Risikobewertung von Online-Glücksspiel in Österreich zu erfolgen hat. Im Zuge des materiellen Intrakohärenznachweises wird nun bewertet, ob das festgestellte Risiko auch regulatorisch effektiv durch österreichisches Glücksspielrecht verhindert wird. Die Interkohärenzprüfung setzt nun die Gefährlichkeit von Online-Glücksspiel mit anderen Vertriebskanälen und Glücksspielen in Relation und der materielle Interkohärenznachweis zeigt auf, wie sich die Regulierung von Online-Glücksspiel konkret in das Gesamtgefüge der österreichischen Glücksspielordnung einordnet.

2.1 Empirisch strukturierte Intrakohärenzprüfung

61 Vgl Koenig/Bovelet-Schober, Das für Poker- und Casinospiele nach dem 1. Juli 2012 in Kraft getretenen Glücksspieländerungsstaatsvertrag (GlüÄndStV) geltende Internetverbot auf dem EU-rechtlichen Prüfstand, ZfWG 06/2012 381 (383).

Materieller Interkohärenznachweis

Empirisch strukturierte Interkohärenzprüfung

Materieller Intrakohärenznachweis

Empirisch strukturierte Intrakohärenzprüfung

Festlegung eines zu regulierenden Marktes als Bezugsgegenstand jeder Kohärenzprüfung

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Die Durchführung aller Glücksspiele, die dem Glücksspielmonopol gem § 3 GSpG unterliegen und über elektronische Medien angeboten werden, sind einem einzelnen Unternehmen, der Österreichische Lotterien GmbH als Inhaberin der Lotteriekonzession gem § 14 GSpG vorbehalten. Da auch keine Bewilligungen anderer Staaten anerkannt werden, wurde de iure ein Monopol auf Online-Glücksspiele in Österreich geschaffen. Somit ist win2day.at62 einzig legaler Anbieter von Online-Glücksspielen in Österreich. Die Teilnahme an einer nichtkonzessionierten Elektronischen Lotterie ist gem § 52 Abs 4 GSpG verwaltungsrechtlich strafbar.

„Nach Ansicht der österreichischen Regierung dient die im Ausgangsverfahren fragliche Regelung zum einen der Kriminalitätsbekämpfung, insbesondere durch den Schutz der Glücksspieler vor Betrug und anderen Straftaten […]“.63

Die österreichische Regierung beruft sich auch in der Rs Dickinger/Ömer auf den Verbraucherschutz und die Kriminalitätsbekämpfung. Die Frage, inwieweit Online-Glücksspiele auch tatsächlich als suchtgefährdend und sozial schädlich eingestuft werden können, wird jedoch nicht beantwortet. Dabei wäre es die Aufgabe des einzelnen Mitgliedstaates die konkrete Maßnahme bereits ex-ante einer Kohärenzprüfung zu unterziehen und die Verhältnismäßigkeit derselben sicherzustellen.64 Um eben jene Verhältnismäßigkeit präzise einschätzen zu können, bedarf es jedoch einer Bewertung des Gefährdungs- und Suchtpotentials von Online-Glücksspiel. Um dies als Mitgliedstaat zufriedenstellend darlegen zu können, müssten in einem ersten Schritt wissenschaftliche Informationen und Daten herangezogen werden.

Hierzu bieten sich bspw wissenschaftliche Gutachten von Fiedler65, Meyer/Hayer66, Peren/Clement67 oder den europäischen Suchtexperten des Workshops zum Online-Glücksspiel68 an.

Auf Grundlage dieser Studien muss nun eine Risikobewertung vorgenommen werden, die das Gefährdungspotential von Online-Glücksspiel in Österreich beurteilt.

Meyer/Hayer vermuteten bei Online-Poker - ein Glücksspiel gem § 1 Abs 2 GSpG, das gem § 14 iVm § 12a GSpG nur von der Österreichische Lotterien GmbH angeboten werden darf - ein vergleichsweise hohes Suchtpotential. Aus Mangel an

62 Die win2day Entwicklungs- und Betriebsgesellschaft m.b.H steht zu je 50% im Eigentum der Casinos Austria AG und der Österreichische Lotterien GmbH. 63 EuGH 15.09.2011, C-347/09, Dickinger/Ömer Rz 52. 64 Vgl EuGH 08.09.2010, C-316/07 et al, Stoß Rz 83. 65 Vgl Wilcke/Fiedler, Zur Aussagekraft der Onlineglücksspielstudien der Harvard Medical School, ZfWG 05/2011, 316. 66 Vgl Meyer/Hayer, Poker - Glücksspiel mit Geschicklichkeitsanteil und Suchtpotential, ZfWG 06/2008, 153. 67 Vgl Peren/Clement, Messung und Bewertung des Suchtgefährdungspotentials des Onlinepokerspiels Texas Hold’em No Limit, Forschungsinstitut für Glücksspiel und Wetten 02/2012. 68 Vgl Europäische Kommission, Workshop on Online Gambling: Detection and Prevention of Problem Gambling and Gambling Addiction vom 25.05.2011.

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„objektiven Mess- und Bewertungsinstrumenten zur Feststellung der mit Glücksspielprodukten assoziierten Suchtgefahren“69 beschränkten sie sich auf eine Auflistung von Merkmalen, die für ein hohes Suchtpotential von Online-Poker (und Online-Glücksspiel im Allgemeinen) sprechen könnten: Verfügbarkeit, Vermarktung, Ereignisdichte, variable Einsatzhöhe und Gewinnmöglichkeiten, Fast-Gewinne und die Wettbewerbskomponente. Dennoch sprechen sich Meyer/Hayer gegen ein Verbot aus, sondern sehen die Lösung vielmehr in der „Bereitstellung eines sozial verantwortlichen Angebotes mit adäquaten Maßnahmen des Spielerschutzes“70, um so eine tatsächliche Reduzierung der schädlichen Auswirkungen des Online-Pokerspiels zu erreichen.

Da es in Österreich lange Zeit „keine belastbaren Zahlen zum Glücksspielverhalten“71 gab, führte das Zentrum für interdisziplinäre Suchtforschung der Universität Hamburg, auch unter finanzieller Unterstützung der Österreichische Lotterien GmbH, die Österreichische Studie zur Prävention der Glücksspielsucht in den Jahren 2009 bis 2011 durch. Die Studie kam zu dem Ergebnis, dass 0,4 % aller Befragten ein problematisches und 0,7 % ein pathologisches Spielverhalten aufweisen, wobei das Automatenglücksspiel das mit Abstand größte Gefährdungspotential birgt, gefolgt von Sportwetten und den klassischen Casinospielen. Erst danach finden sich Online-Glücksspiele.

2.2 Materieller Intrakohärenznachweis

Es reicht jedoch nicht, Online-Glücksspiel per se ein hohes Sucht- oder Gefährdungspotential zu attestieren. Das geschaffene Monopol auf Online-Glücksspiel in Österreich muss auch in der Lage sein, regulatorisch wirksam die Ziele des Verbraucherschutzes und der Kriminalprävention zu verfolgen.

Doch gerade ubiquitär verfügbare Online-Glücksspiele überschreiten nationale Grenzen und sind dadurch in der Lage, nationalen Beschränkungen – wie der österreichischen Monopolregelung – auszuweichen. Damit einher geht die Problematik der Durchsetzbarkeit eines nationalen Monopols auf Online-Glücksspiel. Der EuGH fordert bekanntlich eine tatsächliche Verminderung der Gelegenheiten zum Spiel.72

2.3 Empirisch strukturierte Interkohärenzprüfung

Während im Zuge der empirisch strukturierten Intrakohärenzprüfung das Risikopotential von Online-Glücksspiel einer genauen Begutachtung unterzogen wurde, ist es nun an der Zeit, dieses Gefährdungspotential in Relation zu stationärem Glücksspiel bzw dem Glücksspielmonopol entzogenen Glücksspielarten zu setzen. Wie bereits vorweggenommen weist in allen Studien das Automatenglücksspiel die höchste Suchtgefahr auf73, während das Online-

69 Meyer/Hayer, ZfWG 06/2008, 153 (158). 70 Meyer/Hayer, ZfWG 06/2008, 153 (158). 71 Buth/Kalke/Oechsler/Rosenkranz/Schütze/Verthein, Österreichische Studie zur Prävention der Glücksspielsucht (2011) 4. 72 Vgl EuGH 08.09.2010, C-316/07 et al, Stoß Rz 83. 73 Vgl insb Buth/Kalke/Oechsler/Rosenkranz/Schütze/Verthein, Österreichische Studie zur Prävention der Glücksspielsucht, die zu dem Ergebnis gelangen, dass das höchste

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Glücksspiel ungefähr über das gleiche74 oder ein niedrigeres75 Suchtpotential als Sportwetten verfügt.

Erschwert wird eine Interkohärenzprüfung durch die Tatsache, dass es keine perfekte Methode zur Ermittlung eines relativen Gefährdungspotentials eines Glücksspielproduktes bzw einer Glücksspielart gibt. Während Meyer/Hayer noch das Fehlen eines objektiven Mess- und Bewertungsinstruments des Gefährdungspotentials verschiedener Glücksspielprodukte bemängelten, konnten Peren/Clement schon auf AsTERiG („Assessment Tool to measure and Evaluate the Risk potential of Gambling products“) zurückgreifen. Dieses Instrument soll in der Lage sein, verschiedene Glücksspielprodukte in Gefährdungsgrade einzuteilen, um so einen komparativen Vergleich zu ermöglichen.76 Doch auch diese Form der Beurteilung verschiedener Gefährdungsgrade stößt bei dem stetigen Wandel der angebotenen Glücksspielprodukte an seine Grenzen. Auch Binde, der die Stärken und Schwächen von Prävalenzdatenanalysen, Spielsuchtstatistiken und Messinstrumenten wie AsTERiG herausarbeitete kommt zu folgender conclusio: „There is no perfect method to assess the relative harmfulness of various forms of gambling. Therefore, it is advantageous to use information gathered by all available methods. This requires an active commitment to constantly monitor harmfulness - there is no “quick fix”. More research is needed on problem gambling in relation to specific forms of gambling. More research is needed on the effectiveness of various regulatory actions and approaches.”77

2.4 Materieller Interkohärenznachweis

Die Besonderheiten des österreichischen Glücksspielmarktes lassen einen materiellen Interkohärenznachweis nun aus mehreren Gründen scheitern:

2.4.1 Online-Glücksspiel vs Sportwetten

Abgesehen davon, dass im vorliegenden Fall nicht auf einer regulatorisch effektiven Maßnahme iS eines materiellen Intrakohärenznachweises aufgebaut werden kann, so scheitert auch der materielle Interkohärenznachweis bei einer Gesamtbetrachtung des österreichischen Glücksspielmarktes. Die Durchführung von Glücksspielen auf elektronischem Weg ist in Österreich gem § 14 iVm § 12a Abs 1 GSpG einem einzigen Unternehmen, der Österreichische Lotterien GmbH, vorbehalten. Bewilligungen anderer Mitgliedstaaten werden nicht anerkannt und demzufolge entsteht ein Monopol auf Online-Glücksspiel. Sportwetten hingegen, die ungefähr das gleiche Suchtpotential aufweisen, wo doch der Verbraucherschutz und damit auch die Prävention von Spielsucht die Maxime der österreichischen Glücksspielpolitik darstellt, sind weitestgehend liberalisiert.

Gefährdungspotential bei Glücksspielautomaten liegt und deshalb vorrangig – neue, bessere oder konkretere – Spielerschutzmaßnahmen bei dieser Glücksspielart in Österreich erforderlich wären. 74 Vgl ua Peren/Clement, Suchtgefährdungspotentials des Onlinepokerspiels 80. 75 Vgl ua Buth/Kalke/Oechsler/Rosenkranz/Schütze/Verthein, Österreichische Studie zur Prävention der Glücksspielsucht 24,33. 76 Zur Methodik und den Kriterienkatalog von AsTERiG vgl Peren/Clement, Suchtgefährdungspotentials des Onlinepokerspiels 61 ff. 77 Binde, How to assess the harmfulness of various forms of gambling - A methodological discussion from a regulatory perspective (2012) 10.

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Dabei sind Sportwetten betreffende Regelungen vertriebswegneutral. Wer die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt, hat einen Anspruch auf Erteilung der Lizenz und ist berechtigt stationär und via Internet Sportwetten anzubieten. De facto führt dies dazu, dass ein Sportwettenlizenzinhaber eines Bundeslandes berechtigt ist, sein Angebot in ganz Österreich auch online anzubieten.78

2.4.2 Online-Glücksspiel vs Automatenglücksspiel

Das Automatenglücksspiel fällt gem § 5 GSpG in die Kompetenz der Bundesländer.79 Diese sind ermächtigt auf Landesebene das Automatenglücksspiel zu verbieten oder bis zu drei Konzessionen zu erteilen. Der Gesetzgeber legt somit für die Lotteriekonzession ein Monopol fest, während er die Durchführung des Automatenglücksspiels in die Hände mehrerer Unternehmen legt. Wenn der österreichische Gesetzgeber seiner Argumentationslinie treu bleiben würde und weiter in der quantitativen Beschränkung des Glücksspielangebots die bestmögliche Maßnahme zur Erreichung eines hohen Verbraucherschutzniveaus sieht, so wäre es inkohärent, die Glücksspielautomatenangebote, denen bewiesenermaßen ein höheres Gefährlichkeitspotential attestiert werden kann, quantitativ auszuweiten.80 Die elektronische Vertriebsform ist naturgemäß jene, in der der Verbraucher am leichtesten auf illegale Alternativen zurückgreifen kann, dennoch geht der Gesetzgeber davon aus, dass hier ein Monopol in der Lage sei, den Verbraucherschutz am besten zu gewährleisten. Wäre dies der Fall, so könnte, argumentum a fortiori, ein Monopolist im Bereich der Spielbanken und des Automatenglücksspiel, wo die Inanspruchnahme illegaler Alternativen sich für Durchschnittsspieler schwieriger gestaltet, den Spielerschutz bestmöglich sicherstellen. Doch gerade diese Glücksspielangebote werden immer weiter ausgeweitet81, während für elektronische Medien weiterhin an einem Monopol festgehalten wird.

Selbst die Tatsache, dass Bundesländern durch § 5 GSpG die Möglichkeit gegeben wird, das Automatenglücksspiel zu verbieten, mutet nur auf den ersten Blick als verbraucherfreundlich an. Die von § 12 a Abs 2 GSpG umfassten Video Lotterie Terminals („VLTs“) gleichen optisch, also aus Verbrauchsicht, den Glücksspielautomaten des § 5 GSpG. Der Unterschied liegt lediglich in der Art der Gewinnermittlung. Glücksspielautomaten nach § 5 GSpG führen den Spielausgang dezentralisiert – also im Automaten selbst – herbei, während VLTs zentralseitig vernetzt sind und über den Weg der elektronischen Medien über einen etwaigen Gewinn oder Verlust entscheiden. Die gravierende Ähnlichkeit von Glücksspielautomaten und VLTs schlägt sich auch in der normativen Ausgestaltung nieder, denn aus rechtlicher Sicht werden sie weitgehend gleich

78 Vgl Stadler/Aquilina, Monopolisierung im Internet – Österreichs Internet-Glücksspiel-Monopol im Lichte des unionsrechtlichen Kohärenzgebots, in Jaksch-Ratajczak/Stadler (Hrsg), Aktuelle Rechtsfragen der Internetnutzung (Band 2) 451 (460). 79 Vgl Kapitel 2.2. 80 Zur deutschen Rechtslage vgl Bender, Nochmals: Die Schlussanträge des Generalanwalts Bot in Sachen Liga Portuguesa (Rechtssache C-42/07), http://www.isa-guide.de/allgemein/articles/23503.html (Stand 8.11.2014). 81 Vgl die Erhöhung der Anzahl an § 21 GSpG Konzessionen durch die GSpG-Novelle BGBl I 2010/73.

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behandelt.82 Das jedoch VLTs von der Lotteriekonzession gem § 14 GSpG umfasst sind, hat die seltsame Auswirkung, dass selbst in Bundesländern, die von ihrem Recht, das Automatenglücksspiel gem § 5 GSpG zu verbieten, Gebrauch machten, VLT-Outlets durch die Österreichische Lotterien GmbH, als einziger Lotteriekonzession, weiter betrieben werden können.

2.4.3 Online-Glücksspiel vs stationärem Glücksspiel

In der Rs Zeturf83 sah sich der EuGH ua mit der Frage konfrontiert, ob eine einschränkende Maßnahme nur unter dem Blickwinkel einer Beschränkung der online angebotenen Pferdewetten zu beurteilen ist, oder ob der gesamte Sektor der Pferdewetten betrachtet werden muss. Dabei stellt der Gerichtshof auf das Merkmal der Austauschbarkeit ab: Sollte das nationale Gericht feststellen, dass der Abschluss einer bestimmten Pferdewette im Internet lediglich ein Ersatz für den Abschluss derselben Wette an einer physischen Annahmestelle ist, so müsste der Sektor der Pferdewetten in seiner Gesamtheit beurteilt werden.84

Diese Austauschbarkeit der Vertriebskanäle ist jedoch bei einigen Spielen, die unter § 12a GSpG zu subsumieren sind, nicht gegeben.85 Eine unterschiedliche rechtliche Behandlung von Online-Glücksspiel und stationärem Glücksspiel ist demnach grundsätzlich rechtfertigbar. Doch es mutet seltsam an, wenn nun das Online-Glücksspiel gem § 14 GSpG einem restriktiveren Regulierungsregime unterworfen wird als das stationäre Glücksspiel. Insbesondere, da ua durch einen Workshop der Kommission dem Online-Glücksspiel kein über das stationäre Glücksspiel hinausgehendes Suchtpotential attestiert wird:

„There are likely to be differences in risks between types of games and frequency of games but no games were specifically highlighted or ranked. Overall, the access to online gambling products does not appear to have given rise to problem development or addiction at a higher rate than in the offline environment.”86

Während Online-Glücksspiel also weiterhin einem Monopolisten vorbehalten bleibt, werden die Anzahl der Spielbankkonzessionen erhöht87 und es wird selbst eine neue Pokersalonkonzession geschaffen88.

82 So ist bspw die aufzustellende Menge oder territoriale Dichte ident. Bzgl des Spielerschutzes verweist § 12a Abs 3 GSpG überhaupt auf § 5 Abs 3 bis 6 GSpG. Auch aus abgabenrechtlicher Sicht differenziert der österreichische Gesetzgeber nicht zwischen Glücksspielautomaten und VLTs. – Vgl § 57 Abs 4 GSpG. 83 Vgl EuGH 30.06.2011, C-212/08, Zeturf. 84 Vgl EuGH 30.06.2011, C-212/08, Zeturf Rz 76. 85 Vgl bspw Poker. Das Angebot an unterschiedlichen Pokervarianten, Tischen und Turnieren ist online um ein Vielfaches umfangreicher. Auch die Spielweise divergiert teils stark. Man denke hierbei an die mögliche Beeinflussung des Spielgeschehens durch Gestik oder Mimik. 86 Europäische Kommission, Workshop on Online Gambling: Detection and Prevention of Problem Gambling and Gambling Addiction vom 25.05.2011. 87 BGBl I 2010/73. 88 Gem § 22 GSpG, eingeführt durch die GSpG-Novelle BGBl I 2010/73.

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3. Conclusio

In der Rs Dickinger/Ömer stellte der EuGH klar, dass Mitgliedstaaten, möchten sie sich auf ein Ziel berufen, das in der Lage wäre, eine Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs zu rechtfertigen, auch alle Umstände darzulegen haben, anhand deren sich das nationale Gericht vergewissern kann, dass die gewählte Maßnahme auch tatsächlich verhältnismäßig ausgeschaltet ist89 und die vorgebrachten Gefahren, wie Spielsucht oder kriminelle Tätigkeiten, ein faktisches Problem darstellen. Dieser mitgliedstaatliche Nachweis erfolgte nicht. Inwieweit Spielsucht oder kriminelle Tätigkeiten durch Online-Poker in Österreich tatsächlich begünstigt werden, bleibt ungeklärt.90 Der materielle Intrakohärenznachweis wurde nicht erbracht; die quantitative Beschränkung des Online-Glücksspielangebots auf einen einzelnen Anbieter ist, nach heutigem Stand der Forschung, nicht in der Lage, die vorgebrachten Ziele, wie Verbraucherschutz und Kriminalitätsbekämpfung, zufriedenstellend zu verfolgen. Auch eine Gesamtkohärenz des österreichischen Glücksspielmarktes ist nicht gegeben. Sportwetten sind weitestgehend liberalisiert, der Bereich der Glücksspielautomaten fällt in die Kompetenz der Bundesländer, die hier auch frei sind Oligopole zu schaffen, und stationäres Glücksspiel wird weniger strikt reguliert als das Online-Glücksspiel, obwohl es hierfür an einem materiellen Interkohärenznachweis mangelt. In Hinblick auf die Interkohärenzprüfung sieht sich Österreich somit einer schier unüberwindbaren Hürde konfrontiert:

„Für die österr glücksspielrechtlichen Regelungen – zu denen unionsrechtlich auch Normen für das „kleine“ Glücksspiel sowie Sport- und Pferdewetten zählen – scheint dieses Hindernis [Anm: Die Interkohärenzprüfung] kaum überwindbar, zumal diese großteils nicht Ergebnis eines kohärenten Systemdenkens, sondern aufgrund unterschiedlicher Interessen von Bund und Ländern historisch gewachsen, Ausfluss verfassungsrechtlicher Kompetenzverteilung91 und von Zugeständnissen an einzelne Interessengruppen geprägt sind.“92

Damit bleibt festzuhalten, dass sich der Gesetzgeber mit der Entscheidung für ein Monopol auf Online-Glücksspiel für ein besonders restriktives

89 Vgl EuGH 15.09.2011, C-347/09, Dickinger/Ömer Rz 54. 90 Schon aus diesem Grund verneinte der EuGH in EuGH 13.11.2003, C-42/02, Lindman Rn 25 f die Unionsrechtskonformität einer finnischen Regelung: „Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass die Rechtfertigungsgründe, die von einem Mitgliedstaat geltend gemacht werden können, von einer Untersuchung zur Zweckmäßigkeit und zur Verhältnismäßigkeit der von diesem Staat erlassenen beschränkenden Maßnahme begleitet werden müssen. […] Im Ausgangsverfahren weisen die dem Gerichtshof vom vorlegenden Gericht übermittelten Akten kein Element statistischer oder sonstiger Natur auf, das einen Schluss auf die Schwere der Gefahren, die mit dem Betreiben vom Glücksspielen verbunden sind, oder gar auf einen besonderen Zusammenhang zwischen solchen Gefahren und der Teilnahme der Staatsangehörigen des betreffenden Mitgliedstaats an in anderen Mitgliedstaaten veranstalteten Lotterien zuließe.“ 91 Ganz allgemein rechtfertigt die interne Zuständigkeitsverteilung innerhalb eines Mitgliedstaates keine Inkohärenz. Vgl EuGH 08.09.2010, C-46/08, Carmen Media Group Rn 69 und Koenig/Meyer, ZfWG 03/2013, 153 (154). 92 Talos/Strass, wbl 09/2013, 481 (490).

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Regulierungsregime entschieden hat, welches, in Anbetracht der rechtlichen und faktischen Ausgangslage, als inkohärent zu qualifizieren ist.93

93 Diese conclusio hat hohe praktische Relevanz in Hinblick auf das Angebot ausländischer Glücksspielanbieter in Österreich: „Bei einer Betrachtung aller Umstände wird offensichtlich, dass die österreichischen Regelungen nicht den unionsrechtlichen Ausnahmen und den Grundsätzen des EuGH entsprechen und somit unionsrechtswidrig sind. Eine Anwendung der verwaltungsrechtlichen und strafrechtlichen Normen auf Online-Glücksspielangebote aus anderen Mitgliedstaaten der EU ist nicht zulässig.“ – Vgl Nikodem, Glücksspiel im Internet aus zivilrechtlicher Sicht (2013) 100.

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Schutz bestehender Rechte bei der Vergabe der neuen generischen Top-Level-Domains

MARTIN MIERNICKI*

Inhalt

1. Einleitung 1.1. Neue generische Top-Level-Domains und ICANN 1.2. Anmeldeverfahren 1.3. Streitbeilegung 1.4. Terminologische Vorbemerkung

2. Die Verletzung bestehender Rechte 2.1. Allgemeines 2.1.1. Geschützte Rechtspositionen 2.1.2. Das Schiedsgericht 2.2. Aktivlegitimation 2.2.1. Bestand und Schutzfähigkeit von Marken 2.2.2. Nicht registrierte Marken 2.2.3. Maßgeblicher Zeitpunkt des Rechtserwerbs 2.2.4. Zwischenstaatliche Organisationen 2.3. Der Verletzungstatbestand 2.3.1. Allgemeines 2.3.2. Die markenrechtlichen Faktoren 2.3.3. Zwischenstaatliche Organisationen

3. Ausgewählte Fragestellungen 3.1. Beschreibende Marken 3.2. Gleichstarke und regionale Markenrechte 3.3. Verwechslungsgefahr durch Kombination mit dem Second-Level 3.4. Wirkungen der Urteile 3.5. Bedeutung und Einfluss des UDRP

4. Abschließendes

* Martin Miernicki, Mag.iur., BA., Doktorand an der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien.

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1. Einleitung

1.1. Neue generische Top-Level-Domains und ICANN1

Als Top-Level-Domain (TLD) werden die Zeichen auf der höchsten Ebene eines Domainnamens im Internet zusammengefasst, die von der nächstfolgenden Ebene mit einem Punkt getrennt sind (zB „.at“, „.com“). Ihre Aufgabe (bzw die der Dommainnamen allgemein) besteht darin, eine für den Menschen leicht lesbare Zeichenkombination (wie zB <www.juridicum.at>) im Domain Name System (DNS) in eine für Rechner zu verarbeitende Zahlenabfolge, die IP-Adresse, umzuwandeln und so das Auffinden von Zielgeräten (bzw. Webseiten) zu ermöglichen2. Top-Level-Domains können in länderspezifische ccTLDs (zB „.at“, „.de“) oder generische gTLDs (zB „.com“, „.org“) unterteilt werden3. Während eine begrenzte Anzahl an ccTLD in der Natur der Sache liegt, waren auch die gTLDs ursprünglich nur eingeschränkt verfügbar. Diese begrenzte Verfügbarkeit von gTLDs wurde aber im Rahmen des New generic Top-Level Domain Program (http://newgtlds.icann.org/en/) weitestgehend aufgegeben4, um durch eine Liberalisierung gemäß den allgemeinen Zielvorstellungen Verbesserungen für Konsumenten und mehr Wettbewerb unter Internetdiensten zu erreichen sowie die entsprechende Nachfrage zu befriedigen5; die durch besagtes Programm vergebenen TLDs werden demnach als „neue generische Top-Level-Domains“ (new gTLDs) bezeichnet. Die Erweiterung ist in die Tätigkeit der ICANN (Internet Corporation for Assigned Names and Numbers) eingebettet, einer 1998 gegründeten Organisation mit Sitz in den Vereinigten Staaten, die sich selbst als „nicht auf Gewinn gerichtete, weltweite Partnerschaft zur Sicherheit, Stabilität und Interoperabilität“ des Internets beschreibt6 und der eine Schlüsselrolle für Funktionalität und Regulierung (Stichwort: Governance)7 des Internets zukommt. Die Aufgaben der Organisation umfassen v.a. die technische Koordinierung und die Verwaltung des DNS und der root zone und werden im Rahmen einer

1 siehe für einen Überblick über das Programm und die Rechtsschutzmöglichkeiten Horak, Die neuen generischen Top Level Domains, Öbl 2011, 148; Schulte-Braucks, Alles neu macht die ICANN – die neuen Top Level Domains bescheren Markeninhabern neue Risiken und neue Rechtsschutzmöglichkeiten, GRUR Int 2013, 322. 2 siehe zB Klein, ICANN and Internet Governance: Leveraging Technical Coordination to Realize Global Public Policy, The Information Society: An International Journal 2002, 193 (195). 3 Generische TLDs können ihrerseits in nicht gesponserte und gesponserte TLDs (wenn ein Sponsor vorliegt) unterteilt werden, siehe ICANN, About gTLDs www.icann.org/en/resources/registries/about (15.04.2014). 4 siehe dazu Easton, ICANN’s core principles and the expansion of generic top-level domains, International Journal of Law and Information Technology 2012, 273. 5 ICANN Generic Names Supporting Organisation, Final Report – Introduction of New Generic Top-Level Domains (2007) www.gnso.icann.org/en/issues/new-gtlds/pdp-dec05-fr-parta-08aug07.htm#_Toc43798015 (unter Principle C) (15.04.2014). 6ICANN, What does ICANN do? www.icann.org/en/about/participate/what (15.04.2014). 7 Klein, The Information Society 2002, 195; King, Internationalising internet governance: does ICANN have a role to play? Information & Communication Technology Law 2004, 243; Christou/Simpson, New Governance, the Internet and Country Code Top-Level Domains in Europe, Governance: An International Journal of Policy, Administration, and Institutions 2009, 599; Schiavetta/Kornaitis, ICANN’s role in controlling information on the internet, International Review of Law, Computers and Technology 2003, 267.

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Vereinbarung mit dem US-Handelsministerium wahrgenommen8, wobei der ICANN seit 2009 erweiterte9 Autonomie zukommt. Ein Gebiet von Debatten bleibt jedoch weiterhin die große Entscheidungsmacht der Einrichtung mit weltweiten Auswirkungen, was (u.a.) als Problem ihrer Verantwortlichkeit (accountability) und Legitimation (legitimacy) diskutiert wird10.

1.2. Anmeldeverfahren

Interessenten hatten von 12. Jänner bis 12. April 2012 die Möglichkeit, im Rahmen eines Anmeldeverfahrens die Zuweisung einer neuen gTLD zu erlangen; bis Fristende waren ca. 1930 Anmeldungen eingegangen11. Die Verfahrensdauer kann in jedem Einzelfall variieren: Die ersten neuen gTLDs wurden am 23.10. 2013 vergeben; bis Mitte April 2014 war dies bereits bei über 175 Domains der Fall.12 Vornherein ist festzuhalten, dass die Registrierung einer neuen gTLD aufgrund der Zielsetzung des Programms und den Verpflichtungen des Anmelders grundsätzlich von der Registrierung einer Domain auf den unteren Ebenen zu unterscheiden ist; v.a. trifft den Anmelder die Pflicht, die technischen und administrativen Vorkehrungen zum Betrieb der gTLD zu treffen sowie (je nach geplanten Betrieb) Registrierungen unterhalb seiner gTLD zuzulassen und zu verwalten13. Zur vollständigen Registrierung einer gTLD ist außerdem der Abschluss einer Vereinbarung mit der ICANN (Registry Agreement) nötig. Die Laufzeit dieser Übereinkunft ist prinzipiell mit zehn Jahren festgelegt, wobei die Möglichkeit einer Verlängerung besteht14. Die ICANN hat zudem für die Zukunft weitere Vergaberunden angedacht15.

8 Das seit 2009 gültige Dokument kann unter www.icann.org/en/about/agreements/aoc/affirmation-of-commitments-30sep09-en.pdf (15.04.2014) abgerufen werden. 9 Für eine rechtliche und politische Analyse der Vereinbarung siehe Froomkin, Almost Free: An Analysis of ICANN’S `Affirmation of Commitments´, Journal of Telecommunications and High Technology Law 2011, 187. 10 Lenard/White, Improving ICANN’s governance and accountability: A policy proposal, Information Economics and Policy 2011, 189; Weinberg, ICANN and the Problem of Legitimacy, Duke Law Journal 2000, 187; De Vey Mestdagh/Rijgersberg, Rethinking Accountability in Cyberspace: A New Perspective on ICANN, International Review of Law, Computers & Technology 2007, 27. 11 ICANN, New gTLDs Fast Facts 1 newgtlds.icann.org/en/about/program/materials/fast-facts-28feb14-en.pdf (15.04.2014). 12 ICANN., Delegated Strings http://newgtlds.icann.org/en/program-status/delegated-stringsstrings (15.04.2014). 13ICANN, gTLD Applicant Guidebook (2012) 5-10 ff http://newgtlds.icann.org/en/applicants/agb/guidebook-full-04jun12-en.pdf (15.04.2014). Siehe zur Problematik von sog. „closed generics“ (gTLD-Anmeldungen, die Registrierungen von Domains gar nicht oder nur beschränkt zulassen) ICANN, Report of Public Comments “Closed Generic“ gTLD Applications (2013) https://www.icann.org/en/system/files/files/report-comments-closed-generic-08jul13-en.pdf (15.04.2014). 14 ICANN, New gTLD Agreement (2013) Art 4 http://newgtlds.icann.org/en/applicants/agb/agreement-approved-02jul13-en.pdf (15.04.2014). 15ICANN, New gTLDs: Timing of the Next Round (2012) https://www.icann.org/en/system/files/bm/briefing-materials-6-05jan12-en.pdf (15.04.2014).

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Das zentrale Regelwerk des Anmeldeverfahrens ist das von der ICANN erarbeitete new gTLD Applicant Guidebook (Version 2012-06-04)16 (nachstehend: AGB), welches in einer Mischung aus prozessualen und materiell-rechtlichen Regelungen die grundlegenden Abläufe und Entscheidungskriterien vorzeichnet. Dazu wirkt es von einem Spagat zwischen Normmaterial und Informationsbroschüre dominiert (wohl weil es sowohl den interessierten Anmeldern als auch den Entscheidungsträgern als Grundlage dient). Das AGB unterteilt das Anmeldeverfahren in mehrere Phasen, die wie folgt zusammengefasst werden können17:

- Obligatorische Phasen:

• Eingangsprüfung (Adminstrative Completeness Check): Prüfung auf Vollständigkeit und Bezahlung der Gebühren

• Erstprüfung (Initial Evaluation): Prüfung auf mögliche Stabilitäts- und Sicherheitsprobleme durch den beantragten String, Ähnlichkeit mit anderen TLDs oder Anmeldeverboten, Prüfung des Anmelders

• Übertragungsvorgang (Transition to Delegation): Abschluss des registry agreement, technische Tests, Übertragung

- Fakultative Phasen:

• Erweiterte Prüfung (Extended Evaluation): auf Antrag des Anmelders bei negativer Erstprüfung

• Streitbeilegung (Dispute Resolution): falls ein formeller Einspruch (formal objection) eingebracht wurde

• Stringkonkurrenz (String Contention): mehrere Anmeldungen für einen identischen String werden in Konkurrenzgruppen (contention sets) eingeteilt; falls es keine Einigung gibt, kommt es zu einer Auktion.

1.3. Streitbeilegung

Da durch die Vergabe einer gTLD Interessen Dritter in vielseitiger Hinsicht beeinträchtigt werden können, sieht das AGB schon im Anmeldeverfahren das Instrument des formellen Einspruchs vor. Demnach kann eine dritte Partei (von einem Einspruch des GAC abgesehen18), gestützt auf vier definierte Einspruchsgründe und bei Vorliegen der Voraussetzungen, Einspruch gegen die Vergabe einer bestimmten gTLD erheben; das entsprechende Verfahren wird vor Schiedsgerichten (Service Providern) geführt, wobei keine Möglichkeit einer

16 ICANN, Guidebook. (siehe FN 13). Hinweis: Die Gliederung des Guidebook erfolgt in Modulen, wobei die Nummerierung der Seitenzahlen für jedes Modul separat erfolgt. Dementsprechend verweist zB die Folge 1-3 auf Modul 1, Seite 3. 17 ebd 1-3 ff. 18 Der beratende Regierungsausschuss (Governmental Advisory Committee –GAC) besteht (u.a.) aus Vertretern nationaler Regierungen und kann über ein Anraten (Advice) gegen gTLD-Anmeldungen Einspruch erheben, die ihm problematisch erscheinen, siehe ICANN, Guidebook 3-3 f.

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Berufung oder sonstigen Überprüfung der erstinstanzlichen Entscheidung gegeben ist. Die ICANN selbst ist nicht an diesen Verfahren beteiligt, wodurch das prinzipiell zentrale Verfahren in dieser Phase unterbrochen wird. Der Einspruch kann auf folgende Umstände gestützt werden19:

• String-Verwechslungsgefahr (String Confusion Objection – SCO): Es besteht Verwechslungsgefahr zwischen dem Gegenstand zweier Anmeldungen derselben Runde bzw. einer Anmeldung und einer bestehenden TLD.

• Verletzung bestehende Rechte (Legal Rights Objection – LRO): Bestehende Rechte (vornehmlich Markenrechte) werden durch die Vergabe einer TLD verletzt.

• Begrenztes öffentliches Interesse (Limited Public Interest Objection – LPIO): Die allgemein anerkannten und durch das Völkerrecht präzisierten Grundsätze der öffentliche Ordnung und Moral erfordern eine Verweigerung der Anmeldung.

• Gemeinschaftseinspruch (Community Objection – CO): Erheblicher Widerstand einer (kulturellen) Gemeinschaft, auf die die beantragte gTLD gerichtet ist, lässt ihre Vergabe nicht zu.

Die vorliegende Arbeit konzentriert sich auf den formellen Einspruch als wichtiger Phase vieler Vergabeverfahren und untersucht dabei im Speziellen den Einspruch wegen der Verletzung bestehender Rechte (LRO). Dazu werden einerseits die normativen Vorgaben des AGB und andererseits die dazu ergangenen Schiedssprüche beleuchtet. Aus diesen wird versucht, allgemeine Tendenzen abzuleiten; auf Grund des Fehlens einer Oberinstanz und möglichen Entwicklungen bis hin zu weiteren Vergaberunden können aber Abweichungen in Vergangenheit oder Zukunft nicht völlig ausgeschlossen werden.

19 ebd 3-4 ff.

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1.4. Terminologische Vorbemerkung

Bevor mit der eigentlichen Untersuchung begonnen wird, ist auf Grund sprachlicher Hürden eine terminologische Vorbemerkung nötig. Das Anmeldeverfahren wird von der englischen Sprache dominiert20, die auch die einzige Verfahrenssprache der Streitbeilegung ist21. Die entsprechenden Übersetzungen der relevanten Rechtsbegriffe des AGB versuchen sich aus praktischen Gründen an der österreichischen zivilprozessrechtlichen Terminologie zu orientieren, auch wenn andere deutsche Begriffe eine wörtliche Übersetzung zuließen. Die folgende Tabelle gibt einen Überblick über die gewählten Übersetzungen.

Englischer Originalbegriff gewählte Übersetzung

Formal obection (formeller) Einspruch

Service Provider Schiedsgericht

Expert Schiedsrichter

Determination Schiedsspruch

Standing to Object Aktivlegitimation

Objector Einspruchswerber

Rightholder Rechteinhaber

Distinctive Character Unterscheidungskraft

20 Das AGB ist aber (zumindest in Teilen) unter http://newgtlds.icann.org/en/applicants/agb (15.04.2014) in allen Amtssprachen der Vereinten Nationen verfügbar. 21 Art 5 New gTLD Dispute Resolution Procedure (DRP – Anhang zu Modul 3 im AGB).

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2. Die Verletzung bestehender Rechte

2.1. Allgemeines

2.1.1. Geschützte Rechtspositionen

Der Tatbestand setzt bestehende Rechte des Einspruchswerbers und deren Verletzung durch die Vergabe der Top-Level-Domain voraus. Diese Rechte müssen gemäß einer vorbereitenden Empfehlung aus 2007 durch eine Anerkennung bzw. eine Durchsetzbarkeit gemäß internationalen Rechtsprinzipien qualifiziert sein22. Demgemäß sollten grundsätzlich alle völkerrechtlich geschützten Rechtspositionen individueller Personen vom Anwendungsbereich der Bestimmung erfasst. Als Ausfluss dieser Überlegung wird beispielhaft das Recht auf freie Meinungsäußerung angeführt, so wie es im Internationalen Pakt über Bürgerliche und Politische Rechte23 vorgesehen ist24. Nach den Formulierungen des AGB besteht jedoch kein Zweifel daran, dass unter dem Einspruchstatbestand letztlich der Schutz von Markenrechten beabsichtigt ist. Die detaillierteren Ausführungen zu den materiellen Entscheidungskriterien (standards)25 konzentrieren sich nämlich ganz deutlich auf den Markenschutz; immerhin findet auch der Schutz von Namen und Akronymen zwischenstaatlicher Organisationen (intergovernmental organizations) Erwähnung, was im Grunde jedoch ebenso einem kennzeichenrechtlichen Ansatz Rechnung trägt. Ein Indiz für eine darüber hinausgehende Anwendung der Bestimmung (etwa auf Grundrechte) bieten die beiden Formulierungen, die die Prüfkriterien für die Verletzung von Markenrechte und Namen zwischenstaatlicher Organisationen einleiten: Die Wendungen „Falls der Einspruch auf Markenrechte beruht…“26 und „falls der Einspruch von einer zwischenstaatlichen Organisation eingebracht wurde…“27 legen den Gegenschluss nahe, dass andere Rechtspositionen ebenso durch den Einspruch geschützt sind; zudem bezieht sich das AGB explizit auf die zuvor zitierte Empfehlung. Demnach sind prinzipiell alle international anerkannten Rechtspositionen durch die LRO geschützt. Dies ist auch nötig, da der Gemeinschaftseinspruch und der Einspruch auf Grund fehlenden öffentlichen Interessens auf den Schutz kollektiver Interessen ausgerichtet sind und das AGB für individuelle Rechtsposition in diesem Punkt unvollständig wäre. Die praktischen Effekte dürften jedoch auch für die zukünftige Vergaberunden kaum von Bedeutung sein, denn in sämtlichen Fällen hielt der der Einspruchswerber bislang Markenrechte, mit denen das Vorbringen substantiiert wurde. Außerdem ist je nach Schiedsgericht eine Einspruchsgebühr zu entrichten, die von der ICANN zwischen 1.000 USD und 5.000 USD geschätzt wurde28; dazu kommen

22 ICANN Generic Names Supporting Organisation, Final Report (unter Recommendation 3); ICANN, Guidebook 3-18. 23 Internationaler Pakt über bürgerlicher und politische Rechte vom 16.12. 1966 BGBl 591/1978. 24 ICANN Generic Names Supporting Organisation, Final Report (unter Recommendation 3). 25 ICANN, Guidebook 3-18 ff. 26 ebd 3-19. 27 ebd 3-20. 28 ebd 1-45.

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noch die hohen Kosten der Schiedsrichter29, die primär für Unternehmen erschwinglich sein dürften (unter gewissen Voraussetzungen kann jedoch eine Art Verfahrenshilfe beantragt werden).

2.1.2. Das Schiedsgericht

Die WIPO (genauer: The WIPO Arbitration and Mediation Center) mit Sitz in Genf ist das einzige Schiedsgericht, welches zur Entscheidung über die Verletzung bestehender Rechte berufen ist. Dies ist insofern sinnvoll als die Organisation bereits seit längerem durch ihre Tätigkeit als Schiedsgericht in Domainstreitigkeiten im Anwendungsbereich der UDRP (siehe unten) mit ähnlichen Fragen befasst gewesen ist und u.a. in diesem Rahmen mit der ICANN zusammenarbeitet. Zwar ist sie dort nur eines von mehreren Schiedsgerichten, doch sticht sie durch ihre große Beliebtheit als Schiedsgericht, eine eigene Urteilsdatenbank und entsprechende Publikationen zur Entscheidungspraxis hervor30. Insgesamt wurden 71 Einsprüche wegen Verletzungen bestehender Rechte eingebracht, die die WIPO zu bearbeiten hatte31. Von den 69 Einsprüchen, die Eingangsprüfung32 bestanden, wurden dann noch sechs ohne Entscheidung beendet33.

2.2. Aktivlegitimation

Der Einspruch kann von Rechteinhaber eingebracht werden. Die behaupteten Rechte müssen substantiiert werden34 , was meist durch den Nachweis einer Markenanmeldung vor einer nationalen oder regionalen Markenbehörde (zB im Fall von Gemeinschaftsmarken) erreicht wird, falls eine solche vorliegt.

2.2.1. Bestand und Schutzfähigkeit von Marken

Eine rechtmäßige und aufrechte Markenanmeldung dürfte auch einen (prima facie) Beweis für die Gültigkeit der Marke und damit die Aktivlegitimation des Einspruchswerbers darstellen35; v.a. begründet der bloße und nicht weiter ausgeführte Umstand, dass die Gültigkeit einer Marke vor der nationalen (im konkreten Fall: chinesischen) Markenbehörde bestritten wird, noch keinen der Aktivlegitimation entgegenstehenden Versagungsgrund36. In diesem Sinn hindert auch ein bereits in Gang befindliches Löschungsverfahren gegen die Marke nicht die Erhebung eines Einspruchs, bis eine Entscheidung der entsprechenden Behörde vorliegt, weil ein Urteil darüber nicht in den Zuständigkeitsbereich des

29 WIPO Arbitration and Mediation Center, End Report on Legal Rights Objection Procedure (2013) 7 f http://www.wipo.int/export/sites/www/amc/en/docs/lroreport.pdf (15.04.2014). 30 Zaino/Wan Hussain/Yaakub, WIPO Panels‘ interpretation of the Uniform Dispute Resolution Policy (UDRP) three-prong test, World Patent Information 2011, 275 (276). 31 WIPO Arbitration and Mediation Center, End Report 8. 32 Art 9 DRP. 33 WIPO Arbitration and Mediation Center, End Report Annex I. 34 ICANN, Guidebook 3-6. 35Sina Corporation v. Tencent Holdings Limited, Expert Determination Legal Rights Objection, 28.08.2013, LRO2013-0041, 3 http://www.wipo.int/export/sites/www/amc/en/domains/lro/docs/lro2013-0041.pdf (15.04.2014). 36 ebd.

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Schiedsgerichtes fällt37. Daraus könnte gefolgert werden, dass es für die Aktivlegitimation gleichgültig ist, ob die Marke beschreibend oder nach internationalen Schutzstandards überhaupt schutzfähig wäre, solange nur ein Markenamt, das mit einem gewissen Maß an staatlicher Autorität ausgestattet ist, die Anmeldung als rechtmäßig akzeptiert. Der Wortlaut des AGB setzt aber wie oben dargestellt eine Anerkennungen bzw. eine Durchsetzbarkeit nach internationalen Rechtsprinzipien voraus38, was im Spannungsfeld zum eben Gesagten steht. Dennoch ist es im Hinblick auf die Natur des Verfahrens und die Voraussetzungen des Einspruchs wegen Verletzung bestehender Rechte die sinnvollste Lösung, für den Bereich der Aktivlegitimation einer großzügigen Auslegung Vorzug zu geben, da die Entscheidung, welchen Marken (im Rahmen der völkerrechtlichen Verpflichtungen) Schutz gewährt wird, eine Frage nationaler Gesetzgebung ist. Diese souveränen Entscheidungen sind von den Schiedsgerichten nicht zu hinterfragen und sollten auch nicht dazu führen, dass einer Partei durch die Aberkennung der Aktivlegitimation eine Entscheidung im Hinblick auf den Verletzungstatbestand verwehrt wird. Den sich daraus ergebenden Problemen kann wirksam auf der nächsten Stufe der Prüfung, nämlich ob überhaupt eine Verletzung der im ersten Schritt identifizierten Rechte vorliegt, beigekommen werden. Etwaige Unterschiede zwischen nationalen Schutzstandards werden dort nämlich durch die Einführung zahlreicher Faktoren und materiell-rechtlicher Vorgaben einer einheitlichen Prüfung zugeführt, wodurch vergleichsweise niedrige Registrierungsstandards bedacht werden und so einem Top-Level-Domainrechtlichen Forum-Shopping vorgebeugt werden kann. Ebenso ist der Umstand, dass die Marke nur für den Zweck der Vorgaberunder der neuen gTLDs registriert wurde und in diesem Sinn missbräuchlich sind, für die Beurteilung der Aktivlegitimation unerheblich39. Eine Vermischung der beiden logisch aufeinander folgenden Schritte entbehrt hingegen einer methodischen Grundlage und ist der Rechtssicherheit abträglich. Dennoch haben manche Schiedsgerichte der WIPO die Frage der Schutzfähigkeit bzw. der Durchsetzbarkeit der Marke in die Prüfung der Aktivlegitimation einbezogen40, was im Hinblick auf das eben Gesagten abzulehnen ist. In diesem Zusammenhang ist jedoch zu beachten, dass im Fall von nicht registrierten Marken die Prüfung erschwert ist, da diese eine Interaktion einer staatlichen Behörde nicht notwendigerweise voraussetzen.

2.2.2. Nicht registrierte Marken

Das AGB macht keinen Unterschied zwischen registrierten und nicht registrierten Marken41, ein Einspruch auf Grund von Verletzung bestehender Rechte kann also auch auf solche Marken gestützt werden, die v.a. in Ländern des Common Law Rechtskreises durch bloßen Gebrauch erworben werden können. Damit stellt

37 TLDDOT GmbH v. InterNetWire Web-Development GmbH, Expert Determination Legal Rights Objection, 22.7.2013, LRO2013-0052, 5 http://www.wipo.int/export/sites/www/amc/en/domains/lro/docs/lro2013-0052.pdf (15.04.2014). 38 ICANN, Guidebook 3-18. 39 WIPO Arbitration and Mediation Center, End Report 12.; ICANN, Guidebook 3-19. 40 WIPO Arbitration and Mediation Center, End Report 13. 41 ICANN, Guidebook 3-18.

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sich jedoch die Frage, ob mit der Wendung „nicht registrierte Marke“ auch Rechte der Art des Ausstattungsschutzes gemeint sind, wie ihn beispielsweise §9/3 UWG gewährt. Dies dürfte jedoch nicht zutreffen, da die Funktionen des wettbewerbsrechtlichen Ausstattungsschutzes und der einer Marke unterschiedlich sind und sich das AGB ausschließlich auf Marken bezieht. Denkbar wäre aber eine Einbeziehung unter der allgemeinen Formulierung wie in 2.1.1.. dargelegt, weil auch wettbewerbsrechtliche Rechtspositionen von der Vergabe neuer gTLD betroffen sein können.

2.2.3. Maßgeblicher Zeitpunkt des Rechtserwerbs

In manchen Konstellationen kann sich die Frage ergeben, wie mit dem zeitlichen Bestand von Rechten umzugehen ist, da das AGB für die Aktivlegitimation bestehende Rechte voraussetzt. Der Zeitpunkt der letztlichen Übergabe der gTLD dürfte für den Bestand der Rechte irrelevant sein, da das Schiedsgericht sonst eine nicht zumutbare Prognose in Hinblick auf Dauer und Ausgang des Verfahrens anstellen müsste42. Deshalb erscheint es als zweckmäßigsten, den Zeitpunkt, zu dem der Einspruch erhoben wird, für die die Beurteilung heranzuziehen, ob der Einspruchswerber über bestehende Rechte verfügt43. Falls Rechte bestehen, die Verbindung zum Einspruchswerber jedoch fragwürdig ist, ist wohl eine Einzelfallprüfung vorzunehmen44. Im Allgemeinen erscheint eine weite Interpretation des Begriffs „Rechteinhaber“ als angebracht45.

2.2.4. Zwischenstaatliche Organisationen (IGOs)

Zwischenstaatliche Organisationen sind zur Erhebung des Einspruchs legitimiert, wenn sie die Kriterien für die Registrierung einer Domain unter der Top-Level-Domain „.int“ erfüllen46. Dazu ist ein völkerrechtlicher Vertrag zwischen nationalen Regierungen zur Gründung der Organisation nötig, weiters bedarf es einer allgemeinen Anerkennung als internationale juristische Person, die auch dem Völkerrecht unterliegt47. Jedenfalls sind die Sonderorganisationen der Vereinten Nationen und Organisationen, die in der UN-Generalversammlung Beobachterstatus genießen, zur Wahrung ihrer Rechte aktivlegitimiert48. An dieser Stelle ist darauf hinzuweisen, dass Zeichen internationaler Akteure wie

42 Defender Security Company v. HOME REGISTRY INC., Expert Determination Legal Rights Objection, 24.07.2013, LRO2013-0039, 5 http://www.wipo.int/export/sites/www/amc/en/domains/lro/docs/lro2013-0039.pdf (15.04.2014). Die Entscheidung befasst sich auch mit der Frage, ob für das Vergabeverfahren relevante Rechte aus bloßen Markenanmeldungen entstehen können. 43 ebd; AC Webconnecting Holding B.V. v. Dot Agency Limited, Expert Determination Legal Rights Objection, 30.07.2013, LRO2013-007, 11 http://www.wipo.int/export/sites/www/amc/en/domains/lro/docs/lro2013-0007.pdf (15.04.2014). 44 Defender Security Company v. HOME REGISTRY INC, LRO2013-0039, 5. 45 The Canadian Real Estate Organization v. Afilias Limited, Expert Determination Legal Rights Objection, 16.07.2013, LRO2013-008, 8f http://www.wipo.int/export/sites/www/amc/en/domains/lro/docs/lro2013-0008.pdf (15.04.2014); AC Webconnecting Holding B.V. v. Dot Agency Limited, LRO2013-007, 11. 46 ICANN, Guidebook 3-6. 47 ebd. 48 ebd.

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solcher des Roten Kreuzes oder des Internationalen Olympischen Komitees von vornherein nicht als neue gTLD beantragt werden können49.

2.3. Der Verletzungstatbestand

2.3.1. Allgemeines

Zentrales Merkmal der LRO ist die Verletzung von Rechtspositionen. Das AGB konkretisiert die Generalklausel durch drei Tatbestände, die gleichrangig nebeneinander stehen und jeder für sich eine Verletzung begründen kann. Dabei wird auf den potentiellen Gebrauch (potential use) der beantragten neuen gTLD durch den Anmelder abgestellt50; mit Hinblick auf den markenrechtlichen 8-Faktorentest liegt der Schwerpunkt der Prüfung jedoch auf dem Bestehen von Verwechslungsgefahr und weiteren Umständen, die zusammen die Voraussetzung für einen verletzenden Gebrauch darstellen. Der potentielle Gebrauch eines Strings verletzt danach Rechte Dritter, wenn dieser

• einen unfairen Vorteil aus der Unterscheidungskraft oder dem Ruf der Marke des Einspruchswerbers oder dem Namen (Akronym) der IGO zieht;

• die Unterscheidungskraft der Marke/ des IGO-Namens in ungerechtfertigter Weise beeinträchtigt;

• auf eine andere Weise eine unzulässige Verwechslungsgefahr zwischen der beantragten gTLD und der Marke/ des IGO-Namens herbeiführt51.

Diese allgemeinen Tatbestände werden für die Verletzung von Markenrechten und Rechten zwischenstaatlicher Organisationen näher ausgeführt. Dazu werden dem Schiedsgericht Faktoren an die Hand gegeben, die bei der Entscheidung zu berücksichtigen sind. Diese werden in der Folge vorgestellt.

2.3.2. Die markenrechtlichen Faktoren

Das AGB nennt acht Faktoren, die prinzipiell gleichrangig vom Schiedsgericht bei der Prüfung, ob einen Verletzung eines Markenrechtes vorliegt, zu berücksichtigen sind. Ausdrücklich wird hervorgehoben, dass es sich um keine erschöpfende Aufzählung handelt52; das Schiedsgericht ist also mit einem großen Maß an Flexibilität ausgestattet. Die Faktoren können zusammengefasst wie folgt dargestellt werden53:

1. Identität bzw. Grad der Ähnlichkeit des beantragten Strings (Semantik, Phonetik, Erscheinungsbild) mit der Marke des Einspruchswerbers

2. Gutgläubigkeit des Einspruchswerbers beim Markenerwerb

3. Bekanntheit des Zeichens innerhalb des interessierten Verkehrskreises

49 ebd 2-10 f. 50 ebd 3-18. 51 ebd. 52 ICANN, Guidebook 3-19. 53 Für die vollständigen Formulierungen siehe ICANN, Guidebook 3-19.

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4. Absichten des Anmelders der gTLD (Wissen um Existenz der Marke des Einspruchswerbers, andere Anmeldungen für gTLDs)

5. Ausmaß des geplanten oder tatsächlichen Gebrauches des der gTLD entsprechenden Zeichens durch den Anmelder in Verbindung mit i) einer gutgläubigen Vermarktung von Waren oder Dienstleistungen oder ii) einer gutgläubigen Bereitstellung von Information ohne Verletzung der berechtigten Interessen des Markeninhabers

6. Existenz anderer Rechte des Geistigen Eigentums an dem Zeichen, deren gutgläubige Erwerb und Gebrauch des Zeichens; Übereinstimmung des wahrscheinlichen zukünftigen Gebrauchs mit den Erwerbsgründen/ bisherigen Gebrauch

7. Ausmaß der allgemeinen Assoziation des Anmelders mit dem Zeichen, welches der gTLD entspricht und ihrer Übereinstimmung mit dem wahrscheinlichen zukünftigen Gebrauch

8. Verwechslungsgefahr durch den beabsichtigten Gebrauch der gTLD mit der Marke des Einspruchswerbers

Die Faktoren verbinden objektive und subjektive Elemente wie etwa Ausmaß des tatsächlichen Gebrauchs auf der einen und Gutgläubigkeit auf der anderen Seite. Bei manchen Faktoren haben die Schiedsgerichte eine Prognose über das zukünftige Verhalten des Anmelders anzustellen, auf welches durch gegenwärtige Umstände geschlossen werden muss. Die Prüfung erscheint vom Markenrecht der Vereinigten Staaten beeinflusst zu sein, da auch in dieser Rechtsordnung die Prüfung im Hinblick auf eine ganze Reihe von Faktoren stattfindet (wobei diese in ihrer Handhabung stark variieren können), die keiner für sich allein den Ausschlag geben54. Diese Maß an Flexibilität erscheint jedoch im Hinblick auf das weltweite Verfahren als nötig. Nach österreichischem Recht werden hingegen als Prüfungselemente die Kennzeichnungskraft der verletzten Marke, die Ähnlichkeit der einander gegenüberstehenden Zeichen und die Ähnlichkeit der von den Zeichen erfassten Waren oder Dienstleistungen herangezogen, wobei auf eine Wechselbeziehung der Faktoren Bedacht genommen werden muss55. Allgemein dürfte der 8. Faktor eine gewichtige Rolle in den meisten Schiedssprüchen gespielt haben56.

2.3.3. Zwischenstaatliche Organisationen

Auch im Fall von Namen zwischenstaatlicher Organisationen sieht das AGB konkretisierende Faktoren vor, die in nicht abschließender Weise die Prüfung auf Verletzung bestehender Rechte bestimmen sollen57. Diese können wie folgt zusammengefasst werden58:

54 Beebe, An Empirical Study of the Multifactor Test for Trademark Infringement, California Law Review 2006, 1581 (1587 ff). 55 OGH 4 Ob 7/12a wbl 2012/156. 56 WIPO Arbitration and Mediation Center, End Report 13. 57 ICANN, Guidebook 3-20. 58 Für die vollständigen Formulierungen siehe ICANN, Guidebook 3-20.

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1. Identität bzw. Grad der Ähnlichkeit des beantragten Strings (Semantik, Phonetik, Erscheinungsbild) mit dem Namen/ Akronym der IGO

2. Koexistenz in der Vergangenheit der IGO und des Gebrauchs des Namens/ Akronyms durch den Anmelder

3. Ausmaß des geplanten oder tatsächlichen Gebrauches des der gTLD entsprechenden Zeichens durch den Anmelder in Verbindung mit i) einer gutgläubigen Vermarktung von Waren oder Dienstleistungen oder ii) einer gutgläubigen Bereitstellung von Information ohne Verletzung der berechtigten Interessen der IGO

4. Ausmaß der allgemeinen Assoziation des Anmelders mit dem Zeichen, welches der gTLD entspricht und ihrer Übereinstimmung mit dem wahrscheinlichen zukünftigen Gebrauch

5. Verwechslungsgefahr durch den beabsichtigten Gebrauch der gTLD mit dem Namen/ Akronym der IGO

3. Ausgewählte Fragestellungen

Der folgende Abschnitt soll auf Konstellationen hinweisen, die entweder eine große Zahl der Einsprüche wegen Verletzung bestehender Rechte betrafen oder interessante Rechtsfragen beinhalten. Dazu wird der Schwerpunkt auf die Schiedssprüche gelegt, die zur LRO ergangen sind.

3.1. Beschreibende Marken

Da eine Marke ein Kennzeichen darstellt, sind beschreibende Marken entweder nicht oder nur in beschränkten Umfang schutzfähig. Letzteres ist vor allem dann der Fall, wenn diese eine Sekundärbedeutung (secondary meaning) erlangt haben59. Der aus dem US-amerikanischen Recht stammende Ausdruck bedeutet, dass der Begriff, der der Marke entspricht, in erster Linie die Herkunft des Produkts und nicht dessen Eigenschaften identifiziert60. Es wurde nun der Großteil der Einsprüche gegen neue gTLD-Strings eingebracht, die entweder einen Gattungsbegriff oder beschreibenden Begriff beinhalteten61. Die Schiedsgerichte waren dabei im Allgemeinen sehr streng, solchen Einsprüchen stattzugeben, da eine gTLD Anmeldung für einen für einen Begriff des gewöhnlichen Sprachgebrauchs als solche keine Verletzung von Markenrechten bedeutet, auch wenn diese identisch sind62. Damit wird jedoch kein Urteil über die Schutzfähigkeit der Marke an sich gefällt; es wird lediglich ausgesprochen,

59 Ruff, DomainLaw (2012) 102 f. 60 ebd 103. 61 WIPO Arbitration and Mediation Center, End Report 12. 62 ebd 13.

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dass die Verwaltung einer gTLD durch eine andere Person als den Markeninhaber keine Verletzung von Markenrechten darstellt. Wie ein Schiedsgericht eine Entscheidung des High Court of Australia zitiert, muss der Vorteil, der aus der exklusiven Verwendung eines allgemeinen Begriffes resultiert, mit dem Umstand aufgewogen werden, dass ein beschreibender Begriff eine ununterscheidbare Kennzeichnung eines bestimmten Unternehmens verhindert63. Der Markeninhaber hat sich bewusst für eine in diesem Sinn schwache Marke entschieden und soll auch die daraus resultierenden Nachteile tragen. Dies wäre nur anders zu beurteilen, wenn der Begriff eine sekundäre Bedeutung entwickelt hätte, was von den Schiedsgerichten jedoch eher streng geprüft wurde64. Ebenso wird der Schutz von beschreibenden Zeichen in besonderen Konstellationen zu bejahen sein: In der Entscheidung zur beantragten gTLD „.direct“65 wurde dem Einspruch stattgegen66, v.a. weil für das Schiedsgericht klar ersichtlich war, dass der Anmelder die gTLD nur beantragt hatte, um einem direkten Konkurrenten zu schaden67. Außerdem ist zu bemerken, dass ein eingeschränkter Gebrauch der TLD (d.h.: nur zur Vermarktung der eigenen Produkte) zu einer neuen Beurteilung führen kann, weil das Zeichen, welches der gTLD entspricht, in diesem Sinn nicht beschreibend gebraucht wird68.

Dem von den Schiedsgerichten angelegte strenge Standard ist zuzustimmen. Würde man den Einspruch wegen Verletzung bestehender Rechte nämlich großzügiger handhaben, bliebe von der Liberalisierung des Markes für gTLDs und des angestrebten Wettbewerbs nicht viel übrig. Der Einspruchstyp soll Konstellationen wie solche im eben erwähnten Fall zur gTLD „.direct“ verhindern, nicht aber einer Unzahl von Markeninhabern die Fortsetzung des wirtschaftlichen Konkurrenzkampfes auf der Ebene der TLDs ermöglichen.

3.2. Gleichstarke und regionale Markenrechte

Es liegt in der Natur der Sache, dass eine TLD nur einmal vergeben werden kann; demgegenüber können Markenrechte prinzipiell in jedem Land erworben werden, welches entsprechenden Schutz gewährt. Es drängt sich daher die Frage auf, wer die gTLD erhalten soll, wenn beide Parteien über Markenrechte verfügen. Im Bereich der LRO bestehen keine Sonderregeln, weswegen zwei identische Marken, welche jede für sich zur Erhebung des Einspruchs

63 Defender Security Company v. HOME REGISTRY INC., LRO2013-0039, 6. 64 siehe zB Pinterest, Inc. v. Amazon EU S.à.r.l, Expert Determination Legal Rights Objection, 16.07.2013, LRO2013-0050, 9 http://www.wipo.int/export/sites/www/amc/en/domains/lro/docs/lro2013-0050.pdf (16.04.2014). 65 The DirecTV Group Inc. v. Dish DBS Corporation, Expert Determination Legal Rights Objection, 29.07.2013, LRO2013-0005 www.wipo.int/export/sites/www/amc/en/domains/lro/docs/lro2013-0005.pdf (16.04.2014). 66 Der Einspruchswerber – genauso wie der Anmelder ein Anbieter für Fernsehdienstleistungen – hielt mehrere Marken mit dem Bestandteil „direct“, zB „DIRECTV“. 67 The DirecTV Group Inc. v. Dish DBS Corporation, LRO2013-0005, 5. 68 Sina Corporation v. Tencent Holdings Limited, LRO2013-0041, 5.

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berechtigen würde, gleichwertig sind; vorausgesetzt natürlich, die Prüfung der acht Faktoren bietet keine abweichenden Anhaltspunkte (zB Schlechtgläubigkeit). Eine solche Konstellation lag beispielsweise in den Fall zur gTLD „.merck“69 vor. Anmelder und Einspruchswerber hielten identische Marken für ähnliche Produkte in unterschiedlichen Ländern (USA und Deutschland), wobei das Vorgehen beiderseits als gutgläubig qualifiziert wurde. Als Hauptargument diente dem Einspruchswerber der Umstand, dass die gTLD nicht nur in Ländern verwendet werden würde, in denen der Anmelder Markenrechte hielt, sondern auch in jenen, die dem Schutzbereich des Anmelders angehörten70. Zu Recht wies das Schiedsgericht diesen Gedankengang jedoch zurück. Denn letztlich würde dies bedeuten, dass ein Anmelder einer gTLD in sämtlichen Staaten der Erde Markenrechte erwerben müsste71; bestehende Markenrechte sind aber gerade keine zwingende Voraussetzung für die Anmeldung einer gTLD. Ein ähnliches Problem kann sich ergeben, wenn der Einspruchswerber nur in einer bestimmten Region gewisse Markenrechte hat, nicht aber im internationalen Verkehrskreis – dann stellt sich nämlich die Frage welches Maß an internationaler Verkehrsgeltung zur Erhebung des Einspruchs nötig ist. Im konkreten Fall war die Verkehrsgeltung im Südosten der USA nicht genug, da die „überwiegende Mehrheit der Internetnutzer“ die gTLD nicht mit dem Einspruchswerber in Verbindung bringen würde“72.

Im Grunde ist das Problem nicht im Rahmen des Einspruchs wegen Verletzung bestehender Rechte zu klären. Denn dieses spezielle Verfahren dient nicht dazu zu entscheiden, welche Partei das bessere Recht auf die gTLD hat, sondern lediglich, ob durch den Gebrauch der gTLD Markenrechte verletzt werden (können). Würden die Schiedsgerichte eine andere Meinung vertreten, hieße das, dass eine Partei durch die Erhebung des Einspruchs eine nicht vorgenommene Anmeldung für eine gTLD nachträglich sanieren könnte. Der Einspruchswerber hatte aber wie jeder andere die Möglichkeit, sich während der Vergabeperiode um die Anmeldung einer gTLD zu bemühen; das AGB sieht im Fall mehrerer Anmeldung für denselben String als letztes Entscheidungsmittel eine Auktion vor73. Natürlich ist dem die Frage immanent, ob eine Auktion (bei der es letztlich um ökonomische Stärke der Bieter geht) ein geeignetes bzw. faires Mittel, um den im Hinblick auf seine Kennzeichenrechte am besten berechtigten Anmelder zu ermitteln, doch ist dies für die Beurteilung des Einspruchs irrelevant. Zumindest bietet eine Auktion ein Verfahren mit objektiven Entscheidungskriterien, wobei von der ICANN erwartet wird, dass es in den meisten Fällen ihrer gar nicht bedarf74.

69 Merck KGaA v. Merck Registry Holdings, Inc., Expert Determination Legal Rights Objection, 06.09.2013, LRO2013-0010, www.wipo.int/export/sites/www/amc/en/domains/lro/docs/lro2013-0010.pdf (16.04.2014). 70 ebd 6. 71 ebd. 72 Academy, LTD., d/b/a Academy Sports + Outdoors v. Half Oaks, LLC, Expert Determination Legal Rights Objection, 16.08.2013, LRO2013-0003, 10 www.wipo.int/export/sites/www/amc/en/domains/lro/docs/lro2013-0003.pdf (16.04.2014). 73 ICANN, Guidebook 4-19 ff. 74 ebd.

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Abschließend ist zu bemerken, dass beim Gegenüberstehen zweier Markeninhaber auch keinen Grund gibt, die Priorität der Rechte als solche in die Prüfung miteinzubeziehen; erstens kommt es nach dem AGB nur auf das Bestehen des Rechtes an und zweitens kann die Priorität im Rahmen des markenrechtlichen 8-Faktoren-Tests miteinbezogen werden (zB bei Bekanntheit des Zeichens, Verkehrsgeltung).

3.3. Verwechslungsgefahr durch Kombination mit dem Second-Level

Für die erfolgreiche Erhebung des Einspruchs ist es grundsätzlich notwendig, dass der gTLD-String Rechte verletzt. Es kann sich nun aber auch der Fall ergeben, dass ein String nur in Verbindung mit einer Domain auf dem Second-Level zu einer Verletzung von Markenrechten führt. Aus diesem Grund (u.a.) brachte der Einspruchswerber in der Entscheidung zur gTLD „.academy“ vor, dass die gTLD dem Anmelder nicht zugewiesen werden dürfe. Dieser war Inhaber verschiedener Marken mit dem Bestandteil „ACADEMY“, unter der er in den USA verschiedene Sportbekleidungsprodukte vertrieb75 und argumentierte, dass eine Verwechslungsgefahr mit den eigenen Produkte bestehe, wenn es zB zur Registrierung einer Second-Level-Domain wie zB „sportingequipment“ kommen würde – zusammen würde die Adresse „sportingequipment.academy“ ergeben - und so eine Verletzung der Markenrechte bewirken könnte76. Das Schiedsgericht wies den Einspruch in diesem Punkt aus drei Hauptgründen zurück: Zunächst gibt es eigene Rechtschutzinstrumente gegen Markenrechtsverletzung auf dem Second Level, weiters wäre die Verletzung nicht vom Anmelder der gTLD verursacht und schließlich sei diese überhaupt dem Anmelder auf dem Second Level zuzurechnen77. Auch wenn eine Verwechslungsgefahr nicht schlechthin ausgeschlossen sie, erreiche diese nicht die Schwelle der Unzulässigkeit78.

Dementsprechend dürfte für Beurteilung der Markenrechtsverletzung in den meisten Fällen tatsächlich nur die gTLD eine Rolle spielen. Dies ist sinnvoll, wenn man bedenkt, dass hierfür der UDRP (Uniform Domain-Name Dispute Resolution Policy)79 und das URS (Uniform Rapid Suspension System)80 zur Verfügung stehen. Eingang in die Prüfung könnte jedoch die Frage finden, welche Schutzmaßnahmen der Anmelder zur Verhinderung von Markenrechtsverletzungen auf dem Second Level vorgesehen hat81.

3.4. Wirkungen der Urteile

Schiedsverfahren sind in Österreich in den §§577ff ZPO geregelt. Grundsätzlich wären die in §577/2 genannten Bestimmungen auf die Einspruchsverfahren

75 Academy, LTD., d/b/a Academy Sports + Outdoors v. Half Oaks, LLC, LRO2013-0003, 2. 76 ebd 7. 77 ebd 11 f. 78 ebd 10 f. 79 Siehe dazu unter 3.5. 80 Das URS soll einen schnellen Schutz bestehender Rechte gegen offenkundige Verletzungen durch Second-Level-Domains sicherstellen. Außerdem wurde im Zuge der Einführung der neuen gTLDs das Trademark Clearinghouse eingerichtet, in dem Markeninhaber ihre Rechte registrieren lassen können, siehe dazu Woller/Hofmarcher, Das „Trademark Clearinghouse“, ecolex 2014, 108. 81 Academy, LTD., d/b/a Academy Sports + Outdoors v. Half Oaks, LLC, LRO2013-0003, 12.

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anwendbar, da sich der Sitz der WIPO-Schiedsgerichte nicht in Österreich befindet. Darüber hinaus wäre das New Yorker Übereinkommen über die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Schiedssprüche (New Yorker Übereinkommen – NYÜ)82 zu beachten, wodurch ausländische Schiedssprüche leicht vollstreckt werden können83. Allerdings sind die Schiedssprüche zur LRO keine, die vollstreckbare Elemente aufweisen. Zunächst wird die Entscheidung nämlich von der ICANN für den Streitbeilegungsprozess ohne weiteres Verfahren akzeptiert, die so für den Fortgang der Vergabe der gTLD von Bedeutung wird84: Wird der Einspruch abgewiesen, kann die Anmeldung zur nächsten Phase voranschreiten, wird ihm stattgegeben, kann die gTLD nicht oder nur unter Bedingungen an den betreibenden Anmelder vergeben werden85. Die Parteien vereinbaren zwar die Anwendung des Verfahrens der LRO86, allerdings liegt die Vergabe der neuen gTLD nicht in der Kompetenz nationaler Gerichte, die etwaige Schiedssprüche überprüfen könnten. Diese Aufgabe wird von der ICANN wahrgenommen, was zu den entsprechenden Legitimationsproblemen führt, die oben bereits erwähnt wurden. Umgekehrt sind nationale Gerichte sehr wohl zur Entscheidung über Markenrechtsverletzungen berufen. Deshalb sind mangels widersprechender Gründe Gerichtsverfahren gegen neue gTLD auf nationaler Ebene denkbar, die durchaus zum Ergebnis führen können, dass eine neue gTLD Markenrechte verletzt. Außerdem ist zu bemerken, dass nach erfolgter Vergabe eigene Rechtsschutzinstrumente zur Verfügung stehen, die Gerichtsverfahren jedoch gerade nicht ausschließen87.

Die Vorteile der LRO liegen klar daran, die Vergabe einer gTLD bereits „an der Wurzel“ zu verhindern, bevor diese im normalen Internetverkehr verwendet werden kann. Demgegenüber wirken die Entscheidungen nationaler Gerichte nur für den jeweiligen Staat, was eine höhere Kosten und längeren Zeitaufwand bedeutet.

3.5. Bedeutung und Einfluss des UDRP

Die UDRP (Uniform Domain-Name Dispute Resolution Policy)88 ist ein bereits seit 199989 bestehendes Schutzinstrument für Markeninhaber gegen Verletzungen durch Second-Level-Domains. Bis 2011 wurden von den WIPO Schiedsgerichten

82 New Yorker Übereinkommen über die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Schiedssprüche vom 10.06.1958, BGBl 200/1961. 83 Rechberger/Simotta, Zivilprozessrecht (2009) 634f. 84 ICANN, Guidebook 3-16 f. 85 ebd 1-12. 86 Art 1 lit d DRP. 87 §13 Uniform Rapid Suspension System Procedure (URSP), verfügbar unter ICANN, Uniform Suspension System (2013) newgtlds.icann.org/en/applicants/urs/procedure-01mar13-en.pdf (16.04.2014); §22 Trademark Post-Delegation Dispute Resolution Procedure (PDDRP), verfügbar unter ICANN, Trademark Post-Delegation Dispute Resolution (2012) newgtlds.icann.org/en/applicants/agb/pddrp-04jun12-en.pdf (16.04.2014). 88 verfügbar unter ICANN, Uniform Domain - Name Dispute Resolution Policy (1999) www.icann.org/en/help/dndr/udrp/policy (16.04.2014). 89 ICANN, Timeline for the Formulation and Implementation of the Uniform Domain-Name Dispute Resolution Policy www.icann.org/en/help/dndr/udrp/schedule (16.04.2014).

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ca. 20.000 Verfahren dieser Art bearbeitet90. Die Verletzungstatbestände sind der LRO überaus ähnlich und können wie folgt zusammengefasst werden91:

• Die Domain ist identisch zu einer Marke des Beschwerdeführers oder löst Verwechslungsgefahr mit dieser aus; und

• der Anmelder hat keine Rechte oder legitime Interessen an dem Domainnamen; und

• die Domain wurde schlechtgläubig registriert und wird auf diese Weise verwendet.

Im Unterschied zu den Tatbeständen der LRO handelt es um Kumulativvoraussetzungen, wobei die markenrechtlichen Faktoren deutlich machen, dass die Prüfung in beiden Verfahren gut vergleichbar ist. Viele Fälle zur LRO machen Bezüge auf Entscheidungen, die zum UDRP ergangen sind und führen diese zur Bekräftigung der eigenen Entscheidung zur den neuen gTLDs an92. Dies wurde vielleicht durch den Umstand bestärkt, dass seine große Anzahl der Schiedsrichter bereits mit Fällen zur UDRP befasst gewesen war93. Der Referenz zu Entscheidungen zur UDRP ist insoweit sinnvoll, als die Schiedsgerichte aus einer großen Anzahl an Erfahrungswerten zu ähnlichen Problemen wählen können. Werden dieselben Entscheidungen zur Begründung der Urteile herangezogen, fördert dies auch die Konsistenz der Schiedssprüche. Hier setzt aber ein großes Problem der Entscheidungspraxis internationaler Schiedsgerichte zu Domainstreitigkeiten an: Bislang gibt es keine Literaturquelle, die, etwa wie ein aus dem inländischen Recht bekanntes Kommentar, die gewaltige Anzahl an ergangenen Entscheidungen systematisch und umfassend sichtet; der für die Tätigkeit der WIPO erstellte „WIPO Overview of WIPO Panel View on Selected UDRP Questions“ verarbeitet ca. 380 Fälle94. Entsprechend

90 WIPO, WIPO Overview of WIPO Panel Views on Selected UDRP Questions2 (2011) www.wipo.int/amc/en/domains/search/overview2.0/ (16.04.2014). 91 Siehe für die vollständigen Formulierungen §4 lit a UDRP. 92 Siehe zB United States Postal Service v. GMO Registry, Inc., Expert Determination Legal Rights Objection, 30.07.2013, LRO2013-0046, 11 ff www.wipo.int/export/sites/www/amc/en/domains/lro/docs/lro2013-0046.pdf (16.04.2014); Motorola Trademark Holdings LLC v. United TLD Holdco Ltd, Expert Determination Legal Rights Objection, 08.08.2013, LRO2013-0054, 9 www.wipo.int/export/sites/www/amc/en/domains/lro/docs/lro2013-0054.pd (16.04.2014); I-REGISTRY Ltd v. Vipspace Enterprises LLC, Expert Determination Legal Rights Objection, 04.07.2013, LRO2013-0014, 6 www.wipo.int/export/sites/www/amc/en/domains/lro/docs/lro2013-0014.pdf (16.04.2014); Pinterest, Inc. v. Amazon EU S.à.r.l, LRO2013-0050, 7 ff.; Defender Security Company v. HOME REGISTRY INC, LRO2013-0039, 5. Merck KGaA v. Merck Registry Holdings, Inc., LRO2013-0010, 6.; Academy, LTD., d/b/a Academy Sports + Outdoors v. Half Oaks, LLC, LRO2013-0003, 7 ff. Für Abweichungen siehe zB Blue Cross and Blue Shield Association v. Afilias Limited, Expert Determination Legal Rights Objection, 16.08.2013, LRO2013-0004, 11 www.wipo.int/export/sites/www/amc/en/domains/lro/docs/lro2013-0004.pdf (16.04.2014); planet.ECO, LLC v. Top Level Domain Holdings Limited, Expert Determination Legal Rights Objection, 26.08.2013, LRO2013-0053, 15 www.wipo.int/export/sites/www/amc/en/domains/lro/docs/lro2013-0053.pdf (16.04.2014). 93 WIPO Arbitration and Mediation Center, End Report 9f. 94 WIPO, Overview UDRP.

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schwer fällt es, allgemein gültige Tendenzen herauszuarbeiten. Dies wird durch das Fehlen einer Oberinstanz bestärkt.

4. Abschließendes

Trotz der weitergehenden Anwendbarkeit war die LRO von Markenrechten dominiert. Schon aus der Statistik ist erkennbar95, dass ein klares Missverhältnis zwischen erfolgreichen und nicht erfolgreichen Einsprüchen besteht. In dieser Hinsicht ist ein klares Muster der Schiedsurteile zu erkennen, die LRO nur als Behelf in extremen Fällen zu handhaben, in denen zB in einem Konkurrenzverhältnis ein Schutzbedürfnis besteht. Dem ist im Hinblick auf Zweck und Zielsetzung des Verfahrens zuzustimmen, wobei dies auch ohne Einführung einer 2. Instanz erreicht wurde. Positiv ist weiters zu bemerken, dass es zu keinen Urteile gab, die zu direkt widersprüchlichen Ergebnissen führten: dies war etwa bei den Verfahren im Rahmen des Einspruchs wegen String-Verwechslungsgefahr zur gTLD „.cars“ der Fall96. Mit Blick auf (potentielle) weitere Vergaberunden ist zu bemerken, dass angesichts der wenigen erfolgreichen Einsprüche eine Neuorientierung des Verfahrens zu überlegen wäre.

95 Vier erfolgreiche Einsprüche stehen 59 ab- bzw. zurückgewiesenen Einsprüchen gegenüber, siehe WIPO Arbitration and Mediation Center, End Report 11. 96 Charleston Road Registry Inc. v. Koko Castle, LLC, Expert Determination String Confusion, 07.08.2013, 50 504 00233 13 http://newgtlds.icann.org/sites/default/files/drsp/25sep13/determination-1-1-1377-8759-en.pdf (16.04.2014); Charleston Road Registry Inc v. Uniregistry, Corp., Expert Determination String Confusion, 10.10.2013, 50 504 T 00238 13 http://newgtlds.icann.org/sites/default/files/drsp/25oct13/determination-1-1-845-37810-en.pdf (16.04.2014); Charleston Road Registry Inc. v. DERCars LLC, Expert Determination String Confusion, 27.08.2013, 50 504 T 234 13 http://newgtlds.icann.org/sites/default/files/drsp/14oct13/determination-1-1-909-45636-en.pdf (16.04.2014). In allen Fällen erhob der Einspruchswerber, der selbst die gTLD “.car” beantragt hatte, Einspruch gegen die Anmeldung der gtLD “.cars”. Die Frage war also, ob zwischen „.car“ und „.cars“ Verwechslungsgefahr besteht. In den ersten beiden Fällen war der Einspruch nicht erfolgreich, im letztgenannten Fall wurde dem Einspruch jedoch Folge gegeben.

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Die rechtsgeschichtliche Entwicklung der Doppelbesteuerungsabkommen

JOHANNES WARTER*

Die Unkenntnis der Steuergesetze befreit nicht von der Pflicht zum Steuerzahlen. Die Kenntnis davon aber häufig.

Meyer A. Rothschild, Bankier (1744-1812)

Inhalt

1. Einleitung ______________________________________________________________ 112 1.1. Kurze Hinführung zur Problematik __________________________________________ 113 1.2. Echte und unechte internationale Doppelbesteuerung __________________________ 114 1.3. Unilaterale Maßnahmen gegen Doppelbesteuerung ____________________________ 114 !Unerwartetes Ende des Ausdrucks 1.5. Aktuelle Methoden zur Vermeidung der Doppelbesteuerung in DBA _______________ 117

2. Rechtsgeschichtliche Entwicklung bis zum Ersten Weltkrieg _____________________ 118 2.1. Entwicklung in der Frühzeit _______________________________________________ 118 2.2. Entwicklung bis zum ersten Doppelbesteuerungsabkommen 1899 ________________ 118 2.3. Das Doppelbesteuerungsabkommen zwischen Preußen und Österreich-Ungarn 1899 _ 121 2.4. Die österreichischen Doppelbesteuerungsabkommen bis 1914 ___________________ 122

3. Zwischenkriegszeit ______________________________________________________ 123 33.1. Arbeiten der Internationalen Handelskammer und des Völkerbundes _____________ 124 3.2. Das Doppelbesteuerungsabkommen zwischen dem Deutschen Reich und Italien von 1925 126 3.3 Abschlüsse Österreichs und Europas _________________________________________ 127 3.4. „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich 1938 ___________________________ 128

4. Nach dem Zweiten Weltkrieg ______________________________________________ 128 4.1. Die Lage in der unmittelbaren Nachkriegszeit _________________________________ 128 4.2. OEEC _________________________________________________________________ 129 4.3. OECD _________________________________________________________________ 131 4.4. Musterabkommen der UNO _______________________________________________ 132 4.5. COMECON-Muster ______________________________________________________ 133 4.5. Die Abkommensentwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg in Österreich ____________ 133

5. Resümee und Ausblick ___________________________________________________ 135

* Johannes Warter, Mag.iur., ist Doktorand an der juridischen Fakultät der Universität Wien.

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1. 1. Einleitung

Durch die zunehmende Globalisierung und den technischen Fortschritt rückt ein Teil der Rechtswissenschaften immer mehr in den Mittelpunkt öffentlichen Interesses, der in früheren Zeiten wenig bis gar keine Beachtung fand und als trockenes Fach für Spezialisten galt: das internationale Steuerrecht. Während Gebiete, wie das Zivilrecht, seit tausenden von Jahren gewachsen und sehr gut durchdrungen sind, hat sich das internationale Steuerrecht erst in den letzten 150 Jahren entwickelt.

Im Laufe der letzten Zeit rückte das internationale Steuerrecht jedoch vermehrt in das Licht der Öffentlichkeit. Besonders die aggressive Steuerplanung und Steuervermeidung von multinationalen Unternehmen wird mittlerweile in der breiten Öffentlichkeit diskutiert. Gründe dafür sind unter anderem zahlreiche Berichterstattungen in den Medien und Aktionen von Nichtregierungsorga-nisationen („NGOs“), die auf diese Methoden und den damit verbundenen Entgang von Steuermittel hinweisen.1

Status quo der Bekämpfung von Doppelbesteuerung sind Doppelbesteuerungsabkommen der Staaten untereinander. Aufgrund der Vielzahl unterschiedlicher Verträge entstanden jedoch zwangsläufig diverse Lücken im internationalen Steuerrecht. Insbesondere aufgrund der Tatsache, dass die Steuersysteme nicht einmal innerhalb der EU harmonisiert sind, eröffnen sich den Unternehmen international weitreichende steuerplanerische Optionen.2 Durch die technischen und planerischen Möglichkeiten sowie Lücken in den verschiedenen Steuersystemen schaffen es Großkonzerne mittlerweile, ihre Steuerlast gänzlich zu beseitigen oder zumindest auf ein Minimum zu beschränken.3

Fakt ist: All diese Gestaltungen wirken letztendlich wettbewerbsverzerrend. National ausgerichtete Unternehmen unterliegen der normalen Körperschaftssteuer, während multinationale Unternehmen durch die Ausnützung verschiedener Möglichkeiten entsprechend niedrigere Steuerquoten haben.4 Dies führt letztendlich auch zu einer Gerechtigkeitsdebatte, wenn ArbeitnehmerInnen einem Spitzensteuersatz von 50 % unterliegen und Großkonzerne trotz Milliardengewinns keine Steuern bezahlen. In letzter Zeit wurde die öffentliche Wahrnehmung verstärkt auf dieses Thema gerichtet, nicht

1 Vgl ua Bloomberg, The Great Corporate Tax Dodge, http://topics.bloomberg.com/the-great-corporate-tax-dodge/ (abgefragt am 18.08.2014); Kocieniewski, But Nobody Pays That, http://topics.nytimes.com/top/features/timestopics/series/but_nobody_pays_that/index.html (abgefragt am 18.08.2014); The Guardian, The Tax Gap, http://www.theguardian.com/business/series/tax-gap (abgefragt am 18.08.2014); Frey, Katz-und-Maus-Spiel mit Konzernsteuern, Der Standard 03.12.2013; Schellmann, Die Staaten, nicht Google & Co. verteilen Besteuerungsrechte, Die Presse 11.11.2013. 2 Vgl Kichmayr/Achatz, Aggressive Konzernsteuerplanung in der Praxis, taxlex 2013, 237. 3 Siehe dazu beispielsweise die Ausführungen von Pinkernell zum Apple Konzern: Pinkernell, Senatsausschuss untersucht internationale Steuergestaltung des Apple-Konzerns, www.pinkernell.de/Pinkernell_Apple_Steuergestaltung.html (Stand 17.9.2013). 4 Vgl Kichmayr/Achatz, taxlex 2013, 237.

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zuletzt auch aufgrund des von der OECD im Jahr 2013 veröffentlichten Berichts „Adressing Base Erosion and Profit Shifting“5.

Die Grundlage des Problems sind fundamentale rechtspolitische Schwierigkeiten. Die Prinzipien der heutigen Doppelbesteuerungsabkommen stammen teilweise noch aus den 1920er Jahren6 und konnten mit den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen nicht Schritt halten. Innerstaatliche Vorschriften iVm international vereinbarten Standards beruhen immer noch auf der Annahme eines geringen Grades grenzübergreifender wirtschaftlicher Integration anstelle der Realität des globalen Steuerzahlers Rechnung zu tragen.7 Insbesondere durch neue Technologien, wie zB dem Internet, ist es Unternehmen (beispielsweise durch Onlineversand) nunmehr möglich am Wirtschaftsleben eines Landes beteiligt zu sein, ohne auch nur eine einzige physische Präsenz und somit einen steuerliche Anknüpfungspunkt in einem Land zu haben.8

Doch wie kam es zum heutigen System der Doppelbesteuerungsabkommen? Um diese Frage beantworten zu können, werde ich mich im Folgenden grundlegend mit der rechtsgeschichtlichen Entwicklung der Doppelbesteuerungsabkommen auseinandersetzen. Es sollte sich dabei herausstellen, dass Österreich und Deutschland die europäische Vertragsentwicklung insbesondere in Bezug auf Doppelbesteuerungsabkommen nachhaltig beeinflusst haben.9

1.1.1 1.1. Kurze Hinführung zur Problematik

Zu Beginn möchte ich auf die grundsätzlichen Aspekte des Problems genauer eingehen. Nach hA ergibt sich aus dem völkerrechtlichen „Grundsatz der eingeschränkten Territorialität“, dass Staaten nicht jeden beliebigen Sachverhalt einer Besteuerung unterwerfen dürfen. Es muss vielmehr entweder einen persönlichen oder einen wirtschaftlichen Anknüpfungspunkt geben, um eine Besteuerung zu rechtfertigen.10

Das österreichische Steuerrecht kennt, so wie das Steuerrecht der meisten Staaten, im Bereich der Personensteuern als Anknüpfungsmerkmale sowohl die persönliche Zugehörigkeit der physischen und juristischen Personen als auch die wirtschaftliche Zugehörigkeit der Steuerquelle zum Staatsgebiet. Die persönliche Zugehörigkeit zu einem Staat bildet die Grundlage für die Steuerpflicht vom gesamten in- und ausländischen Einkommen, dem sogenanntem Welteinkommen, sowie von Erbschaften und Schenkungen. Diese Steuerpflicht beschränkt sich dabei eben nicht auf inländische Einkommen und wird deshalb „unbeschränkte Steuerpflicht“ genannt. Bei juristischen Personen wird dabei auf Merkmale wie Geschäftsleitung, Sitz oder die Errichtung nach innerstaatlichem

5 OECD (2013), Addressing Base Erosion and Profit Shifting, OECD Publishing. 6 Vgl OECD (2013), Addressing Base Erosion and Profit Shifting, OECD Publishing 5. 7 Vgl OECD (2013), Addressing Base Erosion and Profit Shifting, OECD Publishing. 8 Vgl OECD (2013), Addressing Base Erosion and Profit Shifting, OECD Publishing 7. 9 Vgl Seibold, Stand und Entwicklung des österreichisch-deutschen Doppelbesteuerungsabkommens (1998) 6. 10 Vgl Ritz, BAO4 (2011) § 48 Rz 2.

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Recht abgestellt. Die Besteuerung dieser „Steuerinländer“ erfolgt nach dem „Wohnsitzprinzip“.11

Die wirtschaftliche Zugehörigkeit der Steuerquelle zum Staatsgebiet bildet hingegen den Anknüpfungspunkt der „Steuerausländer“. Sie unterliegen demnach nur einer „beschränkten Steuerpflicht“, beschränkt deshalb, weil die Steuerpflicht sich bloß auf bestimmte im Inland gelegene Einkunftsquellen und die Erbschafts- und Schenkungssteuerpflicht auf bestimmte, im Inland gelegene, Vermögenswerte reduziert ist. Die Besteuerung der beschränkt Steuerpflichtigen folgt damit dem „Quellenprinzip“.12

Bei grenzüberschreitenden Sachverhalten kommt es im Bereich jener Steuern, bei denen Staaten wie bspw Österreich eine doppelte Anknüpfung vornehmen, nämlich eine Anknüpfung sowohl nach dem Wohnsitzprinzip wie auch nach dem Quellenprinzip, geradezu zwangsläufig zum Problem der internationalen Doppelbesteuerung.13

1.1.2 1.2. Echte und unechte internationale Doppelbesteuerung

Hier muss zunächst zwischen der echten (juristischen) internationalen Doppelbesteuerung und der unechten (wirtschaftlichen) Doppelbesteuerung unterschieden werden. Gemäß Ziffer 3 des OECD-Musterabkommens von 1963 stellt der Fiskalausschuss der OECD fest: „Unter der internationalen juristischen Doppelbesteuerung wird üblicherweise die Erhebung vergleichbarerer Steuern in zwei oder mehreren Staaten von demselben Steuerpflichtigen für denselben Steuergegenstand und denselben Zeitraum verstanden.“14 Kommt es zu einer steuerlichen Mehrfachbelastung, bei dem einer dieser Punkte nicht erfüllt ist, spricht man von einer unechten (wirtschaftlichen) internationalen Doppelbesteuerung.15 Dieser Beitrag behandelt ausschließlich die echte internationale Doppelbesteuerung, denn sie ist in erster Linie Gegenstand der Doppelbesteuerungsabkommen.16

1.1.3 1.3. Unilaterale Maßnahmen gegen Doppelbesteuerung

Zur Vermeidung des Problems der internationalen Doppelbesteuerung kann ein Staat sowohl innerstaatliche Regelungen treffen als auch völkerrechtliche Verträge, sogenannte Doppelbesteuerungsabkommen, abschließen. Die meisten Staaten haben bereits im innerstaatlichen Recht Regelungen gegen das Problem der Doppelbesteuerung erlassen. In der österreichischen Steuerrechtsordnung ist dies § 48 BAO, aktuell in der Fassung 2009.17 Beim Vergleich der Vor- und Nachteile von unilateralen Maßnahmen mit jenen von Doppelbesteuerungsabkommen, spricht für nationale Maßnahmen, dass sie – im

11 Vgl Philipp in Loukota/Jirousek, Internationales Steuerrecht36 (2013) Rz 1. 12 Vgl Philipp in Loukota/Jirousek, Internationales Steuerrecht Rz 2. 13 Vgl Philipp in Loukota/Jirousek, Internationales Steuerrecht Rz 3. 14 Loukota, Internationales Steuerrecht2 (2002) 14. 15 Vgl Philipp in Loukota/Jirousek, Internationales Steuerrecht Rz 4. 16 Vgl VwGH 19.02.1960, 1284/59; VwGH 09.02.1962, 1072/59 und Philipp in Loukota/Jirousek, Internationales Steuerrecht Rz 4 ff. 17 BGBl I 2009/20.

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Gegensatz zu den bilateralen Verträgen – leichter zu handhaben sind, da kein zweiter Staat einbezogen werden muss. Einzelstaatliche Interessen können somit isoliert berücksichtigt werden.18 Demgegenüber steht der entscheidende fiskalische Nachteil, dass der Steuerentgang allein zu Lasten des verzichtenden Staates geht. Die Last beruht nicht auf Gegenseitigkeit. Daneben wirken unilaterale Maßnahmen stets gegen alle Länder, wodurch wirtschaftliche Bedingungen in verschiedenen Staaten nicht berücksichtigt werden können. Auch besteht kein Schutz davor, dass bestimmte Staaten durch Quellenbesteuerungsmaßnahmen unilaterale Steuererleichterungen vereiteln.19 Generell sind unilateralen Maßnahmen zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit nationaler Unternehmen durch supranationale Normen (zB durch das Subventionsrecht der WTO-Abkommen oder durch das Beihilfeverbot der Europäischen Union20) begrenzt.21

Die aktuelle österreichische unilaterale Maßnahme gegen Doppelbesteuerung ist, wie bereits erwähnt, § 48 BAO: „Das Bundesministerium für Finanzen kann bei Abgabepflichtigen, die der Abgabenhoheit mehrerer Staaten unterliegen, soweit dies zur Ausgleichung der in- und ausländischen Besteuerung oder zur Erzielung einer den Grundsätzen der Gegenseitigkeit entsprechenden Behandlung erforderlich ist, anordnen, bestimmte Gegenstände der Abgabenerhebung ganz oder teilweise aus der Abgabepflicht auszuscheiden oder ausländische, auf solche Gegenstände entfallende Abgaben ganz oder teilweise auf die inländischen Abgaben anzurechnen. Dies gilt nur für bundesrechtlich geregelte Abgaben, die von Abgabenbehörden des Bundes einzuheben sind.“22 Dieser Paragraph räumt dem Bundesminister für Finanzen die Ermächtigung ein, bei Vorliegen der Tatbestandsmerkmale Bescheide oder Verordnungen zu erlassen. Besonders zu erwähnen ist hierbei das Merkmal der Erforderlichkeit zur Ausgleichung einer in- und ausländischen Besteuerung. Dabei wird nämlich auf die tatsächlich erfolgte internationale (auch wirtschaftliche) Doppelbesteuerung abgestellt. Auch liegt die Erlassung von Begünstigungen gem § 48 BAO stets im Ermessen des BMF.23

1.1.4 1.4. Völkerrechtliche Verträge, Doppelbesteuerungsabkommen

Die juristische internationale Doppelbesteuerung gilt aus wirtschaftlichen Gründen, wie Wettbewerbsverzerrung und Erschwerung des internationalen Güter-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehrs, als unerwünscht.24 Vor diesem Hintergrund und den oben erwähnten Nachteilen werden von den Staaten sinnvollerweise untereinander bilaterale Verträge zu Vermeidung der Doppelbesteuerung abgeschlossen. Auch multilaterale Verträge sind denkbar (so etwa das Abkommen zwischen den nordischen Staaten Dänemark, Finnland, Island, Norwegen und Schweden aus dem Jahr 1983), scheitern in aller Regel

18 Vgl Jacobs, Internationale Unternehmensbesteuerung7 (2011) 36. 19 Vgl Jacobs, Internationale Unternehmensbesteuerung. 20 Vgl Art 107 AEUV. 21 Vgl Jacobs, Internationale Unternehmensbesteuerung 36. 22 §48 BAO idF BGBl I 2009/20. 23 Vgl Ritz, BAO § 48 Rz 1-11. 24 Vgl Ruppe in Doralt/Ruppe, Grundriss des österreichischen Steuerrechts I11 (2013) Rz 1308.

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aber an den fiskalpolitischen Interessen der Einzelstaaten.25 Bei diesen Verträgen werden die Besteuerungsrechte zwischen den Staaten aufgeteilt, mit dem Vorteil der Gegenseitigkeit. Niemals erwachsen aus Doppelbesteuerungsabkommen („DBA“) Steueransprüche, vielmehr handelt es sich dabei stets um Einschränkungen bestehender Ansprüche aus nationalrechtlichen Normen.26 Bei den DBA handelt es sich um gesetzesändernde Staatsverträge, die gem. Art 10 Abs 1 Z 2 B-VG vom Bundespräsidenten abgeschlossen werden und der Genehmigung des Nationalrates (Art 50 B-VG) bedürfen. Durch die Ratifikation stehen die Doppelbesteuerungsabkommen im hierarchischen Stufenbau der Rechtsordnung auf derselben Stufe, wie das innerstaatliche Steuerrecht und sind aber meist lex specialis zur lex generalis.27 Dies trifft somit auch auf das Verhältnis der Doppelbesteuerungsabkommen zu §48 BAO zu.

Um diese völkerrechtlichen Verträge schließlich rechtsgültig in die österreichische Rechtsordnung einzugliedern muss der Vertrag „transformiert“ werden. Hierfür gibt es die Möglichkeit der speziellen Transformation oder jene der generellen Transformation. Bei der speziellen Transformation wird die völkerrechtlich übernommene Verpflichtung durch ein innerstaatliches Gesetz umgesetzt. Bei der generellen Transformation wird der Vertrag schlicht zu innerstaatlichem Recht erklärt. Da DBA meist self-executing sind, wird die generelle Transformation bevorzugt.28

Die österreichische DBA-Politik verfolgt im Wesentlichen vier Ziele: die Vermeidung von Doppelbesteuerung, die Förderung der bilateralen Wirtschaftsbeziehungen, die Hebung der Rechtssicherheit und die Vermeidung der internationalen Steuerumgehung und Steuerhinterziehung.29

Falls es sich um einen grenzüberschreitenden Steuerfall handelt ist zunächst zu prüfen, ob ein Doppelbesteuerungsabkommen zwischen den Staaten vorliegt und wenn ja, ob es auch zur Anwendung kommt. Dazu ist es notwendig, den Anwendungsbereich des DBAs zu überprüfen. Ist der sachliche und persönliche Anwendungsbereich erfüllt kommt das entsprechende DBA zur Anwendung. Inhaltlich enthalten diese im Normalfall Zuteilungsregeln, welches (Steuer)Recht der Vertragsparteien zur Anwendung kommt.30

Die Ermittlung der Unternehmensgewinne bzw was überhaupt als Unternehmensgewinn angesehen werden kann, ergibt sich aus den DBA nicht. Für die Beantwortung dieser Frage ist daher das nationale Recht des jeweiligen Ansässigkeitsstaates bzw des Betriebsstättenstaates anzuwenden.31

25 Vgl Ruppe in Doralt/Ruppe, Grundriss des österreichischen Steuerrechts I11 Rz 1311. 26 Vgl Seibold, Stand und Entwicklung des österreichisch-deutschen Doppelbesteuerungsabkommens 116 f. 27 Vgl Ruppe in Doralt/Ruppe, Grundriss des österreichischen Steuerrechts I11 Rz 1312 und VwGH 28.06.1963, 2312/61. 28 Vgl Philipp in Loukota/Jirousek, Internationales Steuerrecht Rz 13. 29 Vgl Jirousek in Lang/Schuch/Staringer, Die österreichische DBA-Politik (2013) 19. 30 Vgl Ruppe in Doralt/Ruppe, Grundriss des österreichischen Steuerrechts I11 Rz 1324-1327. 31 Vgl Ruppe in Doralt/Ruppe, Grundriss des österreichischen Steuerrechts I11 Rz 1330.

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1.1.5 1.5. Aktuelle Methoden zur Vermeidung der Doppelbesteuerung in DBA

Zur Vermeidung der Doppelbesteuerung gibt es aktuell zwei Methoden: Die Befreiungsmethode und die Anrechnungsmethode. Grundsätzlich sind nach der Rechtsprechung des EuGH beide Methoden als gleichwertig anzusehen.32 Die von Österreich präferierte Methode bei DBA-Abschlüssen ist die Befreiungsmethode. Dies bedeutet, dass Auslandseinkünfte unter bestimmten Umständen von der inländischen Körperschafts- und Einkommenssteuer befreit sind. Der in den letzten Jahren einsetzende Trend geht jedoch hin zur Anrechnungsmethode. Dabei ist das gesamte (in- und ausländische) Einkommen im Inland steuerpflichtig, wobei jedoch die im Ausland erhobene Steuer von der inländischen Steuerschuld abgezogen und somit angerechnet wird. Vereinzelt wird aufgrund der konkreten Verhältnisse oder auf Wunsch des DBA-Partnerstaats eine sogenannte „subject to tax“-Klausel aufgenommen. Eine solche Klausel besagt, dass das Besteuerungsrecht des Tätigkeitsstaates davon abhängt, ob die Einkünfte dort ordnungsgemäß steuerlich erklärt und erfasst wurden.33

Der Vorteil der Befreiungsmethode liegt insbesondere in der Kapitalimportneutralität,34 der Wettbewerbsneutralität bei Erwerbstätigkeiten im Quellenstaat, im Entfall der „Wegbesteuerung“ ausländischer Investitionsanreize des Quellenstaates im Ansässigkeitsstaat sowie in der grundsätzlich einfacheren Administration der Methode. Vor allem die Wettbewerbsneutralität ermöglicht es österreichischen Unternehmen bei Auslandsprojekten, nur dem Steuerniveau des Quellenstaates unterworfen zu sein und damit ein Hochschleusen35 der Auslandseinkünfte auf das Niveau der inländischen Besteuerung zu vermeiden. Nachteil der Befreiungsmethode ist vor allem die mögliche und rechtspolitisch nicht erwünschte Keinmalbesteuerung (doppelte Nichtbesteuerung).36 Das bedeutet, dass der Gewinn in Österreich aufgrund des Doppelbesteuerungsabkommens von der Steuer befreit ist, im Staat des Vertragspartners jedoch auch nicht besteuert wird.

32 Siehe allerdings EuGH 13.11.2012, C-35/11, FII GLO 2, wo der EuGH bei gewissen Sachverhalten eine Gleichwertigkeit verneint. 33 Vgl Jirousek in Lang/Schuch/Staringer, Die österreichische DBA-Politik 22 f und Ruppe in Doralt/Ruppe, Grundriss des österreichischen Steuerrechts I11 Rz 1315 und 1352 f. 34 Mit dem Begriff der Kapitalimportneutralität ist gemeint, dass man bei Investitionen stets den steuerlichen Bedingungen des Investitionslands unterworfen ist. Hingegen ist man bei der Kapitalexportsneutralität der Anrechnungsmethode immer denselben heimischen Steuerregeln unterworfen, man muss sein gesamtes Welteinkommen im (Wohn-)Sitzstaat versteuern. 35 Damit ist gemeint, dass Unternehmen aus Hochsteuerländern einen Wettbewerbsnachteil erleiden, da sie zusätzlich zur ausländischen Steuer auch noch die Differenz zur inländischen Steuer zahlen müssen. Die Steuerbelastung wird somit auf das inländische (hohe) Steuerniveau hochgeschleust. 36 Vgl Jirousek in Lang/Schuch/Staringer, Die österreichische DBA-Politik 22 f.

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2. 2. Rechtsgeschichtliche Entwicklung bis zum Ersten Weltkrieg

2.1.1 2.1. Entwicklung in der Frühzeit

Weder das römisch-griechische Altertum noch die Frühzeit des Germanentums kannten Steuern im modernen Sinn, weshalb auch die finanzrechtliche Grundlage auf der ein internationales Doppelbesteuerungsproblem und Ansätze zu seiner Lösung mittels Doppelbesteuerungsabkommen nicht entstehen konnten.37 Dasselbe gilt auch für die finanzgeschichtlichen Epochen des Mittelalters, des vorabsolutistischen Ständestaates und des fürstlichen Absolutismus. Im Mittelalter gab es keine staatliche Steuerhoheit, vielmehr waren Zwangsabgaben ein Zeichen der Unfreiheit. Im Ständestaat und im Absolutismus konnten die Landesherren bzw der Fürst sehr wohl ein Besteuerungsrecht ausüben, allerdings kann von einer absoluten Ausschöpfung dieser Befugnis, insbesondere in transterritorialer (ausländische) Richtung keine Rede sein.38 Der moderne Staat, als eine „epochenspezifische Hervorbringung der Neuzeit“39, bildet somit auch steuerlich eine Zäsur in der Geschichte.40

2.1.2 2.2. Entwicklung bis zum ersten Doppelbesteuerungsabkommen 1899

Erst durch die Entwicklung und sukzessiven Einführung der modernen Einkommensteuer erlebte die Problematik der Doppelbesteuerung eine neue Wichtigkeit. Bei der modernen, sehr eingriffsintensiven und transterritorial wirkenden Einkommenssteuer, bei der das gesamte Welteinkommen besteuert wird, kam es zwangsläufig bei Personen mit Einkünften aus mehreren Staaten zur Doppelbesteuerung.41 Davor galt in den meisten Staaten ein sogenanntes Ertragsteuersystem. Dieses wurde als extrem ungerecht empfunden, da in den meisten Ländern nicht die tatsächlichen Einkünfte in Rechnung gestellt wurden, sondern fiktive Einkommen. Diese wurden anhand von äußeren Faktoren festgelegt. So dienten zum Beispiel als Kriterien für die Unternehmensbesteuerung, die Zahl der Arbeiter, die maschinelle Ausstattung oder die Menge der verwendeten Rohstoffe oder bei der Hauszinssteuer die örtliche Lage, die Anzahl der Stockwerke und eventuell sogar das Mobiliar.42

In Österreich wurde die erste Ergänzung zu diesem vollständigen Ertragsteuersystem durch die provisorische Einführung der sogenannten Einkommensteuer mit Patent vom 29. Oktober 1849 vorgenommen. Diese lehnte sich an die englische „Income Tax“ an. Allerdings war der Name der neuen Steuer nicht richtig, denn sie diente anfangs bloß dazu, die bestehenden Lücken im

37 Dennoch trat in Einzelfällen schon 500 v Chr eine Doppelbesteuerungsproblematik auf, die ua durch Dekrete gelöst wurde. Somit wurde schon in der damaligen Zeit das Problem der Doppelbesteuerung, zumindest oberflächlich, erkannt und mit einer einfachen Lösung behoben. Vgl Lippert, Das Internationale Finanzrecht (1912) 599 f. 38 Vgl Weber-Fas, Staatsverträge im Internationalen Steuerrecht (1982) FN 12-14. 39 Weber-Fas, Staatsverträge 2. 40 Vgl Weber-Fas, Staatsverträge. 41 Vgl Weber-Fas, Staatsverträge 4 f. 42 Vgl Hemetsberger-Koller in Gassner/Hemetsberger-Koller/Lang/Sasseville/Vogel, Die Zukunft des Internationalen Steuerrechts (1999) 16.

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Ertragsteuersystem zu schließen. Erst durch die Reform 1896 wurde auf eine moderne Personaleinkommensteuer umgestellt.43

Generell ist dem hinzuzufügen, dass die Steuersätze der Einkommensteuer bis zum Ersten Weltkrieg im Vergleich zu den Steuersätzen heute relativ niedrig waren. Sie lagen zwischen 3,5 % und 15 %, abhängig vom Umfang der Bemessungsgrundlage. Auch deshalb war das Problem der Doppelbesteuerung für die Steuersubjekte anfangs weniger belastend als beispielsweise nach dem Ersten Weltkrieg.44 Im alten österreichischen Erwerbssteuerpatent von 1812 und im österreichischen Einkommenssteuerpatent von 1849 wurde deshalb das zwischenstaatliche Steuerrecht so gut wie gar nicht berücksichtigt. Später im österreichischen EStG von 1896 erfuhr dieses Thema schon einer eingehenden Behandlung.45 „Wer sich in außergewöhnliche Verhältnisse begibt, z.B. durch Kauf auswärtigen Bodens und dergleichen, der muß sich auch außerordentliche Besteuerung gefallen lassen.“46 Mit solchen und anderen Argumenten wurde noch bis ins 20. Jahrhundert (so zB auf den Tagungen des Internationalen Rechtsinstituts 1922) von englischen Referenten die Zulässigkeit und Berechtigung der Doppelbesteuerung vertreten. Doppelte Steuer für doppelten Staatsschutz. Erst in den folgenden Jahren entwickelte sich auch in England die Erkenntnis, dass Doppelbesteuerungsverträge vonnöten wären.4748

Besonders die gravierenden wirtschaftlichen Veränderungen im 19. Jahrhundert waren der Auslöser dafür, dass eine neuartige juristische Staatsaufgabe, nämlich der Abschluss völkerrechtlicher Verträge zur Vermeidung der Doppelbesteuerung entstand. Ausgehend von der Industrialisierung Englands Ende des 18. Jahrhunderts nahm die wirtschaftliche Verflechtung Europas bis zum Ersten Weltkrieg ungemein zu. Sowohl Handels- als auch Verkehrsverbindungen wurden errichtet, der Austausch von Technologien sowie Wanderbewegungen der Arbeiter nahmen ein bis dahin nicht erreichtes Ausmaß an. Es entstanden multinationale Unternehmen, die ihre Tätigkeit auf viele Länder erstreckten und zu einer ersten Globalisierungswelle führten.49

Zu dieser Zeit hatte England weltweit die wirtschaftliche Führungsrolle inne, sein Anteil am Welthandel betrug 1908 17,2 % (siehe dazu auch Tabelle 1).50 Auch für die Habsburgermonarchie war England der wichtigste Handelspartner. 1912 wurde in England die „Income Tax“ hin zu einer modernen Einkommensteuer reformiert, sodass man sich ab diesem Zeitpunkt auch in England Gedanken über mögliche Doppelbesteuerungsabkommen machte. Auch Frankreich, der zweitgrößte Finanzier der damaligen Zeit, reformierte relativ spät sein Einkommensteuersystem hin zur Besteuerung des Welteinkommens. Davor

43 Vgl Myrbach-Rheinfeld, Grundriß des Finanzrechts (1906) 199 f. 44 Vgl Hemetsberger-Koller in Gassner/Hemetsberger-Koller/Lang/Sasseville/Vogel, Zukunft des Internationalen Steuerrechts 15 f, 22. 45 Vgl Lippert, Handbuch des Internationalen Finanzrechts (1928) 530. 46 Schanz, Zur Steuerpflicht, Finanz-Archiv 9/2 (1892) 34 f. 47 Vgl Lippert, Handbuch 532. 48 Hierbei ist allerdings zu erwähnen, dass innerhalb des englischen Reiches sehr wohl, Doppelbesteuerungsverträge geschlossen wurden und zwar ab dem Zeitpunkt, wo die Kolonien begannen eigene Einkommenssteuern einzuheben. Südaustralien begann damit als erste Kolonie im Jahre 1884. Vgl Lippert, Handbuch 611. 49 Vgl Hemetsberger-Koller in Gassner/Hemetsberger-Koller/Lang/Sasseville/Vogel, Zukunft des Internationalen Steuerrechts 18. 50 Vgl Gross, Die Habsburgermonarchie 1848-1918 I (1973) 19.

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wurde lediglich das nationale Einkommen besteuert, weshalb auch Frankreich bis zu dieser Reform kein Interesse am Abschluss von internationalen Steuerverträgen hatte.51

Abbildung 2 zeigt die Vormachtstellung Großbritanniens am europäischen Handel.52

Demgegenüber strebte Österreich als erstes Land weltweit eine zwischenstaatliche vertragliche Regelung an und dies obwohl Österreich damals nur einen Anteil von 3,3 % (1908) am Welthandel und nur 7,2 % am europäischen Handel (1880)53 hatte, keine Kolonien besaß und auch von weltweiter Vernetzung der Wirtschaft keine Rede sein konnte. Die österreichische Wirtschaft war vielmehr innerstaatlich aufgebaut, sodass Handelsbeziehungen nach außen nicht in der Größenordnung anderer Länder vorhanden waren. Eher war die österreichische Wirtschaft noch europaorientiert, wobei 40 % der Ex- und Importe Deutschland betrafen.54

Der Grund des Strebens nach internationalen Doppelbesteuerungsabkommen war vielmehr das sehr fortschrittliche Einkommensteuergesetz von 1896. Bei dieser Reform wurde nach dem Vorbild des preußischen Einkommensteuergesetzes versucht, eine gerechtere Verteilung der Steuerlast zu erreichen. Sie schaffte es allerdings im Gegensatz zum preußischen Vorbild nicht, radikal zur Personaleinkommensbesteuerung überzugehen, weshalb das bis dahin vorherrschende Ertragsteuersystem55 nicht völlig aufgegeben wurde. In der Tat war das Einkommensteuergesetz 1896, versehen mit einigen Änderungen, bis 1938 in Geltung.

51 Vgl Hemetsberger-Koller in Gassner/Hemetsberger-Koller/Lang/Sasseville/Vogel, Zukunft des Internationalen Steuerrechts 18 f. 52 Abbildung 1 und 2: Eigene Darstellung nach dem Vorbild und den Zahlen von Gross, Habsburgermonarchie I 19. 53 Vgl Gross, Habsburgermonarchie I 19. 54 Vgl Hemetsberger-Koller in Gassner/Hemetsberger-Koller/Lang/Sasseville/Vogel, Zukunft des Internationalen Steuerrechts 20. 55 Grund dafür war die wirtschaftliche Entwicklung, denn im Gegensatz zu Preußen war Österreich noch ein industrialisierter Agrarstaat mit einer Beschäftigungsquote von immer noch 53 % (1910) im primären Sektor. Im Vergleich dazu hatte Deutschland nur 35 %, Ungarn sogar 68 %. Das bedeutet ca ein halbes Jahrhundert Rückstand auf Deutschland und ein ganzes Jahrhundert Rückstand auf Frankreich. Vgl Gross, Habsburgermonarchie I 18.

0

5

10

1520

25

30

35

40

1860 1870 1880

Anteil am Europahandel in % Großbritannien

Frankreich

DeutschesReich

Österreich-Ungarn

0

5

10

15

20

25

1885 1895 1908

Anteil am Welthandel in % Großbritannien

Frankreich

DeutschesReich

Österreich-Ungarn

Abbildung 1 zeigt die Entwicklung der Anteile am Welthandel. Besonders das deutsche Reich zeigt eine klar positive Tendenz.

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Ähnliches galt dabei auch für Deutschland. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts hatte Deutschland die fortschrittlichste Sozialgesetzgebung und in manchen Bundesstaaten auch die modernste Einkommensteuer. Besonders hervorzuheben ist dabei der Staat Preußen mit seinem Einkommensteuergesetz von 1891. In Deutschland war die Einhebung der Steuern kompetenzrechtlich bei den Bundesstaaten verblieben. Deshalb war es auch nicht verwunderlich, dass Staaten mit einer föderalen Struktur die ersten Schritte zur Beseitigung der (zunächst innerstaatlichen) Doppelbesteuerung setzten.56 So wurde das erste innerstaatliche Doppelbesteuerungsabkommen zwischen Preußen und Sachsen bereits 1889/1870 abgeschlossen.57 Ähnliches gilt dabei auch für die föderale Schweiz. Aber auch innerhalb der österreich-ungarischen Monarchie wurden erste Maßnahmen zur Beseitigung der Doppelbesteuerung mit den Gesetzen vom 28. Juli 187158 und vom 11.April 187359 relativ früh unternommen. Diese Maßnahmen wurden im Jahre 1907 im Rahmen des Ausgleichs zwischen Österreich und Ungarn weiter ausgebaut.60

Infolge der Niederlage bei Königgrätz musste Österreich 1866 das Ende des Deutschen Bundes anerkennen. Es folgten Jahrzehnte politischer Auseinandersetzungen, die vor allem für das wirtschaftlich schlechter entwickelte Österreich unerträglich waren, insbesondere in der Zollpolitik. Erst ab 1890 bahnte sich eine Phase gegenseitiger Anerkennung an. Es kam zu Annäherungen im Handels- und Gewerberecht, in der Börsengesetzgebung, in der Sozialgesetzgebung und schließlich auch in steuerlichen Fragen.

Zusammenfassend kam also das erste Doppelbesteuerungsabkommen nicht überraschend zwischen Österreich und Preußen zustande. Voraussetzung war die Einführung einer modernen personenbezogenen Einkommensteuer. Die großen und wirtschaftlich dominanten Staaten wie England und Frankreich hatten kein Interesse an einem bilateralen völkerrechtlichen Vertrag zur steuerlichen Abgrenzung. In diesen Ländern herrschten teilweise auch noch unterschiedliche Auffassungen zum Problem der Doppelbesteuerung vor. Betroffen waren außerdem vielmehr grenznahe Wirtschaftsverflechtungen und weniger weltweite Wirtschaftsbeziehungen. Bundesstaaten oder Länder mit einer föderalen Struktur hatten teilweise bereits Erfahrungen mit innerstaatlichen Verträgen und politische Überlegungen motivierten zu Kompromissen auch auf dem Gebiet des Steuerrechts.61

2.1.3 2.3. Das Doppelbesteuerungsabkommen zwischen Preußen und Österreich-Ungarn 1899

Nachdem das neue österreichische Einkommensteuergesetz 1896 verabschiedet worden war, wollte das k.k. Finanzministerium mit Preußen

56 Vgl Hemetsberger-Koller in Gassner/Hemetsberger-Koller/Lang/Sasseville/Vogel, Zukunft des Internationalen Steuerrechts 21. 57 Gesetz wegen Beseitigung der Doppelbesteuerung BGBl des Norddeutschen Bundes 1870/14, 119 f. 58 RGBl 1871/89. 59 RGBl 1873/54. 60 Vgl Spitaler, Das Doppelbesteuerungsproblem bei den direkten Steuern (1936) 5. 61 Vgl Hemetsberger-Koller in Gassner/Hemetsberger-Koller/Lang/Sasseville/Vogel, Zukunft des Internationalen Steuerrechts 22.

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Verhandlungen über ein Abkommen bezüglich Doppelbesteuerung und ähnlicher Härten aufnehmen. Preußen bot sich aufgrund des ähnlichen Steuersystems dafür in besonderer Weise an. Auch mit anderen Staaten wurden Verhandlungen gesucht, so zum Beispiel mit Sachsen, Serbien, Bulgarien und Rumänien. Mit Bayern zog man es vor, zunächst nicht zu verhandeln, da Bayern noch ein veraltetes System der Ertragsteuern in Geltung hatte. Österreich stand dadurch steuerlich gegenüber Bayern in einer günstigeren Lage, die man selbstverständlich nicht grundlos aufgeben wollte. Die Verhandlungen mit Preußen dauerten insgesamt zweieinhalb Jahre an, ehe der Vertrag am 21. Juni 1899 unterzeichnet werden konnte.62 Aufgrund der Vorbildwirkung des preußischen Einkommensteuergesetzes war die österreichische Einkommensteuer ihrem Pendant sehr ähnlich, weshalb es verstärkt zur Problematik der Doppelbesteuerung kam. Als Vorbild für den internationalen Vertrag diente das Abkommen Preußens und Sachsens aus dem Jahr 1869/70. So wurden die wichtigsten Prinzipien übernommen.63

Das Doppelbesteuerungsabkommen zwischen Österreich-Ungarn und Preußen war ein Meilenstein und hatte große Auswirkungen auf alle zukünftig abgeschlossenen Doppelbesteuerungsabkommen. Deshalb sei es nun kurz vorgestellt:64 Das Abkommen hatte neun Artikel. Artikel 1 regelte zunächst den Anwendungsbereich. „Österreichische, beziehungsweise preußische Staatsangehörige sollen […] zu den directen Staatsteuern nur in dem Staat herangezogen werden, in welchem sie ihren Wohnsitz haben […].“ Zentraler Anknüpfungspunkt war somit der Wohnsitz. Artikel 2 normiert dazu die Ausnahme, dass Einnahmen aus Grund- und Gebäudebesitz, sowie aus Betriebsstätten dem Quellenprinzip unterlagen und somit in dem Staat steuerbar waren, in dem sie gelegen waren. Artikel 3 legte fest, dass die Besteuerung von Zinsen und Rentenbezügen in Österreich weiterhin im Abzugswege durchzuführen sei, das preußische Besteuerungsrecht davon allerdings unberührt bleibe. Artikel 4 befasste sich mit den Zahlungen aus der Staatskasse, wie Besoldungen, Pensionen oder Wartegelder, die nur in dem Staat zu den direkten Steuern gezählt werden sollten, der die Zahlung zu leisten hatte. Der Artikel normierte ferner, dass die preußische Einkommensteuer als eine der österreichischen allgemeinen Erwerbsteuer gleichartige, somit spezielle direkte Steuer anzusehen ist. Artikel 6 regelte das Verhältnis des Doppelbesteuerungsabkommens zum Handels- und Zollvertrag von 1891. Artikel 7 beschäftigte sich mit dem Problem der (österreichisch-preußischen) Doppelstaatsbürgerschaft. Artikel 8 normierte das Recht und die Rechtsfolgen der Kündigung des Vertrages. Schließlich normierte Artikel 9 die Formalitäten zur Ratifikation und Geltendmachung des Vertrags.

2.1.4 2.4. Die österreichischen Doppelbesteuerungsabkommen bis 1914

Nach Vorbild des Abkommens von 1899 wurden in der Folge weitere Doppelbesteuerungsabkommen mit deutschen Bundesstaaten abgeschlossen.

62 Vgl Hemetsberger-Koller in Gassner/Hemetsberger-Koller/Lang/Sasseville/Vogel, Zukunft des Internationalen Steuerrechts 25-27. 63 Vgl Roenne in Lang/Ecker/Ressler, History of Tax Treaties LXIX (2011) 24. 64 Vgl Staatsvertrag vom 21. Juni 1899 RGBl 1900/118.

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Dabei konnte weitgehend der von Österreich initiierte Gedanke des „Musterabkommens“ beibehalten werden. So schloss Österreich 1903 einen Staatsvertrag mit Sachsen, 1905 folgte jener mit Württemberg und 1912 mit Hessen. Probleme bereiteten die Verhandlungen mit Bayern, da dort noch ein veraltetes Ertragsteuersystem in Geltung stand. Man einigte sich daher zunächst auf eine Teillösung, erst durch die bayrische Steuerreform 1912 war der Weg frei für ein Doppelbesteuerungsabkommen mit Bayern.65 Die nachfolgende Tabelle zeigt alle Abschlüsse Österreichs bis zum Ausbruch des ersten Weltkrieges 1914. 66

Preußen Vertrag vom 21. Juni 1899 RGBl 1900/158 Liechtenstein RGBl 1901/68 Sachsen RGBl 1903/123 Bayern RGBl 1903/202 und 1913/243 Württemberg RGBl 1905/154 Baden RGBl 1909/110 Hessen RGBl 1912/102

3. 3. Zwischenkriegszeit

Um die Vertragspraxis nach dem Ersten Weltkrieg besser zu verstehen, ist es notwendig, sich zunächst einen Überblick über die damaligen wirtschaftlichen Verhältnisse zu verschaffen.

Der Erste Weltkrieg stellt nicht nur in der österreichischen, sondern insgesamt in der kontinental europäischen Geschichte eine der wichtigsten Zäsuren dar. Die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts hatte gravierende Auswirkungen für alle beteiligten Staaten. Die großen Reiche der Habsburger und der Osmanen lösten sich auf, und die USA stiegen sowohl wirtschaftlich als auch politisch zur Großmacht auf. Eine ganze Reihe neuer Staaten entstand durch den Zerfall der Großreiche. Die politische Landkarte Europas wurde neu gezeichnet. Die Auswirkungen des Krieges hatten kaum ein europäisches Land verschont. Alle Staaten hatten nach dem Ende des Krieges große wirtschaftliche Probleme, sowohl die Verlierer- als auch die Siegerstaaten, was damit zusammenhing, dass der Großteil des Krieges durch Kredite, aber auch durch die Notenpresse finanziert wurde. Die Verliererstaaten, vor allem Deutschland und Österreich, sahen sich zudem noch Reparationszahlungen, die in den Friedensverträgen von Versailles und Saint Germain festgesetzt wurden, gegenüber. Aus diesen Gründen hatte sich auch der innereuropäische Handel völlig verändert, es gab nunmehr eine Vielzahl an neuen Währungen, Grenzen und Zöllen, die das bis dahin funktionierende Wirtschaftssystem plötzlich unterbrachen.67

65 Vgl Hemetsberger-Koller in Gassner/Hemetsberger-Koller/Lang/Sasseville/Vogel, Zukunft des Internationalen Steuerrechts 32. 66 Eigene Tabelle nach der Zusammenfassung von Philipp in Loukota/Jirousek, Internationales Steuerrecht Rz 2. 67 Vgl Blieberger, Österreichs Währungskrise und ihre Lösung 1922/23. Genese und Konsequenzen der „Genfer Sanierung“ (1999) 1.

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Durch die finanzielle Not aller Staaten wurden an Stelle der einfachen Steuergesetze mit niedrigen Steuersätzen, komplizierte Regelwerke, die die Steuerpflichtigen stark belasteten, eingeführt. Dazu kam, dass durch die zahlreichen Grenzverschiebungen Unternehmen ihre Standorte plötzlich in zwei oder mehreren verschiedenen Staaten vorfanden. War es vor dem Krieg für Steuerpflichtige noch mehr oder weniger egal, eine geringe Steuer von wenigen Prozent doppelt zu entrichten, so stellte diese doppelte Steuerbelastung durch die gestiegenen Steuersätze und Änderung in der Steuerbemessung sehr bald ein großes Problem dar.68 Auch war es so, dass durch die politischen Umwälzungen nach dem Krieg zahlreiche Verträge ungültig geworden waren und so große Lücken im internationalen Steuerrecht vorherrschten. Aus all diesen Gründen gab es neue Ambitionen Doppelbesteuerungsabkommen abzuschließen.69

Für die ersten internationalen Verträge nach dem Ersten Weltkrieg gab es noch keine Musterabkommen im heutigen Sinn. Vielmehr wurden die früheren Doppelbesteuerungsabkommen und die Erfahrungen daraus als Vorlage und Verhandlungsbasis verwendet.70 Außerdem wurde zum ersten Mal ein multinationales Doppelbesteuerungsabkommen zwischen Österreich, Ungarn, Italien, Polen, Rumänien und dem Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen unterzeichnet. Dieses wurde allerdings nur von Österreich und Italien ratifiziert.71

3.1.1 3.1. Arbeiten der Internationalen Handelskammer und des Völkerbundes

Sowohl auf der internationalen Finanzkonferenz 1920 in Brüssel als auch auf dem konstituierenden Kongress der internationalen Handelskammer 1920 wurde die Notwendigkeit von Maßnahmen gegen die zunehmende Doppelbesteuerung betont. Fortan beschäftigten sich mit dieser Frage die Internationale Handelskammer und der Völkerbund.72 Die internationale Handelskammer ist eine 1919 in Paris gegründete nichtstaatliche Organisation, deren Ziel die Förderung der internationalen Wirtschaft und des internationalen Handels ist.73 Sie erarbeitete also Lösungen vom Standpunkt der Interessen der Handels- und Wirtschaftsunternehmen.

Nach Ende des Ersten Weltkrieges wurde im Rahmen der Pariser Vororteverträge auch der Völkerbund als internationale Organisation gegründet. Grund war die „Erwägung, daß es zur Förderung der Zusammenarbeit unter den Nationen und zur Gewährleistung des internationalen Friedens und der internationalen Sicherheit wesentlich ist, bestimmte Verpflichtungen zu übernehmen, nicht zum Kriege zu schreiten; in aller Öffentlichkeit auf

68 Vgl Gorgiev-Oberascher, Die Arbeiten des Steuerausschusses der OEEC/OECD unter besonderer Berücksichtigung des Problems der Verteilung der Besteuerungsrechte zwischen Wohnsitz- und Quellenstaat in wirtschafts- und rechtshistorischer Perspektive bis 1963 (2007) 12 f. 69 Vgl Roenne in Lang/Ecker/Ressler, History of Tax Treaties LXIX 27. 70 Vgl Roenne in Lang/Ecker/Ressler, History of Tax Treaties LXIX FN 32. 71 Vgl Seibold, Stand und Entwicklung des österreichisch-deutschen Doppelbesteuerungsabkommens 5 f. 72 Vgl Spitaler, Doppelbesteuerungsproblem 12 f. 73 Vgl ICC, The Merchants of Peace, http://www.iccwbo.org/about-icc/history/the-merchants-of-peace/ (abgerufen am 18.08.2014).

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Gerechtigkeit und Ehre begründete internationale Beziehungen zu unterhalten.“74 Der Völkerbund beauftragte im September 1921 vier Professoren, einen Bericht über die wirtschaftlichen Auswirkungen von Doppelbesteuerung, und ob allgemeine Prinzipien als Grundlage für eine internationale oder bilaterale Konvention formuliert werden können, zu verfassen. Namentlich waren dies Professor Gijsbert Weijer Jan Bruins von der Handelshochschule in Rotterdam, Professor Luigi Einaudi von der Universität Turin, Professor Edwin Seligman von der Columbia Universität in New York und Sir Josiah Stamp von der Universität in London. Dieser Bericht wurde im März 1923 in Genua präsentiert.75

Der Bericht gliedert sich in drei Teile. Im ersten Teil werden die wirtschaftlichen Auswirkungen der Doppelbesteuerung behandelt, im zweiten Teil allgemeine Grundsätze herausgearbeitet, die im internationalen Steuerwesen vorherrschen. Dabei gehen die Professoren davon aus, dass das Leistungsfähigkeitsprinzip für die Besteuerung maßgeblich sei. Die Tauschtheorie76 wird indes abgelehnt.77 Für die Aufteilung des Besteuerungsrecht auf zwei oder mehrere Staaten wird als leitender Grundsatz, jener der „doctrine of economic allegiance“78, der Grundsatz der wirtschaftlichen Zugehörigkeit vertreten.79 Im dritten Teil wurden die möglichen Methoden zur Vermeidung von Doppelbesteuerungen erörtert. Die Professoren unterschieden dabei vier Methoden: Die Abzugsmethode für das vom Ausland herrührende Einkommen, die Befreiungsmethode für das ins Ausland gehende Einkommen, die Methode der Steuerteilung und Methode der Teilung nach Quellen.80

Der Bericht der vier Professoren befruchtete die wissenschaftliche Aufarbeitung des Problems nachhaltig. Zwar wurden einige Leitsätze des Berichts mitunter heftig kritisiert, vor allem von Schanz81 und Dorn82, diese Meinungsverschiedenheiten lagen allerdings auch an den verschiedenen Herkunftsländern der Professoren und den damit verbundenen unterschiedlichen rechtspolitischen Einstellungen.83

Der Finanzausschuss beauftragte darauf sieben leitende Finanzbeamte aus verschiedenen Staaten, das Problem aus der Praxis zu betrachten. Die

74 Präambel Völkerbundssatzung. Die Völkerbundssatzung ist Bestandteil aller fünf Pariser Vorortverträge und somit auch im Friedensvertrag von Saint Germain enthalten. 75 Vgl Coates, League of Nations Report on Double Taxation Submitted to the Financial Committee by Professors Bruins, Einaudi, Seligman, and Sir Josiah Stamp, Journal of the Royal Statistical Society 1924, 99. 76 Nach dieser Theorie ist das Verhältnis zwischen Staat und Individuum als zweckhafter Zusammenschluss charakterisiert. Die Besteuerung sollte sich demnach nach den Genüssen und Vorteilen richten, die das Individuum vom Staat erhält. Die Steuer ist somit eine Art Gegenleistung für eine Leistung des Staates, woraus sich auch der Name der Theorie ableitet. Diese Auffassung hat zur Folge, dass dem Staat beim Zugriff auf das Einkommen und Vermögen Grenzen gesetzt seien. Vgl dazu Springer Gabler Verlag (Herausgeber), Gabler Wirtschaftslexikon, Stichwort: Äquivalenztheorie, online im Internet: http://wirtschaftslexikon.gabler.de/Archiv/3503/aequivalenztheorie-v10.html. 77 Vgl Schanz, Die Doppelbesteuerung und der Völkerbund, Finanz-Archiv 40 (1892) 353, 355. 78 Coates, Journal of the Royal Statistical Society 99. 79 Vgl Schanz, Doppelbesteuerung 353. 80 Vgl Coates, Journal of the Royal Statistical Society 99. 81 Schanz, Doppelbesteuerung 353 ff. 82 Dorn, Doppelbesteuerung und der Völkerbund, StW 1928, 49. 83 Vgl Spitaler, Doppelbesteuerungsproblem 14-16.

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Schlussfolgerungen ihrer Arbeit wurden in Entschließungen zusammengefasst, wobei die erste von dem Problem der Doppelbesteuerung handelte und die zweite vom Problem der Steuerflucht. Auf Anregung dieser Experten wurde das Komitee auf dreizehn Personen aus dem europäischen und außereuropäischen Raum erweitert. An den drei Tagungen im Mai 1926, Jänner und im April 1927 wurden zusätzlich auch noch die Experten der Internationalen Handelskammer beigezogen. Die Arbeiten des Komitees führten schließlich zur Erarbeitung eines Musterabkommens, welches noch 1927 zur Veröffentlichung gelangte. Dieses Musterabkommen wurde 1928 bei einer Tagung in Genf von Vertretern aus 27 Nationen und einem Gesandten der Internationalen Handelskammer um zwei weitere Vertragsmodelle ergänzt. Auf Empfehlung der technischen Experten erfolgte auch die Einrichtung eines ständigen Ausschusses. Diesem Ausschuss sollten technisch qualifizierte Repräsentanten der wichtigsten Nationen angehören.84

Zur Besetzung ist generell zu sagen, dass, je mehr Experten aus den jeweiligen Finanzministerien an den Arbeiten beteiligt waren, desto mehr versucht wurde nationale Interessen in die Arbeiten einzubringen. Anders als die zu Beginn beauftragten Professoren unterstanden die Fachexperten nämlich einer Treuepflicht gegenüber ihrem Entsendestaat und wurden auch von den jeweiligen Regierungen bestellt.85 So kam es, dass die Arbeiten des Völkerbundes auf die in dieser Zeit abgeschlossenen Doppelbesteuerungsabkommen keinen wesentlichen Einfluss hatten, unter anderem auch deshalb, weil dem Deutschen Reich eine Mitarbeit in den Ausschüssen des Völkerbundes verwehrt wurde. Vielmehr wurde, wie bereits oben erwähnt, auf Abkommen aus der Vorkriegszeit gegriffen.86

Auch während des Zweiten Weltkriegs wurde an Musterentwürfen gearbeitet, die zu den Musterentwürfen von Mexico (1943) und London (1946) führten. Diese Sammlung wurde später von der UNO fortgesetzt und auch eine umfassende Übersicht über alle Doppelbesteuerungsabkommen („International Tax Agreements“) herausgegeben.87

3.1.2 3.2. Das Doppelbesteuerungsabkommen zwischen dem Deutschen Reich und Italien von 1925

Nach 1925 galt insbesondere der Vertrag zwischen dem Deutschen Reich und Italien als Mustervorlage. Besonders erwähnenswert ist hierbei die explizite Abstellung auf das Betriebsstätten-Prinzip, weshalb bei einem Unternehmen mit Betriebsstätten in beiden Ländern das Besteuerungsrecht auf die Erträge der jeweils im eigenen Land befindlichen Betriebsstätte aufgeteilt wird. Auch die enthaltene Definition einer Betriebsstätte, nämlich „eine ständige Geschäftseinrichtung des Unternehmens, in welcher die Tätigkeit dieses

84 Vgl Spitaler, Doppelbesteuerungsproblem 16-19. 85 Vgl Spitaler, Doppelbesteuerungsproblem 30 f. 86 Vgl Gorgiev-Oberascher, Arbeiten des Steuerausschusses 22. 87 Vgl Philipp in Loukota/Jirousek, Internationales Steuerrecht Rz 10.

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Unternehmens ganz oder teilweise ausgeübt wird“88, beeinflusste die zukünftige Entwicklung maßgebend.89

3.1.3 3.3 Abschlüsse Österreichs und Europas

Insgesamt stieg in der Zwischenkriegszeit das Interesse am Abschluss von Doppelbesteuerungsabkommen signifikant. Am abschlussfreudigsten waren die kontinentaleuropäischen Länder, allen voran Deutschland mit 21 Verträgen, gefolgt von Ungarn mit 14 und Österreich mit 11 Verträgen. Frankreich beispielsweise schloss seinen ersten Vertrag auf dem Gebiet der direkten Steuern erst 1930 ab. Auch Großbritannien hielt sich mit nur 4 Vertragsabschlüssen zurück.90 Neben Staatsverträgen wurden auch Verordnungen betreffend eines Gegenseitigkeitsverhältnisses mit den Niederlanden und Liechtenstein abgeschlossen.91

Eine Auflistung der Rechtsnormen, die von Österreich zwischen 1918 und 1938 geschaffen wurden, enthält Tabelle 2, welche die Vereinbarungen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiete der direkten Steuern zeigt.92

Deutsches Reich Vertrag vom 23. Mai 1922, BGBl 1923/286, und Zusatzabkommen vom 11. September 1937, BGBl 1938/64

Italien Vertrag vom 6. April 192293, BGBl 1926/341 Liechtenstein Verordnung, betreffend ein

Gegenseitigkeitsverhältnis, BGBl 1929/168 Niederlande Durchführungserlass, betreffend ein

Gegenseitigkeitsverhältnis, Finanzverordnungsblatt Nr. 116/1929

Niederländisch-Indien

Durchführungserlass, betreffend ein Gegenseitigkeitsverhältnis, Finanzverordnungsblatt Nr. 121/1936

Polen Vertrag vom 16. August 1933, BGBl 1933/388 Schweiz Vertrag mit der Schweizerischen

Eidgenossenschaft im Namen des Kantons St. Gallen vom 24. Oktober 1927, BGBl 1928/96;

88 Art 3 Abkommen zwischen Dem Deutschen Reiche und Italien zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und zu Regelung anderer Fragen auf dem Gebiete der direkten Steuern, Reichsgesetzblatt 1925 1145. 89 Vgl Roenne in Lang/Ecker/Ressler, History of Tax Treaties LXIX 28 f. 90 Vgl Gorgiev-Oberascher, Arbeiten des Steuerausschusses 146. 91 Vgl. Schmutzer, Geschichtliche Entwicklung der Doppelbesteuerung in Österreich (1974) 54. 92 Eigene Tabelle nach der Zusammenfassung von Philipp in Loukota/Jirousek, Internationales Steuerrecht Rz 3, Die Texte dieser Abkommen samt dazugehöriger Erlässen des BMF sind in der von Watzke im Verlag der Österreichischen Staatsdruckerei herausgegebenen Handausgabe „Zwischenstaatliches Steuerrecht“ 1952 abgedruckt. 93 Dieser Vertrag war ursprünglich als multilateraler Vertrag zwischen den Nachfolgestaaten der österreichisch-ungarischen Monarchie (Italien, Jugoslawien, Österreich, Polen, Rumänien, Tschechoslowakei und Ungarn) abgeschlossen worden. In Kraft trat er allerdings nur zwischen Österreich und Italien.

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Beitrittserklärungen: Kanton Zürich, BGBl 1928/97, Kanton Thurgau, BGBl 1928/97, Kanton Neuenburg, BGBl 1928/97, Kanton Genf, BGBl 1929/176, Beitritts- und Gegenrechtserklärungen: Kanton Obwalden, BGBl 1928/97, Kanton Basel-Stadt, BGBl 1928/97, Kanton Basel-Land BGBl 1928/97, Kanton Appenzell-Innerrhoden BGBl 1928/97, Kanton Aargau, BGBl 1928/97, Kanton Freiburg, BGBl 1929/176, Kanton Graubünden, BGBl 1929/176, Kanton Unterwalden nid dem Walde, BGBl 1931/165, Kanton Luzern BGBl 1933/101 und BGBl 1933/361, Kanton Bern BGBl 1936/57, Kanton Glarus BGBl 1936/139, Kanton Zug, BGBl 1937/168

Tschechoslowakei Vertrag vom 18. Februar 1922, BGBl 1923/2; Durchführungsverordnungen BGBl 1923/3, 1923/187, 1936/183; Verordnung, BGBl 1925/398, betreffend ein Gegenseitigkeitsverhältnis zur Ergänzung des Vertrages; Vertrag vom 12. Juli 1926, BGBl 1929/82, über die Besteuerung von Eisenbahn- und Schifffahtsunternehmungen

Ungarn Vertrag vom 8. November 1924, BGBl 1925/437; Durchführungsverordnungen, BGBl 1925/439, 1930/35; Durchführungsverordnung, BGBl 1929/373, betreffend die Besteuerung der Eisenbahnunternehmungen

3.1.4 3.4. „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich 1938

Durch den „Anschluss“ Österreichs 1938 und die damit verbundene politische Eingliederung in das Deutsche Reich, wurden die bis dahin abgeschlossenen Verträge unwirksam. In der Zeit zwischen 1938 und 1945 galten die vom Deutschen Reich abgeschlossenen Doppelbesteuerungsabkommen auch für Österreich.

4. 4. Nach dem Zweiten Weltkrieg

4.1.1 4.1. Die Lage in der unmittelbaren Nachkriegszeit

Nach dem Zweiten Weltkrieg war Europa, insbesondere aber Deutschland, großteils zerstört. Durch den Marshall Plan wurde der Wiederaufbau Europas in Angriff genommen. Bei diesem „European Recovery Program“ wurden nicht nur die ökonomischen, sondern auch die damit verbundenen organisatorischen Voraussetzungen geschaffen. Insgesamt wurden in den vier Folgejahren ab 1948

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13 Milliarden USD für den wirtschaftlichen und technischen Aufbau zur Verfügung gestellt.94 Schon zuvor wurde der Internationale Währungsfond sowie die Weltbank durch das Bretton Woods Abkommen gegründet. Durch die Liberalisierung des Außenhandels durch das GATT von 1947 sowie den Marshallplan 1949 kam es zu einer engen wirtschaftlichen und politischen Verbindung zwischen den westeuropäischen Staaten und den USA einerseits und zwischen den europäischen Staaten untereinander andererseits.95

Auch Österreich hatte nach dem Krieg mit großen wirtschaftlichen Problemen zu kämpfen. Durch die Eingliederung ins Deutsche Reich entwickelte sich Österreich in dieser Zeit sehr ruckartig und uneinheitlich. Die Investitionen wurden insbesondere auf die deutsche Kriegsmaschinerie ausgerichtet, es wurden Rohstoffe und Nahrungsmittel eingeführt und industriell gefertigte Güter ausgeführt. Besonders die Versorgung mit Rohstoffen sowie mit Nahrungsmitteln stellte eines der größten Probleme Österreichs nach dem Krieg dar. Auch war eine Vielzahl der Betriebe noch unter deutscher Kontrolle, so lagen 62 % des gesamten deutschen Auslandseigentums in Österreich. Erst durch den Marschall-Plan verbesserte sich die Lage Österreichs.96Gerade der Aufstieg der multinationalen Unternehmungen gilt als wichtigstes Merkmal der weltwirtschaftlichen Entwicklung im 20. Jahrhundert. Insbesondere brachten diese Konzerne eine ganz neue Qualität in das kapitalistische System der Staaten. So konnten (können) Konzerne die Steuergesetzgebung ganzer Staaten beeinflussen, indem sie ein Land gegen das andere mit dem Argument der Arbeitsplätze ausspielen oder mit der Verlagerung der Produktionsstätten drohen.97 Die verbesserten Verkehrsmöglichkeiten, die zunehmende Vernetzung der Weltwirtschaft, Beweglichkeit von Kapital und Gütern und eben das Aufkommen multinationaler Unternehmungen änderten das wirtschaftliche Gefüge nachhaltig. Die Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg zeigte, dass eine Vermeidung der Doppelbesteuerung schon aus wirtschaftlichen Gründen notwendig war.98

4.1.2 4.2. OEEC

Die „Organisation for European Economic Co-operation“ („OEEC”) wurde am 16. April 1948 gegründet. Ursprünglich hatte die OEEC 18 Mitgliedsstaaten, nämlich Österreich, Belgien, Dänemark, Frankreich, Griechenland, Island, Irland, Italien, Luxemburg, Niederlande, Norwegen, Portugal, Schweden, Schweiz, das Vereinte Königreich und die BRD. Die Hauptziele dieser Organisation waren die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedsstaaten beim Wiederaufbau Europas, die Entwicklung des innereuropäischen Handels durch die Reduktion von Zöllen und anderen Handelsbarrieren und die Prüfung der Durchführbarkeit einer

94 Vgl Matis/Stiefel, Die Weltwirtschaft. Struktur und Entwicklung im 20. Jahrhundert (1991) 151. 95 Vgl Matis/Stiefel, Weltwirtschaft 143-152. 96 Vgl Gorgiev-Oberascher, Arbeiten des Steuerausschusses 67. 97 Vgl Gorgiev-Oberascher, Arbeiten des Steuerausschusses 204 f. 98 Vgl Gorgiev-Oberascher, Arbeiten des Steuerausschusses 35.

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Zollunion oder eines Freihandelsabkommens.99 Der wohl wichtigste Grund war allerdings der Wunsch nach einer Organisation, die sich mit der Koordination der Hilfsmaßnahmen beschäftigte, insbesondere mit jenen des Marschallplans. Gleichzeitig symbolisierte die OEEC auch den Beginn der ökonomischen Zusammenarbeit in Westeuropa.100

Im Oktober 1954 drängte die Internationale Handelskammer durch eine Resolution, die OEEC solle doch dem Problem der Doppelbesteuerung begegnen. Nach einigen Beratungen wurde am 16. März 1956 ein neues Komitee, der Steuerausschuss, gegründet. In diesem Ausschuss waren alle oben angeführten Vollmitglieder der Organisation vertreten, so konnte sichergestellt werden, dass die Arbeiten später auch tatsächlich in der Praxis umgesetzt werden. Auch die USA und Kanada traten diesem Komitee bei, hatten allerdings keinerlei Stimmrechte, sie waren bloß sogenannte „assoziierte Mitglieder“.101 Bis auf Island beteiligten sich alle Mitgliedsstaaten an den Arbeiten des Ausschusses. Zwar tendierten die Länder anfangs noch dazu ihre eigenen Interessen zu vertreten, dies änderte sich jedoch im Laufe der Zeit und wurde von einem immer stärker werdenden Interesse an gemeinsamen Regelung für einen einfacherer Ablauf im internationalen Handel abgelöst.102

Hauptaufgabe des Steuerausschusses war unter anderem die Erarbeitung von Prinzipien der Vermeidung der Doppelbesteuerung bei den direkten Steuern. Die indirekten Steuern wurden aufgrund ihrer Komplexität noch ausgespart. Warum gerade die OEEC mit der Frage der Doppelbesteuerung beauftragt wurde, erklärt sich am besten mit einem Zitat des Vorsitzenden des Steuerausschusses von 1957: „The reasons why this work has been taken up by the OEEC can be easily explained by the fact that the national economics of the OEEC countries are becoming more and more closely interwoven that international supply of capital is becoming more and more necessary, and technical-economical developments call for further advance in this process, if Europe is not to lag behind on the road to increasing prosperity. One means of promoting this is through co-ordination in international fiscal matters.“103

Besonders wichtig war das Ziel der Erarbeitung eines Musterabkommens. Bereits der Völkerbund entwickelte solche Musterabkommen, jene von London und Mexico. Der Wunsch nach einem Musterabkommen ergab sich daraus, dass bei den Verhandlungen zu Doppelbesteuerungsabkommen nicht nur zwei unterschiedliche Rechtsysteme aufeinandertreffen, sondern auch zwei unterschiedliche Rechtssprachen und Ausdrucksweisen.104

Kurz nach der Einrichtung des Steuerausschusses wurden mehrere „working parties“ („WP“) installiert, die sich mit den konkreten Hauptproblemen beschäftigten, um schließlich ein Musterabkommen zu erarbeiten. Bis 1958 stieg

99 Vgl OECD, Organisation for European Economic Co-operation, http://www.oecd.org/general/organisationforeuropeaneconomicco-operation.htm (abgerufen am 18.08.2014). 100 Vgl Matis/Stiefel, Weltwirtschaft 40. 101 Vgl Gorgiev-Oberascher, Arbeiten des Steuerausschusses 52-67. 102 Vgl Gorgiev-Oberascher, Arbeiten des Steuerausschusses 136-137. 103 Zitiert nach TFD/VC/10, Fiscal Committee, Note by the Chairman on the Aims of the Fiscal Committee, 23.1.1957 S 2, abgedruckt in Gorgiev-Oberascher, Arbeiten des Steuerausschusses 76. 104 Vgl Philipp in Loukota/Jirousek, Internationales Steuerrecht Rz 11.

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die Zahl der WP auf 15 an. Die wichtigsten Themenbereiche waren WP 1 mit dem Betriebsstättenprinzip, WP 2 mit dem steuerlichen Wohnsitz, WP 3 mit der Aufzählung und Definition von Steuern, WP 4 mit der steuerlichen Diskriminierung und WP 5 mit der Besteuerung der Einkünfte von Unternehmen der Schifffahrt, Binnenschifffahrt und Luftfahrt.105 Nachdem die Arbeitsgruppen ihre Vorschläge und Kommentare vorgelegt hatten, wurde intensiv an der Ausarbeitung eines Musterabkommens gearbeitet. Grundsätzlich baute der Steuerausschuss der OEEC auf den Grundlagen des Völkerbundes auf, musste allerdings einige Grundsätze an die veränderte wirtschaftliche Lage nach dem Weltkrieg anpassen. Bis 1961 wurden vier verschiedene Berichte präsentiert. Über manche Dinge wurde verhältnismäßig leicht eine Einigung gefunden. Als schwierigste und gleichzeitig wichtigste Frage stellte sich jene nach der Besteuerung der Dividenden, Zinsen und Lizenzgebühren heraus. Einstimmigkeit konnte man durch die unterschiedlichen wirtschaftlichen Interessen nicht herstellen, weshalb auch einige Staaten Vorbehalte gegen den letzten Bericht angemeldet hatten. Die letzten Arbeiten des Steuerausschusses waren schon gekennzeichnet von der organisatorischen Veränderung, die in diesem Jahr eintreten sollten.106

4.1.3 4.3. OECD

1961 folgte schließlich die „Organisation for Economic Co-operation and Development“ („OECD“) der OEEC nach. Ihr Aufgabengebiet war somit nicht mehr nur auf Europa beschränkt, sondern weltweit ausgerichtet. Zu den bisherigen Mitgliedern traten die USA und Kanada hinzu.107 Auch wurden die Ziele der OECD nur in generellen Richtlinien umrissen. Das gibt der OECD bis heute eine große Flexibilität. Es war nunmehr möglich, fast jedes wirtschaftspolitische Problem aufzugreifen, wenn es von allgemeinem Interesse war.108

Für den Steuerausschuss brachte die Umwandlung von der OEEC zur OECD keine wesentlichen Änderungen mit sich. Die Arbeitsmethoden und Aufträge blieben nahezu unverändert.109 Die USA und Kanada nahmen auch gleich an den Abschlussarbeiten des Steuerausschusses teil, was natürlich inhaltliche Schwierigkeiten mit sich brachte. Deshalb erbat man sich zwei weitere Jahre, um die Ausarbeitung eines Musterabkommens fertig zu stellen. Dieser Aufschub wurde auch bis zum 1. Juli 1963 gewährt. Bis dahin sollte ein vollständiges Musterabkommen zusammen mit konkreten Vorschlägen zur Implementierung vorliegen.110

Schließlich wurde im Februar 1963 der erste Entwurf eines Musterabkommens veröffentlicht. Es handelt sich bei diesem Musterabkommen nicht um einen verbindlichen Vertrag, sondern um eine Empfehlung der

105 Vgl Gorgiev-Oberascher, Arbeiten des Steuerausschusses 77-92. 106 Vgl Gorgiev-Oberascher, Arbeiten des Steuerausschusses 93-116. 107 Vgl OECD, Organisation for European Economic Co-operation, http://www.oecd.org/general/organisationforeuropeaneconomicco-operation.htm (abgerufen am 18.08.2014). 108 Vgl Gorgiev-Oberascher, Arbeiten des Steuerausschusses 106. 109 Vgl Gorgiev-Oberascher, Arbeiten des Steuerausschusses 138. 110 Vgl Gorgiev-Oberascher, Arbeiten des Steuerausschusses 116.

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Organisation an seine Mitgliedsstaaten. Der Vorschlag enthielt insgesamt 30 Artikel, welche durch die Mitgliedsstaaten direkt übernommen werden konnten. Insgesamt war es dem Steuerausschuss wichtig, das Musterabkommen möglichst flexibel zu halten, um den Mitgliedsstaaten einen gewissen Handlungsspielraum einzuräumen.111 Zusätzlich zu dem Musterabkommen wurde auch ein Kommentar zu jedem einzelnen Paragraphen des Musterabkommens erstellt. Dieser enthielt neben den Erklärungen auch die Sitzungsprotokolle.112 Das Musterabkommen von 1963 musste in weiterer Folge natürlich laufend an die Änderungen der Zeit angepasst werden. So wurden neuere Versionen im Jahr 1977 und eine dritte 1992 beschlossen. Der Steuerausschuss erkannte jedoch, dass eine periodische Modifikation dem Anpassungsprozess besser nachkommt.113

Das Musterabkommen hat sich in der internationalen Verhandlungspraxis als äußerst förderlich erwiesen. Nicht qualitativ, sondern auch quantitativ gingen von der OEEC und der späteren OECD starke Impulse für das Völkervertragsrecht aus. Diese Auswirkungen blieben nicht bloß auf die Mitgliedsstaaten beschränkt, da diese auch bei Verhandlungen mit Nichtmitgliedsstaaten das Musterabkommen zugrunde legten.114 Seit 1992 ist das OECD Musterabkommen als „Loseblattsammlung“ konzipiert, um die laufenden Änderungen besser berücksichtigen zu können. Diese Konzeption motiviert auch zu einem schnelleren Anpassungsprozess. Das Musterabkommen ist die wichtigste Grundlage für Vertragsabschlüsse zwischen Staaten.115 Mittlerweile gibt es weltweit bereits mehr als 3.000 Doppelbesteuerungsabkommen.116

4.1.4 4.4. Musterabkommen der UNO

Anstelle des Völkerbundes trat nach Ende des Zweiten Weltkrieges die UNO. Auch innerhalb der UNO wurde nach einiger Zeit an einem Musterabkommen gearbeitet. Vor allem die Entwicklungsländer waren nicht mit den Musterabkommen der Industriestaaten zufrieden, da diese ihrer Ansicht nach zu stark die Besteuerungsrechte des Wohnsitzstaates betonten und das Besteuerungsrecht der Entwicklungsländer als Quellenländer zu wenig berücksichtigte. Deshalb wurde im Rahmen der UNO ein eigenes Musterabkommen erarbeitet, welches sich strikt an die Terminologie des OECD-Musters hält, allerdings eine stärkere Gewichtung auf die Besteuerungsrechte der Entwicklungsländer legt. So sind auch die DBA Österreichs mit Entwicklungsländern sehr von diesem UNO Musterabkommen beeinflusst.117

111 Vgl Gorgiev-Oberascher, Arbeiten des Steuerausschusses 131 f. 112 Vgl Gorgiev-Oberascher, Arbeiten des Steuerausschusses 137 f. 113 Vgl Gorgiev-Oberascher, Arbeiten des Steuerausschusses 142 f. 114 Vgl Weber-Fas, Staatsverträge 9 f. 115 Vgl Seibold, Stand und Entwicklung des österreichisch-deutschen Doppelbesteuerungsabkommens 211-219. 116 Vgl OECD (2013), Addressing Base Erosion and Profit Shifting, OECD Publishing 8. 117 Vgl Philipp in Loukota/Jirousek, Internationales Steuerrecht Rz 11.

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4.1.5 4.5. COMECON-Muster

Als Gegenbewegung und als Reaktion auf die westliche Integration gründete die UDSSR 1949 mit den unter ihrem Einflussbereich liegenden Staaten eine ähnliche Organisation für die gegenseitige Wirtschaftshilfe. Den Mitgliedern wurde das stalinistische Planwirtschaftsmodell aufgezwungen. Die Organisation diente der Vernetzung, Optimierung und der interregionalen Arbeitsteilung der östlichen Volkswirtschaften.118 Auch von dieser Organisation wurde ein Musterabkommen erarbeitet, welches an dieser Stelle auch kurz erwähnt sei. Dabei handelt es sich um das Abkommensmuster der Oststaaten. Besonders die Abkommen Österreichs mit Bulgarien und der ehemaligen UDSSR waren sehr stark davon beeinflusst.119

4.1.6 4.5. Die Abkommensentwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg in Österreich

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und dem Wiederaufleben der Republik Österreichs, stellte sich die Frage, wie man das internationale Steuervertragsnetz möglichst rasch wiederaufleben lassen könnte. Zum einen bestand die Möglichkeit, das Doppelbesteuerungssystem von vor 1938 wieder einzusetzen. Dies wurde allerdings nicht in Betracht gezogen, da die alten Verträge noch auf die seinerzeitige alte österreichische Einkommensteuer zugeschnitten waren. Österreich übernahm nämlich mit dem „Anschluss“ 1938 an Deutschland auch das deutsche Einkommensteuergesetz und ließ es nach 1945 weiterhin in Kraft. Da eine rasche Lösung des Problems unbedingt notwendig war, stand man vor dem Dilemma, weder die alten Abkommen von vor 1938 verwenden, noch neue Verträge verhandeln zu können, weil die Verhandlungen noch viel mehr Zeit in Anspruch genommen hätten. So sah man es als zweckmäßig an, für eine kurze Übergangszeit auf das deutsche Vertragsnetz zurückzugreifen, welches in den Jahren 1938-1945 auch für Österreich Geltung hatte.120 Durch das Rechtsüberleitungsgesetz121 wurde der Inhalt der Verträge auch Bestandteil der österreichischen Rechtsordnung, sie erhielten innerstaatliche Verbindlichkeit. Völkerrechtlich allerdings konnte die Verbindlichkeit erst eintreten nachdem sich die Vertragspartner des Deutschen Reiches bereit erklärten, die Verträge gegenüber Österreich vorläufig als bindend anzusehen. Solche Gegenrechtserklärungen gaben Italien, die Schweiz, Frankreich, Schweden und Ungarn ab.122 Daraufhin erging am 10. November 1945 ein Erlass des Staatsamts für Finanzen, dass Österreich „im Verhältnis zur Schweiz, Tschechoslowakei, zu Ungarn, Jugoslawien und Italien […] vorläufig noch nach den vom Deutschen Reich zur Vermeidung der Doppelbesteuerung getroffenen Übereinkommen vorzugehen“ 123 hat. Im Verhältnis zu Deutschland seien die seinerzeitigen Verträge zwischen der Republik Österreich und dem

118 Vgl Gorgiev-Oberascher, Arbeiten des Steuerausschusses 63. 119 Vgl Philipp in Loukota/Jirousek, Internationales Steuerrecht Rz 11. 120 Vgl Philipp in Loukota/Jirousek, Internationales Steuerrecht Rz 4. 121 Verfassungsgesetz vom 01.05.1945 über die Wiederherstellung des Rechtslebens in Österreich StGBl 6. 122 Vgl Schmutzer, Geschichtliche Entwicklung der Doppelbesteuerung in Österreich 55. 123 Zitiert aus dem Erlass des Staatsamts für Finanzen vom 10. November 1945, Z 9135-8/45 betreffend Neuregelung der steuerrechtlichen Beziehungen zum Ausland, abgedruckt in Watzke, Zwischenstaatliches Steuerrecht (1952) 10.

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Deutschen Reich anzuwenden. „Diese Regelung zur Vermeidung von Doppelbesteuerung ist nur eine vorläufige und erfolgt unter der Voraussetzung und in der Annahme der Gewährung der Gegenseitigkeit durch die betreffenden Staaten.“124

Die folgende Tabelle 2 zeigt die Staaten, mit denen eine einvernehmliche Anwendung der reichsdeutschen Verträge getroffen wurde.125

Bundesrepublik Deutschland

Vertrag vom 23. Mai 1922, BGBl 1923/286, samt Zusatzabkommen vom 11. September 1937, BGBl 1938/64, (Erl des BMF vom 25. Juli 1951, Zl 55.169-8 a/51, AÖF Nr. 151), wurde angewendet bis einschließlich 1954

Frankreich Abkommen vom 9. November 1934, DRStBl 1938 S. 329 (Erl des BMF vom 6. September 1951, Zl 66.509-8 a/51, AÖF Nr. 121), angewendet bis einschließlich 1960

Italien Abkommen vom 31. Oktober 1925, DRGBl II S. 1146 (Erl des BMF vom 12. September 1950 Zl 65.487-7/50, AÖF Nr. 191), wurde angewendet bis 1985

Schweden Abkommen vom 25. April 1928, DRGBl. II S. 522 (Erl des BMF vom 29. August 1951, Zl 58.464-8 a/51, AÖF Nr. 192), wurde angewendet bis 1959

Schweiz Abkommen vom 15. Juli 1931, DRGBl 1934 S. 38 (Erl des BMF vom 8. Februar 1949, AÖF Nr. 3), angewendet bis einschließlich 1954

Ungarn Vertrag vom 6. November 1923, DRGBl 1925 II S. 642, samt Zusatzabkommen (Erl des BMF vom 22. September 1950, Zl 67.144-8/49), anwendbar bis 1975

Diese „österreichische Lösung“ wurde schließlich vom Verwaltungsgerichtshof 1971 aufgehoben,126 da die Erlässe, die ja nur im Amtsblatt der österreichischen Finanzverwaltung (AÖF) veröffentlicht waren, nicht rechtmäßig im BGBl verlautbart wurden und deshalb nicht als rechtsverbindlich erachtet werden konnten. Das BMF teilte diese Rechtsauffassung nicht, sorgte aber dafür, dass in den späteren Abkommen die innerstaatliche Rechtswirksamkeit der Gegenrechtsvereinbarungen rückwirkend in verfassungsmäßig einwandfreier Weise festgestellt wurde.127 Diese seit 1945

124 Ibid. 125 Eigene Tabelle nach der Zusammenfassung von Philipp in Loukota/Jirousek, Internationales Steuerrecht Rz 5. Die Texte dieser Abkommen samt dazugehöriger Erlässen des BMF sind in der von Watzke im Verlag der Österreichischen Staatsdruckerei herausgegebenen Handausgabe „Zwischenstaatliches Steuerrecht“ 1952 abgedruckt. 126 VwGH 25.05.1971, 1046/70. 127 Erlass vom 13.11.1956, 153.720-8/1956, vgl Philipp in Loukota/Jirousek, Internationales Steuerrecht Rz 7.

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hergestellten Gegenseitigkeitsverhältnisse wurden inzwischen durch neue Staatsverträge erneuert.

Durch das Musterabkommen von 1963 wurden auch von Österreich vermehrt Doppelbesteuerungsabkommen, auf Basis des Musterabkommens, abgeschlossen. Im Gegensatz zu Deutschland legte Österreich dabei verstärkt Wert auf Neuabschlüsse. während Deutschland eher an einer Bestandspflege bereits bestehender Verträge arbeitete. Je fortschrittlicher die Arbeiten der OECD waren, desto mehr wirkten sie auch bei den Verhandlungen der Mitgliedsstaaten durch. Besonders die österreichischen Abkommen mit den nordischen Staaten entsprechen sehr stark dem OECD Muster.128

Insgesamt hat sich Österreich mittlerweile ein dichtes Netz an Doppelbesteuerungsabkommen aufgebaut.129 Derzeit hat Österreich 87 Doppelbesteuerungsabkommen abgeschlossen.130 Sie können im Internet abgerufen werden auf https://www.bmf.gv.at/steuern/int-steuerrecht/oesterreichische-doppelbesteuerungsabkommen.html oder sind auch in Druckversion der Kodex-Reihe, herausgegeben von Werner Doralt, erhältlich.

5. 5. Resümee und Ausblick

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Problem der Vermeidung der Doppelbesteuerung ein relativ junges Problem darstellt. Auslöser war ganz eindeutig die zunehmende Globalisierung in den letzten 150 Jahren. Vorreiter waren vor allem jene Staaten, die relativ föderale Strukturen aufwiesen, wie Deutschland und die Schweiz. Da diese Staaten bereits Erfahrungen mit innerstaatlichen Doppelbesteuerungsabkommen hatten, war es auch nicht verwunderlich, dass sie die Ersten waren, die bilaterale Verträge abschlossen. Die wirtschaftlichen Großmächte hingegen waren relative „Spätstarter“, die bis zu jenem Zeitpunkt warteten, an dem die Globalisierung und Vernetzung der Wirtschaft sowie das eigene Steuerrecht solche Ausmaße angenommen hatte, dass auch sie sich des Problems annehmen mussten.

Der erste innerstaatliche Vertrag zwischen Sachsen und Preußen 1869/70 war der Wegbereiter für das erste Doppelbesteuerungsabkommen zwischen Österreich-Ungarn und Preußen 1899. Schon damals wurden die zwei verschiedenen Anknüpfungspunkte der Nationalität und der wirtschaftlichen Anknüpfung diskutiert. Nach dem Ersten Weltkrieg nahm insbesondere der Völkerbund wichtige Arbeiten an dem Problem der Doppelbesteuerung vor. Viele der Grundsätze die damals erarbeitet wurden sind noch heute in den Musterabkommen der OECD – die, gemeinsam mit ihrer Vorgängerorganisation, der OEEC, die bis heute wichtigsten Arbeiten an dem Problem vornahm -

128 Vgl Philipp in Loukota/Jirousek, Internationales Steuerrecht Rz 11. 129 Vgl Seibold, Stand und Entwicklung des österreichisch-deutschen Doppelbesteuerungsabkommens 261-267. 130 Vgl BMF, Die österreichischen Doppelbesteuerungsabkommen (DBA), https://www.bmf.gv.at/steuern/int-steuerrecht/oesterreichische-doppelbesteuerungsabkommen.html (abgerufen am 18.08.2014).

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enthalten. Für die Interpretation der Artikel des Musterabkommens soll stets auch deren geschichtlicher Kontext im Auge behalten werden.

Doch stellt sich nun auch die Frage, wie es in Zukunft mit den Doppelbesteuerungsabkommen weitergehen wird. Fakt ist, dass das derzeitige System der Abkommen nicht mehr den wirtschaftlichen Gegebenheiten entspricht. In ihrem BEPS Bericht hat die OECD bereits einen Aktionsplan angekündigt und 2013 veröffentlicht. Dabei werden 15 Maßnahmen erläutert, die bis Ende 2015 umgesetzt werden sollten, um den neuen Bedingungen gerecht zu werden, darunter insbesondere die Lösung der mit der digitalen Wirtschaft verbundenen Besteuerungsproblemen, Verhinderung des Abkommensmissbrauchs und schließlich die Entwicklung eines multilateralen Instruments, um nur einige wenige zu nennen.131

Auch die EU wird in Zukunft eine wichtige Rolle bei der inneuropäischen internationalen Besteuerung spielen, was sich schon an der von der Kommission geforderten Einführung einer „common consolidated corporate tax base“132 zeigt. Dieser Vorschlag wurde aber umgehend von Großbritannien, Irland, Holland, Schweden, Polen, Rumänien, Malta, Bulgarien und Slowenien abgelehnt. Eine Einführung einer solchen Harmonisierung ist auf Ebene der OECD mE völlig ausgeschlossen, weil steuerpolitisch nicht durchsetzbar.

Das Problem liegt darin, dass einzelstaatliche Maßnahmen nicht ausreichen, beziehungsweise sogar kontraproduktiv sind. Vielmehr muss eine ganzheitliche gemeinsame Lösung gefunden werden. Die politischen Bekenntnisse und institutionellen Voraussetzungen sind jedenfalls vorhanden. Nun liegt es an den Politikern eine Lösung im Sinne aller zu finden. Zu wünschen wäre dies.

131 Vgl OECD (2013), Addressing Base Erosion and Profit Shifting, OECD Publishing. 132 Europäische Kommission, Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über eine Gemeinsame konsolidierte Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage (GKKB), KOM(2011) 121/4.

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Die Rechtsstellung der Massegläubiger im Invsolvenzverfahren

SEBASTIAN KSIAZEK*

Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis ...................................................................................................... I. Einleitung ........................................................................................................... 138

II. Massegläubiger ................................................................................................. 138

A. Allgemeines ...................................................................................................... 138

1. Masseforderungen .................................................................................................... 138

2. Masseschuldner ........................................................................................................ 139

3. Abgrenzung zu Sondermasseforderungen ............................................................... 141

B. Befriedigung von Masseforderungen ................................................................. 142

1. Feststellung der Masseforderungen ......................................................................... 142

2. Pflichten des Masseverwalters ................................................................................. 144

a) Beschränkungen der Befugnisse des Masseverwalters ............................................ 144

b) Haftung des Masseverwalters .................................................................................. 145

3. Irrtümliche Behandlung einer Masseforderung als Insolvenzforderung ................. 145

C. Geltendmachung von Masseforderungen .......................................................... 147

1. Abhilfeantrag ............................................................................................................ 147

2. Klage .......................................................................................................................... 148

3. Exekutionsführung .................................................................................................... 150

III. Masseunzulänglichkeit ..................................................................................... 150

A. Allgemeines ...................................................................................................... 150

1. Begriff ........................................................................................................................ 150

2. Voraussetzungen für ein Vorgehen nach § 124a IO ................................................. 151

a) Anhängiges Insolvenzverfahren ................................................................................ 151

b) Unerfüllbarkeit der Masseforderungen .................................................................... 152

B. Probleme bei Liquiditätsengpässen ................................................................... 152

C. Auswirkungen der Masseunzulänglichkeit ......................................................... 153

1. Anzeige des Masseverwalters ................................................................................... 153

2. Bekanntmachung der Masseunzulänglichkeit .......................................................... 154

3. Zahlungsstopp ........................................................................................................... 154

D. Rechtsstellung der Neumassegläubiger ............................................................. 155

IV. Zusammenfassung ........................................................................................... 157

* Sebastian Ksiazek ist Student an der juridischen Fakultät der Universität Wien.

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I. Einleitung

Der vorliegende Aufsatz beschäftigt sich mit der Rechtsstellung der Massegläubiger im Insolvenzverfahren. Einleitend wird kurz Bezug zu Masseforderungen im Allgemeinen genommen und die Rechtsstellung des Masseschuldners erläutert. Danach befasst sich diese Arbeit insbesondere mit der Befriedigung und Geltendmachung von Masseforderungen. Hier wird vor allem untersucht, welche Pflichten den Masseverwalter bei der Befriedigung der Masseforderungen treffen, wie Masseforderungen festgestellt werden und welche Wirkungen eine irrtümliche Behandlung einer Masseforderung als Insolvenzforderung auslöst. In der Praxis stellen sich meist relativ komplexe Probleme, wenn die Insolvenzmasse nicht zur Befriedigung aller Masseforderungen ausreicht. Einige der damit zusammenhängenden Probleme, wie zB die Frage nach der korrekten Vorgangsweise des Masseverwalters bei Liquiditätsengpässen, werden in Kapitel III. unter Einbeziehung aktuellster Lehrmeinungen und Judikatur analysiert. Ziel dieser Arbeit ist es, dem Leser einen „groben Gesamtüberblick“ über die Rechtsdurchsetzungsmöglichkeiten von Massegläubigern zu geben, aber auch aufzuzeigen, wo in der Praxis häufig Probleme auftreten können und wie diese einerseits von Massegläubigern, andererseits von Masseverwaltern zu lösen sind.

II. Massegläubiger

A. Allgemeines

1. Masseforderungen

Die österreichische Insolvenzordnung kennt verschiedene Arten von Gläubigern, von denen unter anderem den Massegläubigern eine besondere Stellung im Insolvenzverfahren zukommt. Masseforderungen entstehen – im Gegensatz zu Insolvenzforderungen – grundsätzlich erst nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens. Aus § 47 Abs 1 und § 124 Abs 1 IO ergibt sich, dass „aus der Insolvenzmasse vor allem die Massegläubiger ohne Rücksicht auf den Stand des Verfahrens zu befriedigen sind“1. Dies bedeutet, dass Massegläubiger zwar nachrangig hinter Aus- und Absonderungsgläubigern, aber vorrangig gegenüber Insolvenzgläubigern Anspruch auf Befriedigung haben. Begründen lässt sich diese bevorrechtete Stellung der Massegläubiger insbesondere damit, dass Masseverwalter während des Insolvenzverfahrens Rechtsgeschäfte zur Verwaltung und Verwertung des Schuldnerunternehmens abschließen werden müssen und Gläubiger

1 Engelhart in Konecny/Schubert, Kommentar zu den Insolvenzgesetzen (48a. und 48b. Lfg; 2012) § 46 Rz 17.

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hierzu nur bereit sein werden, wenn ihnen hinsichtlich der Befriedigung ihrer Forderungen eine Privilegierung zukommt.2 § 46 IO enthält eine taxative Aufzählung von Masseforderungen; danach gehören die Kosten des Insolvenzverfahrens (Z 1), alle Auslagen, die mit der Erhaltung, Verwaltung und Bewirtschaftung der Masse verbunden sind (Z 2), Forderungen der Arbeitnehmer auf laufendes Entgelt nach Insolvenzeröffnung (Z 3), bestimmte Beendigungsansprüche (Z 3a), Ansprüche auf Erfüllung zweiseitiger Verträge bei Vertragseintritt des Masseverwalters (Z 4), alle Ansprüche aus Rechtshandlungen des Insolvenzverwalters (Z 5), die Ansprüche aus einer grundlosen Bereicherung der Masse (Z 6), die Kosten einer einfachen Bestattung des Schuldners (Z 7) und die Belohnung der bevorrechteten Gläubigerschutzverbände (Z 8) zu den Masseforderungen gem § 46 IO. Seit dem IRÄG 2010 zählen auch Rechtshandlungen des Schuldners im Sanierungsverfahren mit Eigenverwaltung, zu denen er gem § 171 IO berechtigt ist, zu den Masseforderungen (§ 174 IO).3 Aufgrund der undeutlichen Formulierung des Gesetzgebers in den Z 1 bis 5 des § 46 IO kann es unter anderem zu Abgrenzungsschwierigkeiten zwischen den einzelnen Masseforderungen kommen;4 tritt der Masseverwalter beispielsweise in einen bestehenden Vertrag ein, um die Insolvenzmasse zu erhalten, verwalten und zu bewirtschaften, so stellt dies zweifelsfrei eine Rechtshandlung des Masseverwalters dar. Die Eingliederung der Forderungen unter die Z 2, 4 und 5 hat praktisch jedoch keine besondere Bedeutung, da diese Forderungen nach § 47 Abs 2 IO im selben Rang stehen5 und deshalb im Falle des Eintritts einer Masseinsuffizienz quotenmäßig befriedigt werden. Wie bereits erwähnt, entstehen Masseforderungen grundsätzlich erst nach Insolvenzeröffnung. Von diesem Grundsatz gibt es aber aus rechts- oder sozialpolitischen Gründen auch Ausnahmen; so werden die Kosten der Inventarserrichtung, Erfüllungsansprüche für bereits vor Insolvenzeröffnung erbrachte Leistungen im Fall des § 46 Z 4 IO und Bestattungskosten nach § 46 Z 7 ebenfalls zu den Masseforderungen gezählt.6 2. Masseschuldner

Die Frage, wer Schuldner der Masseforderungen sei, wurde in der Lehre teils uneinheitlich beantwortet. Einigkeit besteht jedenfalls darüber, dass bei vor Insolvenzeröffnung entstandenen Masseforderungen der bisherige Schuldner Träger seiner Verbindlichkeiten bleibt und den

2 vgl Hefermehl in Kirchhof/Stürner/Eidenmüller, Münchner Kommentar zur Insolvenzordnung, §

53 IO Rz 1. 3 Engelhart in Konecny/Schubert, KO § 46 Rz 18.

4 Engelhart in Konecny/Schubert, KO § 46 Rz 46.

5 Engelhart in Konecny/Schubert, KO § 46 Rz 46.

6 Engelhart in Konecny/Schubert, KO § 46 Rz 17.

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Massegläubigern mit seinem gesamten Vermögen haftet.7 Gleiches gilt auch dann, wenn der Masseverwalter in einen Vertrag gem § 21 IO eintritt;8 eine Beschränkung der Haftung auf die Insolvenzmasse wäre in diesem Fall deshalb unangebracht, da der Vertragspartner sich den Schuldner und dessen Haftungsrisiko noch vor Insolvenzeröffnung ausgesucht hat und der Schuldner ohne Insolvenzeröffnung ohnehin für seine persönlichen Schulden gehaftet hätte. Nach Bachmann9 steht sowohl den Insolvenzgläubigern als auch jenen Massegläubigern, deren Forderungen vor Insolvenzeröffnung entstanden sind, die Möglichkeit zu, ihre Forderungen gegen zwei in einem Solidarschuldverhältnis stehende Schuldner, nämlich gegen die Insolvenzmasse einerseits sowie den bisherigen Schuldner andererseits, sofern dieser nicht zur Masse gehöriges Vermögen besitzt, geltend zu machen. Nach hA können Massegläubiger, deren Forderungen erst nach Insolvenzeröffnung entstanden sind, lediglich auf die Insolvenzmasse als Sondervermögen – vertreten durch den Insolvenzverwalter als deren Organ – zugreifen, nicht jedoch auf den Schuldner selbst und/oder sein insolvenzfreies Vermögen.10 Nach Aufhebung des Insolvenzverfahrens erlangt der Schuldner grundsätzlich wieder freie Verfügungsgewalt über sein Vermögen (§ 59 IO).11 Nun bestand in der Lehre ein Meinungsstreit darüber, in welchem Umfang der Schuldner für nach Aufhebung des Insolvenzverfahrens bestehende Masseforderungen haften soll. Konkrete Regelungen für diesen Fall hat der Gesetzgeber nicht geschaffen, da er der Ansicht war, dass Masseforderungen ohne Zutun des Schuldners entstehen und aus der Insolvenzmasse befriedigt werden sollen.12 Dies bedeutet aber nicht, dass der Schuldner für nach Insolvenzverfahrenseröffnung entstandene Masseforderungen gar nicht haften muss. Nach hA haftet der Schuldner für diese Forderungen beschränkt;13 strittig bleibt jedoch der Umfang, in welchem der Schuldner haften muss. In Lehre und Rsp wird überwiegend eine pro-viribus-Haftung des Schuldners angenommen, wonach dieser betragsmäßig mit dem Wert der aus der Insolvenzmasse ausgefolgten Gegenstände haftet.14 Nach einer Mindermeinung haftet der Schuldner mit den an ihn zurückgelangten Massestücken (cum-viribus-Haftung).15

7 Bachmann, Befriedigung der Masseforderungen 5; Jelinek/Nunner-Krautgasser in

Konecny/Schubert, KO § 60 Rz 10. 8 OGH 8 Ob 345/97m, ZIK 1998, 165.

9 Bachmann, Befriedigung 9 f.

10 Bachmann, Befriedigung 5 ff; Engelhart in Konecny/Schubert, KO § 46 Rz 21.

11 OGH 9 ObA 9/06y, ZIK 2006/264, 201.

12 vgl Kaiserliche Verordnung über die Einführung einer Konkursordnung, einer

Ausgleichsordnung und einer Anfechtungsordnung samt Denkschrift (1914), 56. 13

OGH 8 Ob 2287/96y, ZIK 1998, 101. 14

Bachmann, Befriedigung 175; Jelinek/Nunner-Krautgasser in Konecny/Schubert, KO § 60 Rz 12 mwN 15

Jelinek/Nunner-Krautgasser in Konecny/Schubert, KO § 60 Rz 13.

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3. Abgrenzung zu Sondermasseforderungen

Grundsätzlich kann zwischen Masseforderungen, die aus der allgemeinen Insolvenzmasse und solchen, die aus einer Sondermasse zu befriedigen sind, unterschieden werden.16 Diese Unterscheidung lässt sich aus dem Wortlaut der §§ 47, 48 IO entnehmen, in denen es heißt, dass Masseforderungen vor allem aus der Insolvenzmasse, auf die sie sich beziehen, zu berichtigen sind und Absonderungsgläubiger Anspruch auf Befriedigung aus der Sondermasse haben. § 48 Abs 1 IO bestimmt, was unter Sondermasse zu verstehen ist; danach ist eine Sondermasse eine Sache des Schuldners, an der Absonderungsrechte bestehen.17 Nach vollständiger Befriedigung der Absonderungsgläubiger fließt der Rest der Sondermasse in die allgemeine Masse und steht sodann den Massegläubigern und Insolvenzgläubigern zur Befriedigung offen. Das Gesetz normiert jedoch in § 49 Abs 1 IO eine Ausnahme von der Regel, nach welcher Absonderungsgläubiger immer vor den Massegläubigern zu befriedigen sind. So sind aus der Sondermasse die Kosten der besonderen Verwaltung, Verwertung und Verteilung der Sondermasse als sog Sondermasseforderungen (bzw Sondermassekosten) vorrangig gegenüber den Absonderungsgläubigern zu befriedigen.18 Für die Qualifikation als Sondermasseforderung kommt es zunächst darauf an, dass sie den Tatbestand einer Masseforderung gem § 46 IO erfüllt, sich auf eine Sondermasse iSd § 48 Abs 1 IO bezieht und gem § 47 Abs 1 IO aus dieser Masse zu decken ist;19 zudem wird nach hL und jüngerer Rsp verlangt, dass die Sondermassekosten in einem sachlichen Zusammenhang20 mit dem Absonderungsgut stehen und die Sondermasse nicht entstanden wäre, wenn die Masseforderung nicht zur Insolvenzmasse gehörte und die dieser Masseforderung zugrunde liegende Maßnahme ex-ante betrachtet nicht unzweckmäßig war.21 Bezieht sich eine Masseforderung iSd § 46 IO auf eine Sondermasse gem § 48 Abs 1 IO, treffen die oben genannten Voraussetzungen aber auf sie nicht zu, so hat sie den Absonderungsgläubigern gegenüber nachrangig aus der Sondermasse befriedigt zu werden. Aus alldem ergibt sich eine Teilung der Sondermasseforderungen in zwei Arten, nämlich jene, die gegenüber den Absonderungsgläubigern eine vorrangige Befriedigung genießen und jene, die eine nachrangige Befriedigung erfahren.22

16

Bachmann, Befriedigung 45. 17

Riel, Was sind Sondermasseforderungen? Zur Verteilung einer Sondermasse im Konkurs, ZIK

2004/235, 182. = Konecny in Konecny, Insolvenz-Forum 2004, 181. 18

Engelhart in Konecny/Schubert, KO § 47 Rz 6. 19

Schulyok in Konecny/Schubert, KO § 49 Rz 1. 20

Schulyok in Konecny/Schubert, KO § 49 Rz 1; 21

OGH 8 Ob 113/06k, ZIK 2007/94, 55; vgl dazu Riel, Nochmals: Was sind Sondermasseforderungen? ZIK 2007/63, 39. 22

so auch Bachmann, Befriedigung 95.

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B. Befriedigung von Masseforderungen

1. Feststellung der Masseforderungen

§ 124 Abs 1 IO zufolge sind feststehende und fällige Masseforderungen ohne Rücksicht auf den Stand des Verfahrens zu berichtigen. Da Massegläubiger grundsätzlich nicht am Insolvenzverfahren teilnehmen, hat auch keine Prüfung und Feststellung ihrer Forderungen zu erfolgen;23 dies ergibt sich schon aus dem Wortlaut des § 102 IO, der nur die Geltendmachung von Insolvenzforderungen in einem Insolvenzverfahren vorsieht. Die Befriedigung der Masseforderungen findet deshalb im Allgemeinen nur zwischen dem Masseverwalter und dem Massegläubiger – dh, meist auch ohne Kenntnis des Insolvenzgerichts – statt, sodass der Masseverwalter entscheiden kann, welche Masseforderung er bezahlt und welche nicht.24 Bei der Befriedigung hat der Masseverwalter lediglich die ziffernmäßig bekannten und bereits fälligen Forderungen zu beachten,25 was zur Folge hat, dass nachträglich entstehende Forderungen nicht beachtet werden müssen und für diese auch kein Deckungsfonds geschaffen werden darf, was insbesondere für die Masseverwalterentlohnung von Bedeutung ist.26 Dies mag auf den ersten Blick radikal erscheinen, wird aber damit begründet, dass Massegläubiger in ihrem Vertrauen auf das Fälligkeitsprinzip geschützt werden müssen, weil sie sehenden Auges Rechtsgeschäfte mit dem insolventen Unternehmen abgeschlossen haben und schon deshalb kein Kreditrisiko auf sich nehmen wollen.27 ME ist dieser Argumentation zu folgen, da es unzweckmäßig wäre, wenn der Masseverwalter noch nicht fällige Forderungen mitbeachten würde, da er in diesem Sinne wohl primär seine eigenen Entgeltansprüche absichern wollen würde, was zu einer unzureichenden Befriedigung der sonstigen Massegläubiger führen könnte. Zudem kann es bei „großen Insolvenzen“ vorkommen, dass der Masseverwalter nur einen schweren Überblick darüber hat, wann bestimmte Masseforderungen fällig werden. Die Beachtung bloß fälliger Masseforderungen durch den Masseverwalter erfährt jedoch dann eine Ausnahme, wenn nicht genügend Massemittel zur Befriedigung aller Masseforderungen vorhanden sind. Zusammenfassend hat der Masseverwalter also zu prüfen, ob die Forderung tatsächlich besteht, ziffernmäßig bestimmt ist, fällig ist und ob ihr der Rang einer Masseforderung iSd § 46 IO zukommt.28 Das Vorliegen dieser Voraussetzungen bedeutet jedoch nicht, dass ein Anerkenntnis dieser Forderung iSd § 109 Abs 1 IO vorliegt. Während es sich beim Anerkenntnis des Masseverwalters nach § 109 Abs 1 IO um eine gerichtliche Prozesserklärung handelt, auf welche die Regeln des Privatrechts keine Anwendung finden, handelt es sich bei der

23

Dellinger/Oberhammer, Insolvenzrecht2 (2004) Rz 268.

24 Dellinger/Oberhammer, Insolvenzrecht

2 (2004) Rz 268.

25 Kodek in Bartsch/Pollak/Buchegger, Österreichisches Insolvenzrecht, Band IV § 124 Rz 7.

26 Kodek in Buchegger, InsR IV § 124 Rz 7 mwN.

27 Konecny, Masseunzulänglichkeit und fehlende Liquidität, ZIK 2003/4, 10 f.

28 Bachmann, Befriedigung 51.

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Anerkennung einer Masseforderung um ein konstitutives Anerkenntnis.29 Das konstitutive Anerkenntnis als Feststellungsvertrag hat den Zweck, Streitigkeiten oder Zweifel über den Bestand oder den Umfang eines Rechts durch einseitiges Nachgeben des Schuldners zu beseitigen.30 Da § 46 IO zwingendes Recht darstellt, bedeutet dies aber zugleich, dass eine Konkursforderung durch Rechtsgeschäft zwischen Gläubiger und Schuldner – gleichgültig, ob dieses noch vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens mit dem Schuldner oder erst während des Insolvenzverfahrens mit dem Masseverwalter – oder durch Anerkennung der Forderung vonseiten des Masseverwalters – nicht zu einer Masseforderung gemacht werden kann31. Massegläubiger können aber in einem gewissen Rahmen frei über ihre Forderungen verfügen. So haben sie beispielsweise die Möglichkeit, auf ihre Forderung rechtswirksam zu verzichten oder aber Vereinbarungen über Befriedigungsausmaß, Befriedigungsrang oder zeitliche Befriedigungsreihenfolge zu treffen.32 Der Verzicht auf ein Forderungsrecht ist alleine deshalb möglich, da sich dadurch die Befriedigungssituation der restlichen Gläubiger verbessert. Ein solcher Verzicht kann grundsätzlich formlos erfolgen, bedarf aber – sofern es sich um einen unentgeltlichen Verzicht handelt – der Zustimmung des Schuldners bzw Masseverwalters.33 Bachmann34 führt mE aber zutreffend an, dass Massegläubigern kein Wahlrecht dahingehend zusteht, entweder als Massegläubiger oder aber – zB nach Verzicht auf ihre „Vorrechte“ – als Insolvenzgläubiger am Verfahren teilnehmen zu können. Folgt man nämlich der Auffassung,35 dass Massegläubigern ein solches Wahlrecht zusteht, so führt dies dazu, dass den nunmehrigen Insolvenzgläubigern Rechte zukommen würden, die sie zuvor als Massegläubiger gar nicht hatten. Die Konsequenz eines solchen Wahlrechts wäre vor allem im Falle der Aufhebung des Insolvenzverfahrens aufgrund von Masseinsuffizienz beachtlich, da der Schuldner Insolvenzgläubigern gegenüber grundsätzlich unbeschränkt haftet, Massegläubigern gegenüber jedoch nur beschränkt.36 Gläubiger würden somit bei Eintritt von Masseunzulänglichkeit und vorhersehbarer Aufhebung des Insolvenzverfahrens haufenweise auf ihre Rechte aus Masseforderungen verzichten, um die Stellung eines Insolvenzgläubigers zu erlangen und dadurch auf einen unbeschränkten Haftungsfonds

29

Heidinger in Schwimann, Praxiskommentar zum ABGB3 (2006) § 1375 Rz 21 f; dazu auch OGH 9

ObA 50/12m, ZIK 2013/64, 42 (Kolland). 30

Koziol/Welser, Bürgerliches Recht II13

(2007) 115. 31

OGH 5 Ob 312/79, SZ 52/150 32

Bachmann, Befriedigung 78. 33

Dullinger, Schuldrecht Allgemeiner Teil4 (2010) Rz 4/51; Heidinger in Schwimann, ABGB

3 § 1444

Rz 3 ff mwN. 34

Bachmann, Befriedigung 79. 35

so zB Bartsch in Bartsch/Pollak, Konkurs-, Ausgleichs-, Anfechtungsordnung, Einführungsverordnung und Geschäftsaufsichtsgesetz

3 I § 46, 47 Anm 55, der davon spricht, dass

„in der bewussten Geltendmachung als Konkursforderung durch den Gläubiger ein Verzicht auf die Geltendmachung als Masseforderung“ liegt. 36

Bachmann, Befriedigung 79.

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zugreifen zu können. Dem kann natürlich entgegengehalten werden, dass sowohl Masseverwalter als auch Schuldner dem Verzicht – wie bei Bestreitung einer irrtümlich als Insolvenzforderung geltend gemachten Masseforderung – nicht zustimmen müssen, wodurch es zu keiner Änderung der Rechtsstellung des Massegläubigers kommen würde und die oben beschriebenen Konsequenzen ausblieben. Forderungen, die bereits durch ein Gericht oder eine Verwaltungsbehörde festgestellt wurden, müssen vom Masseverwalter nicht mehr festgestellt werden.37 Zu den gerichtlich festzustellenden Forderungen zählen unter anderem die Ansprüche des Masseverwalters auf Entlohnung sowie Ersatz seiner Barauslagen iSd § 125 Abs 1 IO, die Ansprüche des Gläubigerausschusses (§ 126 IO) wie auch der Gläubigerschutzverbände (§ 127 Abs 1 IO) auf deren Barauslagenersatz, außerdem die Prozesskosten des Masseverwalters sowie die durch das (Exekutions-)Gericht bestimmten Kosten der Verwertung und Verteilung einer Sondermasse nach § 49 Abs 1 IO.38 Von den Verwaltungsbehörden werden hingegen jene die Masse treffenden Steuern, Gebühren, Beiträge zur Sozialversicherung und sonstige öffentliche Abgaben festgestellt.39 2. Pflichten des Masseverwalters

Grundsätzlich ist der Masseverwalter zur Vornahme aller Rechtshandlungen mit Dritten, die seine Amtsobliegenheiten mit sich bringen, befugt. Die für Massegläubiger wohl bedeutendste Pflicht des Masseverwalters liegt darin, deren geprüfte und anerkannte Forderungen bei Fälligkeit sofort zu befriedigen. Nach § 124 Abs 2 IO hat der Masseverwalter dafür zu sorgen, dass die erforderlichen Beträge rechtzeitig verfügbar sind. Als „Beträge“ ist nicht nur Geld, sondern sind alle Befriedigungsmittel im Allgemeinen zu verstehen.40 a) Beschränkungen der Befugnisse des Masseverwalters

§ 83 Abs 1 IO sieht vor, dass das Insolvenzgericht im Einzelfall die Befugnisse des Masseverwalters beschränken kann; gegenüber Dritten wirken solche Beschränkungen jedoch nur dann, wenn sie diesen vom Insolvenzgericht bekannt gemacht wurden. Der Masseverwalter darf aber nicht soweit in seinen Aufgaben beschränkt werden, als dadurch eine Funktionsverschiebung der Organe bewirkt wird, welche gegen die Grundsätze der Insolvenzordnung verstoßen würde, ebenso wenn durch den Beschluss des Insolvenzgerichts die Insolvenzverwaltung – unnötigerweise – hinausgezögert würde.41 Hat das Insolvenzgericht gegenüber Dritten die Bekanntmachung unterlassen und nimmt der

37

Bachmann, Befriedigung 53. 38

Bachmann, Befriedigung 44. 39

Bachmann, Befriedigung 45. 40

OGH 3 Ob 719/25, SZ 7/294. 41

Bachmann, Befriedigung 62 f.

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Masseverwalter sodann Rechtshandlungen mit ihnen vor, so sind diese Rechtshandlungen jedenfalls außenwirksam.42 Nur in den Fällen des § 117 IO sieht das Gesetz eigens vor, dass diese Geschäfte ohne Genehmigung durch den Gläubigerausschuss und das Insolvenzgericht gegenüber Dritten unwirksam sind. Will der Masseverwalter hingegen eine (strittige) Forderung von über € 100.000,- anerkennen, so hat er zuvor die Äußerung des Gläubigerschusses einzuholen und seine Absicht mindestens acht Tage im Vorhinein dem Insolvenzgericht mitzuteilen (§ 116 Abs 1 IO). Unterlässt er die Einholung der Äußerung des Gläubigerausschusses und die Mitteilung an das Insolvenzgericht, so bleibt – wie sich aus § 83 Abs 1 IO ergibt – das Geschäft gegenüber Dritten wirksam;43 gegen den Masseverwalter können allerdings Haftungsansprüche entstehen. Erteilt das Insolvenzgericht dem Masseverwalter nicht innerhalb von 8 Tagen ab Einlagen seiner Mitteilung bei Gericht eine Weisung, so kann er das Geschäft wirksam abschließen.44 b) Haftung des Masseverwalters

Masseverwalter unterliegen bei Ausübung ihrer Tätigkeit einem erhöhten Sorgfaltsmaßstab iSd § 1299 ABGB (vgl § 81 Abs 1 IO); sie haften allen Beteiligten für Vermögensnachteile, die sie durch pflichtwidrige Führung ihres Amtes verursacht haben. Als Beteiligte iSd § 81 Abs 3 IO kommen insbesondere auch Massegläubiger in Betracht,45 wenn der Masseverwalter seine Pflicht zur sofortigen Befriedigung ihrer Forderungen schuldhaft verletzt hat. Der im Prozess gegen den Masseverwalter obsiegende Gegner kann sich, sofern der Masseverwalter den Prozess angestrengt hat und für diesen nach Prüfung der Sach- und Rechtsklage erkennbar war, dass ein Prozesserfolg ausgeschlossen ist, bei Eintritt der Masseunzulänglichkeit an den Masseverwalter als Haftungssubjekt gem § 1295 Abs 2 ABGB halten.46 3. Irrtümliche Behandlung einer Masseforderung als Insolvenzforderung

Das Gesetz legt in den §§ 46, 51 IO zwingend fest, was einerseits unter Masseforderung und andererseits unter Insolvenzforderung zu verstehen ist. Wie bereits oben dargelegt, können Massegläubiger nur zum Teil über ihre Forderungen frei verfügen. Bei der Anmeldung einer Masseforderung muss grundsätzlich unterschieden werden, in welcher Form diese Anmeldung erfolgte. Wurde die Masseforderung ausdrücklich oder schlüssig als Masseforderung angemeldet, so ist die Anmeldung nach hA wegen Unzuständigkeit des Insolvenzwegs vom

42

Bachmann, Befriedigung 63. 43

Mohr, Insolvenzrecht 2002 (2002) 75. 44

Mohr, Insolvenzrecht 2002, 77. 45

Hierzenberger/Riel in Konecny/Schubert, KO § 81 Rz 21 mwN. 46

OGH 2 Ob 154/07x, ZIK 2007/333, 207 = RdW 2008/111, 148; vgl Hierzenberger/Riel in Konecny/Schubert, KO § 81 Rz 21 mwN.

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Insolvenzgericht zurückzuweisen.47 § 102 IO erwähnt ausdrücklich, dass nur Insolvenzgläubiger ihre Forderungen im Insolvenzverfahren geltend zu machen haben. Aus diesem Grund darf auch nach Ablauf der Anmeldefrist keine nachträgliche Prüfungstagsatzung anberaumt werden, sodass Massegläubigern auch nicht die Zahlung der Pauschalgebühr dafür auferlegt werden darf.48 Wurde eine solche Forderung irrtümlich in das Anmeldungsverzeichnis eingetragen, so hat dies bloß im Hinblick auf den Grund und die Höhe der Forderung, nicht jedoch auf ihre Rechtsqualität Auswirkungen;49 sie bleibt weiterhin eine Masseforderung, weshalb auf sie auch nicht die für Insolvenzforderungen geltenden Bestimmungen anwendbar sind.50 Eine Zurückweisung der Anmeldung darf aber dann nicht erfolgen, wenn eine Masseforderung irrtümlich – oder bei Zweifeln über ihre Rechtsqualität51 – als Insolvenzforderung angemeldet wird, was insbesondere dann anzunehmen ist, wenn ein Massegläubiger in keiner Weise darauf hinweist, dass er seine Forderung als Masseforderung geltend machen will.52 In diesem Fall ist über die irrtümlich als Insolvenzforderung angemeldete Masseforderung im Prüfungsverfahren nach den §§ 102 ff IO zu entscheiden, wobei sie mit der Begründung bestritten werden kann, dass keine Insolvenzforderung vorliegt.53 Wird die Forderung nicht bestritten, so stehen dem Massegläubiger die mit einer Forderungsfeststellung erworbenen Teilnahmerechte zu;54 diese Tatsache sieht der OGH in einem gewissen Ausmaß als vernachlässigbar an, weil – aufgrund der Fehleranfälligkeit, die das Prüfungsverfahren insbesondere bei einer großen Anzahl von zum Teil wenig aussagekräftigen Forderungen mit sich bringt – auch nicht existierenden Forderungen diese Teilnehmerechte zukommen können.55 Nach hA in Lehre und Rsp steht einer als Insolvenzforderung festgestellten Masseforderung die Geltendmachung als Masseforderung nichts im Wege.56 Kodek57 begründet dies mit der Annahme, dass die Geltendmachung einer Insolvenzforderung gegenüber der Geltendmachung als Masseforderung ein „minus“ darstelle, weil Insolvenzgläubigern bekanntlich nur eine quotenmäßige Befriedigung aus der Masse zukommt, Massegläubigern dagegen eine gänzliche Befriedigung. Dagegen wird in der Lehre mE zutreffend angeführt, dass

47

Konecny in Konecny/Schubert, KO § 102 Rz 24 48

OLG Wien 21.07.2007, 28 R 94/07k, ZIK 2007/283, 171. 49

OGH 9 ObA 50/12m, ZIK 2013/93, 64. 50

Konecny in Konecny/Schubert, KO § 102 Rz 24. 51

OGH 9 ObA 50/12m, ZIK 2013/93, 62; vgl dazu Kolland, Anerkenntnis- und Forderungsfeststellung – Rechtsnatur und Wirkungen, ZIK 2013/64, 42. 52

Konecny in Konecny/Schubert, KO § 102 Rz 25. 53

Konecny in Konecny/Schubert, KO § 102 Rz 25; Kodek in Buchegger, InsR IV § 124 Rz 22. 54

Konecny in Konecny/Schubert, KO § 102 Rz 25. 55

Kolland, Forderungsfeststellung, ZIK 2013/64, 44. 56

OGH 9 ObA 50/12m, ZIK 2013/93, 64; OGH 8 Ob 22/94, ZIK 1996, 25; Kodek in Buchegger, InsR IV § 124 Rz 24 mwN. 57

Kodek in Buchegger, InsR IV § 124 Rz 24 mwN.

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die Insolvenzquote in jedem Verfahren potentiell 100 % betragen kann und jeder Insolvenzgläubiger diese Quote grundsätzlich auch begehrt.58 Konecny vertritt die Ansicht, dass Massegläubiger erst nach Rückzug der Forderungsanmeldung die Befriedigung nach § 124 IO verlangen können59 Die Anmeldung einer Insolvenzforderung als Masseforderung wird nach hA als „aliud“ iSd § 405 ZPO angesehen.60 Zusammenfassend bedeutet dies, dass Massegläubiger bedenkenlos ihre Forderungen auch als Insolvenzforderungen anmelden können. Der Masseverwalter oder das Insolvenzgericht haben nach Prüfung der Forderungen die Möglichkeit, falsch angemeldete Forderungen zurückzuweisen; unterbleibt die Zurückweisung und wird die Masseforderung als Insolvenzforderung im Anmeldungsverzeichnis eingetragen, so ändert sich an ihrer Rechtsqualität nichts, sie bleibt also weiterhin eine Masseforderung und kann auch als solche geltend gemacht werden.

C. Geltendmachung von Masseforderungen

1. Abhilfeantrag

Nach § 124 Abs 3 IO können Massegläubiger sich bei Verweigerung oder Verzögerung der Leistungen an das Konkursgericht um Abhilfe wenden oder ihre Ansprüche mit Klage gegen den Masseverwalter geltend machen. Aus dem Gesetzeswortlaut („oder“) ergibt sich, dass Massegläubigern die Geltendmachung ihrer Forderungen mittels Klage nur alternativ zusteht, sie also nicht beide Wege nebeneinander in Anspruch nehmen können.61 Eine parallele Geltendmachung mittels Klage und Abhilfeantrag ist deshalb nicht möglich, um widersprechenden Ergebnissen aufgrund desselben Anspruchs vorzubeugen.62 Weist das Insolvenzgericht den Abhilfeantrag des Massegläubigers ab, so steht ihm jedoch weiterhin die Klage offen, auch wenn dies vom Insolvenzgericht nicht ausdrücklich ausgesprochen wurde.63 Das Insolvenzgericht entscheidet über den Abhilfeantrag nach pflichtgemäßen Ermessen, hat aber bei unzweifelhafter Sach- und Rechtslage – so etwa, wenn der Massegläubiger durch unbedenkliche Urkunden den Bestand seiner Forderung nachweisen kann – dem Masseverwalter die Befriedigung der unstrittigen Masseforderung aufzutragen.64 Das Insolvenzgericht ist grundsätzlich selbst in der Lage, streitige Tat- und Rechtsfragen zu klären und hierfür alle zur Beurteilung notwendigen Beweise zu sammeln (§ 254 Abs 5 IO). Ist die Sach- und Rechtslage aber derart zweifelhaft, dass zu ihrer Aufklärung aufwendige Erhebungen notwendig sind, so hat das Insolvenzgericht den Massegläubiger auf den streitigen Rechtsweg zu

58

Kolland, Forderungsfeststellung, ZIK 2013/64, 43 f. 59

Konecny in Konecny/Schubert, KO § 102 Rz 25 mwN. 60

OGH 8 Ob 10/93, ZIK 1996, 97. 61

Bachmann, Befriedigung 161. 62

Bachmann, Befriedigung 161. 63

Kodek in uchegger, InsR IV § 124 Rz 26 mwN. 64

Kodek in Buchegger, InsR IV § 124 Rz 28.

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verweisen.65 Voraussetzung für die Stattgebung des Abhilfeantrags ist jedenfalls, dass genügend liquide Mittel zur Berichtigung der Masseforderung vorhanden sind, dh, dass Deckungszulänglichkeit der Insolvenzmasse besteht66. Die Vorteile des Abhilfeantrags für den Massegläubiger liegen vor allem darin, dass er damit allfällige Kostenfolgen im Prozess vermeiden kann und das Verfahren über die Entscheidung des Abhilfeantrags einfach, rasch und nicht mit Kosten verbunden ist.67 Dies bedeutet aber nicht, dass Massegläubiger bei der Geltendmachung ihrer Forderungen eine Rangfolge beachten müssen. Es steht ihnen frei, statt des Abhilfeantrags eine Klage einzubringen, um so zu ihrem Recht zu kommen. Bei dieser Vorgangsweise hat der Massegläubiger aber zu beachten, dass er mögliche Kostenfolgen zu tragen hat, falls seine Forderung gem § 45 ZPO sofort anerkannt wird, da aufgrund der Möglichkeit des Abhilfeantrags die Klage als nicht zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendig iSd § 41 ZPO anzusehen ist.68 Die Entscheidung des Insolvenzgerichts erfolgt mittels Weisung an den Insolvenzverwalter, andernfalls hat es den Abhilfeantrag abzuweisen.69 Bachmann70 zufolge kann das Insolvenzgericht dem Masseverwalter

analog zu § 409 ZPO iVm § 171 IO eine Leistungsfrist auftragen. Er begründet

dies damit, dass der Zweck einer Leistungsfrist unter anderem darin besteht, dem Schuldner (Masseverwalter) die Chance zu geben, innerhalb einer letzten Frist freiwillig leisten zu können, da er vor rechtskräftiger Entscheidung des Gerichts möglicherweise von der Rechtmäßigkeit seines Verhaltens überzeugt war. 2. Klage

Massegläubiger unterliegen hinsichtlich der Geltendmachung ihrer Forderungen im Insolvenzverfahren keinen Beschränkungen, sodass sie ihre Forderungen grundsätzlich während des gesamten Insolvenzverfahrens im dafür vorgesehenen Weg geltend machen können.71 Der Wortlaut des § 124 Abs 3 IO lässt zu der irrigen Auffassung verleiten, dass allen Massegläubigern die Geltendmachung ihrer Forderung im Klageweg zusteht. Dies ist jedenfalls nicht bei jenen Masseforderungen der Fall, die im außerstreitigen Verfahren oder im Verwaltungsweg geltend zu machen sind oder bereits im Vorhinein einer gerichtlichen Bemessung unterliegen, wie etwa das Masseverwalterentgelt oder die Kosten der Verwertung und Verteilung einer Sondermasse.72 Die Entscheidung über eine nicht auf dem

65

Kodek in Buchegger, InsR IV § 124 Rz 28. 66

Bachmann, Befriedigung 155; Kodek in Buchegger, InsR IV § 124 Rz 29 mwN. 67

Kodek in Buchegger, InsR IV § 124 Rz 30. 68

Kodek in Buchegger, InsR IV § 124 Rz 30. 69

Bachmann, Befriedigung 156. 70

Bachmann, Befriedigung 157. 71

Kodek in Buchegger, InsR IV § 124 Rz 35. 72

Bachmann, Befriedigung 139.

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streitigen Rechtsweg geltend zu machende Masseforderung steht nur dem Insolvenzgericht zu, wobei ein von einer anderen Behörde erlassener rechtskräftiger Leistungsbefehl sowohl den Masseverwalter als auch das Insolvenzgericht bindet und dieser Bescheid durch den Masseverwalter nur im Verwaltungsweg bekämpft werden kann.73 Die Klage hat sich gegen die Insolvenzmasse – bzw gegen den Masseverwalter als deren Organ – zu richten.74 Gem § 373 Abs 2 ZPO können im streitigen Verfahren der Schuldner oder der Masseverwalter oder aber beide nebeneinander als Partei vernommen werden. Strittig ist, ob anderen Massegläubigern, Insolvenzgläubigern oder dem Schuldner selbst das Recht zur Nebenintervention zukommt. Klar ist, dass dem Schuldner selbst das Recht, sich am Verfahren als Nebenintervenient zu beteiligen, nicht zukommt, weil dies bei einer streitgenössischen Nebenintervention mit § 6 IO – also dem Verlust seiner Prozessfähigkeit – unvereinbar wäre, bei einer einfachen Nebenintervention hingegen die Insolvenzmasse durch den Schuldner belastet werden könnte, da der Schuldner hierbei nicht zur Kostentragung verurteilt werden dürfe, sondern die unterstützte Partei dafür aufzukommen hätte.75 Kodek76 lehnt auch eine Nebenintervention anderer Insolvenz- oder Massegläubiger ab, da diese vor allem ein wirtschaftliches, aber kein rechtliches Interesse am Obsiegen der anderen Prozesspartei haben. Bachmann77 vertritt hierbei eine Gegenansicht und unterstellt – unter Bezugnahme auf ältere Lehrmeinungen – sowohl den Konkursgläubigern als auch den Massegläubigern ein rechtliches Interesse am Obsiegen der anderen Prozesspartei. ME ist Kodek zu folgen, da das wesentliche Interesse der sonstigen Insolvenz- und Massegläubiger darin liegt, dass sich ihre Befriedigungssituation nicht verschlechtert. Wird der Klage stattgegeben, so ist der Masseverwalter zur „Zahlung binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution“, nicht aber etwa zur „Zahlung nach Maßgabe der Bestimmungen der Insolvenzordnung“ zu verurteilen, da letztere Formulierung dazu führen würde, dass dem Massegläubiger jedwede exekutive Durchsetzung seiner Forderung genommen wäre und sein Urteil auf das eines Feststellungsurteils reduziert würde;78 ihm bliebe sodann nur mehr die Möglichkeit der Stellung eines Abhilfeantrags, welcher ihm aber keinen Exekutionstitel verschaffen würde. Massegläubiger können unter den Voraussetzungen des § 228 ZPO, also bei Vorliegen der Feststellungsfähigkeit des Rechtsverhältnisses und des

73

Kodek in Buchegger, InsR IV § 124 Rz 38. 74

Kodek in Buchegger, InsR IV § 124 Rz 39; Bachmann, Befriedigung 140. 75

Petschek/Reimer/Schiemer, Das österreichische Insolvenzrecht (1973), 496 f. (zitiert nach Bachmann, Befriedigung der Masseforderungen, 142.) 76

Kodek in Buchegger, InsR IV § 124 Rz 39. 77

Bachmann, Befriedigung 141. 78

Bachmann, Befriedigung 143 mwN.

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rechtlichen Interesses des Massegläubigers an der alsbaldigen Feststellung dieses Rechtsverhältnisses, mit Feststellungsklage gegen die Behauptung des Masseverwalters, dass es sich bei der Forderung des Gläubigers um keine Masseforderung handle, vorgehen.79 Der Masseverwalter kann hingegen mittels negativer Feststellungsklage feststellen lassen, dass eine Masseforderung nicht zu den vorrangig zu befriedigenden Forderungen iSd § 46 IO zählt.80 3. Exekutionsführung

§ 124 Abs 3 IO normiert die Exekutionsführungsmöglichkeit der Massegläubiger zwar nicht ausdrücklich, doch ergibt sich dies schon aufgrund der in lex cit normierten Möglichkeit der Einbringung einer Leistungsklage. Würde den Massegläubigern die Möglichkeit zur Zwangsvollstreckung nicht gewährt werden, so wären sie in ihrem Rechtsschutz massiv beeinträchtigt. Die Exekutionsführung kommt – ebenso wie das Streitverfahren – grundsätzlich nur alternativ, nicht jedoch neben einem Abhilfeantrag in Betracht.81 Als Exekutionstitel kommen insbesondere Endurteile und andere in Streitsachen ergangene Urteile, Beschlüsse und Bescheide iSd § 1 Z 1 EO, Beschlüsse der Zivilgerichte in außerstreitigen Rechtssachen gem § 1 Z 6 EO, Entscheidungen der Verwaltungsbehörden über privatrechtliche Ansprüche iSd § 1 Z 10 EO und Beschlüsse der Insolvenzgerichte gem § 1 Z 7 EO in Betracht.82 Reicht die Masse nicht aus, um alle Masseforderungen zu befriedigen, so kann der Masseverwalter diesen Einwand nach mittlerweile hL und Rsp im Vollstreckungsverfahren mit Impugnationsklage geltend machen.83

III. Masseunzulänglichkeit

A. Allgemeines

1. Begriff

Zahlreiche Probleme stellen sich in der Praxis häufig dann, wenn die verfügbaren Massemittel lediglich zur Deckung der Verfahrenskosten, nicht jedoch zur Befriedigung aller Masseforderungen ausreichen. Man spricht in diesem Zusammenhang von Masseunzulänglichkeit, Masseinsuffizienz, Massearmut oder auch vom Konkurs im Konkurs, weil die grundsätzlich voll zu befriedigenden Massegläubiger nicht mehr zur Gänze befriedigt werden können.84 Aus der Bezeichnung „Konkurs im

79

Kodek in Buchegger, InsR IV § 124 Rz 41; Rechberger/Klicka in Rechberger (Hrsg), Kommentar zur ZPO, Jurisdiktionsnorm und Zivilprozessordnung samt den Einführungsgesetzen

3 (2006) § 228

Rz 2. 80

Kodek in Buchegger, InsR IV § 124 Rz 42 mwN; OGH 26.02.2004, 8 Ob 153/03p 81

Kodek in Buchegger, InsR IV § 124 Rz 44. 82

Bachmann, Befriedigung 148. 83

Dullinger in Burgstaller/Deixler-Hübner, Kommentar zur Exekutionsordnung § 35 Rz 67 mwN. 84

Bachmann, Befriedigung, 112 ff; Konecny, Masseunzulänglichkeit und ihre Folgen, in Konecny, Insolvenz-

Forum 2002 (2003) 62.

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Konkurs“ darf jedoch nicht darauf geschlossen werden, dass auf die Massegläubiger Normen betreffend die Insolvenzgläubiger anwendbar sind.85 Bis zur Insolvenzrechts-Novelle 200286 waren die in einem Spannungsverhältnis stehenden §§ 47 Abs 2, 124 Abs 1 KO die einschlägigen Normen zur Lösung von aufgrund der Masseunzulänglichkeit eintretenden Problemen. Hiernach sieht § 47 Abs 2 IO für den Fall, dass die Masseforderungen nicht vollständig befriedigt werden können, vor, dass diese rangmäßig und innerhalb eines Ranges quotenmäßig befriedigt werden sollen. § 124 Abs 1 IO normiert hingegen die sofortige Befriedigung der Masseforderungen nach dem Fälligkeitsprinzip. In der stRsp kam bislang dem § 124 Abs 1 IO der Vorrang zu, da eine verhältnismäßige Befriedigung iSd § 47 Abs 2 IO nur bei feststehenden und fälligen Masseforderungen erfolgte, während nicht feststehende und fällige Masseforderungen nicht berücksichtigt wurden, selbst wenn sie entstanden sind oder beispielsweise am nächsten Tag fällig wurden.87 Zur Lösung dieses Spannungsverhältnisses schuf der Gesetzgeber mit der InsNov 2002 den § 124a KO. Danach hat der Masseverwalter, sofern die Insolvenzmasse zur Befriedigung der Masseforderungen nicht mehr ausreicht, dies dem Insolvenzgericht sofort anzuzeigen und mit der Befriedigung der Massegläubiger innezuhalten. Er darf jedoch weiterhin solche Rechtshandlungen vornehmen, die zur Verwaltung und Verwertung geboten sind, wobei die daraus resultierenden (Neu-)Masseforderungen sofort zu befriedigen sind. Das Insolvenzgericht hat die Anzeige der Masseunzulänglichkeit öffentlich bekannt zu machen. Dadurch wird für sog Altmasseforderungen, dh Forderungen, die vor Eintritt der Masseunzulänglichkeit entstanden sind, eine Exekutionssperre ausgelöst.88 Nach Verwertung ist dem Insolvenzgericht durch den Masseverwalter ein Verteilungsentwurf iSd § 47 Abs 2 IO vorzulegen und nach Verteilung gem dieses Entwurfes das Insolvenzverfahren aufzuheben. Bei Wegfall der Masseunzulänglichkeit hat der Masseverwalter dies dem Insolvenzgericht unverzüglich anzuzeigen und wieder mit der Befriedigung aller Masseforderungen nach dem Fälligkeitsprinzip iSd § 124 Abs 1 IO vorzugehen. 2. Voraussetzungen für ein Vorgehen nach § 124a IO

a) Anhängiges Insolvenzverfahren

Ein Vorgehen gem § 124a IO ist von der Insolvenzeröffnung an bis zur rechtskräftigen Konkursaufhebung möglich.89 Wie schon Konecny90 unter Bezugnahme auf ein Insolvenzverfahren, in welchem die Masseunzulänglichkeit bereits eine Woche nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens angezeigt wurde, darlegte, erfolge die Anzeige der

85

Konecny in Konecny, Insolvenz-Forum 2002, 66. 86

BGBl 2002/75 87

ErläutRV 988 BlgNr 21. GP 33. 88

Konecny in Konecny, Insolvenz-Forum 2002, 65. 89

Konecny in Konecny, Insolvenz-Forum 2002, 67. 90

Konecny in Konecny, Insolvenz-Forum 2002, 67.

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Masseunzulänglichkeit meist sehr rasch nach Insolvenzeröffnung. An dieser Situation hat sich in der Praxis bis dato (leider) nichts geändert.91 In solchen Fällen ist es meiner Meinung nach fraglich, ob ein Insolvenzverfahren überhaupt erst hätte eröffnet werden sollen. b) Unerfüllbarkeit der Masseforderungen

Nach § 124a Abs 1 IO liegt Masseunzulänglichkeit dann vor, wenn die Insolvenzmasse nicht ausreicht, um die Masseforderungen zu erfüllen.92 Ergibt eine sog „negative Konkursabwicklungsprognose“, dh eine Gegenüberstellung von Masse und – unter Bedachtnahme aller im weiteren Konkursverlauf wahrscheinlich entstehenden – Masseforderungen, dass die Masse nicht zur Befriedigung dieser Forderungen ausreicht, so liegt Masseunzulänglichkeit vor.93 Bei der Beurteilung der Masseunzulänglichkeit kommt es ausschließlich auf den Wert der Insolvenzmasse an und nicht darauf, in welcher Zeit die Masse verwertet werden kann.94 Hinsichtlich der für die Masseunzulänglichkeit maßgeblichen Masseforderungen führt Konecny95 mE zu Recht aus, dass nur die aus der allgemeinen Insolvenzmasse zu befriedigenden und auf Geldzahlung gerichteten Masseforderungen in die Konkursabwicklungsprognose einzubeziehen sind. Er führt richtigerweise aus, dass auf Naturalleistung gerichtete Ansprüche nicht in das Verteilungssystem des § 47 Abs 2 IO passen, da dies dazu führen könnte, dass der Masseverwalter bereits verkaufte aber noch nicht übergebene Gegenstände an Altmassegläubiger nicht aushändigen dürfte und erneut zu veräußern hätte. Dies kann keinesfalls Sinn und Zweck des § 124a IO sein.

B. Probleme bei Liquiditätsengpässen

Relativ Komplexe und in der Praxis besonders relevante Probleme stellen sich im Hinblick auf die Frage, wie der Masseverwalter bei Liquiditätsengpässen, also bei bloß vorübergehender Unmöglichkeit der Befriedigung aller Masseforderungen, vorzugehen hat. Der Vorteil der Vorgangsweise nach § 124a IO liegt für Masseverwalter vor allem darin, dass sie die Altmasseforderungen andrängender Massegläubiger bei Fälligkeit nicht mehr bezahlen müssen und die vorhandenen Massemittel zur weiteren Konkursabwicklung verwenden können.96 Nach hL97 erfasst der Wortlaut des § 124a IO einen endgültigen (und grundsätzlich einmaligen) Zustand der Masseunzulänglichkeit, nicht jedoch eine bloß vorübergehende Zahlungsunfähigkeit, selbst wenn diese länger als 60

91

vgl LG St. Pölten 14 S 102/12h; ebenso HG Wien 38 S 14/13f: In beiden Verfahren wurde die Masseunzulänglichkeit innerhalb von 5 Tagen ab Eröffnung des Konkursverfahrens angezeigt. 92

Reckenzaun/Petsch, Konkurs im Konkurs, ecolex 1991, 377. 93

Konecny, Insolvenz-Forum 2002, 67. 94

ErläutRV (FN 88) 33. 95

Konecny in Konecny, Insolvenz-Forum 2002, 68 f. 96

Konecny, Masseunzulänglichkeit und fehlende Liquidität, ZIK 2003/4, 8. 97

Mohr, Insolvenzrecht 2002, 81 mwN; Konecny, Liquidiät, ZIK 2003/4, 9.

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Tage anhält. Bereits Konecny98 kritisierte das in der Praxis auftretende Problem, dass – trotz Unvereinbarkeit mit dem Gesetzeswortlaut und –zweck des § 124a IO – Masseunzulänglichkeit häufig schon bei bloßen Zahlungsstockungen angezeigt werde. Dies ist vor allem auch an der relativen Häufigkeit der Anzeigen des Wegfalls der Masseunzulänglichkeit ersichtlich. Wie die derzeitigen Zahlen in der Insolvenzdatei zeigen, hat sich an dieser Praxis bislang nichts geändert. Im Zeitraum 1.1.2014 bis 1.7.2014 wurde in 427 Verfahren die Masseunzulänglichkeit angezeigt, in 44 dieser Verfahren wurde sodann der Wegfall der Masseunzulänglichkeit angezeigt. In nahezu allen Verfahren erfolgte die Anzeige des Wegfalls innerhalb der ersten zwei Monate nach Anzeige der Masseunzulänglichkeit.99 Diese Zahlen lassen eine unsachgemäße – weil allzu schnelle und leichtfertige – Vorgangsweise der Masseverwalter im Zusammengang mit der Anzeige der Masseunzulänglichkeit und deren Wegfalls nur vermuten, keinesfalls soll ihnen diese – schon aufgrund dessen, dass für den Leser in der Insolvenzdatei die Einzelumstände, die zur Masseunzulänglichkeit führten, nicht bekannt sind100 – ausdrücklich unterstellt werden. Liquiditätsengpässe sollten von Masseverwaltern aber grundsätzlich in der Form überbrückt werden, dass sie Massegläubiger durch sachliche Gespräche zu Stundungen überreden und ihre Forderungen bei Wegfall der Zahlungsstockung (mitsamt Verzugszinsen) bezahlen.101 Diese Vorgangsweise birgt für Massegläubiger zumindest nicht jene Gefahr, die sie bei einer exekutiven Vorgangsweise haben. Durch das Vorgehen der Massegläubiger könnte die Zahlungsstockung nämlich in eine (endgültige) Masseunzulänglichkeit umschlagen; hier müsste der Masseverwalter durch Anzeige der Masseunzulänglichkeit die Exekutionssperre herbeiführen und sodann die bereits begründeten Pfandrechte mittels Impugnationsklage bekämpfen.102

C. Auswirkungen der Masseunzulänglichkeit

1. Anzeige des Masseverwalters

Der Masseverwalter hat die Masseunzulänglichkeit dem Insolvenzgericht unverzüglich anzuzeigen, wobei es auf eine bestimmte Form nicht ankommt.103 Jedenfalls hat der Masseverwalter aber die Anzeige – insbesondere durch Angabe des Wertes der Insolvenzmasse einerseits und der entstandenen und künftig entstehenden bzw fällig werdenden Masseforderungen andererseits104 – zu begründen, damit das

98

Konecny, Liquidität, ZIK 2003/4, 9. 99

vgl LG Eisenstadt 26 S 35/14w: Hier erfolgte die Anzeige des Wegfalls bereits nach 9 Tagen; bemerkenswert ist auch der absolute Ausnahmefall in LG Salzburg 23 S 13/14b: Hier zeigte der Masseverwalter Anfang April die Masseunzulänglichkeit an, am 21.5. den Wegfall und fünf Tage darauf die erneute Masseunzulänglichkeit. 100

Konecny, Liquidität, ZIK 2003/8, 10. 101

Konecny, Liquidität, ZIK 2003/8, 12. 102

Konecny, Liquidität, ZIK 2003/8, 12 mwN. 103

Konecny in Konencny, Insolvenz-Forum 2002, 79. 104

Mohr, Insolvenzrecht 2002, 83.

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Insolvenzgericht erforderlichenfalls zumindest formal prüfen kann, ob tatsächlich Masseunzulänglichkeit vorliegt. 2. Bekanntmachung der Masseunzulänglichkeit

§ 124a Abs 2 IO normiert, dass das Insolvenzgericht die Masseunzulänglichkeit öffentlich bekannt zu machen hat. Die öffentliche Bekanntmachung erfolgt mittels Eintragung in die Insolvenzdatei. Mohr105 vertritt hierbei die Ansicht, dass das Insolvenzgericht bei der Bekanntmachung der Masseunzulänglichkeit deren tatsächliches Bestehen nicht zu prüfen hat, sondern erst nach Stellung eines Abhilfeantrags durch den Massegläubiger dazu verpflichtet ist. Konecny106 führt hierzu die Gegenansicht aus, nach welcher das Insolvenzgericht immer Herr des Verfahrens ist und zur Prüfung, ob Masseunzulänglichkeit oder womöglich eine bloße Zahlungsstockung vorliegt, jederzeit befugt ist, wobei es die Masseunzulänglichkeit bei Unterlassung der Anzeige durch den Masseverwalter auch amtswegig aufzugreifen hat. Diese Ansicht erscheint aus Gründen der erhöhten Rechtssicherheit für Massegläubiger vertretbar. Die Wirkung der Bekanntmachung ist in § 124a Abs 2 IO normiert; danach kann ab dem Zeitpunkt der Bekanntmachung an den zur Insolvenzmasse gehörenden Sachen nur mehr wegen Masseforderungen iSd § 124a Abs 1 dritter Satz IO ein richterliches Pfand- oder Befriedigungsrecht erworben werden. In concreto bedeutet dies, dass nur Altmasseforderungen einer Exekutionssperre unterliegen und der Masseverwalter diese im Verfahren einwenden kann.107 Für Massegläubiger, die bereits vor Masseunzulänglichkeit ein exekutives Pfandrecht erworben haben, ist trotz des Wortlauts des § 124a Abs 2 IO, der für die Wirkung der Exekutionssperre auf den Zeitpunkt der Bekanntmachung abstellt, die Exekutionssperre anwendbar, damit dem Rangprinzip des § 47 Abs 2 IO zum Durchbruch verholfen wird.108 3. Zahlungsstopp

§ 124a Abs 1 IO sieht vor, dass bei Vorliegen von Masseunzulänglichkeit der Masseverwalter mit der Befriedigung der (Alt)Massegläubiger innezuhalten hat. Diese Wirkung tritt nicht erst ab Anzeige oder Bekanntmachung der Masseunzulänglichkeit ein, sondern bereits ab jenem Zeitpunkt, ab welchem die Masseunzulänglichkeit für den Masseverwalter erkennbar war.109 Massegläubigern können sich jedenfalls mittels eines Abhilfeantrags beim Insolvenzgericht gegen den Zahlungsstopp wehren.110 Die Frage, ob Altmassegläubiger bei Masseunzulänglichkeit mit Feststellungsklage oder Leistungsklage

105

Mohr, Insolvenzrecht 2002, 83. 106

Konecny in Konecny, Insolvenz-Forum 2002, 82 f. 107

Konecny in Konecny, Insolvenz-Forum 2002, 83 f. 108

Konecny in Konecny, Insolvenz-Forum 2002, 83; vgl auch ErläutRV (FN 88) 34. 109

Konecny in Konecny, Insolvenz-Forum 2002, 80. 110

Mohr, Insolvenzrecht 2002, 83.

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vorgehen können, wurde in der Lehre unterschiedlich beurteilt. Für ein Vorgehen mit Feststellungsklage sprachen sich vor allem Mohr111 und Kodek112, beide unter Bezugnahme auf die hL zu § 210 dInsO, aus. In der E 8 Ob 116/10g113 folgte der OGH der Ansicht von Konecny und bejahte das Vorgehen mit Leistungsklage. Er argumentierte damit, dass ein Vorgehen mit Feststellungsklage nur dann zulässig sei, wenn der Anspruch mit Leistungsklage nicht zur Gänze geltend gemacht werden könne und die Feststellung ein zusätzliches rechtliches Interesse für den Kläger biete. Weiters führte er aus, dass bei Wegfall der Masseunzulänglichkeit nur ein Leistungsurteil dem Massegläubiger einen sofortigen Exekutionstitel verschaffen könne; zudem stellte er fest, dass sich an der materiellrechtlichen Position des Massegläubigers nichts ändere, nur weil der Schuldner (zurzeit) nicht in der Lage sei, offene Forderungen zu begleichen. Bei korrekter Vorgangsweise iSd § 124a IO – also bei Anzeige einer tatsächlich bestehenden Masseunzulänglichkeit und Verweis auf die Berücksichtigung der Masseforderung bei der Verteilung gem § 124a Abs 3 IO114 haben Masseverwalter allzu viele Leistungsklagen von Massegläubigern nicht zu befürchten, da sie nach § 45 ZPO (sofortiges Anerkenntnis) vorgehen können, weil sie keinen Anlass zur Klagserhebung gegeben haben.115

D. Rechtsstellung der Neumassegläubiger

Unter Neumasseforderungen versteht man jene Ansprüche der Massegläubiger, die aus Rechtshandlungen des Masseverwalters herrühren, die zur Verwaltung und Verwertung der Masse nach Eintritt der Masseunzulänglichkeit geboten sind. Die Abgrenzung zwischen Alt- und Neumasseforderungen erfolgt hierbei nicht nach zeitlichen, sondern nach sachlichen Kriterien.116 Nach Eintritt der Masseunzulänglichkeit darf der Masseverwalter aufgrund des ausdrücklichen Gesetzeswortlauts in § 124a Abs 1 IO nur mehr solche Rechtshandlungen vornehmen, die der Verwaltung und Verwertung dienen, sodass hier mE der Zeitpunkt des Entstehens der Forderung die Qualifikation als Neumasseforderung zumindest indiziert. Nach Nahtschläger müssen die zeitliche und die sachliche Komponente kumulativ vorliegen.117 Welche Rechtshandlungen als geboten erscheinen, hat der Masseverwalter jedoch selbst zu beurteilen, wobei Massegläubiger mittels Abhilfeantrags gegen eine ihrer Meinung nach falsche Beurteilung der Lage durch den

111

Mohr, Insolvenzrecht 2002, 86. 112

Kodek in Buchegger, InsR IV § 124a Rz 25. 113

OGH 8 Ob 116/10g, ZIK 2011, 204/ 194 s dazu Konecny, Masseunzulänglichkeit und Leistungsklagen

von Altmassegläubigern, ZIK 2011/175, 122. 114

Konecny, Leistungsklagen, ZIK 2011/175, 124 f. 115

Konecny, Leistungsklagen, ZIK 2011/175, 125; siehe auch Kap. II.C.1. 116

Konecny in Konecny, Insolvenz-Forum 2002, 86. 117

Nahtschläger, Ersatz der Prozesskosten bei Masseunzulänglichkeit, ZIK 2005/32, 47.

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Masseverwalter vorgehen können;118 hierzu müssen sie aber nachweisen, dass der mit ihnen geschlossene Vertrag der Verwaltung und Verwertung gedient hat.119 Meiner Ansicht nach muss das Kriterium der „Gebotenheit“ zum Zeitpunkt der Vornahme der Rechtshandlung des Masseverwalters vorliegen; sowohl das Fehlen oder der Wegfall der Gebotenheit der Rechtshandlung darf mE nicht nachträglich eingewendet werden. Andernfalls würde Masseverwaltern ein allzu großer Handlungsspielraum hinsichtlich der Beurteilung der „Gebotenheit“ zugesprochen werden. Für diese Ansicht spricht auch die Argumentation, dass kein Gläubiger zur Mitwirkung an der Restabwicklung bereit sein wird, wenn die Befriedigung seiner Forderung von einem Verwertungserfolg abhängig gemacht wird.120 Nach Nahtschläger121 muss hingegen die Verwertungshandlung bei objektiver ex-ante Betrachtung einen Verwertungserfolg erwarten lassen. Äußerst unterschiedlich wurde sowohl in Lehre und Rsp die Frage beantwortet, was zu geschehen hat, wenn bei Masseunzulänglichkeit die Neumasseforderungen nicht zur Gänze befriedigt werden können. Die hL122 sprach sich bislang bei Vorliegen einer solchen Situation gegen das im § 124a Abs 1 IO ausdrücklich normierte Fälligkeitsprinzip aus und vertrat auch hier eine Befriedigung nach dem Verteilungsprinzip iSd § 47 Abs 2 IO. Argumentiert wurde insb damit, dass eine solche Situation eine bloß gelegentliche Ausnahme darstelle, in der ein Abgehen vom klaren gesetzlichen Wortlaut verkraftbar sei. Entgegen der hL wird in der jüngsten Rsp123 weiterhin ein striktes Festhalten am Fälligkeitsprinzip vertreten; danach hat derjenige, dessen Neumasseforderung zuerst fällig wird, unbedingten Anspruch auf Befriedigung durch den Masseverwalter. Der OGH stützte sich in der E 3 Ob 92/12v auf den klaren Gesetzeswortlaut des § 124a Abs 1 IO, nach welchem Neumasseforderungen unverzüglich zu befriedigen sind, da Vertragspartner grundsätzlich auf das Fälligkeitsprinzip vertrauen sollen. Wie Konecny124 aber richtigerweise ausführt, wird aufgrund dieser Entscheidung eine Restabwicklung öfters nicht möglich sein und dazu führen, dass insb auch Neumassegläubiger ihre Vorrangstellung verlieren und ihnen dieselbe Chance auf Befriedigung zu Teil wird, wie dies auch bei Altmassegläubigern und Insolvenzgläubigern der Fall ist. Trotz der E des OGH vertritt er die mMn zutreffende Ansicht, dass das Verteilungsprinzip dem Fälligkeitsprinzip dann vorgehen muss, wenn mehrere Neumasseforderungen am selben Tag fällig werden.

118

Kodek in Buchegger, InsR IV § 124a Rz 36. 119

Konecny, Leistungsklagen, ZIK 2011/175, 123. 120

Konecny, Insolvenz-Forum 2002, 88. 121

Nahtschläger, Prozesskosten, ZIK 2005/32, 48. 122

Konecny, Insolvenz-Forum 2002, 90; Nahtschläger, Prozesskosten, ZIK 2005/32, 47; Kodek in Buchegger, InsR IV § 124a Rz 34. 123

OGH 3 Ob 92/12v, ZIK 2012/332, 228 = Konecny, Masseunzulänglichkeit in Bezug auch auf Neumasseforderungen, ZIK 2012/296, 205 = EvBl 2013/9, 67 (Riel) = ÖBA 2013/1877, 55. 124

Konecny, Neumasseforderungen, ZIK 2012/296, 206 f mwN.

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Eine besonders kritische Situation stellt sich im Hinblick auf den Ersatz von Verfahrenskosten und die Entlohnung des Masseverwalters, da diese zum einen aufgrund des Baukastensystems schwer zu bemessen ist und zum anderen erst bei Beendigung seiner Tätigkeit bzw Überreichung der Honorarnote fällig wird;125 erst dann kann also jener Teil der Entlohnung, der eine Neumasseforderung darstellt, gegen die Insolvenzmasse geltend gemacht werden. Masseverwalter sind von Gesetzes wegen dazu verpflichtet, zur Befriedigung aller Masseforderungen für ausreichende Mittel zu sorgen; die Eintreibung kann diesfalls auch im Klagsweg erfolgen.126 Hier stellt sich nun das Problem, dass bei Obsiegen des Prozessgegners sowohl dessen Prozesskostenersatzforderung als auch die Forderung des Masseverwalters zeitgleich entstehen.127 Konecny128 löst dieses Problem derzeit so, dass Masseverwalter ihre Entgeltforderungen spätestens mit Rechtskraftwirkung des Leistungsurteils des Prozessgegners geltend machen müssen, damit sie einem Entlohnungsausfall entgehen und die Forderung des Prozessgegners überholen. Um nun einem Wettlauf der Masseverwalter um die letzten Massemittel vorzubeugen und dadurch einem Entlohnungsausfall zu entgehen, schlägt Riel129 hingegen eine Ergänzung der derzeitigen Regelung des § 124a IO in Anlehnung an den § 209 Abs 1 dInsO vor, nach welchem die Kosten des Insolvenzverfahrens gegenüber den restlichen Neumasseforderungen privilegiert sind. Hierdurch wäre dieses Problem letztlich komplett beseitigt, sodass Masseverwalter nicht

mehr um ihre Entlohnung bangen müssten. Diesem Vorschlag kann aus Gründen der Rechtssicherheit nur beigepflichtet werden.

IV. Zusammenfassung

Während eines laufenden Insolvenzverfahrens haben Massegläubiger ihre Forderungen gegen den die Insolvenzmasse vertretenden Masseverwalter geltend zu machen. Sollten sie ihre Forderung irrtümlich als Insolvenzforderung angemeldet haben und wurde dieser Fehler bei der Prüfung der Forderungen nicht bemerkt, so steht der Geltendmachung als Masseforderung dennoch nichts im Wege. Der Masseverwalter hat die Masseforderungen bei Fälligkeit sofort und zur Gänze zu befriedigen, andernfalls er sich haftbar machen könnte. Anders verhält es sich bei Aufhebung des Insolvenzverfahrens. Hier erlangt der Schuldner wieder freie Verfügungsgewalt über sein Vermögen; er haftet Massegläubigern gegenüber jedoch nur mehr beschränkt. Natürlich steht Massegläubigern die Möglichkeit offen, in einem gewissen Rahmen frei über ihre Forderungen zu verfügen. Ein Verzicht auf die Geltendmachung als Masseforderung darf aber nicht dazu führen, dass sie ihre Forderung

125

Konecny, Neumasseforderungen, ZIK 2012/296, 207 f. 126

Konecny, Neumasseforderungen, ZIK 2012/296, 207. 127

Konecny, Neumasseforderungen, ZIK 2012/296, 207. 128

Konecny, Neumasseforderungen, ZIK 2012/296, 208. 129

OGH 3 Ob 92/12v, EvBl 2013/9, 71 (Riel).

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nunmehr als Insolvenzforderung geltend machen dürfen. Dieses Wahlrecht steht Massegläubigern also keinesfalls zu. Massegläubiger können ihre Ansprüche mittels Klage oder Abhilfeantrag geltend machen. Eine gleichzeitige Inanspruchnahme beider Rechtsbehelfe ist jedoch nicht möglich. Mit dem Abhilfeantrag können sie das Insolvenzgericht dazu auffordern, dem Masseverwalter die Weisung zu erteilen, dass ihre feststehenden und fälligen Forderungen unverzüglich befriedigt werden. Vorsicht ist jedenfalls bei der Klagsführung geboten. Gibt der Masseverwalter nämlich keinen Anlass zur Klagsführung – so etwa dann, wenn der Abhilfeantrag für den Massegläubiger das zur Rechtsverfolgung zweckentsprechendere Mittel darstellt – und erkennt die Forderung iSd § 45 ZPO sofort an, so trägt der Massegläubiger die daraus resultierenden Kostenfolgen. Massegläubiger sind bei der Klagsführung nicht nur auf Feststellungsklagen beschränkt, sondern können auch mit Leistungsklagen vorgehen, um dadurch einen Exekutionstitel zu erlangen. Dies ist selbst dann möglich, wenn Masseunzulänglichkeit vorliegt, wenngleich dadurch Altmassegläubigern die Exekutionsführung vorerst verwehrt bleibt. Sollte es aber zu einem Wegfall der Masseunzulänglichkeit kommen, so haben sie ihre Forderungen mit einem Exekutionstitel abgesichert. Bei Eintritt von Masseunzulänglichkeit hat der Masseverwalter wie bisher vorzugehen: Er hat die Masseunzulänglichkeit dem Insolvenzgericht anzuzeigen und dieses wiederum hat sie in der Insolvenzdatei bekannt zu machen. Die Bekanntmachung löst eine Exekutionssperre für Altmasseforderungen aus. Der Zahlungsstopp wird bereits durch den Eintritt der Masseunzulänglichkeit selbst ausgelöst. Anhand den zahlreichen in der Insolvenzdatei oft rasch nach Bekanntmachung der Masseunzulänglichkeit angezeigten Wegfällen der Masseunzulänglichkeit lässt sich allerdings ein Missbrauch dieses Instrumentariums vermuten. Reicht die Insolvenzmasse nur vorübergehend nicht zur Befriedigung aller fälligen Masseforderungen aus, so hat der Insolvenzverwalter die Gläubiger durch Gespräche zu Stundungen zu bewegen. Können aber selbst die Neumasseforderungen nicht befriedigt werden, so darf der Masseverwalter grundsätzlich nicht nach § 47 Abs 2 IO vorgehen. Er hat nunmehr die zuerst fällig werdenden Neumasseforderungen unverzüglich zu befriedigen, selbst wenn dies zu seinem Entlohnungsausfall führen könnte. Hier sollte der Gesetzgeber eingreifen und eine Ergänzung des derzeitigen § 124a IO dahingehend vornehmen, dass die Kosten des Insolvenzverfahrens und die Masseverwalterentlohnung gegenüber den restlichen Neumasseforderungen gesichert werden.