kein entkommen aus der krise?

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AGORA 42 Das philosophische Wirtschaftsmagazin Wirtscha im Widerspruch – Lösung in Sicht oder Anfang vom Ende? Zur Krise verdammt, in die Freiheit geworfen? Was ist die Krise und wer sind wir danach? Bloß ein weiteres Krisenhe? AUSGABE 01/2013 KEIN ENTKOMMEN AUS DER KRISE? Ausgabe 01/2013 | Deutschland 8,90 EUR Österreich 8,90 EUR | Schweiz 13,90 CHF

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Kein Entkommen aus der Krise? Wirtschaft im Widerspruch – Lösung in Sicht oder Anfang vom Ende? Zur Krise verdammt, in die Freiheit geworfen? Was ist die Krise und wer sind wir danach? Bloß ein weiteres Krisenheft? agora42 – Das philosophische Wirtschaftsmagazin.

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Page 1: Kein Entkommen aus der Krise?

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Das philosophische Wirtschaftsmagazin

Wirtscha! im Widerspruch – Lösung in Sicht oder Anfang vom Ende? " Zur Krise verdammt, in die Freiheit geworfen? " Was ist die Krise und wer sind wir danach? " Bloß ein weiteres Krisenhe!?

AUSGABE 01/2013

KEIN ENTKOMMEN AUS DER KRISE?

Ausgabe 01/2013 | Deutschland 8,90 EURÖsterreich 8,90 EUR | Schweiz 13,90 CHF

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T E R R A I N

TIn diesem Teil der agora42 sondieren wir

das Terrain, auf dem wir uns bewegen. Wir stellen ökonomische Begri!e, "eorien und Phänomene vor, die für unser gesellscha#liches

Selbstverständnis grundlegend sind.

— 8DIE AUTOREN

— 9Jan-Otmar HesseWelcher Krisen Kind die Krise ist – Die Wirt- scha!skrise im Spiegel ihrer Vorläufer

— 19Wolfram BernhardtTina – Königin der Krise

— 25Dieter SchnaasKrise? Welche Krise?

— 31Edward Hugh Claus Vistesen Game Over

— 37Gerd B. AchenbachZeit der Krisen. Krisenzeit

— 44PORTRAITvon Frank Romeike:Hyman P. Minsky und die Hypothese der "nanziellen Instabilität

TITEL Jonas Burgert: Stück Luft, 2011. Öl auf Leinwand. 220 x 200 cm Foto: Lepkowski Studios

— 3 EDITORIAL

— 4 INHALT

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INHALT

Page 3: Kein Entkommen aus der Krise?

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H O R I Z O N TI N T E R V I E W

HIIn diesem Teil der agora42 brechen wir auf

zu neuen Ufern. Wie lässt sich eine andere öko-nomische, eine andere gesellschaftliche

Wirklichkeit denken, wie lassen sich konkrete Veränderungen herbeiführen?

— 64Fabian LindnerWarum DeutschlandEuropa retten muss

— 70ohne AutorAufruf

— 84WEITWINKELJonas Burgert

— 92FRISCHLUFTMikrokrediteSocial EntrepreneurshipFreiheitsindex DeutschlandEmissionshandel/Lobbyismus

— 96LAND IN SICHTMundraub.org Arbeit Zuerst eG Innovestment.dePremium Social Angels Sti!ung

— 104GEDANKENSPIELEvon Kai Jannek

— 106IMPRESSUM

— 50Wenn die Lösung zum Problem wird Interview mit Bazon Brock

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Inhalt

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In diesem Teil der agora42 sondieren wir das Terrain, auf dem wir uns bewegen.

Wir stellen ökonomische Begri!e, "eorien und Phänomene vor, die für unser

gesellscha#liches Selbstverständnis grundlegend sind.

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In diesem Teil der agora42 sondieren wir das Terrain, auf dem wir uns bewegen.

Wir stellen ökonomische Begri!e, "eorien und Phänomene vor, die für unser

gesellscha#liches Selbstverständnis grundlegend sind. T T

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Jan-Otmar Hesse Jan-Otmar Hesse ist Professor für Wirtscha!sgeschichte an der Universität Bielefeld.— Seite 9

WolframBernhardtWolfram Bernhardt studierte BWL mit dem Schwerpunkt auf Finanz- und Kapitalmärkte. Er ist Mitherausgeber der agora42.— Seite 19

EdwardHughEdward Hugh ist Makro- ökonom mit Fokus auf Wachstums- und Produk- tivitätstheorie sowie demo- gra"sche Prozesse. Er be- treibt unter fistfulofeuros.net einen Ökonomieblog und lädt auf seiner Facebookseite zum Debattieren ein.— Seite 31

Claus VistesenClaus Vistesen ist Makro-ökonom und auf Demogra"e, Ökonometrie sowie Finanz märkte spezialisiert. Er arbei- tet als Analyst beim Londoner Research-Unternehmen Variant Perception und be-treibt einen privaten Blog: clausvistesen.squarespace.com

— Seite 31

Gerd B. AchenbachDr. Gerd B. Achenbach, Vor-stand der Gesellscha! für Phi-losophische Praxis, gründete im Jahr 1981 die weltweit erste Philosophische Praxis. Zuletzt von ihm erschienen: Das kleine Buch der inneren Ruhe (Verlag Herder, Freiburg 2010). www.achenbach-pp.de

— Seite 37

Dieter SchnaasDieter Schnaas ist Chefreporter der Wirtscha!sWoche und Autor des Buches Kleine Kultur-geschichte des Geldes (Wilhelm Fink Verlag, München 2010).— Seite 25

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agora 42DIE AUTOREN

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Welcher Krisen Kind die Krise ist

—Die Wirtscha!skrise im Spiegel ihrer Vorläufer

Ohne die schlimmen Folgen der aktuellen Wirtscha!skrise für viele Familien herunterspielen zu wollen, die ihre Arbeit und vielleicht auch ihr Haus und ihre Sozialversicherung verloren haben: Die gegenwärtige Wirtscha!skrise ist im historischen Vergleich doch undramatisch. Noch in der Großen Weltwirt-scha!skrise der frühen 30er-Jahre des vorigen Jahrhunderts star-ben selbst in den am weitesten entwickelten Volkswirtscha!en zahlreiche Menschen. Von solch dramatischen Zuständen sind wir heute weit entfernt. Vielfach ist es eher die Befürchtung, die Krise könne eskalieren, die für Dramatik sorgt und Unsicherheit entstehen lässt. In solche Befürchtungen mischen sich immer wieder auch Rückbezüge zu vergangenen Wirtscha!skrisen.

Text: Jan-Otmar Hesse

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Einige der historischen Wirtscha!s-krisen sollen im Folgenden vorge-stellt werden. Sie können aufgrund

ihres Auslösers und ihres Verlaufs in ver-schiedene Krisentypen untergliedert wer-den. Dabei konzentrieren wir uns auf die „modernen“ Wirtscha!skrisen, das heißt solche Krisen, die von der Wirtscha! selbst erzeugt werden. In der vorindustri-ellen Wirtscha! stellten dagegen Naturka-tastrophen, Ernteausfälle und Seuchen die größte Bedrohung der überwiegend noch durch landwirtscha!liche Produktion ge-prägten Wirtscha! dar, was häu"g als Krise „alten Typs“ bezeichnet wird (obwohl sol-che Hungerkatastrophen auch heute noch vorkommen). Ein weiteres Merkmal der Krisen alten Typs ist, dass sich Krisenim-pulse nicht schnell auf andere Bereiche der globalen Wirtscha! ausbreiteten (der soge-nannte Dominoe#ekt), weil in der „vormo-dernen“ Wirtscha! die globalen Ver$ech-tungen bei Weitem nicht so komplex waren wie in der „modernen“ Wirtscha!. Diese Komplexität kennzeichnet auch die jüngste Wirtscha!skrise, in der ganz unterschied-liche Krisentypen ver$ochten sind. Im Fol-genden möchte ich diese Einzelkrisen aus dem gegenwärtigen Krisengeschehen her-ausschälen und sie jeweils mit historischen Beispielen in Beziehung setzen.

ImmobilienkrisenDas gegenwärtige Krisengeschehen begann im Jahr 2007 mit dem Zusammenbruch des amerikanischen Immobilienmarktes, also als eine klassische Immobilienkrise. Der Krise war allerdings ein gewaltiger, mindestens zehn Jahre währender Immo-bilienboom in den USA vorausgegangen. Niedrige Zinsen führten dabei zu günsti-gen Hypothekenkrediten, sodass sich das Wohnen im Eigentum gegenüber dem Wohnen zur Miete immer weiter verbil-ligte. Dies wiederum ließ die Nachfrage nach Häusern und mithin deren Preise steigen. Hausbesitzer begannen, ihren Le-bensstandard dadurch zu heben, dass sie auf ihren im Wert steigenden Immobili-enbesitz immer neue Kredite aufnahmen. Als die Nachfrage nach Häusern gesättigt zu sein schien, begannen Banken, Kre-ditangebote an Familien zu formulieren, die sich aufgrund ihres Einkommens ei-gentlich keine Häuser hätten leisten kön-nen – der „subprime“-Markt entstand, also ein Markt für Immobilienkredite, die nicht ausreichend abgesichert waren. Als die Wertsteigerungen für Häuser immer geringer aus"elen und die ersten Kredite nicht mehr bedient werden konnten, be-gann eine Abwärtsspirale, die sehr schnell die Banken in Mitleidenscha! zog.

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Bankenkrise in FlorenzDer englische König Edward III. hatte während des Hundertjährigen Krieges unfassbar hohe Schulden bei den drei florentinischen Großban-ken der Familien Bardi, Peruzzi und Acciaiuoli angehäuft. Die Kirche er-laubte es Christen im Mittelalter zwar nicht, Zinsen für verliehenes Geld zu verlangen, jedoch umgingen die Geldverleiher dieses Verbot, indem sie von Herrschern das Recht erlangten, beispielsweise Steuern und Zöl-le einzutreiben. Schließlich war Edward III. zahlungsunfähig. Daraufhin gingen alle drei Banken Konkurs.

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Wirtscha!skrisen der WeltgeschichteAusgewählt von Andreas Jurowich

Was ist eine Krise und was nicht? Häu"g ist das nicht leicht zu beantworten. Das altgriechische Ursprungswort krisis be-deutet Beurteilung, Entscheidung und auch Zuspitzung. Nicht alle Krisen sind gleichermaßen präsent. Manche blieben als besonders schmerzha! in Erinnerung, andere wurden kaum wahrgenommen. Die im Folgenden aufgeführten Krisen erlang-ten eine besondere weltgeschichtliche Be-deutung …

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Jan-Otmar Hesse

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Immobilienkrisen hat es in der Ge-schichte immer wieder gegeben. So war der „Gründerkrise“ (1873) im Deutschen Kaiserreich beispielsweise ein Bauboom (der sowohl den Eisenbahnbau als auch den Wohnungsbau betraf) vorausgegan-gen, der mit ganz ähnlichen Mechanismen von Wertsteigerung und steigender Kredit-nachfrage verbunden war, wie wir sie auch in der jüngsten Immobilienkrise in den USA beobachten konnten. Auch die Welt-wirtscha!skrise in den USA war mit einer Immobilienkrise verbunden: Insbesondere amerikanische Landwirte hatten in den 20er-Jahren des vorigen Jahrhunderts von staatlichen Banken günstige Kredite zum Kauf von Land und den Ausbau ihrer Far-men erhalten, die sie aufgrund des seit dem Ende der 20er-Jahre anhaltenden Preisver-falls für landwirtscha!liche Produkte im-mer schlechter bedienen konnten.

BankenkrisenBanken leben davon, dass sie eigene Mit-tel und – zu einem wesentlich größeren Teil – die Spareinlagen ihrer Kunden an-deren Kunden gegen die Hinterlegung einer Sicherheit verleihen. Weil sie davon ausgehen, dass nie alle Sparer gleichzeitig ihre Sparguthaben zurückfordern, verlei-

hen sie häu"g die gesamten Spareinlagen. Fordert ein Sparer sein Sparguthaben zu-rück, können diese Forderungen mit den Zinseinnahmen aus den verliehenen Geld-beträgen oder mit einem nicht verliehenen Sparguthaben eines anderen Sparers begli-chen werden. Wenn die Zinszahlungen an eine Bank aber ausbleiben und jene Sparer, deren Sparguthaben noch nicht verliehen waren, gleichzeitig ihr Sparguthaben auf-lösen wollen, ist die betre#ende Bank zah-lungsunfähig. In einem modernen zwei-stu"gen Bankensystem, das sich im 19. Jahrhundert in den wichtigsten Industrie-ländern durchsetzte, kann sich die Bank in einer solchen Situation unter bestimmten Bedingungen bei der zentralen Notenbank selbst verschulden. Ist diese Möglichkeit aber bereits ausgeschöp!, muss die Bank ihre Zahlungen einstellen und alle Sparer verlieren ihre Sparguthaben. Das Risiko für einen solchen Verlust ist umso größer, je geringer das Eigenkapital der Bank ist.Viele „moderne“ Wirtscha!skrisen waren mit Bankenkrisen verbunden. Die Welt-wirtscha!skrise eskalierte in Deutschland überhaupt erst durch die Bankenkrise vom Sommer 1931. Die deutschen Banken hatten in den 20er-Jahren große Teile ih-res Eigenkapitals eingebüßt. Das fehlende Kapital bescha$en sie sich darau%in im

EIGENKAPITAL

Eigenkapital bezeichnet den Teil der gesamten Bilanzsumme einer Bank, den die Bank nicht verleihen darf. Nach den neuesten Richtlinien soll die Eigenkapitalquote bei 8% der Bilanz-summe liegen. Je höher das Eigenka-pital einer Bank ist, desto besser ist sie gegen die gleichzeitige Rückfor-derung vieler Spareinlagen geschützt. Hohe Eigenkapitalquoten der Banken gelten heute unter Experten als die wirksamste Waffe gegen Kettenreakti-onen, bei denen der Vertrauensverlust in eine Bank einen „Run“ auf alle Banken auslösen kann.

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Schinderling-Krise1459

1494Florenz: Konkurs der Medici-Bank

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Welcher Krisen Kind die Krise ist

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Krise? Welche Krise?

Text: Dieter Schnaas

Vor fast vier Jahrzehnten, im November 1975, legte die britische Prog-Rock-Band Supertramp ihr viertes Studioalbum vor. Die zehn Songs sind heute nicht ganz zu Unrecht beinahe vergessen, aber der Titel der Platte und das Cover, die sind zeitlos gültig, bleibend, legendär. „Crisis? What Crisis?“ stand da geschrieben; und vor der Kulisse einer sagenha! trostlosen Industrieland-scha! mit anderthalb Dutzend rauchenden Schloten entspannte sich, den Deckchair trotzig aufgespannt im grauen Schotter, ein zufriedener, junger Mann in Badehose – beschallt von einem Ko"erradio, beschirmt von einem knallorangen Sonnenschirm, ein Erfrischungsgetränk in Reichweite. Der Mann in der Bade-hose sonnte sich, keine Frage, stoisch, störrisch, ein Symbol des Trotzes und des Eigensinns. Allein, was ihn so hell beschien, darüber gab das Cover keinen Aufschluss. Nur der Mittagsstern? Oder doch ein Atomblitz? Darüber wurde damals he!ig disku-tiert: Handelt es sich bei dem Mann um einen modernen Dioge-nes, der den herrschenden Industriekapitalismus bittet, ihm aus der Sonne zu gehen? Oder um das Sinnbild einer Sorglosigkeit, die die Apokalypse herannahen weiß und sich bis dahin einen möglichst schlanken Fuß macht?

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K rise? Welche Krise? – Siebenund-dreißigeinhalb Jahre nach dem Supertramp-Album klingt die

Doppelbödigkeit der Doppelfrage boshaf-ter denn je. Denn einerseits ist die Krise – hierzulande – beinahe unsichtbar gewor-den. Andererseits versichern uns Politiker, Ökonomen, Leitartikler und andere Welt-weise täglich, dass sich die Krise dramatisch verschär!. Womit also haben wir es zu tun, wenn wir heute von der „Krise“ reden? Mit der fortschreitenden Zuspitzung zahlrei-cher Gefahrenlagen – und mit einer pro-portional fortschreitenden Verstumpfung unseres Krisenbewusstseins? Fast scheint es so. Jeder weiß heute informierter denn je: Es gibt sie, die Krise. Die Zeit drängt. Wir kön-nen nicht so weitermachen wie bisher. Und doch ist die Krise heute weniger denn je der Zeitpunkt der Entscheidung, die güns-tige Gelegenheit zur Umkehr – der kairos, der entweder genutzt oder verpasst wird. Die westlichen Industrienationen haben fast alles, was Schmutz und Lärm macht, in Schwellenländer ausgelagert. Der mo-derne Wirtscha!sstandort trainiert für sei-ne atomkra!freie Zukun!. Die Deutschen "ltern Feinstaub, teilen Autos, kaufen Bio. Die Zahl der Beschä!igten ist so hoch wie nie. Die Wirtscha! wächst. Und seit Mario Draghi, der Chef der Europäischen Zentral-bank, Geld druckt, ist der Euro gerettet und mit ihm Europa, unser Wohlstand, unsere Zukun!. Krise? Welche Krise?

Es geht ums GanzeWie widersprüchlich die Problemlagen heute wirklich sind, davon erzählt beispiel-ha! die gegenwärtige Banken-, Finanz-, Währungs-, Schulden-, Geld- und Wirt-scha!skrise. Dass all diese Bezeichnungen von den meisten Kommentatoren wie Sy-nonyme verwendet werden, ist vor allem

konsequent, denn das eine – die Banken-krise – hängt mit dem anderen – der Schul-denkrise – zusammen, und das andere wiederum hat stark mit dem Dritten – der Geldkrise – und Vierten – der Wirtscha!s-krise – zu tun … Fragt sich nur, warum die Regierenden aus der O#ensichtlichkeit eines systemischen Defekts nicht auch die Schlussfolgerung ziehen, wir hätten es mit einer Systemkrise zu tun. Tatsächlich ist genau das der Fall. Denn erstens handelt es sich bei „der Politik“ und „der Wirtscha!“ nicht um zwei getrennte Funktionssphä-ren, von deren Stärkung oder Schwächung auf Kosten des einen oder anderen sich „der Steuerzahler“ eine Verbesserung er-ho#en dür!e: Wenn Staaten heute mit Steuergeldern Banken kapitalisieren, ha-ben wir es mit verschuldeten Staaten zu tun, die durch Banken kapitalisiert werden – und die nur deshalb vom Staat kapitali-siert werden müssen, weil sie zuvor Staa-ten kapitalisiert haben. Zweitens sind alle Maßnahmen, die die Krise (kurzfristig) be-heben – Zinsen senken, Schulden machen, Geld drucken – dieselben Maßnahmen, die die Krise (langfristig) verschärfen. Woraus drittens folgt, dass es bei dieser Krise nicht wirklich um die Frage geht, ob wir jetzt besser krä!ig sparen oder krä!ig inves-tieren, sondern dass es diesmal tatsächlich ums Ganze geht, genauer: um den Kollaps des !nanzmarktliberalen Staatsschuldenka-pitalismus – und darum, was auf ihn folgt. Um aber die Krise des Finanzmarkt-kapitalismus zu verstehen, müssen wir zunächst einmal verstehen, welchen Ge-setzen der Kapitalismus unterliegt, was überhaupt (heute) Geld ist und welcher Logik die Märkte folgen. Die Antworten auf alle nachgeordneten Fragen ergeben sich dann praktisch von allein. Zunächst also: Auf welchen Gesetzen fußt der Kapi-talismus?

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Dieter Schnaas

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Game over

Was ist die nächste Megakrise, die uns erwartet? Immer noch die Eurokrise? Das „Fiscal Cli! “ der USA? Oder doch die implodie-renden Blasen in China? Claus Vistesen und Edward Hugh emp-fehlen, den Blick nach Japan zu richten: Die Kombination aus alternder Bevölkerung und überbordender Staatsverschuldung wird das Land zum ersten Opfer jener Schocks machen, die die Demogra"e auch für die anderen OECD-Staaten auf Lager hat.

Text: Edward Hugh / Claus Vistesen

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R ezession? De!ation? Immer hö-here Staatsschuldenberge? Kein Grund zur Panik, sagen viele

Analysten. Denn Japan scheint eine Art von wirtscha"lichem Perpetuum mobile erfunden zu haben. Das Land hat einen Leistungsbilanzüberschuss, hohe Er-sparnisse, kann sein eigenes Geld dru-cken und hat kein Problem, seine Staats-anleihen zu verkaufen, und das sogar zu lächerlich niedrigen Zinsen. Und solange das Zinsniveau so niedrig bleibt, ist der Schuldendienst auch bei einer Schulden-quote von 200 Prozent des BIP kein Pro-blem. Selbst wenn sich das einmal ändern sollte, kann die Bank of Japan noch mehr dieser Staatsanleihen kaufen und damit den Zinssatz sogar noch weiter senken. In der #eorie kann Japan sogar dem Bei-spiel von Ländern wie Deutschland oder der Schweiz folgen, die Renditen in den negativen Bereich bringen und folglich mit seinen Schulden sogar noch Geld ver-dienen. Aber so richtig mag uns diese Analyse nicht zu überzeugen. Denn weder wird die Frage gestellt, wie es überhaupt dazu kom-

men konnte, dass Japan mit Rezession, De-!ation und immer höheren Schuldenber-gen zu kämpfen hat, noch wird irgendeine Art von Fahrplan skizziert, wie das Land jemals wieder zu einer Geld- und Wirt-scha"spolitik kommen kann, wie sie einst weithin als „normal“ gegolten hat.

Weltmarktführer für AlterungTatsächlich scheint es eine Rückkehr zu einer wie auch immer gearteten Norma-lität für Japan nicht zu geben. So hat das Land nicht, wie es einst häu$g hieß, ein verlorenes Jahrzehnt hinter sich, sondern bereits zwei – und schon Oscar Wilde sagte: „Einen Elternteil zu verlieren, mag als Unglück gelten; beide zu verlieren, ist fast Schlamperei.“ Wie es derzeit aussieht, wird auch noch ein drittes verlorenes Jahrzehnt folgen. Und das ist schon eine optimistische Prognose, weil unterstellt wird, dass Märkte und Natur es der ja-panischen Regierung weiterhin erlauben, ihre Schulden zu $nanzieren. Bewahren wir uns die Schuldenfrage für später auf und beginnen mit der Demogra-

LEISTUNGSBILANZ

Die Leistungsbilanz umfasst alle Aus-gaben und Einnahmen einer Volkswirt-schaft, das heißt nicht nur die Handels-bilanz, sondern unter anderem auch den Bereich der Dienstleistungen, die Erwerbs- und Vermögenseinkommen (zum Beispiel Arbeitsentgelte, Kapital-erträge) sowie Heimatüberweisungen im Ausland tätiger Arbeitnehmer und Entwicklungshilfezahlungen.

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Edward Hugh / Claus Vistesen

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In der realen Welt entgleisen die Märkte und drinnen, im Elfenbeinturm, orakeln Ökonomen über Martingaltheorie oder Gleichgewichtstheorie und erzählen Märchen von brownschen Agenten, unsichtbaren Händen und e!zien-ten Märkten. Für viele "eoretiker dür#e es die Krisen der vergangenen Jahrhunderte nicht gegeben haben. Der US-amerikanische Ökonom Hyman Minsky jedoch sah die Welt anders: Wenn etwas funktioniert, dann gehe man nach und nach immer größere Risiken ein – so lange, bis es schließlich nicht mehr funktioniert. Stabilität führe damit notwendig zu Instabilität.

Hy m a n P. M i n s k y u nd d ie Hy pot he s e

der f i na n z ie l len I ns t abi l i t ät

Text: Frank Romeike

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Portrait

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Hyman P. Minsky und die Hypothese der finanziellen Instabilität

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Wenn die Lösung zum Problem wird

– Interview mitBazon Brock

Herr Brock, 2011 haben Sie in Berlin die Denkerei gegründet und be-zeichnen diese als „Amt für Arbeit an unlösbaren Problemen und Maß-nahmen der hohen Hand“. Was kann man sich darunter vorstellen?

Bei der Arbeit des Institutes geht es vorrangig darum, einen intelligenten Umgang mit prinzipiell unlösbaren Problemen zu entwickeln. Zum Beispiel ist das Wetter eine sol-che Gegebenheit, auf die wir keinen Ein!uss haben. Wir können also das Problem des Wetters nicht lösen, sondern uns nur auf das jeweilige Wetter einstellen. Ein wenig intel-ligenter Umgang wäre beispielsweise, zu versuchen, das Wetter durch Wetterzauber oder durch den Einsatz von Chemikalien zu beein!ussen. Was wäre ein intelligenter Umgang? Ganz einfach: Kümmere dich nicht ums Wetter, scha" ’ dir anständige Kleidung an! Dann ist es egal, ob es regnet, schneit etc.

Es geht Ihnen aber nicht nur darum, intelligentere Umgangsformen mit prinzipiell unlösbaren Problemen zu fördern, sondern auch darum, den Menschen bewusst zu machen, dass das Lösen von Problemen zu neuen Problemen führen kann.

Wobei das ja ein alter Hut ist. Eigentlich sollte dies jedem bekannt sein – insbesondere auch, seitdem Medikamente mit folgendem Hinweis versehen werden müssen: „Zu Ri-siken und Nebenwirkungen fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker.“ Das heißt letztlich nichts anderes, als dass jedes Medikament in dem Maße schadet, wie es hil#. Mit anderen Worten: Wenn ich ein Herzproblem löse, scha"e ich damit wahrscheinlich ein Nieren- oder Leberproblem. Ich glaube auch nicht, dass wir das Problem der Krebserkrankungen irgendwann lösen werden. Solange sich Zellen teilen, wird es Entartungen geben. Anstatt

Fotos: Janusch Tschech DENKEREI

In der Denkerei soll mithilfe unterschie-dlicher Kunst- und Kommunikationsfor-mate die gesellschaftliche Diskussion komplexer Problemstellungen (wie zum Beispiel Euro-Krise oder Atommüllend-lager) aufgegriffen werden.In der Pressemitteilung zur Eröffnung der Denkerei heißt es: „Spätestens seit der Finanzkrise 2008, dem Fukushima-GAU und dem Zusammenbruch der Euro-Vision muss jedem klar sein, dass Probleme dann bedeutsam sind, wenn man sie nicht lösen kann. Also gilt es, sich im Denken wie Handeln umzuori-entieren auf den Umgang mit prinzipiell unlösbaren Problemen.Wenn Menschen in Zukunft überhaupt noch etwas gemeinsam haben werden, dann sind es nicht Illusionen kultureller Identität – wie gemeinsame Sprache, Religionen, Tischsitten; sondern die Kon- frontation aller mit nicht lösbaren Pro-blemen.“

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Interview

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viel Geld in die Krebsforschung und mithin in die Illusion zu investieren, man könne das Problem lösen, sollte man zum einen in die Vorsorgeuntersuchungen investieren und sich zum anderen auf die kuratorische Anstrengung verp!ichten, den Kranken optimal beim Umgang mit seinem Leiden anzuleiten. Sprich, man sollte Möglichkeiten erfor-schen, wie man das Leiden von Krebskranken mindern und somit die Lebensqualität des Betro"enen erhöhen kann. Leider haben die meisten Menschen nicht einmal in dieser, sie unmittelbar betref-fenden Hinsicht ein Verständnis dafür entwickelt, dass die Problem-„Lösung“ zumeist nur ein Verschieben des Problems bedeutet. So ist es auch kein Wunder, dass sie auch in anderen Handlungsfeldern Probleme lieber lösen wollen, anstatt einen intelligenten Umgang mit ihnen zu entwickeln.

Wenn man sich die aktuelle Finanz-/Wirtschafts-/Euro-/Staatsschulden-krise ansieht und sich die widersprüchlichen Lösungsansätze der zahl-reichen Wirtschaftsexperten vor Augen führt, ist man schnell versucht, diese Krise als unlösbares Problem zu deklarieren. Trifft das zu?

Früher konnte man sagen: Wenn das Nachfolgeproblem kleiner ist als das Ausgangspro-blem, dann grei# die sogenannte pragmatische Sanktion. Das heißt, dann akzeptiere ich das Nachfolgeproblem und sage: „Na ja, das ist wohl unvermeidbar.“ Allerdings sind wir heute in einer Situation, in der die Lösung eines Problems dazu führt, dass das Nachfol-geproblem durch die Interaktion der vielen kleinen Nebenwirkungen größer wird als das Ausgangsproblem. Genau dies haben wir bei der Bankenkrise gesehen. Da hat man ein Gesetz zur Rettung der maroden Banken verabschiedet und ein paar Milliarden in die Banken gesteckt. Dann hat man gesehen, dass das Geld nicht reicht, und hat ein paar Bil-lionen hinterhergeworfen. Inzwischen hat die Finanzkrise weltweit viele Billionen Dollar gekostet. Zur Lösung des Bankenproblems wurden die Staatsschulden gescha"en. Jetzt ist das Staatsschuldenproblem noch viel größer als das Bankenproblem.

Handelt es sich bei der Finanzkrise also um ein unlösbares Problem? Oder gibt es einen Ausweg?

Das hängt davon ab, aus welcher Perspektive man das Problem betrachtet. Aus der Pers-pektive derer, die sich freiwillig einer höheren Macht unterwerfen, die in unserem Falle den Namen „Markt“ trägt, scheint die Situation tatsächlich aussichtslos. Schließlich kann es dann passieren, dass der Markt plötzlich anfängt, Forderungen zu stellen. Worau$in man ihm dann eigene Tempel baut, wo man ihm huldigen kann und anfängt, ihm zu Eh-ren tägliche Rituale zu veranstalten. Und jeden Tag lauscht dann die ganze Gesellscha# bei Schließen der Börsen, so gegen 17.30 Uhr, welche Botscha# der Markt zu verkünden hat. War er heute zufrieden? Ist er wieder nervös? Das ist natürlich Blödsinn, da auch die Börse von Menschen gemacht ist. Aber in dem Moment, in dem ich als letzte Au-torität für die Begründung meiner Entscheidung etwas angebe, was ohne substanzielle Begründbarkeit auskommt, kann ich tun und lassen, was ich will. Zugleich kann ich mich immer, wenn ich Mist baue, auf den Markt berufen und somit jegliche Verantwortung von mir weisen.

Bazon Brock

Bazon Brock (geb. 1936) – „Denker im Dienst und Künstler ohne Werk“ – ist emeritierter Professor für Ästhetik und Kulturvermittlung an der Bergischen Uni-versität Wuppertal.

Aktuelle ProjekteSeit 2010 leitet er gemeinsam mit Peter Sloterdijk das Studienangebot „Der pro- fessionalisierte Bürger“ an der Staat- lichen Hochschule für Gestaltung Karls-ruhe. 2011 gründete er die Denkerei und das „Amt für Arbeit an unlösbaren Pro- blemen und Maßnahmen der hohen Hand“ mit Sitz in Berlin.

Veranstaltungen/VeröffentlichungenInsgesamt über 2500 Veranstaltungen in Museen, Akademien, Hochschulen, Theatern, Galerien und im Fernsehen in Deutschland, in der Schweiz, in Öster-reich, Dänemark, Italien, Frankreich, Spanien, Holland, Großbritannien, Japan und in den USA. Veröffentlichung zahlrei-cher Schriften zur Ästhetik sowie Video- und Filmdokumentationen und Action Teachings.

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deren, die ähnlich denken, um sich nicht abnormal vorzukommen. Und zwar – das ist die Schwierigkeit – von denjenigen, die sich illusionslos den Problemen stellen; die sich also nicht zur Bekämpfung der vorherrschenden Ideologie selbst wieder auf eine Ideologie be-rufen, die sie dann notfalls mit der Kalaschnikow durchzusetzen gewillt sind. Insofern geht es mir darum, solche Menschen zu suchen und zusammenzubringen.Wenn man das begri!en hat, kommt der Rest von alleine. Denn wenn das Politische die Bedingungen de"niert, unter denen man leben muss, man diesen Bedingungen aber nicht zustimmt, wird man zwangsläu"g politisch werden.

Ist dann das Ziel des Studienlehrgangs „Der professionalisierte Bürger“, den Bürger im Sinne Gandhis hervorzubringen: „Sei selbst die Verände-rung, die du in der Welt sehen willst“?

Zugegeben, diese Erkenntnis ist nichts Neues. Sie bildet gewissermaßen das Fundament aller großen Weltreligionen. Und Sigmund Freud hätte dies vielleicht „erwachsen wer-den“ genannt. Jedenfalls ist das die einzige Möglichkeit, angemessen auf die ökonomische und gesellscha#liche Krise zu reagieren. Man $ieht nicht mehr vor der Wirklichkeit, son-dern akzeptiert sie so, wie sie ist, und lernt damit umzugehen, anstatt sich zu verstecken.Leider sehen wir gerade überall das Gegenteil. Die Politik der Bundeskanzlerin stellt nichts anderes als ein Angebot an alle dar, sich von der Wirklichkeit vollkommen fernzu-halten und sich der Illusion hinzugeben, Mutti wird das alles regeln. Schlimm, dass das so hingenommen wird, dachte man doch, die Deutschen hätten nach den Erfahrungen im letzten Jahrhundert begri!en, dass man sich der Wirklichkeit stellen muss. So kann Frau Merkel damit fortfahren, das rechtsstaatliche Prinzip auszuhöhlen – mit dem Vor-wand, es retten zu wollen. Wie o# hat sie gesagt: „Das ist die rote Linie, die dürfen wir nicht überschreiten.“ Dann wurde die rote Linie überschritten, es kam die nächste rote Linie etc. Ein pausenloses Überschreiten von roten Linien! An ihrer Seite Finanzminister Wolfgang Schäuble, der ja nun wirklich alles tut, um die ganzen Ausnahmen, Regelbrü-che und Grenzüberschreitungen im Nachhinein akzeptabel erscheinen zu lassen. Wenn man das sieht, kommt man nicht umhin, an die Propaganda der 30er-Jahre zu denken, die von Joseph Goebbels sehr intelligent betrieben wurde. Der deutsche Finanzminister muss sich mit seiner Propaganda keineswegs hinter Goebbels verstecken. Je mehr die Merkel kriminell agiert – also objektiv legale Kriminalität betreibt – desto mehr huldigen ihr die Leute. Sie nehmen an, dass die Kanzlerin über höhere Ein-sichten verfügen würde – sie weiß schon, was sie tut, sie kann das viel besser als jeder andere, sie rettet unsere Zukun# etc. Das ist ein psychologischer Zwang: Es kann doch nicht sein, dass unsere gute Mutti eine Dirne ist, die mit den Kapitalinteressen ins Bett geht und uns verkau#. Nein, unsere Mutti, die würde uns nie verkaufen! Ebensowenig konnten Deutsche sich vorstellen, daß der heißgeliebte Führer die Welt durch Vernich-tung retten wollte.

Nun kann man nicht von der Hand weisen, dass es viele Personen gibt, die das Spiel nicht mitspielen wollen; die sich in Initiativen zusammen-finden und in gesellschaftlicher, ökonomischer oder ökologischer Hin-sicht etwas verändern wollen. Aber häufig laufen diese Anstrengungen ins Leere und zurück bleibt Enttäuschung. Werden da taktische Feh-ler gemacht oder kann man in der momentanen Situation einfach nicht mehr erreichen?

Man kann eben nur tun, was man tun kann. Wenn man sich gut darauf versteht, andere Leute zu motivieren, sich mit den Sachverhalten zu beschä#igen, die alle etwas angehen, dann ist das schon genug getan. Das kann ein Dorfpfarrer sein, der noch in der Lage ist, seine geringe Klientel zusammenzuhalten und davon zu überzeugen, dass man sich gemeinsam für etwas einsetzen muss. Das reicht. Es muss nicht plötzlich alles anders werden.

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Interview

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Wundern Sie sich nicht, dass nicht ein bisschen mehr Wider-stand aus der Bevölkerung kommt?

Seltsam ist das schon. Hier in der Bundesrepublik braucht bisher niemand Angst zu haben, dass er gleich ins Gefängnis gesteckt oder getötet wird, wenn er gegen die „Tyrannin“ rebelliert. Trotzdem sind alle völlig apathisch. Dass wir keinen Widerstand sehen, hat wohl vor allem mit der sogenannten Kom-plexität zu tun. Die Gesetze und Paragraphen sind ja so verklausuliert, dass selbst Fachleute nicht mehr wissen, gegen wen oder was man sich zu wenden hätte. Wenn man in einer Gesellscha! lebt, wo man ständig gesagt bekommt, dass die Probleme mit dem System als solchem zu tun hätten, dass eben alles höchst komplex und wissenscha!lich oder juristisch völlig undurchschaubar sei, dann kann man schon verstehen, dass viele Menschen sich überfordert fühlen und einfach mit dem Strom schwimmen.

Auf der anderen Seite wird über das Thema Nachhaltigkeit in allen gesellschaftlichen Bereichen intensiv diskutiert. Zeugt diese Diskussion nicht doch von einem ausgeprägten Bewusst-sein dafür, dass sich etwas ändern muss? Sehen Sie im Konzept der Nachhaltigkeit einen möglichen Ausweg aus der Krise?

Na ja, wer wollte in Nachhaltigkeitsvorgaben nichts Vernün!iges sehen? Al-lerdings stellt sich o! die Frage, was dieser Ansatz im Alltag konkret bedeuten kann. Ein paar meiner Freunde aus Griechenland, die aufgrund der Krise alle keine Arbeit mehr "nden, sind jetzt aufs Land gezogen, wo sie ihre eigenen Lebensmittel anbauen. Ihr Ansatz, als Selbstversorger unabhängig von der

»Je mehr die Merkel kriminell agiert – also objektiv legale Kriminalität be- treibt – desto mehr huldigen ihr die Leute.«

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Bazon Brock

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In diesem Teil der agora42 brechen wir auf zu neuen Ufern.

Wie lässt sich eine andere ökonomische, eine andere gesellschaftliche

Wirklichkeit denken, wie lassen sich konkrete Veränderungen

herbeiführen?

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NTHIn diesem Teil der agora42 brechen

wir auf zu neuen Ufern. Wie lässt sich eine andere ökonomische,

eine andere gesellschaftliche Wirklichkeit denken, wie lassen sich

konkrete Veränderungen herbeiführen?

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NT Warum

Deutschland Europa retten

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Fabian Lindner

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NTDer Regierungschef heißt nicht Samaras, Rajoy oder Monti, son-

dern Heinrich Brüning. Der Kanzler der Weimarer Republik setzt am Volk vorbei per Notdekret eine staatliche Kürzung nach der anderen durch, während das Bruttoinlandsprodukt ins Bodenlose fällt. Wir wis-sen: Zwei Jahre später wird Hitler die Macht übernehmen, acht Jahre später der Zweite Weltkrieg ausbrechen. Die politischen Verhältnisse in Europa sind heute Gott sei Dank nicht die gleichen, die wirtschaft-lichen aber umso mehr. Deutschland hatte 1931 vor allem Schulden im Ausland – wie die Eurokrisenländer heute. Der größte Gläubiger Deutschlands wa-ren die USA. Deutschlands Staat und Wirtschaft hatten sich seit 1924 – wie es der Dawes-Plan vorsah – Dollar in den USA geliehen, vor allem, um die Reparationen gegenüber Frankreich und Großbritannien zu bezahlen. Die Kredite aus dem Ausland finanzierten aber auch den deutschen Aufschwung nach der Hyperinflation der frühen 20er-Jah-re: Die berühmten Goldenen Zwanziger waren durch eine Kreditblase finanziert, ganz ähnlich den wirtschaftlichen Aufschwüngen Spaniens, Irlands oder Griechenlands vor der Finanzkrise 2008 ff.

Deutschland in der Dollar-FalleDann kam der Schwarze Freitag des Jahres 1929, an dem die US-Aktienmärkte zusammenbrachen. Die Unsicherheit über die weitere wirtschaftliche Entwicklung stieg dramatisch. Immer mehr US-Anle-ger und Banken durchsuchten panisch ihr Portfolio nach weiteren Ri-siken und wurden bei ihren Engagements im fragilen Europa fündig. Sie begannen, ihre Gelder aus Europa, vor allem aus Deutschland, abzuziehen. Der transatlantische Kreditfluss versiegte.

Ein Land steht vor dem wirtschaftlichen und politischen Abgrund. Der Staat steht vor dem Bankrott und die Regierung spart dra-konisch: sie kürzt heftig bei den öffentlichen Bediensteten und erhöht kräftig die Steuern; die Wirtschaft schrumpft dramatisch, und die Arbeitslosigkeit steigt; in den Städten kommt es zu Mas-sendemonstrationen und zu Straßenschlachten; die Banken ste-hen vor dem Kollaps, weil die internationalen Kapitalgeber ihr Geld aus dem Land abziehen; Banken müssen mit öffentlichen Mitteln vor dem Zusammenbruch gerettet werden. Südeuropa 2013? Nein, Deutschland 1931.

Text: Fabian Lindner

REPARATIONEN

(von lateinisch reparare = wiederher-stellen) sind Leistungen, die ein im Krieg unterlegener Staat als Entschädigung für die im Krieg entstandenen Kosten und Verluste des Siegers zu erbringen hat. In Artikel 231 des Versailler Vertrags wurde dem Deutschen Reich und seinen Verbündeten die alleinige Schuld am Ausbruch des Ersten Weltkriegs zuge-schrieben; entsprechend wurde es zur Wiedergutmachung der den Alliierten entstandenen Kriegsschäden verpflichtet. Mit dem Dawes-Plan (benannt nach dem Finanzexperten Charles Dawes) wurden im Jahr 1924 die Reparationszahlungen Deutschlands an die Siegermächte neu geregelt. Ziel des Plans war es, die deut-sche Wirtschaft zu stabilisieren. Im Zuge dieser Neuregelung wurden hohe Kredite gewährt, die in Folgejahren vor allem aus den USA nach Deutschland flossen.

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Warum Deutschland Europa retten muss

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NTAufruf

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Aufruf

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ScholiumDies ist ein Aufruf. Das heißt, dass er sich an jene wendet, die ihn hören. Wir ma-chen uns nicht die Mühe zu beweisen, zu argumentieren, zu überzeugen. Wir reden über das Offenkundige. (…) Und dieses Netz von Offenkundigkeiten, die uns ausmachen, hat MAN uns so gut ge-lehrt, zu bezweifeln, vor ihm zu fliehen, darüber zu schweigen, es für uns zu be-halten. MAN hat uns das so gut gelehrt, dass uns die Worte fehlen, wenn wir schreien wollen. (…)

Proposition INichts fehlt zum Triumph der Zivilisa-tion. Nicht der politische Terror, nicht die affektive Misere. Nicht die allum-fassende Sterilität. Die Wüste kann sich nicht mehr ausbreiten: Sie ist überall. Aber sie kann sich noch vertie-fen. Vor der Offenkundigkeit der Kata-strophe gibt es jene, die sich empören, und jene, die sie zur Kenntnis nehmen; jene, die denunzieren und jene, die sich organisieren. Wir sind an der Seite derer, die sich organisieren.

Der folgende Text wurde uns von einer Leserin zugeschickt, die ihn eines Tages in Form eines kleinen Büchleins mit dem schlich-ten Titel „Aufruf“ in ihrem Briefkasten gefunden hat. Es fehlt jeglicher Hinweis auf den Autor beziehungsweise das Autoren-kollektiv. Trotz dieser Anonymität und trotz des manchmal gewöhnungs-bedürftigen Sprachstils haben wir uns entschieden, den Text zu digitalisieren und (in stark gekürzter Version) im „Horizont“-Teil der agora42 abzudrucken. Die Entschiedenheit, mit der er sich gegen den gesellschaftlichen Status quo wendet, stellt gewis-sermaßen die logische Reaktion auf die Beliebigkeit, Haltlosig-keit und Unentschlossenheit dar, welche die heutige Zeit kenn-zeichnen – insofern weist er bereits über diese Zeit hinaus und lässt erahnen, was uns am Horizont erwarten könnte. Der Text ist in sieben „Propositionen“ gegliedert, denen je-weils ein längeres „Scholium“ folgt, das als Erläuterung der knappen Proposition dient. Die ungekürzte Version findet sich in unserem Blog auf der Homepage www.agora42.de, wo Sie auch die Möglichkeit haben, ihn zu kommentieren.

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Aufruf

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Das Empire ist keine außerirdische Wesenheit, keine planetarische Ver-schwörung von Regierungen, von Fi-nanzsystemen, von Technokraten und multinationalen Konzernen. Das Empire ist überall, wo nichts geschieht. Überall, wo alles funktioniert. Dort, wo die nor-male Situation regiert.

Wenn wir uns unter dem Feind immer wieder ein Subjekt vorstellen, das uns die Stirn bietet – anstatt ihn als ein Verhältnis zu empfinden, das uns hält –, führt das dazu, dass man sich im Kampf gegen das Einsperren einschließt. Dass unter dem Vorwand der „Alternative“ die schlimms-ten Seiten der herrschenden Verhältnisse reproduziert werden. Dass wir beginnen, den Kampf gegen den Handel von Wa-ren als Ware zu handeln. Dass der anti-autoritäre Kampf Autoritäten gebiert, der Feminismus mit dicken Eiern daher-kommt, antifaschistische Pogrome ent-stehen.

Der in einer Situation eingenommene Standpunkt bestimmt das Bedürfnis, sich zu verbünden, und dafür gewisse Kom-munikationswege aufzubauen, eine brei-tere Zirkulation. (…) Das WIR, das sich hier ausdrückt, ist kein abgrenzbares, isoliertes WIR, kein WIR einer Gruppe. Es ist das WIR einer Position. Diese Position behauptet sich heute als eine doppelte Trennung: Tren-nung vom Prozess der kapitalistischen

Dass ein soziales Regime im Todeskampf für seine Willkür keine andere Rechtfer-tigung mehr hat, als seine absurde Ent-schlossenheit – seine senile Entschlos-senheit – einfach fortzudauern; (…) dass die Zivilisation, tief in ihrem Herzen verletzt, mit dem permanenten Krieg, den sie losgetreten hat, nirgend-wo mehr auf etwas anderes trifft als auf ihre eigenen Grenzen; dass diese Flucht nach vorn seit bald hundert Jahren nichts weiter produziert als eine Reihe immer dichter aufeinander folgender Katastro-phen; dass sich die Masse der Menschen mit Hilfe von Lügen, Zynismus, Abstump-fung oder Pillen in dieser Ordnung der Dinge einrichtet; niemand kann vorge-ben, dies nicht zu wissen. (…)

Zur Stunde (…) beschreiben Kapitalismus und Antikapitalismus den gleichen ab-wesenden Horizont, dieselbe beschnit-tene Perspektive, die Katastrophe zu verwalten. Was sich der vorherrschenden Trostlosigkeit entgegenstellt, ist definitiv nur eine andere, weniger gut ausgestat-tete Trostlosigkeit. Überall herrscht die gleiche blöde Vorstellung von Glück. Die gleichen erstarrten Machtspiele. Die gleiche entwaffnende Oberflächlichkeit. Der gleiche emotionale Analphabetis-mus. Die gleiche Wüste.

Wir sagen, dass diese Epoche eine Wüste ist, und dass diese Wüste sich ohne Unter-lass vertieft. Das (…) ist keine Poesie, das ist offenkundig. Eine Offenkundigkeit, die viele andere beinhaltet. Insbesondere die des Bruchs mit allem, was protestiert und sich über die Katastrophe auslässt. (…)

Einige haben versucht, der Wüste einen Namen zu geben. (…) Sie haben vom Spektakel gesprochen, von Biomacht, vom Empire. Aber auch das hat zur be-stehenden Verwirrung beigetragen.Das Spektakel ist keine bequeme Abkür-zung für das massenmediale System. Es findet sich genauso gut in der Grausam-keit, mit der alles uns ständig auf unser Bild zurückwirft. Die Biomacht ist nicht ein Synonym für Sozialversicherung, Sozialstaat oder die pharmazeutische Industrie, sondern nistet sich bequem in der Sorge ein, die wir uns um unseren hübschen Körper machen, in einer gewissen physischen Fremd-heit sich selbst und anderen gegenüber.

Zur Stunde beschreiben Kapitalismus und

Antikapitalismus den gleichen abwesenden

Horizont.

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erzeugen seine teilweise riesigen und farbinten-siven Gemälde ein Spiel mit den Widersprüchen des 21. Jahrhunderts, die als ein Bühnenbild des Welttheaters fungieren. Apokalyptische Gedan-ken, Endzeitszenarien, Paradigmen, Phantasmen, Grotesken und illusionistische Teile seiner Bilder-sprache werfen existenzielle Fragen der Mensch-heit auf und verlangen dem Betrachter Fragen nach dem Begreifen der komplexen aktuellen Zeit und sinnlichen Erfahrung ab.

Der KünstlerJonas Burgert wurde 1969 in Berlin geboren und studierte dort Malerei an der Universität der Künste (UdK). Nach einem Aufenthalt in Ägypten initiierte er in Berlin gemeinsam mit dem Künstler Ingolf Keiner die Ausstellungsreihe: "Fraktale". Zu den Ausstellungsorten zählte etwa - bis kurz vor seinem Abriss - der Palast der Republik.

Inspiriert von einer Massenflut von Bildern der Gegenwart und den Einflüssen der Vergangenheit

Jonas Burgerts Gemälde waren bereits in diver-sen internationalen Institutionen, Galerien und Sammlungen ausgestellt.

Aktuell sind sie in seiner Ausstellung "Schutt und Futter" bis 20. Mai 2013 in der Kestnergesellschaft Hannover zu sehen.Zu der Ausstellung ist ein Katalog im Verlag Buchhandlung Walther König (Köln) erschienen.www.jonasburgert.de / www.kestnergesellschaft.de

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WEITWINKEL

Hier wird das Fernrohr gegen das Kaleidoskop getauscht und gezeigt, dass die Wirklichkeit viele Facetten hat.Fotos: Lepkowski Studios

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Links: Jonas Burgert: Suchter, 2013. Öl auf Leinwand. 90 x 80 cmRechts: Jonas Burgert: Dir die Stunde, 2013. Öl auf Leinwand. 220 x 180 cm

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Mikrokredite nicht länger als Objekte von Hilfsleistungen gesehen, sondern als Subjekte, die selbst ihr Schicksal in die Hand nehmen können – sofern die Rahmenbedingungen stimmen. Dass hier noch einiges an Überzeu-gungsarbeit zu leisten ist, zeigt sich immer dann, wenn es zu Problemen bei der (Mikro-)Kreditfinanzierung kommt. Ein Beispiel wird immer wieder ange-führt: Im Jahr 2010 konnten in einer Region Indiens zahlreiche Menschen ihre Mikrokredite nicht zurückzahlen. Manch einer sah keinen anderen Ausweg mehr als den Selbstmord. Ein Aufschrei in der Presse war die Folge – Tenor: die Armen müssen zu ihrem eigenen Schutz vom Kreditwesen (hier: den Mikrokredi-ten) ferngehalten werden. Dabei wurde jedoch übersehen, dass im Vorfeld zahl- reiche Mikrokredite an Personen verge-ben wurden, die keine Chance hatten, die Kredite zurückzuzahlen. Insofern hatten die Vorfälle nichts mit dem Mikro- kredit als solchem zu tun, sondern bele-gen das Versagen der in dieser Region operierenden Mikrofinanzinstitute. Trotzdem wurden Mikrokredite unter Pauschalverdacht gestellt. Welche ver-heerenden Auswirkungen solch eine pauschale Verurteilung zur Folge hat, kann man am Beispiel des Mikrofinanz-marktes in Nicaragua beobachten. Dort sorgten populistische Politiker dafür, dass innerhalb kürzester Zeit der ganze Mikro-finanzsektor zum Erliegen kam. Damit waren viele Menschen wieder auf die „guten alten“ Geldverleiher angewiesen, die teilweise das Zehnfache an Zinsen verlangen wie die Mikrofinanzbanken.In ihrer Arbeit kritisiert Nina Holle, dass an einer sinnvollen Armutsbekämpfung nicht auch in schwierigen Zeiten festge-halten wird (wie zum Beispiel in Indien) und plädiert dafür, dass wir unsere histo-risch gewachsene Einstellung gegenüber Armut ablegen und sie den modernen Gegebenheiten anpassen sollen. Nur so ist eine effizientere Armutsbekämp-fung möglich, die tatsächlich das Wohl der Armen ins Zentrum rückt und nicht die Befindlichkeiten der Geberseite.

Nina HolleNina Holle arbeitet bei der Weltbank im Bereich Mikrofinanzen. Mehr Infos: [email protected] oder

[email protected]

U N T E R N E H M E R S TAT T

B I T T S T E L L E R—

In den letzten Jahren hat ein Ansatz der Armutsbekämpfung an Populari-tät gewonnen, der ohne das Tamtam von Spendenaufrufen und öffentlich-keitswirksame Gesten auskommt. Durch einen kleinen Startkredit (Mikro- kredit) will man das Unternehmertum unter der armen Bevölkerung fördern und somit helfen, Menschen aus der Armut zu führen, anstatt sie zu ali- mentieren.In ihrer Doktorarbeit zeigt Nina Holle, dass diese Art der Armutsbekämp-fung sich grundsätzlich vom bisheri-gen Vorgehen unterscheidet. Standen bislang die Notfallhilfe aus Barmher-zigkeit im Mittelpunkt, werden die Armen im Rahmen des Konzepts der

Kreditnehmer in Millionen

durchschnittlicheKredithöhe in USD

MIKROKREDIT IM GLOBALEN VERGLEICHDie durchschnittliche Kredithöhe schwankt je nach Region deutlich.

Quelle: Mix Market

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FRISCHLUFT

Sie befassen sich im Rahmen Ihrer Forschungstätigkeit mit Themen an der Schnittstelle von Ökonomie und Gesellschaft/Politik und loten neue Denkräume aus.Stellen Sie Ihre Arbeit bei uns vor: [email protected]

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M E H R F R E I R A U M F Ü R

U N D D U R C H S O C I A L E N T R E -

P R E N E U R S H I P—

Sie sind innovativ, immer auf der Suche nach Neuem, streben nach finanziel-ler Unabhängigkeit und wollen etwas in der Welt bewirken: Entrepreneurs. Ihr Schaffen ist der Motor unseres materiellen Wohlstands. Solange sie nicht gegen geltendes Recht versto-ßen, dient ihr Wirken, unbeabsichtigt oder nicht, dem Gemeinwohl – so jedenfalls die Theorie.Die Frage, ob dieser Mehrwert, den sie mit ihren Unternehmen schaffen, auch tatsächlich besser für die Menschen ist, spielt in der modernen Wirtschaftswis-senschaft und der vorherrschenden neo-klassischen Theorie kaum eine Rolle. Ein anderer Unternehmertyp, der bis- her kaum in den Fokus der Wirtschafts-wissenschaft gerückt ist, ist jener des Social Entrepreneurs. Sein Handeln ist nur schwer mit dem neoklassischen Leit- bild des instrumentell-rationalen Homo oeconomicus in Einklang zu bringen. Im Gegensatz zum herkömmlichen Unter-nehmertyp geht es ihm nicht primär um Profitstreben, sondern darum, gesell-schaftliche Probleme zu lösen. Er ordnet sein Handeln aus freiem Willen ethischen Prinzipien unter und geht verantwortlich mit seiner unternehmerischen Freiheit um. Dabei verliert er dennoch wirtschaft- liche Effizienzkriterien nicht aus den Augen. Social Entrepreneurs sind aber darauf angewiesen, dass es institutionalisierte Denk- und Handlungsspielräume gibt, damit sie Freiräume und Verwirklichungs-chancen für benachteiligte Menschen schaffen können. Hier setzt Michael Wihl- enda in seiner Dissertation an. Er unter-sucht die gesetzlichen und ethischen Rah- menbedingungen für globales Social Entrepreneurship. Dabei argumentiert er aus einem humanistischen Wirtschafts-verständnis heraus und bezieht insbeson-

dere den sogenannten Fähigkeiten-An- satz des Wirtschaftsnobelpreisträgers Amartya Sen mit ein, demzufolge die Be- fähigungen, über die der Mensch verfü-gen muss, damit er sein Leben erfolgreich gestalten kann, gegenüber dem Besitz von materiellen Gütern stärker berück-sichtigt werden sollen. Zudem analysiert er, inwiefern (künftige) Social Entrepre- neurs selbst neue Rahmenbedingungen für soziales und ökologisches Unterneh- mertum schaffen können. Ergänzend zu seiner theoretischen Arbeit engagiert er sich am Weltethos-Institut der Universität Tübingen (WEIT).

Das im Jahr 2012 gegründete Institut for- scht zu den Themen globale Wirtschaft-sethik und interkulturelles Lernen im Kon- text des von Hans Küng hervorgebrach-ten Projekts Weltethos. Durch Social Entrepreneurship Education fördert das WEIT sozialunternehmerisches Denken und Handeln der Studierenden.

Michael WihlendaMichael Wihlenda ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Weltethos-Institut an der Universität Tübingen und derzeit Glo-bal Fellow (Europe) von NET IMPACT. Mehr Infos: [email protected]

Social Needs Social Assets

THE OPPORTUNITY CREATION PROCESS

Change

Quelle: nach Dees et al.,2002, S.2

Personal Experience

STEP 1: GENERATING PROMISING IDEAS

STEP 2: DEVELOPING PROMISING IDEAS INTO ATTRACTIVE OPPORTUNITIES

Social Impact

Op

portunity

Social Impact Theory

Operating Model

Resource Strategy

OPERATING ENVIRONMENT

Business Model

Promising Ideas

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LAND IN SICHT

M U N D R A U B . O R G—

Durch die Aussage des Co-Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Bank AG, Jürgen Fitschen, dass sein Haus keinen Grund sehe, nicht auch zukünftig Termingeschäfte auf Agrarrohstoffe abzuschließen, ist das Thema der Lebensmittelspekulation wie-der in die öffentliche Diskussion eingebracht worden. Dabei erstaunt die Tatsache, dass man mit der Nahrung anderer Leute spekulieren kann, mindestens ebenso sehr, wie die Tatsache, dass es genug Essen auf der Welt gibt und trotzdem nicht alle satt werden. Und in Ländern, wo die Menschen satt werden, wie zum Beispiel in Deutsch- land, verfaulen jedes Jahr tonnenweise Früchte – und das, obwohl sie ganz umsonst zu haben sind. Dabei sprechen wir hier nicht von den Äpfeln, Birnen & Co., die täg-lich von Supermärkten weggeworfen werden. Nein, die fauligen Früchte, von denen hier die Rede ist, finden sich ganz woanders: In Deutschland gibt es Tausende Streu- obstwiesen, Nussbäume oder Beerensträucher, deren Früchte jedes Jahr verfaulen – schlicht und ergreifend, weil niemand von deren Existenz weiß. Dies beobachtend, hat im Sommer 2009 Kai Gildhorn die Seite mundraub.org on- line gestellt, wo man auf einer Karte beispielsweise den Standort von Obstbäumen, die zur Ernte freigegeben sind, eintragen kann. So kann sich jeder darüber infor-mieren, wo er Obst, Nüsse, Beeren oder Kräuter findet, die er ohne schlechtes Ge-wissen verzehren kann. Die Vorteile liegen auf der Hand: Man schont den Geldbeu-tel, lernt seine Umgebung besser kennen und reduziert die Menge an Obst, die jedes Jahr über die Weltmeere geschippert wird. Nicht zuletzt kommt man beim „Obst- einkauf“ gleichzeitig noch an die frische Luft und leistet einen wichtigen Beitrag zum Erhalt unserer Kulturlandschaft. Seit 2012 kann man auch das Mundräuber Hand- buch bei seinen Streifzügen zur Hand nehmen (bestellbar über mundraub.org zum Preis von circa sechs Kilogramm Bio-Äpfeln). Drei Jahre nach dem Start sind – ohne Zutun der Organisatoren – mehrere tausend Orte auf der Landkarte verzeichnet und man überlegt sich, wie die Plattform weiter-entwickelt werden kann. Vielversprechende Ideen und Visionen gedeihen bereits in den Köpfen der Mundräuber. Unter anderem überlegt man, wie mit Hilfe der Web- seite bestehende Streuobstinitiativen gebündelt werden können, um zum Beispiel die Vermarktung regionaler Obstprodukte anzukurbeln. Über diesen „Lebensmittelhandel“ könnten sich dann die Mundräuber vielleicht sogar einen kleinen Zusatzverdienst ermöglichen – darüber darf gerne spekuliert werden.

Mehr zu Mundraub unter: www.mundraub.org

Standorte von Obstbäumen, Beeren-sträuchern etc. auf mundraub.org

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Sie haben das Ruder in die Hand genommen und wollen mit Ihrem Unternehmen oder zivilgesellschaft-lichen Projekt ökonomisches und gesellschaftliches Neuland betreten.Stellen Sie Ihr Unternehmen/Projekt bei uns vor: [email protected]

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FRAGE AN MUNDRAUB.ORG:Die Krise bleibt oft sehr abstrakt. Wo kann man konkret etwas verändern?

„Bei allen Blicken über den Teller-rand hinaus sollte der eigene Teller nicht in Vergessenheit geraten. Erst recht nicht, wenn dieser so reich gefüllt ist: Gelbe Edeläpfel, Kaiser Wilhelms, Albrechtsäpfel, Ruhm von Kirchwärder und Peasgoods Son-dergleichen. Die Rückbesinnung auf regionale Kreisläufe sehen wir als einen Beitrag, um in die oft undurch-schaubaren Handelsströme unserer Zeit etwas Licht zu bringen (Fast wie bei einem Verjüngungsschnitt).“

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FRAGE AN INNOVESTMENT.DE: Die Krise bleibt oft sehr abstrakt. Wo kann man konkret etwas verändern?

„Für die Bewältigung volkswirt-schaftlicher Krisen sind radikale Innovationen unabdingbar. Durch diese können neue Märkte oder Kundengruppen erschlossen und somit Arbeitsplätze geschaffen werden. 95% aller radikalen Inno-vationen seit 1945 stammen aus Unternehmen mit weniger als fünf Mitarbeitern. Doch gerade diese Unternehmen haben die größten Finanzierungsprobleme. Mittels Crowdinvesting kann hier Abhilfe geschaffen werden.“

I N N O V E S T M E N T. D E—

I n n o v a t i v e S t a r t - u p s , b a n k e n f re i f i n a n z i e r t

Für die Innovations- und mithin Zukunftsfähigkeit einer Volkswirtschaft sind Un-ternehmensgründungen von besonderer Bedeutung. Mit 13.000 bis 15.000 tech-nologieorientierten Unternehmensgründungen pro Jahr verfügt Deutschland zwar prinzipiell über eine enorme Innovationsfähigkeit, allerdings kann dieses Potenzial oftmals nicht genutzt werden, da es für rund 70% der Unternehmens-gründer sehr problematisch ist, das nötige Kapital aufzutreiben. Kein Wunder, dass sich diese Situation durch die globale Finanzkrise weiter verschärft hat. Als Betreuer zahlreicher Start-up-Unternehmen am Gründerzentrum der RWTH Aachen kamen die Gründer von Innovestment.de tagtäglich mit diesen Proble-men in Berührung. Angesichts des Erfolgs der Crowdfunding-Plattformen, über die zahlreiche Projekte im sozialen und kulturellen Bereich finanziert werden konnten, beschlossen sie, das Prinzip des Crowdfundings auf die Finanzierung von Unternehmensgründungen anzuwenden. Crowdfunding bedeutet, dass meh-rere Personen („Crowd“) kleinere Geldbeträge über das Internet spenden, um die Realisierung bestimmter Projekte zu ermöglichen – beispielsweise die Pro-duktion einer neuen Musik-CD. Gelingt es dem Musiker, genügend Unterstützer zu finden, kann er seine neue CD produzieren. Typischerweise erhält dann jeder Spender ein kleines Dankeschön, beispielsweise eine handsignierte CD. Im Unterschied zum Crowdfunding geht es den Betreibern der Online-Platt-form innovestment.de um Crowdinvesting – das heißt die Geldgeber bekommen statt der CD Unternehmensanteile (Mindestsumme für eine Beteiligung: 1.000 Euro) und mithin die Möglichkeit, von den Erlösen und dem Wertzuwachs der Unternehmen zu profitieren. Dabei geht es vorwiegend um Unternehmen, die im Technologiebereich tätig sind. Die Unternehmensgründer können ihr Projekt in-zwischen über 3.500 registrierten Investoren präsentieren. Damit sind sie bei der Verwirklichung ihrer Idee nicht länger nur auf die Gunst der Banken oder einiger weniger Venture-Capital-Gesellschaften angewiesen. Zudem kommen sie in Kon-takt mit zahlreichen Personen, die im besten Fall den/die Unternehmensgründer über die finanzielle Beteiligung hinaus unterstützen. Seit der Gründung 2011 wur-den bereits 16 Start-ups erfolgreich über Innovestment.de finanziert und damit weit über eine Million Euro an Kapital vermittelt.

Mehr zu Innovestment unter: www.innovestment.de

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Land in Sicht

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PREMIUM COLA 0,5l (links) und PREMIUM COLA 0,33l (rechts)

FRAGE AN UWE LÜBBERMANN VON PREMIUM: Die Krise bleibt oft sehr abstrakt. Wo kann man konkret etwas verändern?

„Ich fordere immer „nur“ einen Systemwandel, nicht einen Sys- temwechsel, weil ich gar nicht weiß, wie ein alternatives und besseres System aussehen könnte. Was ich aber weiß: Das vorhan-dene kann sozialer, stabiler, nach-haltiger gestaltet werden – von fast jedem Anbieter und fast je- dem Konsumenten. Für das Über-leben des gesamten Planeten wird das jedoch nicht reichen – zu- mal dann nicht, wenn die restli-chen 5/6 der Weltbevölkerung auch nach westlichem Standard leben wollen. Da helfen auch nicht Bio, Fairtrade und grüne Autos. Aus meiner Sicht bedarf es eines richtig fiesen Crashs, um im Bewusstsein der Menschen welt-weit etwas zu ändern.“

P R E M I U M—

J e n s e i t s ö k o n o m i s c h e r „ G e s e t z e “

Wenn ein Problem unseres ökonomischen Systems die Notwendigkeit der Gewinn-steigerung darstellt, könnte man das Gewinnstreben doch einfach abschaffen, oder nicht? Warum gewährt man großen Firmen (Mengen-)Rabatte, obwohl man doch weiß, dass kleinere Firmen diese Rabatte oftmals viel nötiger hätten – und auch häufig nicht im gleichen Maße von Privilegien/Subventionen profitieren? Wenn die Menschheit ein Vielfaches von dem konsumiert, was sie zum Leben benötigt und was die Ressourcen des Planeten hergeben, wäre es dann nicht eine gute Idee, aktive Werbung zu unterlassen, damit nicht ständig neue Konsumanreize geschaffen wer-den? Die intuitive Antwort auf diese Fragen lautet wohl: „Das kann doch nicht funktio-nieren!“ Was aber, wenn das einer nicht weiß und es einfach probiert? Wir wollen den Gründern von PREMIUM nicht unterstellen, dass sie keine Ahnung von den ökono-mischen „Gesetzen“ hätten – aber die Tatsache, dass sie gänzlich auf Gewinne ver- zichten (es geht tatsächlich ausschließlich darum, die Kosten zu decken; übersteigen die Einnahmen die Ausgaben, werden kurzerhand die Preise der Produkte gesenkt), keinen Mengenrabatt gewähren, keine Werbung machen und dennoch jeden be-zahlen, der für PREMIUM arbeitet, belegt, dass ökonomische Gesetze nur in unserer Vorstellung existieren. Was ist PREMIUM? Die Gründung von PREMIUM geht zurück auf den Verkauf der Markenrechte von afri-cola. Als der neue Eigentümer die Rezeptur änderte, empörte dies einige afri-cola-Fans derart, dass sie sich unter dem Label „Premium-Cola“ ihre Lieblings-Cola nach der Originalrezeptur herstellen ließen. Die Nachfrage stieg und man überlegte sich, größere Mengen der Cola herzustellen und zu vertreiben. Da es nicht um Gewinne ging, hatte man genug Zeit, sich zu überlegen, nach welchen Prinzipien man wirtschaften wollte. Man sah keinen Anlass, sich in vorlaufendem Ge- horsam vermeintlichen „Marktgesetzen“ zu beugen. So traf entscheid man sich da- für, nach den oben genannten Grundsätzen zu wirtschaften und zudem die Firma als Kollektiv zu führen.Heute gibt es unter der Marke PREMIUM neben Cola noch Bier, Limo und Kaffee.

Mehr zu PREMIUM unter: www.premium-cola.de

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