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Klaus W. Hälbig Die Schönheit des Logos Kosmische Kreuzestheologie und das Mond-Mysterium der Kirche

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Klaus W. Hälbig

Die Schönheit des LogosKosmische Kreuzestheologie unddas Mond-Mysterium der Kirche

Klaus W. Hälbig

Die Schönheitdes LogosKosmische Kreuzestheologie unddas Mond-Mysterium der Kirche

Umschlagbild: Schauen auf den Durchbohrten, Kreuzigungsfresko in Santa Maria Antiqua,

Rom, um 750

1. Auflage 2016Copyright © 2016 by EOS Verlag Sankt Ottilien

[email protected]

ISBN 978-3-8306-7800-7

Bibliografische Information der Deutschen BibliothekDie Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben

sind im Internet unter http://dnb.ddb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten.Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form

(durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlags

reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt und verbreitet werden.

Printed in Germany

Zum Gedenken an Pater Heinrich Bacht SJ

(1910–1986)

Inhaltsverzeichnis

Geleitworte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13

Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27

GRUNDLEGUNGDie Schönheit des Logos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55

1 . Mensch zwischen Gott und Teufel . . . . . . . . . . . . . . . . . 562 . Kosmischer Sündenfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 623 . Engel, Bild und Weisheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 724 . Der Tempel: Mitte der Schöpfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 815 . Passion, Paradies und Parusie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 896 . Schöpfungs- und Erlösungsordnung . . . . . . . . . . . . . . . 957 . Vernunft, Aufklärung und Sinnfrage . . . . . . . . . . . . . . . 1038 . Kreuz zwischen Sonne und Mond . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1089 . Islam, Koran und Sufi-Mystik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11410 . Erlösung als Heilige Hochzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123

I . DIE SCHÖNHEIT DES ERLÖSERS UND DER ERLÖSTENGrundperspektiven kosmischer Kreuzestheologie . . . . . . . . . . 133

1 . Kosmische Kreuzestheologie im Überblick . . . . . . . . . . 1362 . Das Kreuz in der Kritik der Moderne . . . . . . . . . . . . . . . 1463 . Das Kreuz bei Paulus und Luther . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1544 . Die Erlösungsbedürftigkeit von Welt und Fleisch . . . . . 1625 . Der Aufstieg auf der ‚Leiter‘ des Kreuzes . . . . . . . . . . . . 170

II . DIE HEILUNG DER AUGEN DES HERZENSErlösung als Wiederherstellung geistiger Sinnlichkeit . . . . . . . 177

1 . Sündenfall, Mysterium Lunae und Eucharistie . . . . . . . . 1832 . Die Verwerfung des Kreuzes im Islam . . . . . . . . . . . . . . 193

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3 . Natürliche Gottesoffenbarung im Zeichen des Lammes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2064 . Der gekreuzigte Gerechte im Markusevangelium . . . . . 2125 . Der offene Himmel: Österlich sehen lernen . . . . . . . . . . 220

III . DIE SCHÖNHEIT DES SCHÖPFERS UND DER SCHÖPFUNG Zahlensymbolische Erschließung des kreuzförmigen Kosmos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227

1 . Die Schönheit im Spiegel der Zahlen . . . . . . . . . . . . . . . 2302 . Schöpfung und Kreuz zahlensymbolisch: 1–4 . . . . . . . . 2423 . Kosmische Vorgeschichte der Drei Österlichen Tage . . 2544 . Zahlenmäßige Grundstrukturen: Sefirot-Baum . . . . . . . 2635 . Siebter und achter Tag: Verlobung und Hochzeit . . . . . . 271

IV . LIEBEN ALS TUN ‚UMSONST‘Der Sinn der Welt: Gratuität versus Absurdität . . . . . . . . . . . . . 281

1 . Der böse Trieb und Abrahams Gottesfurcht . . . . . . . . . . 2872 . Vollkommenheit der Hingabe im Opfer . . . . . . . . . . . . . 2963 . Duft und Ordnung der Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3034 . Keuschheit versus Begierde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3095 . Hiobs Gottesschau und Freude . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315

V . AUFGANG DES SCHÖNSTEN LICHTSDie Selbstverherrlichung Gottes im Opfer am Kreuz . . . . . . . . 327

1 . Die Erfüllung des Schöpfungssinns im Kreuz . . . . . . . . 3332 . Aufgang des wiederkommenden Lichts im Osten . . . . . 3413 . Die unendliche Verherrlichung Gottes . . . . . . . . . . . . . . 3514 . Der Kreuzweg Jesu als königlicher Sonnenweg . . . . . . . 3585 . Der Brautbund Gottes mit der Erde . . . . . . . . . . . . . . . . 365

SCHLUSS„Durch das Kreuz kommt Freude in die Welt“ . . . . . . . . . . . . . 380

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409Namensverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 419

Inhaltsverzeichnis

1

Dem Schönen Gottes verdanken alle Wesen, dass sie in der ihnen entsprechenden Weise schön sind. Durch das Schöne bestehen die Harmonien des Alls, Freundschaften und Gemeinschaf-ten. Durch das Schöne ist alles geeint. Urbeginn von allem ist das Schöne, weil es die hervor-bringende und alles bewegende Ursache ist und alles durch die Liebe zur eigenen Schönheit zusammenhält.

Pseudo-Dionysius Areopagita, Über die göttlichen Namen (IV, 7)

2

Denn weil die Menschen die Erkenntnis Gottes aus den Werken missbrauchten, so wollte Gott wiederum aus den Leiden erkannt werden und jene Weisheit der unsichtbaren Dinge durch die Weisheit der sichtbaren verwerfen, damit so diejenigen, die Gott nicht verehren, wie er offenbar ist aus seinen Werken, ihn verehren sollten, wie er verborgen ist in den Leiden, wie es 1. Kor 1 (21) heißt. (…) Darum ist die wahre Theologie und Erkenntnis Gottes in dem gekreuzigten Christus. So auch Joh (14,6): „Niemand kommt zum Vater, denn durch mich“, (und Joh 10,9): „Ich bin die Tür“ usw.

Martin Luther, Heidelberger Disputation (1518)

3

Musste schon für jeden, der den allein wahren Gott anbeten wollte, die Verkündigung und Ver-ehrung eines Toten als lästerlich erscheinen, so galt dies umso mehr, wenn dieser aus jüdischer Sicht zu Recht als Gotteslästerer Verurteilte auch noch ein Gekreuzigter war, ein nach dem Gotteswort der Tora (Dtn 21,31 LXX) von Gott selbst Verfluchter. Die urchristliche Verkündi-gung des Gekreuzigten war in griechischen Ohren ein großer Aberglaube, in jüdischen Ohren ein gotteslästerlicher Skandal.

Jörg Frey, Paulinische Perspektiven zur Kreuzestheologie

4

Ein unbekannter Grieche des 4. Jahrhunderts stellt das Kreuz dem Sonnenkult gegenüber und sagt, jetzt aber sei Helios (die Sonne) vom Kreuz besiegt, „und der Mensch, den die geschaffe-ne Sonne am Himmel nicht belehren konnte, siehe, jetzt wird er vom Sonnenlicht des Kreuzes umstrahlt und (in der Taufe) erleuchtet“. Dann nimmt der Unbekannte das Wort des heilige Ignatius von Antiochien († um 110) auf, der das Kreuz als Hebewerk (mechane) des Kosmos für den himmlischen Wiederaufstieg bezeichnet hatte (Eph 9,1), und sagt: „O dieser wahrhaft göttlichen Weisheit! O Kreuz, du Hebewerk zum Himmel. Das Kreuz wurde eingerammt – und siehe, der Götzendienst wurde vernichtet. Nicht ein gewöhnliches Holz ist es, sondern ein Holz, dessen sich Gott bediente zum Siege.“

Joseph Ratzinger, Der Geist der Liturgie

5

Seit Anbeginn stand das hehre Zeichen über der Welt, der Himmel spiegelt es ebenso wie das Antlitz der Erde; aber erst jetzt am Ende der Zeit, da der Welterlöser an ihm gestorben ist, wird sein Mysterium offenbar. Jetzt enthüllt sich dieses Kreuz als das innerste Geheimnis der Welt, ihre verborgene Struktur, als der ewig vorbestimmte Grundriss und Bauplan des Kosmos. Es steht über und in der Schöpfung und scheint durch die Dinge hindurch als ihr Urbild und Inbild und ihr geheimster Sinn. Das Wort Tertullians, Gott habe den Menschen geschaffen aus der Schau Christi, des kommenden Menschensohnes, hat ja Geltung für alle Kreatur. Was immer Gott erschuf, ging hervor aus dem Liebesblick des Vaters auf den Sohn, des Gekreuzigten, „der keinen anderen Grund zum Geborenwerden hatte als den, dass er ans Holz geheftet werden könnte“. Hier floss sein Blut nicht nur für den sündigen Menschen, sondern es netzte auch die ganze mitversehrte Schöpfung, die in Wehen nach ihrem Erlöser seufzte (vgl. Röm 8,20-22). Irenäus bestätigt diese universale Tragweite des Erlösungsopfers durch sein tiefes Wort, dass Christus schon als weltbildender Logos seine Kreuzesgemeinschaft auch dem All symbolisch aufgeprägt habe, ja dass er selbst „in den Dingen gekreuzigt“ sei, insofern er sich in ihnen als der Gekreuzigte zu schauen gibt.

Photina Rech, Inbild des Kosmos I (Kreuz und Kosmos)

6

Die Schönheit des Menschen und der anderen Geschöpfe gründet in der Schönheit Christi. Die größtmögliche Schönheit des Menschen erblickt Florenskij im gekreuzigten Menschensohn: „Die Blüte der menschlichen Gestalt, das schönste, was es am Menschen gibt, ist, wenn er kreuzförmig ausgestreckt ist.“ Nach Florenskijs Auffassung reicht es nicht aus, das Kreuz nur als Zeichen der Schande und des Todes, als ‚Galgen‘ zu betrachten, sondern vor allem als Prä-gemal, mit dem die gesamte Schöpfung bezeichnet ist. Die Schönheit des Logos kulminiert nach Florenskij am Kreuz, weil Christus am Kreuz dem Vater sein Lebensopfer darbringt. Sei-nem Opferdienst entspringen die Sakramente. (…) Der ‚schöne‘ Mensch ist der Heilige.

Johannes Schelhas, Schöpfung und Neuschöpfung im theologischen Werk Pavel A . Florenskijs (1882–1937)

7

Es ist gut, dass jede Katechese dem „Weg der Schönheit” (via pulchritudinis) besondere Auf-merksamkeit schenkt. (…) Es geht … darum, die Wertschätzung der Schönheit wiederzuge-winnen, um das menschliche Herz zu erreichen und in ihm die Wahrheit und Güte des Aufer-standenen erstrahlen zu lassen. Wenn wir, wie Augustinus sagt, nur das lieben, was schön ist, dann ist der Mensch gewordene Sohn, die Offenbarung der unendlichen Schönheit, in höch-stem Maß liebenswert und zieht uns mit Banden der Liebe an sich. Dann wird es notwendig, dass die Bildung in der via pulchritudinis sich in die Weitergabe des Glaubens einfügt. (…) Jeden Tag wird in der Welt die Schönheit neu geboren, die durch die Stürme der Geschichte verwandelt wieder aufersteht.

Papst Franziskus, Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium (167; 276)

8

Wenn Gott vor allem schön ist, dann kommt es im christlichen Glaubensleben nicht nur dar-auf an, auf das wahre Wort Gottes zu hören und seinen guten Geboten zu folgen. Dann geht es vielmehr auch darum, Gott in seiner wunderbaren Schönheit zu genießen und selbst schön zu leben. (…) Im Lichtkegel der Betrachtung der Schönheit Gottes gehen freilich die anderen Eigenschaften Gottes nicht unter, sondern sie erstrahlen vielmehr auch in ihrem wahren Ge-sicht. Dies gilt vor allem für das Gutsein Gottes mit dem Menschen und der Welt, das uns die dramatische Dimension der Heilsgeschichte aufschließt, die im Ringen zwischen der unendlich guten Freiheit Gottes und der endlichen sündigen Freiheit des Menschen besteht. Alles zielt aber auf die Wahrheit Gottes, die uns in seiner Konkretheit, nämlich im menschlichen Antlitz Jesu Christi, offenbart ist.

Kurt Koch, Von der Schönheit Gottes Zeugnis geben (Predigt zum 100 . Geburts-tag von Hans Urs von Balthasar am 26 . Juni 2005 in St . Leodegar in Luzern)

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Zur Phänomenologie des Menschen hat schon immer die Welt gehört, wie auch zur Erschei-nung des Kosmos der Mensch. In allen archaischen Weltbildern – die nicht weniger kompli-ziert sind als unsere modernen, nur anders gelagert – hat der Mensch nicht nur den ersten Platz, sondern die absolute Schlüsselstellung. Der Mensch ist genauso gut die Antwort auf die Welträtsel wie auch die Welt die Antwort ist auf die ewige Frage Mensch. (…) In dieser kriti-schen Situation [der Ökologiekrise] scheint mir mit der Hildegard-Renaissance unserer Tage wahrhaftig ein Zeichen der Zeit gegeben: mehr noch: ein Signal für die Welt von morgen, für eine auf uns zukommende Lebenswelt, über die wir nicht – durch Wissen und Aufklärung – informiert, zu der wir vielmehr – in Wandlung und Wendung – motiviert werden müssen. In Hildegards Weltschau dominiert kein Begriff und geistert keine Idee, sondern lebt das Wort [Logos], das im Anfang war und das leibhaft in die Welt gekommen ist. Inmitten der Schöp-fung wird der Mensch vom Schöpferwort persönlich in Anspruch genommen und in einen leib-haften existentiellen Dialog gestellt, in einen lebenslangen Integrationsprozess. Das ist in der Tat das, was diese alte Welt so modern macht!

Heinrich Schipperges, Hildegard von Bingen . Ein Zeichen für unsere Zeit

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Unsere Liebe Frau muss Schönheit besitzen, und zwar von einer solchen Größe, dass sie der Schönheit ihres Sohnes entspricht, dessen Schönheit größer ist als jede Schönheit, die je er-schaffen wurde. Und weil die körperliche Schönheit unseres Herrn Jesus Christus jede andere körperliche Schönheit übertrifft, muss auch die Schönheit unserer Lieben Frau alles andere an Schönheit übertreffen, in der Weise, dass ihre Farbe schöner und ergötzender anzuschauen ist als die Farbe des Schnees oder der Blumen, dass sie strahlender ist als der Glanz der Sonne.

Ramon Llull, Das Buch über die heilige Maria (Über die Schönheit)

Vorwort

Das Kreuz, das zentrale Symbol des christlichen Glaubens, wird ge-wöhnlich als Chiffre für Leid und Tod gesehen . Demgegenüber soll hier das Kreuz als Urform der Wirklichkeit in den Blick gebracht werden, das heißt als Gegensatz-Einheit von Geist (vertikal) und Materie (hori-zontal), unsterblicher Geistseele und sterblichem Körper, Vernunft (Lo-gos) und Fleisch, symbolisch: von Sonne und Mond, Tag und Nacht, männlich und weiblich, christologisch: von Gottheit und Menschheit in Christus . Dieser ist wesenhaft der „Gekreuzigte“ (1 Kor 1,23) und das Christentum in diesem Sinn die „Religion des Kreuzes“ (Tertullian) .

Die Urform des Kreuzes lässt sich wiederum in vier Grundformen darstellen, von denen sich dann alle weiteren Kreuzzeichen ablei-ten: das lateinische Kreuz (†), das griechische Kreuz (+), das T-Kreuz oder Buchstabenkreuz (Taw, Tau) und das Andreas- oder Chi-Kreuz (X) . Sie alle sind Zeichen des Kosmos, wobei das lateinische Kreuz (†) mehr für den kreuzförmigen Menschen als Mikrokosmos steht, das griechische (+) mehr für den kreuzförmigen Makrokosmos . In seiner Form verstanden ist das Kreuz der Inbegriff einer wahren Syn-these von Geist und Materie als ‚Mitte‘ der Welt .

Der Katechismus der Katholischen Kirche (1992) sagt vom Menschen als Bild Gottes: „In seiner Natur vereint er die geistige mit der materi-ellen Welt“ (355) . Seine unsichtbare Geistseele ist „unmittelbar von Gott geschaffen“, was symbolisch durch die Vertikalität ausgedrückt wird, während der sichtbare Körper, der „von den Eltern ‚hervorge-bracht‘“ wird, als horizontal zu verstehen ist (366) . Der tagsüber ‚ste-hende‘ und nachts ‚liegende‘ Mensch realisiert somit in dem Maße seine gottebenbildliche Vernunft- oder Logosnatur, als er christus- oder logosförmig wird, das heißt kreuzförmig . Was vom Menschen als Mikrokosmos gilt, kann auch vom Makrokosmos der Vier Welt-Elemente gesagt werden: Die zwei oberen, vertikalen Elemente Feuer und Luft verbinden sich kreuzförmig mit den zwei unteren, horizon-talen Elementen Wasser und Erde .

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Als Martin Luther (1483–1546) vor 500 Jahren seine Theologia cru-cis entwickelte, hatte er nicht mehr – wie noch die Kirchenväter – das Kreuz als symbolische Urform des Menschen und des Kosmos vor Augen . Auch die Korrespondenz zwischen der Erschaffung des Menschen am 6 . Tag (Freitag) als König in der Mitte des schönen, kreuzförmigen Kosmos in ursprünglicher Schönheit und harmoni-scher Gerechtigkeit und – nach dem Fall – seiner Erlösung im Tod des fleischgewordenen Logos-Creator auf dem Kreuzesthron am 6 . Tag (Karfreitag) stand bei Luther nicht mehr im Blick . Jesu lichtvolle Auferstehung geschieht „am dritten Tag“ (1 Kor 15,4), das heißt am ‚8 . Tag‘ (Sonntag) – jenseits der Sieben-Tage-Schöpfung . Im Weltka-techismus heißt es zum „achten Tag“: „Am achten Tag beginnt die Neuschöpfung . So gipfelt das Schöpfungswerk [der sieben Tage] im noch größeren Werk der Erlösung . Die erste Schöpfung findet ihren Sinn und Höhepunkt in der Neuschöpfung in Christus, welche die erste an Glanz übertrifft“ (KKK 349) .

Liturgisch gefeiert wird Ostern als sonnenhafter Sieg über die ‚Finsternis‘ von ‚Sünde, Tod und Teufel‘ am ersten Sonn-tag nach dem Frühlings-Vollmond . Sol und Luna sind dabei verstanden als die kosmischen Repräsentanten der Prinzipien des Männlichen und des Weiblichen . Von daher vollendet sich die Erlösung in Jesu vollkom-mener Liebeshingabe am Kreuz in der ‚Heiligen Hochzeit‘ als Eins-sein von ‚männlichem‘ Schöpfer und ‚weiblicher‘, geliebter und erlö-ster Schöpfung (s . u . Grundlegung, Abschnitt 10) .

Luther hat als junger Augustinermönch und ‚Doktor der Heili-gen Schrift‘ besonders in seiner Heidelberger Disputation 1518 seine Kreuzestheologie als Gegensatz zur scholastischen Theologie vor-gestellt . Das Kreuz ist darin das Vorzeichen vor aller Theologie als Erkenntnis Gottes . Wer am Kreuz vorbei – etwa durch ‚natürliche‘ Erkenntnis Gottes im Werk der geschaffenen Wirklichkeit – zu Gott gelangen will, verfehlt ihm zufolge gerade die Pointe der christlichen Erlösungsbotschaft . Nach Walther von Loewenich (Luthers Theologia crucis) bestimmte die Kreuzestheologie nicht nur die Frühphase Lu-thers, sondern sein ganzes Denken . In der mittelalterlichen Mönchs-theologie fänden sich zwar „viele der theologia crucis verwandte Ge-danken“ (223); das entscheidend Reformatorische aber sprenge ge-rade den in der Scholastik festgehaltenen sakramentalen oder kreuz-förmigen Zusammenhang von Natur und Gnade, Schöpfung und

Vorwort

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Erlösung, sichtbarer und unsichtbarer Welt, Bild und Wort, Proton und Eschaton, Eros und Agape, Werke und Glaube, Philosophie und Theologie (usw .) . Aus der „Exklusivität des Glaubens“ im Sinn der reinen Vertikalität „folgt die Ablehnung der natürlichen [und damit auch der kosmischen] Theologie“ (137; vgl . 23) .

Der sich in der Sünde ausweglos verloren fühlende Luther war auf der Suche nach einem ‚gnädigen Gott‘ . Er fand für sich die Lösung in der auf Paulus zurückgehenden ‚Rechtfertigungslehre‘: Der gerech-te Sohn Gottes stirbt anstellte des ungerechten Sünders für ihn, um ihn so durch die im Glauben ‚passiv‘ empfangene Zusage und Ver-heißung (promissio) der rettenden Gerechtigkeit Gottes (wieder) ge-recht zu machen – aus Gnade und Barmherzigkeit (Röm 3,28) . Lu-thers ‚Römerbrief-Theologie‘ hat damit seinen Adressaten im einzel-nen Menschen als erlösungsbedürftigem Sünder . Kardinal Walter Kas-per stellt in seiner Publikation Martin Luther (2016) fest: „Die katho-lische Kirche versteht sich als Sakrament für die Welt und weiß, dass die Kirche ihrem Wesen nach missionarisch ist; die evangelischen Kirchen haben seit der Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Uppsala 1968 eine ähnliche Wende vollzogen und die einseitige Fokussierung und Engführung auf die Rechtfertigung des je Einzelnen aufgebrochen“ (52) .

In der Erlösung am Kreuz geht es nicht nur und nicht zuerst um den einzelnen Menschen, sondern um die Menschheit als ganze, ja um den ganzen gefallenen Kosmos . So heißt es im Johannesevan-gelium, der in Jesus Christus fleischgewordene Logos-Creator als am Kreuz geopfertes „Lamm Gottes“ nimmt hinweg „die Sünde des Kosmos“ (Joh 1,14 .29) . Die Erlösung von ‚Sünde, Tod und Teufel‘ ist danach nicht weniger als ein kosmisches Drama, in das die gan-ze Schöpfung einbezogen ist . „Auch die Schöpfung“, sagt ja schon Paulus, „soll von der Sklaverei und Verlorenheit befreit werden zur Freiheit und Herrlichkeit der Kinder Gottes . Denn wir wissen, dass die gesamte Schöpfung bis zum heutigen Tag seufzt und in Geburts-wehen liegt“ – wie auch diejenigen, die im Glauben die „Erstlings-gabe“ des Heiligen Geistes empfangen haben, seufzen in Erwartung „der Erlösung unseres Körpers“ (Röm 8,21-23) . Alles Gebären und Sterben aber steht im Zusammenhang mit dem Mond oder mit Luna als „Urgrund aller Geburt“ (Johannes Lydos) . Deshalb sehen die Kir-chenväter die in der Taufe ‚jungfräulich‘ gebärende ‚Mutter Kirche‘

Vorwort

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vor allem im Bild des Mondes und sprechen in ihrer Bildtheologie vom Mysterium Lunae .

Der Menschenkörper und der Weltkörper, Mikrokosmos und Makrokosmos bilden für das alte Denken eine zusammengehö-rende, untrennbare Einheit . Deshalb kann es explizites Christsein auch immer nur in Gemeinschaft der einen, universalen Welt-Kir-che als ‚Leib Christi‘ geben . Die Kirche ist keine bloß menschliche Institution und schon gar nicht die von Luther so sehr diffamier-te anti-christliche „Papstkirche“, sondern – wie es in der Dogmati-schen Konstitution über die Kirche Lumen gentium des Zweiten Vati-kanischen Konzils gleich in der ersten Ziffer zum „Mysterium der Kirche“ heißt – sakramentales „Zeichen und Werkzeug für die in-nigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Mensch-heit“ . Dazu verkündet sie „das Evangelium allen Geschöpfen (vgl . Mk 16,15)“ . Die Kirche ist „das im Mysterium schon gegenwärtige Reich Gottes“, sie „wächst durch die Kraft Gottes sichtbar in der Welt“ (LG 3) . Von der Feier der ‚kosmischen Eucharistie‘ her ist sie der kosmische ‚Leib Christi‘ (als Heiligtum) und so die Mitte des im Kreuz erlösten Kosmos .

Das vorliegende Buch entfaltet das Gesamtthema „Die Schönheit des Logos“ am Kreuz im Hinblick auf eine kosmische Kreuzestheo-logie und das Mond-Mysterium der Kirche in den vier Teilen Einfüh-rung, Grundlegung, Hauptteil und Schluss . Dem Ganzen vorange-stellt sind als Einstimmung zehn Zitate unterschiedlichster Autoren, die sich vor allem auf die „Schönheit“ beziehen . Diese wird, wie der Jesuit und Kunsthistoriker Herbert Schade (1920–1988) betont, „seit Urzeiten als das Motiv der Liebe bezeichnet, wobei man sich schwer-tut, ähnlich wie bei der Kunst, das Wesen dieser Schönheit zu de-finieren“ (Der „Himmlische Mensch“, 42) . Der im Sehen besonders ge-schulte dänische Anatom und Geologe, Konvertit und Apostolische Vikar für die Missionen in Skandinavien, der selige Niels Stensen (1638–1686), sagte in seiner Antrittsvorlesung im Fach Anatomie in Kopenhagen (1673) angesichts der schönen Haut einer verstorbenen jungen Frau: „Schön ist, was wir sehen, schöner, was wir wissen, weitaus am schönsten, was man nicht weiß“ (vgl . Frank Sobiech, Ra-dius in manu Dei, 72) . Ein anderes Wort von ihm lautet: „Dies ist der wahre Zweck der Anatomie: Die Zuschauer durch das wunderbare Kunstwerk des Körpers zur Würde der Seele und folgerichtig durch

Vorwort

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das Bewundernswerte an beiden zur Kenntnis und Liebe des Schöp-fers emporzuheben .“

Der Schlussteil des Buches akzentuiert die Schönheit noch ein-mal unter dem Aspekt der „Freude“ der Liebe und des Lebens, die – wie es in der Antiphon zur Kreuzverehrung am Karfreitag heißt – durch das lebensspendende Kreuz (des Leidens des Erlösers) in die Welt kam . Zur Sprache kommt dabei die kosmische Kreuzestheo-logie eines der wichtigsten Theologen des ersten christlichen Jahr-tausends, des griechischen Mönchs Maximus Confessor (580–662), der auch die Schönheit des Gekreuzigten thematisiert . Das ist nicht zuletzt in der theologischen Auseinandersetzung mit dem Islam von großer Relevanz . Denn nach dem Theologen Klaus von Stosch (Pa-derborn), der bis 2018 das Forschungsprojekt „Jesus im Koran“ be-treibt, konfrontiert der Koran nicht nur „sehr stark mit der Schön-heit und Majestät Gottes“; auch Jesus, von dem über hundert Ko-ranverse handeln, wird unter diesem Aspekt gesehen: „Die muslimi-sche Mystik spricht von Jesus immer als dem Schönen und sieht die Schönheit in Jesus gewissermaßen inkarniert . Jesus als den Schö-nen, der den Glanz Gottes in die Welt bringt, haben wir gelegent-lich in unseren Weihnachtliedern, nicht aber in unserer Theologie . Vielmehr wird unser Jesus- und Gottesbild von der Hässlichkeit des Kreuzes geprägt . Im Vordergrund stehen Gottes Liebe, Barmherzig-keit und Gerechtigkeit“ (Interview „Die Ideologie des IS entlarven“, in: KNA-Ökumenische Information vom 31 . Mai 2016, 13-15, hier 15) . Will man dieser für den interreligiösen Dialog überaus bedenkli-chen theologischen Einseitigkeit begegnen, dann ist die Schönheit gerade des am Kreuz Erhöhten wieder neu in den Blick zu bringen .

Dazu gehört, dass der christliche Neuplatoniker Pseudo-Diony-sius Areopagita (um 500), auf den sich wiederum Thomas von Aquin in seinem Kommentar bezieht, in seinem Buch Über die göttlichen Na-men das Schöne bestimmt als „consonantia et claritas“, was Hans Urs von Balthasar so erläutert: „consonantia ist der Zusammenklang der Teile, somit im Wesentlichen dasselbe wie Harmonie, Proportion, Ordnung, Wohlgestalt; claritas ist das in dieses ‚waagrechte‘ Ord-nungsgefüge senkrecht von oben einfallende Glanzlicht“ (Herrlich-keit III,1, 358) . Die claritas als transzendentale Grundbestimmung aller Geschöpfe lässt sie teilhaben an der lichtvollen Helle oder dem „Urlicht“ des Logos (369): Alle Geschöpfe sind schön (griech .

Vorwort

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καλόν), weil sie ‚heimgerufen‘ werden (‚rufen‘, griech . καλεΐν) zu ihrem göttlichen Ursprung und Ziel .

Das Titelbild ist ein Kreuzigungs-Fresko von Mönchen, die nach Ausbruch des bilderfeindlichen Ikonoklasmus (730) aus dem Osten nach Rom gekommen waren und bei der Kirche am Forum ihr Klo-ster hatten . Es befindet sich an der Stirnwand in der Grabkapelle des Theodotus in der Kirche Santa Maria Antiqua in Rom (um 750) und stellt sinnbildlich das Erlösungsgeschehen dar . Es gilt als „das be-deutendste Beispiel der Ikonographie des Gekreuzigten mit den offe-nen Augen, das sich innerhalb der Monumentalmalerei erhalten hat“ (Hans-Joachim Schulz, Das Zeugnis der Ikone vom erlösenden Kreuzestod des Herrn, 44) . Als kleine Figuren in den Hintergrund gesetzt sind der Lanzenträger „Longinus“ und der Mann mit dem Essigschwamm, während der aufrecht stehende Gekreuzigte mit dem kaiserlichen Streifengewand als eigentliche Lichtquelle in seiner Schönheit zwi-schen zwei Bergen erscheint, „der ägyptischen Hieroglyphe für das Portal der Sonne bei ihrem Einzug in diese Welt“ (Der „Himmlische Mensch“, 39) .

Auch die einladende Geste der ausgebreiteten Arme, die alles überragen, erinnert an die Strahlen der schönen Sonne, die österlich als schönstes Licht in der ‚Mittagsnacht‘ des Kreuzes im Untergang unvergänglich aufgeht (vgl . die Bildbetrachtung in meinem Buch: Der Schlüssel zum Paradies, 97-104) . Maria und der Lieblingsjünger Jo-hannes mit dem Evangelienbuch flankieren unterhalb der Arme die Gestalt des schönen Erlösers ebenso wie Mond und Sonne oberhalb der Arme: Wie im Himmel, so auf der Erde . Andere frühe Kreuzesdar-stellungen wie die des syrischen Rabula-Codex (586) zeigen auch die drei übrigen Frauen unter dem Kreuz, die im Johannesevangelium na-mentlich genannt werden . Denn mit Jesu Mutter standen „die Schwe-ster seiner Mutter, Maria, die Frau des Klopas, und Maria von Magda-la“ bei dem am Kreuz Erhöhten (Joh 19,25), insgesamt also vier .

Nach der universalen, überzeitlichen Sprache der Zahlen und ih-rer Symbolik, die auch die Bibel verwendet, steht die Zahl vier für den sichtbaren Kosmos, während die Eins in der Mitte das Göttlich-Ei-ne oder den einen, unsichtbaren Gott symbolisiert . So wird am vier-gliedrigen Kreuz und seiner einen Kreuzmitte der Brautbund der ewi-gen Liebe und Einheit zwischen dem Schöpfer und seiner geliebten Schöpfung im Bundesverhältnis von 1 (Lieblingsjünger) zu 4 (Frau-

Vorwort

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en) neu geschlossen und in diesem Sinn die Welt erlöst, das heißt als Vermittlung wieder transparent für die Erkenntnis des Gottes, der als Logos-Creator Licht und Leben schenkt (Joh 1,4 .9) . Am wichtigsten ist die eine Herzwunde, aus der das ‚Blut des Bundes‘ und das Geist-Wasser des ewigen Lebens entströmen (Joh 7,38f; 19,34) . Denn nur der Heilige Geist kann die Herzen reinigen, von ihrer Blindheit hei-len und so wieder sehend machen für das sinnschöpferische Wirken des Schöpfer-Logos im geschaffenen und erlösten Kosmos .

Die Sprache der Zahlen ist die einzige Welt-Sprache, die von allen Menschen zu allen Zonen und Zeiten eindeutig verstanden wird . Des-halb ist sie für die sprachliche Selbstoffenbarung des einen Schöpfers und für die Katholizität der einen Welt-Kirche, in der die Menschheit die in der Hybris des ‚Turmbaus zu Babel‘ (Gen 11,1-9) verlorene Ein-heit der Sprache zurückerlangt, von größter Bedeutung . Der rumäni-sche Philosoph, Kunsthistoriker und Politiker Andrei Pleşu erwägt in seinem Buch Das Schweigen der Engel (2007), einem Grundlagenwerk der heutigen Angelologie, ob die (künftige) Einheitssprache „eine noch unbekannte ‚Engelssprache‘ sein“ könnte, verweist dann aber darauf, dass „es bereits eine Sprache (gibt), die alle Welt ohne Un-terschied der Nationalität versteht . Es ist die Sprache der Musik, ein genuines ‚Universalidiom‘, das an ökumenischer Qualität nur einen Konkurrenten hat, nämlich die Sprache der bildenden Kunst“ (124) . Allerdings liegt auch der Musiksprache die Zahlensprache zugrunde .

Dass die „schon seit dem Anfang der Welt vorausbedeutete“ uni-versale Welt-Kirche aus allen Völkern und Sprachen mit der Sendung der Fülle des Schöpfergeistes an Pfingsten „offenbart“ wird (LG 2), hat ebenfalls eine zahlensymbolische Dimension . Denn ‚Pfingsten‘ (griech . pentecoste) bedeutet ja der ‚50 . Tag‘ nach Ostern, wobei die Zahl 50 zu lesen ist als 7 x 7 plus 1 (s . u . Kap . III) . Das heißt, die Sie-ben als vorläufige Einheit der beiden Urprinzipien des ‚Männlichen‘ (3) und des ‚Weiblichen‘ (4) gelangt erst jenseits der Sieben-Tage-Schöpfung zur vollkommenen ‚hochzeitlichen‘ Einheit in und mit dem drei-einen Gott, der seiner Schöpfung nicht nur transzendent ist, sondern ihr als Mitte und innerster Kern auch immanent ein-wohnt . Der 50 . Tag entspricht damit dem 8 . Tag der Auferstehung als ‚Überstieg‘ über die Sieben-Tage-Schöpfung (die Himmelfahrt am 40 . Tag nach Ostern untergliedert die 50 Tage in 40 und 10 oder 4 und 1) .

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Im Westchor der über tausend Jahre alten St . Stephanskirche in der Mainzer Innenstadt findet sich seit 1997 eine abstrakte Darstel-lung der pfingstlichen Herabkunft der Feuerzungen des Geistes auf die mit Maria versammelten Apostel (unter dem Bundeszeichen des Regenbogens) . Die Kirche beherbergt bekanntlich im Ostchor drei weltberühmte Fenster zur biblischen Botschaft von Marc Chagall, die der ‚Meister der Farbe‘ noch im hohen Alter von 90 Jahren – auch als einzigartiges Zeichen der christlich-jüdischen Verständigung – als sein letztes und größtes Glaskunstwerk geschaffen hat . Von dem En-gelmaler sagt der ‚Erforscher des Heiligen‘, Mircea Eliade, er „gehört zu den ganz wenigen zeitgenössischen Künstlern, denen die Allge-genwart des Heiligen aufgegangen ist“ und in dessen Werk man das Heilige „wiederfinden kann“ (zu Chagalls Darstellung des Gekreu-zigten in St . Stephan vgl . Der Schlüssel zum Paradies, 141-146) .

Chagalls langjähriger Mitarbeiter und Freund Charles Marc (1923-2006) hat nach dem Ableben des Meisters die übrigen Fenster im südlichen und nördlichen Seitenschiff sowie für die Westseite (mit dem Thema „Pfingsten“) vollendet . Unter der ehemaligen Or-gelempore im Westen hat er dabei die zwei ovalen Fenster mit den Motiven von Sonne und Mond gestaltet, die auch bei Chagall die kos-mischen Prinzipien des ‚Männlichen‘ (Feuer) und des ‚Weiblichen‘ (Wasser) darstellen . Mit der Herabkunft des ‚männlichen‘ Feuergei-stes als lebensspendender Geisthauch (Pneuma ~ ‚Luft‘) auf die ‚weib-liche‘ (Wasser-)Erde wird nicht nur die eine Welt-Kirche aus Juden und Heiden gestiftet . Vielmehr findet damit auch die Schöpfung der Vier Welt-Elemente in der höheren Einheit der dritten göttlichen Per-son ihre ‚hochzeitliche‘ Krönung .

Von seinem Inhalt wie von der Jahreszeit her ist Pfingsten zwei-fellos das schönste Fest der Christenheit (Goethe in Reineke Fuchs: „das liebliche Fest“) . Der Schöpfergeist erweist sich dabei als der eigentliche Baumeister von Kosmos und Kirche als Tempel des Hei-ligen und Gebetshaus der Völker . Durch den Heiligen Geist hat die Gesamtheit der Gläubigen einen „übernatürlichen Glaubenssinn“ und „kann im Glauben nicht irren“ (LG 12) . Darauf verweist indi-rekt auch Friedrich Nietzsche in seinem Aphorismus zur Reforma-tion unter dem Titel „Bauernaufstand des Geistes“ (in: Die Fröhli-che Wissenschaft, n . 358) . Die Kirche versteht er darin als inspiriertes „Bauwerk“ des Geistes; dem habe Luther nicht wirklich Rechnung ge-

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tragen . Indem er nämlich den Glauben an die Inspiration der kirchli-chen Konzilien weggeworfen und die inspirierten biblischen Bücher an jedermann – und damit an die Philologen als „Zerstörern“ des auf Büchern beruhenden Glaubens – ausgeliefert habe, sei auch der Be-griff Kirche zerstört worden: „Denn nur unter der Voraussetzung, dass der inspirierende Geist, der die Kirche gegründet hat, in ihr noch lebe, noch baue, noch fortfahre, sein Haus zu bauen, behält der Be-griff Kirche Kraft .“

Das Sein der Kirche steht und fällt damit, ob sie als pfingstlich geist-erfüllt gesehen wird oder nicht . Dasselbe gilt auch für die Bibel (Dei Verbum 7) . Nur wenn sie das inspirierte ‚Wort Gottes‘ (vgl . 1 Thess 2,13) beziehungsweise die autorisierte Bezeugung des lebendigen Wor-tes ist, das „kraftvoll und schärfer als jedes zweischneidige Schwert“ ist, vor dem „kein Geschöpf verborgen“ bleibt (Hebr 4,12f ), kommt ihr die Vermittlung der Wahrheit für alle Zeiten zu . Das aber bedeu-tet: Nicht schon die Übersetzung der Bibel in die jeweilige Mutter-sprache, wie sie Martin Luther für das Deutsche so nachhaltig ge-lungen ist, gibt der Katholizität der Kirche ihr letztes, tragfähiges Fundament, sondern nur das kreuzförmige In-eins von ‚vertikaler‘ (mystischer, geistiger, geistlicher) und ‚horizontaler‘ (historisch-kri-tischer, philologischer) Exegese innerhalb des „geistigen Schoßes“ der Kirche, aus dem – wie der orthodoxe Theologe Konstantin Niko-lakapoulos sagt – „alle Entfaltungen des christlichen Lebens (aus der Schrift) hervorgegangen sind“: „Nur mittels einer konvergierenden Anwendung beider Hermeneutiken können sich die vertikale Linie des mystischen Offenbarungscharakters und die horizontale Linie der Geschichte und des Buchstabens harmonisch kreuzen, und so-mit kann der Ausgleich beider Größen bewahrt werden“ (Exegese für die Kirche, 66) .

Ohne den geistigen oder göttlichen (vertikalen) Sinn ist der Schriftkörper ein „toter Buchstabe“ (2 Kor 3,6), so dass eine nur hi-storisch-kritische (horizontale) Exegese der Sezierung eines Leich-nams gleicht . Nikolakapoulos zitiert einen der wichtigsten Exegeten der alten Kirche, den heiligen Basileios den Großen (ca . 329–379) . Ihm zufolge bedarf es zum Aufspüren des „in jedem Wort und in jeder Silbe verborgenen Sinn(s)“ der „Erkenntnis“, die nicht ohne „Verähnlichung der menschlichen Natur mit Gott möglich ist“ (ebd . 68) . Auch nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil ist ein rechtes Ver-

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ständnis der Bibel nur im Licht des Heiligen Geistes möglich (Dei Ver-bum 12) .

Wird die Bibel nicht geistig, sondern wortwörtlich gelesen, dann muss man sich nicht wundern, dass sie in den USA inzwischen zu den am meisten beanstandeten Büchern gehört (laut Statistik der Ameri-can Library Association landete sie mit 275 schriftlichen Beschwer-den 2015 auf dem sechsten Platz) . Beanstandet würden vor allem sex and crime . Ein TV-Team der ARD in Deutschland hat Straßenpassan-ten befragt, ob sich die Vorschrift, bei einem schweren Unzuchtsver-gehen die Strafe der Steinigung anzuwenden, in der Bibel oder in der Scharia findet: Alle Befragten haben falsch geantwortet . Durch eine fundamentalistische Auslegung rückt die Bibel in die Nähe der Scha-ria, durch eine historisch-kritische Relativierung ihrer Aussagen als „zeitbedingt“ verliert sie ihren Charakter als ewiges „Wort Gottes“ im Menschentext (Sir 1,5; Mt 24,35; Mk 7,13; Lk 5,1; 8,11; Joh 3,34; 6,68; Apg 13,46) . Allein als inspiriertes Gottes Wort hat die Bibel eine innere Einheit als ein zusammenhängendes Ganzes .

Ohne inneres Verstehen erscheint beispielsweise die Aufforde-rung Gottes an Abraham, seinen ‚geliebten Sohn‘ Isaak zu opfern (Gen 22,2), als ungeheuerliche Zumutung, die nur empört zurückge-wiesen werden kann . Der Hebräerbrief (11,19) hingegen sieht in dem Opfergeschehen ein Sinnbild für Tod und Auferstehung, und die Tra-dition sah darin von Anfang an das alttestamentliche Vorausbild für das Kreuzesopfer Jesu . So entspricht dem (kosmischen) „Widder“ anstelle Isaaks (Gen 22,13) das „Lamm“ Gottes und dem Feuerholz für das Brandopfer auf Isaaks Schulter (Gen 22,6) das Kreuzesholz auf der Schulter Jesu (Joh 19,17) . Ohne ein inneres Verständnis der alttestamentlichen Opfererzählung ist auch das Kreuzesopfer Christi nicht zu verstehen . Dabei ist Isaak bei seinem Opfergang „37 Jahre“ und Abraham „137 Jahre“ alt; denn Isaaks Mutter Sarah, die ihren Sohn im Alter von „90 Jahren“ von Gott empfangen hat (Gen 17,17), stirbt unmittelbar nach seiner „Bindung‘“ (hebr . akeda), wie im Ju-dentum gesagt wird, mit „127 Jahren“ (Gen 23,1) . Es wird noch zu zeigen sein, wie in diesen Zahlenangaben im Licht der ‚mündlichen Überlieferung‘ der Schlüssel zum Verständnis des Ganzen liegt (s . u . Kap . III .3) .

In der jüdischen Tradition gehört zum tieferen Verständnis der Silben und der Wörter immer auch die Deutung der Zahlenangaben

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sowie der hebräischen Buchstaben als Zahlen (Gematrie) . Hermeneu-tisch zu beachten ist dabei, dass alle Volks- oder Muttersprachen im-mer nur partikulare Gestalten der Vernunft sind, weil das natürliche Licht der Vernunft im gefallenen Menschen verdunkelt und der Lo-gos ein gebrochener ist . Der trennende Verstand kann daher immer nur zu endlichen, perspektivischen Erkenntnissen führen . Auch die Kirche kann auf volkssprachlicher Grundlage nur zu einer ‚nationa-len‘ Größe werden . Wirklich universal und überzeitlich ist nur die Sprache der Zahlen – das griechische ‚Logos‘ bedeutet ja auch ‚Zah-lenverhältnis‘ –, wobei aber das Hebräische, dessen 22 Konsonan-ten-Buchstaben ursprünglich zugleich Zahlen in einer bestimmten Ordnung sind, noch die größte Nähe zu der einen Ursprache (Logos) der einen Menschheit vor der ‚babylonischen Sprachverwirrung‘ hat (vgl . das Buch des Thora-Gelehrten Friedrich Weinreb: Vor Babel. Die Welt der Ursprache, Zürich 22014) .

Der größte Exeget der alten Christenheit, Origenes von Alexan-drien, hielt denn auch das Hebräische für die Ursprache der Mensch-heit, die Gott unmittelbar (vertikal) gegeben hat, während alle an-deren (Volks-)Sprachen jeweils (horizontal) durch einen Engel über-mittelt wurden . Weil das Hebräische auch selbst als Zahlensprache gelesen wird, kann darin die jenseitige Geistwelt des Himmels in der sinnlichen Körperwelt der ‚schwarzen‘ Buchstaben zur Sprache kommen . Dass die Welt-Sprache der Zahlen auch der Schöpfung zu-grunde liegt, hat nicht nur Pythagoras von Samos (um 570–510 v . Chr .), sondern auch Galileo Galilei (1564–1642) erkannt; denn nach ihm hat Gott das Buch der Natur in der „Sprache der Mathematik“ geschrieben . Bekannt ist der Ausspruch von Leopold Kronecker (19 . Jh .), eines deutschen Mathematikers aus jüdischer Familie: „Die gan-zen Zahlen hat der liebe Gott gemacht, alles andere ist Menschen-werk .“ Das heißt, nur auf dem Fundament der (geistig gedeuteten) Schöpfung kann auch das kosmische Heilsdrama der Erlösung recht verstanden werden .

Dank gebührt dem Verlag für die Aufnahme des vorliegenden Buches in sein Programm . Widmen möchte ich es postum dem vor drei-ßig Jahren am 25 . Januar 1986 verstorbenen Jesuitenpater Heinrich Bacht, einem Ökumeniker und Kenner des frühchristlichen Mönch-tums, dem ich durch seine Freundschaft und zahlreiche Gespräche

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spirituell und theologisch viel zu verdanken habe . Wenn der Ökume-nismus der Kirchen am Beginn des dritten Jahrtausends eine Chance haben will, dann muss die wiederherzustellende Einheit der Kirchen eine wirklich katholisch-allumfassende sein . Das heißt, die Kirche muss ihre ursprünglich kosmische Gestalt zurückgewinnen, was er-forderlich macht, in die ökumenische Bewegung – mehr als es bis-lang geschieht – auch die Ostkirchen mit ihrer kosmischen Kreuzes-theologie einzubeziehen .

Zugleich muss das Verständnis der Katholizität der Kirche an der Jungfrau und Gottesmutter Maria orientiert sein . Ist sie doch zu-gleich auch Weltmutter in Entsprechung zur ursprünglichen, reinen Schöpfungsweisheit oder Hagia Sophia, die bei den russisch-orthodo-xen Sophiologen des 19 . und 20 . Jahrhunderts den Kern ihres Den-kens ausmacht (s . u . Grundlegung, Abschnitt 3) . Nur gemeinsam mit den Ostkirchen, die sich erstmals nach 1300 Jahren entschließen konnten, eine Panorthodoxe Synode abzuhalten (im Juni 2016 auf Kreta), kann die Vision einer wirklich ökumenischen Welt-Kirche ge-wonnen werden, die diesen Namen auch verdient, weil sie den gan-zen bewohnten Erdkreis, die Oikumene, oder die ‚Mutter Erde‘ selbst als ‚Braut des Geistes‘ umfasst .

Als „Jahrtausendereignis“ hat man im Vorfeld das erste Panortho-doxe Konzil der Neuzeit in der Orthodoxen Akademie von Kolymvari im Nordosten der Insel Kreta vom 19 . bis 26 . Juni 2016 bezeichnet . Dass es trotz über 50-jähriger Vorbreitung im letzten Moment fast gescheitert wäre, weil vier der 14 orthodoxe Nationalkirchen kurz-fristig ihre Teilnahme aufgrund nationalistischer Tendenzen abge-sagt haben (darunter die russisch-orthodoxe mit den weitaus meis-ten Gläubigen), offenbarte freilich die großen internen Spannungen und das Autoritäts-Gerangel in der Weltorthodoxie . Dennoch war der Konzilsbeginn am orthodoxen Pfingstfest ein ‚historischer Tag‘, weil über 200 Delegierte orthodoxer Kirchen aus allen fünf Kontinenten nach Jahrhunderten der Trennung zusammengekommen sind, um sich gemeinsam den aktuellen Herausforderungen in der modernen Welt und Fragen der Gegenwart zu stellen (das „Heilige und Große Konzil“ soll zu einer ständigen Einrichtung werden) .

‚Historisch‘ war auch das erste Treffen von Papst Franziskus und dem Patriarchen von Moskau, Kyrill I ., am 12 . Februar 2016 auf dem Flughafen von Havanna in Kuba, das große Hoffnung auf die Wie-

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derherstellung der Einheit von römisch-katholischer und orthodo-xer Kirche geweckt hat . Der Leiter des vatikanischen Presseamtes, Je-suitenpater Federico Lombardi, bezeichnete die Begegnung als „ein Treffen voller Freude“: „Voll der Freude des Evangeliums, der Jünger Christi, die wissen, dass sie nach einer langen Zeit des Entferntseins, des Unverständnisses und der Trennung nun endlich dem Wunsch entsprechen, den der Meister ihnen beim Letzten Abendmahl offen-barte .“ Lombardi sagte weiter: „Es scheint unglaublich, dass es tau-send Jahre gebraucht hat, ehe diese Jünger Christi sich wieder getrof-fen haben . Die Bedeutung dieses Ereignisses kann nicht überschätzt werden“ (Zenit, 15 . Febr . 2016) .

Der Jesuit Antonio Spadaro, Leiter der „Civiltà Cattolica“, hat be-sonders auf die große symbolische Bedeutung der Geste der Umar-mung bei der ersten Begegnung der beiden Kirchenführer hingewie-sen . Ihm zufolge hat nicht die Gemeinsame Erklärung im Vorder-grund des Treffens gestanden, sondern die Geste der Handreichung und der Umarmung: „Die Erklärung ist zwar ein wichtiger Schritt, doch die Umarmung ist die wahre historische Geste . Die Tatsache, dass sich diese beiden großen Kirchenoberhäupter umarmt haben, ist wie eine Ikone und ein prophetisches Zeichen, das Hoffnung schenkt“ (Radio Vatikan, 22 . Febr . 2016) .

Im Jahr 2016 fiel der Karfreitag als Tag der Erlösung des ganzen Kosmos auf den 25 . März . Dieses Datum ist nach dem alten juliani-schen Kalender die Tagundnachtgleiche als Frühlings- und Jahresbe-ginn, an dem auch das Fest ‚Mariä Verkündigung‘ gefeiert wird, das heißt die Fleischwerdung des Logos-Creator in der Jungfrau Maria zum Heil der Welt (neun Monate danach, am 25 . Dezember, kommt an Weihnachten das wahre Licht der Welt zur Welt) . Zeugung und Tod Jesu Christi, die beide einen ‚hochzeitlichen‘ Sinn haben und schon deshalb eng zusammengehören, fielen so vom Datum her in eins .

Die Ostkirche kennt dafür eine besondere vereinigte Liturgie der beiden Feste . Allerdings feierte sie 2016 den Karfreitag erst am 16 . April nach dem julianischen beziehungsweise am 29 . April nach dem gregorianischen Kalender . Diese unterschiedlichen Festkalender zeigen schlaglichtartig nicht nur die seit Jahrhunderten bestehen-de Notwendigkeit einer Kalenderreform (1923 kam es zur Trennung zwischen den Neu- und Altkalendarien) . Sie machen auch deutlich,

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wie notwendig die Wiederherstellung der Einheit der zerrissenen Kirchen ist, damit die Welt glaubt, dass Jesus der vom himmlischen Vater in den kreuzförmigen Kosmos gesandte Logos-Creator ist: die Schönheit und Freude der Liebe als der ewige Sinn der Welt .

Rottenburg, den 19. Juni 2016 Klaus W. HälbigHochfest Pfingsten (orthodox)

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