klavier spiel
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1 Einleitung ................................................................................................................ 9
2 Zur Geschichte des Klavierspiels ........................................................................ 17
2.1 Handwerk: Clavierspiel im 18. Jahrhundert ......................................................... 17
2.2 Werk und Rationalisierung: Das 19. Jahrhundert ................................................ 35
2.2.1 Veränderungen zur Zeit Carl Czernys ................................................................. 35
2.2.2 Die Geschichte des Dilettantismus ...................................................................... 46
2.3 Aporie: Das 20. Jahrhundert beginnt ..................................................................... 78
2.4 Reformansätze .......................................................................................................... 89
2.5 Die zweite Jahrhunderthälfte .................................................................................. 92
2.6 Zwischenergebnis ................................................................................................... 110
3 Medienwissenschaftliche Grundlagen .............................................................. 111
3.1 Die Medienthematik in der klassischen Klavierpädagogik ................................ 111
3.2 Allgemeine Medienentwicklung ............................................................................ 116
3.3 Spezielle Medienentwicklung im Bereich "Musik" ............................................. 117
3.3.1 Klangdatencodierende Digitaltechnik ............................................................... 118
3.3.2 Steuerdatencodierende Digitaltechnik ............................................................... 118
3.3.3 Der Sampler ....................................................................................................... 120
4 Perspektiven ........................................................................................................ 123
4.1 Orientierungsschwierigkeiten der Musikpädagogik ........................................... 123
4.2 Lernen durch Nachahmung ................................................................................... 126
4.3 Nachahmung mittels Tonträger ............................................................................ 130
4.4 Das Problem der Strukturierung .......................................................................... 137
4.5 Autonomes Musizieren ........................................................................................... 157
4.5.1 Rückblick ........................................................................................................... 158
4.5.2 Ausblick ............................................................................................................. 161
4.6 Perspektiven für die Musikpädagogik .................................................................. 180
4.7 Zur Theorie des Klavierspiels ............................................................................... 201
5 Zusammenfassung .............................................................................................. 211
6 Anhang: Taxonomie auditiver Medien ............................................................. 215
7 Literatur .............................................................................................................. 219
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1 Einleitung
Die beiden Begriffe Klavier und Medien rufen in der Regel recht unterschiedliche
Assoziationen hervor. Auf der einen Seite lässt der Begriff Klavier an klassische
Musikkultur denken, die heute leider nur von einer Minderheit gepflegt wird. Auf
der anderen Seite drängt sich beim Begriff Medien die moderne Mediengesellschaft
ins Bewusstsein. Diese ist assoziiert mit einer Beschleunigung der Lebenswelt, einer
oft beklagten Neigung zur Oberflächlichkeit und Kommerzialisierung und nicht zu-
letzt dem drohenden Verlust von künstlerischem Erleben in Form einer sich auf al-
len Kanälen ausbreitenden Pop-Kultur.
In Diskussionen um die Bedeutung von Musikerziehung wird dieser Gegensatz häu-
fig zum Thema. Musikerziehung versteht sich als bedeutsamer, aber auch gefährde-
ter Gegenpol zur modernen Medienkultur. Als Indiz für eine solche Gefährdung die-
ses musikalischen Gegenpols könnte etwa die Tatsache gewertet werden, dass heute
kein Schulfach außer Religion bei deutschen Mittel- und Oberstufenschülern unbe-
liebter ist. Aktuelle Rückzugstendenzen des Faches Musik aus der Schule mögen
also aus Sicht der Schüler als glückliche Fügung erscheinen (Abbildung 1, S. 10).
Aber auch die Musikschul- und Instrumentalpädagogik, um die es uns gehen soll
(und die im Folgenden auch als Musikpädagogik bzw. Musikerziehung bezeichnet
wird), befindet sich in einer schwierigen Situation. Ein besonderer Interessenkon-
flikt zwischen Musikerziehung und Medieneinflüssen wird häufig artikuliert. Die
Düsseldorfer Oberbürgermeisterin MARLIES SMEETS formuliert in ihrem Grußwort
zur Festschrift einer Musikschule den Interessenkonflikt zwischen Medieneinfluss
und musikalischer Aktivität, gemeint ist das instrumentale Spiel, folgendermaßen:
"Gerade in der heutigen Zeit, in der die Medien zum passiven Musikkonsum verleiten, sind eigene musikalische Aktivitäten von besonderer Bedeutung." (SMEETS 1996, 5)
Auch REINHART VON GUTZEIT als Vorsitzender des Verbandes Deutscher Musik-
schulen sieht in seinem Beitrag zur selben Festschrift in der zunehmenden Verbrei-
tung elektronischer Medien ein Faktum, das musikpädagogische Arbeit erschwert:
"Unsere Arbeit – das ist eine Binsenweisheit – wird nicht gerade einfacher, denn die Hindernisse, die es zu bewältigen gibt, sind enorm: Die Alltagswelt der elektronischen Medien, die Tendenz zum Schnuppern und zum raschen fast-food-Erfolg, die Leere in den kommunalen Kassen." (V. GUTZEIT 1996a, 15)
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Abb. 1: Frankfurter Rundschau, 21. Juli 1999.
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Dass die Musikerziehung um ihren Standort ringt, ja dass die musikalische Bildung
sogar "im Ganzen" gefährdet sei, geht auch aus dem Memorandum zur Ausbildung
für musikpädagogische Berufe des Deutschen Musikrats vom 12. Februar 2000 her-
vor. Dort wird vor dem Totalverlust musikalischer Bildung gewarnt, wobei unter
den gefährdenden Faktoren ebenfalls die Medien genannt werden:
"Der Deutsche Musikrat stellt mit Sorge fest, dass sich die gesellschaftliche Musikpraxis sowie das musikalische Lernen auf allen Ebenen einerseits und die Ausbildung für die musikpädagogischen Berufe andererseits in hohem Maße auseinander entwickelt haben. Eine Neubestimmung dieses Verhältnis-ses und Konsequenzen für die Ausbildungsinstitutionen sind unabweisbar, soll nicht die musikalische Bildung im Ganzen gefährdet sein. Die heutigen Aus-bildungskonzepte verlängern immer noch einseitig Grundvorstellungen des 19. Jahrhunderts und reichen angesichts des gesellschaftlichen und kulturellen Wandels nicht mehr hin. Die Sorge ist vor allem bedingt durch: den im Zuge der Globalisierung ökonomischer und kultureller Prozesse be-
schleunigten Wandlung der individuellen und sozialen Realität von Kin-dern und Jugendlichen
die gravierend veränderte ökonomische und soziale Situation der Studie-renden und ihre beruflichen Aussichten
die mediengeprägte Kulturlandschaft, die wesentliche Veränderungen des musikalisch-ästhetischen Handelns der Menschen zur Folge hat
den Widerspruch zwischen dem hohen Bedarf an musikalischem Lernen auf der einen und der ökonomischen Einengung musikalischen Lernens auf der anderen Seite
den beschleunigten Wandel schulischer und außerschulischer Bildungsin-stitutionen und der von ihnen vertretenen Ziele und Inhalte.
Aus dem Gesagten folgt, dass die Ausbildungskonzepte für musikpädagogi-sche Berufe dringend der Revision bedürfen. [...]" (DEUTSCHER MUSIKRAT
2001)
Aber inwiefern divergieren Musikkultur und Mediengesellschaft und wie begründet
sich dieser Konflikt? In der Tat beruht zwar die Musikpädagogik, wie vom Deut-
schen Musikrat artikuliert, auf Grundvorstellungen des des 19. Jahrhunderts. Aber
hat sie sich nicht weiterentwickelt und neue, aktuelle und überzeugende Konzepte
entworfen? Kann sie mit äußeren Veränderungen nicht Schritt halten? Welchen Stel-
lenwert kann das Musizieren in der Mediengesellschaft haben? In welche Richtung
muss die Revision der musikpädagogischen Berufe sich bewegen? Am Beispiel des
Klavierspiels soll diesen Fragenkomplex nachgegangen werden. Eine zentrale Frage
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wird dabei sein, welchen Einfluss Medien auf den Umgang mit Musik und das Mu-
sizieren haben. Es wird sich zeigen, dass dieser Einfluss fundamental ist.
Dieser Versuch, die aktuelle musikkulturelle Situation vor dem Hintergrund der
Medienentwicklung zu beurteilen, erfordert zunächst einen Blick zurück. Im histori-
schen Teil (Kapitel 2) wird die Entwicklung des Klavierspiels und die seiner Ver-
mittlung in den letzten etwa drei Jahrhunderten beleuchtet. Besonderes Augenmerk
wird dabei auf die Rolle zunächst vorwiegend schriftlicher Medien gerichtet. Kapitel
3 ist den medienwissenschaftlichen Grundlagen, insbesondere den technologischen
Voraussetzungen der aktuellen Entwicklung neuer Medien- und Musiktechnologie
gewidmet. Kapitel 4 soll die bis dahin geklärten Zusammenhänge zusammenführen
und eine Einschätzung der aktuellen Situation versuchen, die auch einen Ausblick in
die Zukunft erlaubt.
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Vorbemerkung zum Sprachgebrauch
Im Zuge kultureller Veränderungen wandelt sich auch der Sprachgebrauch. Einige
Begriffe werden deshalb gelegentlich in Bedeutungen bemüht werden, die vom heu-
tigen Usus abweichen. Da diese Veränderungen aufschlussreiche Zeugnisse histori-
scher Prozesse sind und zu einer differenzierteren Beurteilung beitragen können,
sollen sie nicht verwischt werden. Um eventuellen Missverständnissen vorzubeugen,
seien bereits hier die wichtigsten dieser Begriffe unter Anführung jener Passagen im
Text genannt, an denen ihre Bedeutungsänderungen klärend behandelt werden. Bei
Unklarheiten wären die entsprechenden Passagen zu konsultieren. Diese Bedeu-
tungsänderungen sind direkt an jene kulturellen Veränderungen geknüpft, die unser
Thema bestimmen, verweisen also in die Sache selbst.
1. Der Begriff Klavier geht aus clavis (lat. Schlüssel) hervor und bezeichnet ur-
sprünglich jedes Musikinstrument, bei dem die Tonerzeugung durch einen "Schlüs-
selimpuls" ausgelöst werden kann. Ursprünglich mit "C" geschrieben, subsumiert
der Begriff Clavierspiel jegliches Musizieren mit Instrumenten, die auf "Knopf-
druck" Klänge erzeugen, sei es etwa Orgel oder Cembalo (vgl. S. 24). Anzahl und
Anordnung der klangerzeugenden Tasten wiesen in verschiedenen Stadien der Mu-
sikgeschichte unterschiedliche Ausprägungen auf. Erst mit dem Siegeszug des Pia-
noforte vor etwa zweihundert Jahren entstand der Begriff des Klavierspiels in sei-
nem engeren Sinn, nun in der Regel mit "K" geschrieben. Es wird bei der Untersu-
chung aktueller Medienphänomene nützlich sein, die Herkunft dieses Begriffes und
seine ursprüngliche Bedeutung nicht aus den Augen zu verlieren.
2. Die Bezeichnung Klavierschule für ein gedrucktes didaktisches Werk führt gele-
gentlich zu Irritationen. Die Verwendung der Bezeichnung Schule, die heute zu-
nächst mit einer Institution in Verbindung gebracht wird, für ein Printmedium geht
auf DANIEL GOTTLOB TÜRK zurück. Er veröffentlichte seine Schule im Sinne einer
Lehre – in dieser Bedeutung ist der Begriff auch heute noch gelegentlich, beispiels-
weise in der Bezeichnung "Leipziger Schule" vs. "Berliner Schule" geläufig – im
Jahre 1789 unter dem Titel "Klavierschule".
Wie in Abschnitt 2.1 (S. 23f.) näher ausgeführt wird, wechselte dieser Begriff dar-
über hinaus im Verlauf des 19. Jahrhunderts insofern noch einmal grundlegend seine
Bedeutung, als der Charakter des Printmediums sich von einer in Worte gefassten
Anleitung (wie noch bei TÜRK oder CARL PHILIPP EMANUEL BACH) in eine Samm-
lung didaktisch aufbereiteter und in progressiver Schwierigkeit angeordneter Spiel-
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stücke verwandelte. Erst dadurch wurde die Klavierschule zum Unterrichtsmedium
in jener Bedeutung, die sie noch heute besitzt.
3. Der Begriff des Dilettantismus oder Dilettanten ist heute generell wertnegativ be-
setzt. Dass dies ursprünglich anders war und warum sich die Bedeutung von einer
wohlwollenden Bezeichnung für einen Amateur, dessen Leistung durchaus nicht der
eines Profis, d. h. Virtuosen nachstehen musste, ins Negative verwandelt hat, wird
insbesondere in Abschnitt 2.2.2 erörtert. Taucht der Begriff Dilettant bzw. Dilettan-
tismus auf, ist dieser Zusammenhang zu berücksichtigen.
4. Auch der Begriff der Virtuosität ruft heute in gewissen Kreisen zwiespältige As-
soziationen hervor. Die ursprüngliche, positiv bewertete Bedeutung für professio-
nelle Könnerschaft auf der Grundlage umfassender musikalischer Fähigkeiten gerät
dort zur Bezeichnung für manuell geschicktes und schnelles, aber oberflächliches
Instrumentalspiel. So wird Virtuosität beispielsweise von OTTO FRIEDRICH
BOLLNOW (1991, 51) mit den Attributen "leer" und "seelenlos" versehen. In dieser
Arbeit soll der Begriff Virtuosität aus Gründen der Eindeutigkeit aber durchweg im
ursprünglichen Sinn (vgl. SCHLEUNING 1984, 64f.) als positiv und vorbildhaft für
musikalische Betätigung, die weit über oberflächliche Fingertechnik hinausweist,
begriffen werden. Die Beschäftigung mit der Frage, warum die Bedeutung von Vir-
tuosität und Dilettantismus im Lauf der vergangenen gut einhundert Jahre solchen
Wandel erlitten hat, vermittelt aufschlussreichen Einblick in musikkulturelle Verän-
derungen in diesem Zeitraum und führt direkt in den Kern der Thematik. Näher ein-
gegangen wird auf diese Zusammenhänge auf S. 154f.
5. Eine ähnliche Dichotomie der inneren versus äußeren Perspektive wie beim Be-
griff der Virtuosität taucht im Zusammenhang mit dem Begriff musikalischer Akti-
vität auf, wie er bereits in der Äußerung der Düsseldorfer Oberbürgermeisterin
MARLIES SMEETS in dem Gegensatz aktives Musizieren – passiver Konsum gefallen
ist. Bei der Bewertung des Begriffspaares aktiv – passiv ist insofern Vorsicht ange-
bracht, als musikalische Aktivität nicht automatisch gleichbedeutend sein muss mit
sichtbarer körperlicher Bewegung. Dass musikalische Aktivität durchaus auch kom-
plementär zu körperlicher Bewegung betrachtet werden kann, wird auf S. 154 deut-
lich.
6. In Abschnitt 4.6 auf S. 201ff. wird ausführlich der Begriff digital in seiner umfas-
senden Bedeutung diskutiert, die dem konventionell technischen, von der Elektro-
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nikindustrie häufig als Verkaufsargument genutzten Verständnis scheinbar zuwi-
derläuft und zu Missverständnissen führen könnte.
7. Der Begriff der Normalisierung bestimmter Kulturtechniken im Zuge der Me-
dienentwicklung mag möglicherweise diffus erscheinen. Da sich dieser Begriff aber
gut eignet, um den Vorgang zu beschreiben, dass Musikpräsenz vom Besonderen,
weil Seltenen, durch Verbreitung zur Normalität wird, soll auf ihn nicht verzichtet
werden. In ähnlichem Sinne, wie es die historische Durchsetzung der Printmedien
möglich gemacht hat, dass Alphabetismus heute in unserer Kultur als normal gilt,
kann der Begriff der Normalisierung hilfreich sein beim Versuch, die Auswirkungen
elektroakustischer Medien auf den Umgang mit Musik zu beleuchten. Auch
RAINALD MERKERT (1992, 11) bedient sich dieses Begriffs, um die dritte Phase der
Rezeption jeweils neuer Medien durch die "Gebildeten" einer Zeit zu beschreiben.
Die ersten beiden Stadien beschreibt er als Irritation bzw. Vereinnahmung. Bezüg-
lich der Rezeption interaktiver Medien scheinen wir uns in dieser Terminologie ge-
genwärtig am Ende des ersten Stadiums, also des Stadiums der Irritation und am
Beginn der Vereinnahmung zu befinden.
8. Schließlich sei noch erwähnt, dass mit Medien nicht etwa nur elektronische Mas-
senmedien gemeint sind, wiewohl die gegenwärtige Zuspitzung der Mediendiskus-
sion eine solche Fokussierung nahelegen würde. Eine derartige Einschränkung des
Begriffs Medium würde in die Irre führen, weil sie wichtige Arten von Informations-
trägern – insbesondere Printmedien und interaktive Medien – ausgrenzt. Eine solche
Einengung würde auch eine Untersuchung medienrelevanter Fragen unter Berück-
sichtigung vergangener Epochen unmöglich machen. Wie sich des weiteren vor al-
lem in Kapitel 3 herausstellen wird, nähern sich auch die Begriffe Musiktechnologie
und Medientechnologie im Zuge der zu beschreibenden Entwicklung an, so dass
künftig auch hier nicht mehr scharf getrennt werden kann. Computer werden bei-
spielsweise bereits heute genutzt zur Klangerzeugung (als Musikinstrument), zur
Musikproduktion (als virtuelles Tonstudio), aber auch zur Verbreitung und Veröf-
fentlichung.
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2 Zur Geschichte des Klavierspiels
Zum Verständnis der zu behandelnden Phänomene gegenwärtiger Musikkultur ist
zunächst ein Blick auf ihre Vorgeschichte erforderlich. Im ersten Teil wird deshalb
ein Abriss zur Geschichte des Klavierspiels und -unterrichts gegeben. Dabei sollen
entscheidende Veränderungen herausgearbeitet werden, denen Theorie und Praxis
der Musikausübung und -vermittlung innerhalb der letzten etwa drei Jahrhunderte
unterworfen waren. Besondere Aufmerksamkeit wird hierbei dem Einfluss von Me-
dientechnologie auf diese Veränderungen gewidmet. Dies betrifft für die Vergan-
genheit vorwiegend schriftliche Medien. Der Schritt zur Betrachtung neuerer, insbe-
sondere audiovisueller Medien soll im zweiten Teil getan werden.
2.1 Handwerk: Clavierspiel im 18. Jahrhundert
Die Bedingungen der Musikausübung im 18. Jahrhundert sind geprägt von profes-
sioneller Handwerklichkeit und der Personalunion von schaffendem und ausüben-
dem Künstler. Eine nur gering ausgeprägte Arbeitsteilung erforderte eine vielseitige
musikalische Ausbildung. Diese erfolgte, ähnlich wie in anderen Handwerksberufen,
in der Regel innerhalb von Familientraditionen in einer Ausbildungssituation, die
weitgehend dem Verhältnis zwischen Meister und Lehrling entsprach.
Dabei bestand sehr enger persönlicher Kontakt zwischen Meister und Auszubilden-
dem auf der Grundlage täglicher Anwesenheit des Eleven in der "Werkstatt". Auch
war es nicht unüblich, dass ein Schüler, selbst wenn er nicht der eigenen Familie
entstammte, im Haus des Meisters wohnte (vgl. GELLRICH 1992, 9). Aus einem
Brief vom 30. April 1712 des BACH-Schülers PHILIPP DAVID KRÄUTER an das
Scholarchat Augsburg geht hervor, wie intensiv der Lehrer-Schüler-Kontakt und wie
vielseitig die Ausbildung bei JOHANN SEBASTIAN BACH war. Herausragende Be-
deutung genoss dabei die Unterweisung in Kompositionslehre und Klavierspiel; aber
auch andere Instrumente wurden in den Unterricht einbezogen:
"[...] er ist ein vortrefflicher, dabey auch sehr getreuer Mann sowohl in der Composition und Clavier, als auch in anderen Instrumenten, gibt mir den Tag gewiß 6 Stund Information, die ich dann absonderlich zur Composition und Clavier, auch bißweilen zu anderer Instrumenten exercirung hoch vonnöthen habe." (KRÄUTER 1712)
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Dieser enge Kontakt ermöglichte dem Schüler, den Meister ständig zu beobachten
und dabei in einer Art von "learning by doing", ähnlich der Lehrsituation in anderen
Handwerksberufen, zu versuchen, das Vorbild des Ausbilders zu imitieren.
Die tägliche Arbeit in Form der Erfüllung der geforderten Aufgaben, die im Wesent-
lichen von der Unterhaltung eines Dienstherrn geprägt waren und zu diesem Zweck
die regelmäßige Produktion klanglich verwertbaren Materials und dessen Ausfüh-
rung beinhalteten, bildete den Rahmen für die Betätigung in der Werkstatt. THOMAS
NIPPERDEY fasst die Situation der künstlerischen Berufe zu jener Zeit in seinem hi-
storisch-soziologischen Werk Wie das Bürgertum die Moderne fand wie folgt zu-
sammen:
"Bildende Künstler und Musiker lebten in festen Familien- und Handwerks-traditionen, sie hatten ihren festen Platz in der Gesellschaft, ihre zugeschriebene Rolle, sie erfüllten Aufträge, und sie konnten sich, zunächst einmal, an feste Regeln halten." (NIPPERDEY 1988, 10)
Auch die Aufgaben des Schülers richteten sich in dieser Situation weitgehend nach
den Erfordernissen des Werkstattbetriebes. Der Lehrling hatte dem Meister in
vielfacher Hinsicht zu assistieren; dafür wurden ihm je nach didaktischem Geschick
des Ausbilders mehr oder minder gut zu lösende und instruktive Aufgaben gestellt.
Eine typische Aufgabe, durch die sich ein Schüler nützlich erweisen konnte, war
etwa das handschriftliche Kopieren von Notentexten, sowohl von des Meisters Hand
mit dem Ziel der Verbreitung oder Aufführung, als auch von fremden Quellen mit
dem Ziel, sie in eigenen Besitz zu bringen.
Die Zeit gegenseitigen Kontakts stellte in dieser Ausbildungssituation gegenüber
heute ein weniger knappes Gut dar. Deshalb bestand Bedarf an Unterrichtsmedien,
um etwa dem Schüler selbstständiges häusliches Üben zu ermöglichen, nur in relativ
geringem Maß. Rar waren statt dessen Drucksachen, so dass sich ein wesentlicher
Teil der Übermittlung auf der Grundlage mündlicher Überlieferung und handge-
schriebener Medien vollziehen musste. Diese handschriftliche Vervielfältigung war
aber zeitaufwändig und vollzog sich im Gegensatz zum Druck nicht multiplikativ,
sondern additiv.
Dem aus heutiger Sicht möglicherweise zu beneidenden Vorteil des intensiven
Kontakts zwischen Lehrmeister und Schüler stand damit ein schwerwiegender
Nachteil gegenüber: Musik anderer Komponisten war oft nur schwer zugänglich und
keineswegs jederzeit verfügbar. DANIEL GOTTLOB TÜRK weist z.B. in seiner Kla-
vierschule darauf hin, dass
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"[...] die Lehrer an kleinen Orten, und vorzüglich auf dem Lande, nicht immer Gelegenheit haben, die zum Unterrichten bequemen Stücke kennen zu lernen [...]." (TÜRK 1789/1962, 15)
Andererseits erleichterte diese Mediensituation einem Lehrmeister, eigene Schwä-
chen zu kaschieren, indem er den Vergleich mit Konkurrenten mied. So konnte sich
Musikunterricht mancherorts in einer Art "kultureller Inzucht" vollziehen. Da für
jeden Meister eigenes Komponieren wichtiger Bestandteil seiner Tätigkeit und
Grundlage seiner Stellung war, war es auch eine Frage seiner Beschränkung und
Eitelkeit, ob er den medialen Zugang des Schülers zu fremden Werken zu fördern
oder zu verhindern suchte. CARL PHILIPP EMANUEL BACH beklagt diesbezüglich in
seinem Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen die Tendenz, Unterricht
unter ausschließlicher Verwendung eigener Produkte zu gestalten:
"Jeder Lehr-Meister bey nahe dringt seinen Schülern seine eigenen Arbeiten auf [...]. Dahero werden den Lehrlingen andere gute Clavier-Sachen, woraus sie etwas lernen könten, unter dem Vorwande, als ob sie zu alt oder zu schwer wären, vorenthalten." (BACH 1753/1994, 2f.)
Auch DANIEL GOTTLOB TÜRK hebt die Bedeutung verschiedenartiger Vorbilder für
eine qualifizierte Ausbildung hervor. Er hält es für unverzichtbar, in der Ausbildung
einen möglichst breiten Horizont zu gewinnen und die Unterweisung nicht auf den
eigenen Kompositionsstil zu beschränken:
"Man muß daher dem Scholaren durch die Abwechslung nützlich zu werden suchen; denn die Mannigfaltigkeit gewährt überhaupt mehrere Vortheile. Sie unterhält, vergnügt mehr, giebt Anlass zu nützlichen Regeln, Vergleichungen, Anwendungen; [...] folglich sorgen diejenigen Lehrer, welche beym Unterrichten blos ihre eigenen Kompositionen spielen lassen [...] nicht gut für ihre Schüler." (TÜRK 1789/1962, 18)
Diese Beispiele vermitteln einen ersten Eindruck von der engen Verknüpfung von
Unterrichtspraxis und Medienwirklichkeit: In der modernen Musikpädagogik er-
möglichte unter anderem die einfachere Verfügbarkeit von Musikalien eine radikale
Umkehr des Nutzungsverhältnisses von eigen- zu fremd produzierten Kompositio-
nen im Unterricht.
Waren aber Fremdkompositionen, sei es gedruckt oder handschriftlich kopiert, da-
mals verfügbar, war der Umgang mit ihnen noch keineswegs frei von Unwägbar-
keiten. Nie konnte davon ausgegangen werden, dass die vorliegenden Medien feh-
lerfrei waren. Eine fachkundige Prüfung war zwangsläufig mit jedem Abschreiben
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und – nota bene – Spielen verbunden. Dies betraf sowohl das Spiel aus einem "bald
gar nicht und bald sehr falsch bezieferten Basse", wie C. PH. E. BACH eine damals
gängige Schwierigkeit bezeichnete (s. u. S. 23), als auch aus schlecht gesetzten No-
ten, wofür DANIEL GOTTLOB TÜRK in seiner Klavierschule folgendes Beispiel lie-
fert:
Abb. 2: TÜRK 1789/1962, S. 157.
Für das Musizieren und Abschreiben war eine intensive Beschäftigung mit der Vor-
lage also unabdingbar, sowohl die Korrektur als auch die Ergänzung der Notentexte
betreffend. Da sich die Unwägbarkeiten der Wiedergabe aber nicht nur wie hier auf
schlecht gesetzte oder verzerrte Notentexte, sondern vor allem auch auf schlicht
falsch abgeschriebene Noten bezogen, war die Kenntnis der Regeln der Musikher-
stellung für einen Spieler, der notierte Musik richtig wiedergeben wollte, unabding-
bar erforderlich.1
Fremde Notentexte erfüllten unter diesen Voraussetzungen immer auch eine Funk-
tion als Beispiele und Vorbilder für die eigene Komposition. Die geforderte kritische
Bewertung komponierter Vorlagen beruhte auf einem grundlegend anderen Verhält-
nis zwischen ausführendem Musiker und auszuführender Musik, als es sich im Ver-
1 Die Notwendigkeit zur Ergänzung bezog sich nicht nur auf offensichtliche Fehler oder versehent-
lich Weggelassenes, sondern auch auf nicht oder nur schwer druck- oder notierbare Inhalte. Ge-
neralbassnotation oder Manieren sind typische Beispiele für solche Abkürzungen, deren Code
vom Ausführenden der Barockzeit selbstverständlich beherrscht werden musste (vgl. GELLRICH
1992, 18).
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lauf des 19. Jahrhunderts anhand der Interpretation von gedruckten Werken2 ent-
wickelte. Stücke anderer Komponisten waren zunächst "Gedancken" von Kollegen,
mit denen genauso frei hantiert werden konnte wie mit eigenen. Es war üblich,
Stücke anderer Komponisten beim Vortrag zu verändern, sei es, indem man sie er-
schwerte (vgl. GELLRICH 1992, 132 u. 143) oder erleichterte, wie es C. PH. E. BACH
im folgenden empfiehlt:
"Seine Fähigkeit und Disposition kan man an den geschwindesten und schwersten Passagen abmessen, damit man sich nicht übertreibe und hernach stecken bleibe. Diejenigen Gänge, welche zuhause mit Mühe und sogar nur dann und wann glücken, muß man öffentlich weglassen." (BACH 1753/1994, 121)
Nicht die möglichst vollständige und originalgetreue Wiedergabe als absolut er-
achteter Werke stand hierbei im Mittelpunkt der Bemühungen, sondern die best-
mögliche Unterhaltung des Publikums in der jeweiligen Situation. Dabei war es
nicht ungewöhnlich, wenn sich das aktuelle Arrangement des Stückes und der Ver-
lauf der Darbietung erst während des Vortrags aus den Umgebungsbedingungen
(z.B. Zustand von Klavier und Raum, Reaktion der Zuhörer) entwickelte (vgl. TÜRK
1789, 313).
Noch FRANZ LISZT bereitete es in den 1830er Jahren großen Spaß, sowohl privat als
auch öffentlich fremde Werke nach Belieben auf sich zuzuschneiden:
"Kennen Sie die Mazurkas von Chopin, die Mme. Freppa gewidmet sind? Sie sind wunderbar; ich mache eine riesige Menge von Kadenzen und Tremolos." (Liszt an Marie d'Agoult, 1834, zit. nach MOLSEN 1982, 105)
"Um diesen Brief zu vervollständigen, muß ich Ihnen noch sagen, daß ich gest-ern nach meinem Konzert im 'Concert spirituel' das C-Moll-Konzert von Beethoven gespielt habe, welches ich nicht kannte und das ich 24 Stunden ge-lernt habe (mit improvisiertem Orgelpunkt), mit dem unerhörtesten Erfolg." (Liszt an Marie d'Agoult, 1839, zit. nach MOLSEN 1982, 146)
2 Die Drucklegung begründete in ihrer Unveränderbarkeit spätestens seit Beethoven das Musik-
werk und definierte es geradezu. Dies zeigt sich nicht zuletzt in der Tatsache, dass das Opus und
seine Nummerierung in der Regel die Chronologie der Drucklegung beschreibt – ein Problem für
die Musikgeschichtsschreibung, die sich statt dessen stets um eine Nummerierung bemühte, die
in ihrer Ordnung der Entstehungsabfolge der Kompositionen entspricht.
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Auch aus dem folgenden Ausschnitt eines Briefes von FRIEDRICH WIECK an seine
Frau geht die noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in fachkundigen Kreisen
gepflegte Autonomie des Ausführenden gegenüber dem ausgeführten Werk hervor:
"Eben schickt Banck aus Rudolstadt die neuesten Etüden von Henselt. [...] In diesen Etüden ist aber nichts Neues mehr u. nur Eine davon wird Clara zum Studieren wählen, aber einiges daran verändern, was zu monoton." (FRIEDRICH WIECK an CLEMENTINE WIECK aus Wien, 3. April 1838, abgedruckt in WIECK 1968, 96)
Allerdings hatte bereits achtzig Jahre früher CARL PHILIPP EMANUEL BACH davor
gewarnt, Vorlagen durch Veränderung etwa zu verschlechtern. So dürfen seiner
Meinung nach zwar Bassfiguren abgeändert werden, die zu Grunde liegende Har-
monie muss jedoch erhalten bleiben:
"Alle Veränderungen müssen dem Affeckt des Stückes gemäß seyn. Sie müs-sen allezeit, wo nicht besser, doch wenigstens eben so gut wie das Original seyn. Simple Gedancken werden zuweilen sehr wohl bunt verändert und um-gekehrt. [...] Bey Clavier=Sachen kan zu gleich der Baß in der Veränderung anders seyn, als er war, indessen muß die Harmonie dieselbe bleiben. Über-haupt muß man, ohngeacht der vielen Veränderungen, welche gar sehr Mode sind, es allezeit so einrichten, daß die Grundliniamenten des Stückes, welche den Affect des Stückes zu erkennen geben, dennoch hervor leuchten." (BACH 1753/1994, 132f.)
Das Urteil über Gelingen oder Misslingen dieser Bemühungen fiel letztendlich dem
Publikum zu. Ziel des Musizierens war deshalb immer die Weckung und Erhaltung
der Aufmerksamkeit der Zuhörer durch geschmackvolle Abwechslung:
"Diesem ohngeachtet stehet es jedem, wer die Geschicklichkeit besitzet, frey, ausser unsern Manieren weitläufigere einzumischen. [...] Wer hierinnen das nöthige in Obacht nimmt, den kan man für vollkommen paßiren lassen, weil er [...] die Aufmercksamkeit seiner Zuhörer durch eine beständige Veränderung vorzüglich aufzumuntern und zu unterhalten weiß." (BACH 1753/1994, 53f.)
Diese publikumsorientierte Perspektive, die die spontane Veränderung, die Reaktion
des Künstlers auf die jeweilige Situation und die Unterhaltung des Publikums als
ihre Hauptaufgaben begreift, fasst GRETE WEHMEYER in ihrem Buch Carl Czerny
oder die Einzelhaft am Klavier folgendermaßen zusammen:
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"Hier spielt das Werk die untergeordnete, die Beziehung zwischen Spieler und Zuhörer die Hauptrolle. Das kann auch der Fall sein bei Improvisationen und freien Fantasien. Musik ist dann ausschließlich Kommunikation." (WEHMEYER 1983, 116)
Diese von kommunikativen Elementen zwischen Musiker und Publikum bestimmte
Kunstausübung schlug sich auch in den Lehrwerken jener Zeit nieder. Einen Ein-
blick in die Praxis von Klavierspiel und Klavierunterricht des 18. Jahrhunderts ge-
ben neben den bereits zitierten Werken von CARL PHILIPP EMANUEL BACH
(1753/1762) und DANIEL GOTTLOB TÜRK (1789) die Klavierschulen Anleitung zum
Clavierspielen von FRIEDRICH WILHELM MARPURG (1762/1765) und Musicus theo-
retico-practicus (1749) von PHILIPP CHRISTOPH HARTUNG. Obwohl die identische
Bezeichnung eine Verwechslung nahelegt, handelt sich bei diesen Schulen keines-
wegs wie heute um Kompendien aus einfachen, im Schwierigkeitsgrad sukzessiv
ansteigenden Spielstücken für Anfänger, sondern um vorwiegend aus verbalem Text
bestehende Werke, die eine Einführung in die Probleme des Klavierspiels in theore-
tischer Form bis zum höchsten künstlerischen Niveau geben und diese teilweise
durch Notenbeispiele ergänzen. Notenbeispiele wurden dabei bis um 1780 aus Man-
gel an kombinierten drucktechnischen Möglichkeiten meist auf getrennten Platten
hergestellt und als Anhang angefügt.
In der Vorrede zu seiner Klavierschule, dem bereits zitierten Versuch über die
wahre Art das Clavier zu spielen, stellt CARL PHILIPP EMANUEL BACH zunächst
seine Anforderungen an den Klavierspieler klar. Neben der Fähigkeit zur Wieder-
gabe vorgelegter Notentexte verlangt er Folgendes:
"Man verlanget noch überdies, daß ein Clavierspieler Fantasien von allerley Art machen soll; daß er einen aufgegebenen Satz nach den strengsten Regeln der Harmonie und der Melodie aus dem Stegereif durcharbeiten, aus allen Tö-nen mit gleicher Leichtigkeit spielen, ein Ton in den anderen im Augenblick ohne Fehler übersetzen, alles ohne Unterschied vom Blatte weg spielen soll, es mag für seyn Instrument eigentlich gesetzt sein oder nicht; daß er die Wissen-schaft des Generalbasses in seiner völligen Gewalt haben, selbigen mit Unter-schied, oft mit Verläugnung, bald mit vielen, bald mit wenigen Stimmen, bald nach der Strenge der Harmonie, bald galant, bald nach einem wenig oder zu viel, bald gar nicht und bald sehr falsch bezieferten Basse spielen soll; daß er diesen Generalbaß manchmahl aus Partituren mit vielen Linien, bey unbezie-ferten, oder ofte gar pausirenden Bässen, wenn nemlich eine von den andern Stimmen zum Grunde der Harmonie dienet, ziehen und dadurch die Zusam-menstimmung verstärken soll, und wer weiß alle Forderungen mehr." (BACH 1753/1994, Vorrede, 1f.)
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PHILIPP CHRISTOPH HARTUNG fasst seine Anforderungen in Form eines resümieren-
den Gedichtes in seiner Klavierschule, dem Musicus theoretico-practicus, zusam-
men und gibt dabei ebenfalls aufschlussreichen Einblick in den nicht minder um-
fangreichen Fundus an Fähigkeiten, den er erhofft, vermittelt zu haben. Neben weit-
gehenden Übereinstimmungen mit CARL PHILIPP EMANUEL BACH geht hieraus unter
anderem die selbstverständliche Einordnung auch des Orgelspiels unter die "Clavier-
Kunst" hervor:
"Mein Freund! mit was vor Kunst und Vortheil spielest du? Gehts auf der Orgel auch recht leicht und hurtig zu? Hier will ich dir ein Stück, das schwer gesetzt ist, reichen; Es steht im Cis: nun komm und spiels aus allen Zeichen. Jetzt liegt das Stück verkehrt; jetzt liegt es in der Quer: Wohlan! schlags gleich behend, aus allen Thonen her. Ich spiele dir darzu: nicht vorn; nein, weiter hinten. Ist dein Gehör recht gut; so wirst du mich schon finden. Nun variire mir diß Stück recht schön und reich: Nimm selbst die Partitur; und spiel und sing zugleich. Doch wirst du deine Stimm jetzt transponiren müssen: Und das was unten steht, das trittst du mit den Füssen. Jetzt zeig, was deine Kunst im General-Bass sey. Dort sind die Zeichen schwehr, hier stehn sie nicht darbey. Du wirst vielleicht diß Ding mit Melodien zieren; Und deine linke Hand wird künstlich variiren. Du mußt zu gleicher Zeit der Tenoriste seyn: Und aus der Partitur hilf auch den andern ein. Jetzt muß ich deine Kunst im Fantasiren sehen; Und ob du meistens pflegst auf Fugen-Art zu gehen. Nebst diesem suche ich die schönste Melodie In aller Thonen-Art bey deiner Fantasie. Wird auch die Leidenschafft, nach dem du wilt, entstehen! Gehts glücklich, wann du wilt in fremde Thone gehen? Bezeugst du im Choral Vernunft und Hurtigkeit? Ist deine Fantasie zu allem Tact bereit? Vermagst du aus dem Kopf mit uns zu musiciren, Und doch mit andern auch darbey zu discuriren? Du bist recht brav, mein Freund! Nun spiel zu guter letzt Ein Kunst-Stück, das du selbst erfunden und gesetzt." (HARTUNG 1749/1977, II, 16)
25
Beide Beispiele zeigen einen aus heutiger Sicht in seiner Vielfalt erstaunlichen For-
derungskatalog. Dabei fällt auf, wie sehr insbesondere Fähigkeiten der Flexibilität
und Spontaneität mit Aufmerksamkeit bedacht werden. Entsprechend diesen vielfäl-
tigen Aufgaben beschäftigen sich die Klavierschulen des 18. Jahrhunderts wesent-
lich auch mit Herstellung und Arrangement von Musik für das Tasteninstrument. C.
PH. E. BACHS zweiter Teil des Versuchs über die wahre Art das Clavier zu spielen,
der übrigens deutlich umfangreicher ausfällt als der erste, ist den Tonsatz- und Ge-
neralbassregeln gewidmet. Auch dies belegt den hohen Stellenwert, den C. PH. E.
BACH eigenkreativen Aspekten bei der Kunst des Klavierspiels beimaß.
Alle Quellen jener Zeit belegen auch eine reiche Improvisationskultur. Dieser Sach-
verhalt kann nicht überraschen, ergibt sich doch die Praxis der Improvisation und
freien Fantasie automatisch aus einer Verbindung von Fähigkeiten der Herstellung
und der Darbietung. Improvisation ist simultane Erfindung und Ausführung musi-
kalischer Gedanken, oder, wie es CARL PHILIPP EMANUEL BACH am Beispiel des
spontanen Kadenzspiels formuliert:
"Die verzierten Cadenzen sind gleichsam eine Composition aus dem Stege-reif." (BACH 1753/1994, 131)
Nur ein Bruchteil der im 18. und frühen 19. Jahrhundert hervorgebrachten Klavier-
musik dürfte notiert, geschweige denn auf schriftlicher Grundlage überliefert wor-
den sein.
Auch für LUDWIG VAN BEETHOVEN war die Improvisation eine essentielle Art der
musikalischen Betätigung, die seine Leistung bei der Interpretation eigener Werke,
zeitgenössischen Berichten zufolge, deutlich überragt haben soll. Aus heutiger Sicht,
da BEETHOVEN aufgrund bekannter Medienkonstellation nur noch als Komponist
Bedeutung behalten hat, eine möglicherweise überraschende Tatsache. CARL
CZERNY berichtet in seinen Erinnerungen mehrfach, dass das Phantasieren für
BEETHOVEN tägliche Praxis war (vgl. CZERNY 1968, 12, 24) und dass seine öffentli-
chen Improvisationen meist bleibenderen Eindruck hinterlassen haben als die Wie-
dergabe seiner eigenen Kompositionen (vgl. LANDON 1994, 183). Eine Improvisa-
tion durfte aber auf keinen Fall vorher einstudiert sein (vgl. TÜRK 1789, 313). Dies
wurde üblicherweise einfach dadurch überprüft, dass dem Virtuosen ein Thema auf-
gegeben wurde, über das er spontan zu fantasieren hatte. So war WOLFGANG
AMADEUS MOZART erst von den Fähigkeiten des jungen BEETHOVEN überzeugt,
nachdem er sich auf diese Weise vergewissert hatte, dass sein Vortrag nicht "einge-
lernt" sei:
26
"Als Knabe wurde er zu Mozart geführt, der ihn spielen ließ, worauf er fanta-sierte. 'Das ist recht hübsch', sagte Mozart, 'aber eingelernt'. Gekränkt bat sich Beethoven ein Thema aus und fantasierte so, daß Mozart zu einigen Freunden sagte: 'Auf den gebt acht, der wird euch noch was erzählen'." (zit. nach LANDON 1994, 36)
Auch der Pianist und Komponist Abbé JOSEPH GELINEK beurteilte MOZART und
BEETHOVEN nicht primär anhand ihrer schriftlich festgehaltenen Kompositionen,
sondern anhand ihrer Fähigkeit zur Improvisation. Er berichtet über eine Begegnung
mit BEETHOVEN:
"In dem jungen Menschen steckt der Satan. Nie habe ich so spielen gehört! Er phantasierte auf ein von mir gegebenes Thema, wie ich selbst Mozart nie phantasieren gehört habe." (CZERNY 1968, 9)
Improvisationen gehörten zur Vortragspraxis aller Pianisten, wie auch FRÉDÉRIC
CHOPIN (vgl. MOLSEN 1982, 122), FELIX MENDELSSOHN-BARTHOLDY (vgl. HILLER
1874, 4) und FRANZ LISZT (vgl. WÖRNER 1993, 641). Entsprechend spielten Anlei-
tungen zur freien Fantasie bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts auch in den
Klavierschulen eine bedeutende Rolle. So lautet das einundvierzigste Kapitel im
zweiten Band von C. PH. E. BACHS Versuch über die wahre Art das Clavier zu
spielen "Von der freyen Fantasie". Carl CZERNY veröffentlichte als eines der letzten
Improvisationslehrwerke des 19. Jahrhunderts im Jahr 1829 die Systematische An-
leitung zum Fantasieren auf dem Pianoforte als opus 200. Im täglichen Unterricht
hatte die Improvisation ihren festen Platz (vgl. CZERNY 1968, 28).
Im Geist des spontanen Musizierens war es auch Usus, jeden Vortrag durch ein kur-
zes Vorspiel einzuleiten. Publikum und Pianist wurden so auf den Charakter der
nachfolgenden Komposition und auf die örtlichen Gegebenheiten von Raumakustik
und Instrument eingestimmt. MARTIN GELLRICH zitiert diesbezüglich die folgende
Bemerkung3 aus dem Jahr 1851:
"In der That gibt es nichts jämmerlicheres als eine Person, die sich ans Klavier setzt und sogleich ein Musikstück zu spielen beginnt, ohne vorher, wenn auch nicht ein Präludium, so doch wenigstens einige Accorde gemacht zu haben, die den Zuhörern anzeigen, in welcher Tonart das Stück geschrieben ist, das man zu spielen gedenkt, um sie dadurch zur nöthigen Aufmerksamkeit aufzufor-dern." (zit. nach GELLRICH 1992, 128)
3 A. d. Kontzki: L´indispensable du Pianiste, op. 100, Leipzig 1851, S. 66.
27
Die Fähigkeit zu präludieren war entsprechend von Beginn des Klavierunterrichts
wichtiges Ausbildungsziel. CARL CZERNY forderte demgemäß:
"Selbst der Anfänger kann und muss bereits in den ersten Monathen dazu an-gehalten werden, vor jedem Tonstück ein kleines Vorspiel auszuführen [...]." (CZERNY 1839, Bd. 3, 84)
Die vor der Abspaltung der Interpretation von der Komposition übliche Praxis, die
Qualitäten eines Künstlers weniger in der Perfektion der Ausführung, sondern in der
Spontaneität und Fähigkeit zur Ausgestaltung einer konkreten Situation zu messen,
spiegelt sich in einem von dem heutigen grundlegend abweichenden Verhältnis zwi-
schen vorbereitender Übung von Vortragsstücken einerseits und praktischer Aus-
übung der Kunst andererseits wider. Vortragsstücke wurden nicht separat einstu-
diert, sondern ihre Ausführung erfolgte aus dem Geist der Improvisation weitgehend
ohne spezifische Übung. Die Beherrschung der Klavierkunst gewährleistete viel-
mehr generell die Fähigkeit zur Verklanglichung von Musik, die Wiedergabe von
Kompositionen eingeschlossen. So betonte FRÉDÉRIC CHOPIN in einem von
FRIEDRICH NIECKS überlieferten Gespräch mit dem Kritiker WILHELM VON LENZ,
dass seine Vorbereitung auf ein Konzert keineswegs in der Übung seiner Komposi-
tionen bestand:
"'Studiren Sie, wenn der Concerttag kommt?' fragte ihn Lenz. 'Es ist eine schreckliche Zeit für mich', war Chopin's Antwort. 'Ich liebe nicht die Öffent-lichkeit, aber es gehört zu meiner Stellung. Vierzehn Tage schließe ich mich ein und spiele Bach. Das ist meine Vorbereitung, ich übe nicht meine Compo-sitionen.'" (NIECKS 1890, Bd. 2, 87)
Eine ähnliche Einstellung zum Üben von Werken geht auch aus der folgenden Be-
merkung von FRANZ LISZT über ADOLF HENSELT hervor, von der FRIEDRICH WIECK
in einem Brief berichtet:
"Daß Henselt seine Kompositionen jahrelang üben kann, zeige, meinte er, durchaus ein sehr beschränktes Talent an." (FRIEDRICH WIECK an CLEMENTINE WIECK, 5. März 18384, abgedruckt in WIECK 1968, 93)
Eine solche Musikpraxis wirkte sich zwangsläufig auch auf den Unterricht aus. In
jener Zeit, in der der Vortrag vorproduzierter Werke noch nicht Hauptziel der Aus-
bildung war, und als noch keine gedruckte Standardliteratur existierte, die dem
4 Als Datum des Briefs ist der 5. März 1832 angegeben, offensichtlich ein Druckfehler.
28
Publikum bekannt gewesen wäre und deren korrekte Ausführung beim Vortrag hätte
überprüft werden können, spielte die Perfektion der Wiedergabe auch in der Ausbil-
dung nicht die entscheidende Rolle. So sah DANIEL GOTTLOB TÜRK für den Kla-
vierunterricht in der Beschäftigung mit einem Stück über längere Zeit keinen Sinn:
"Ein anderer Fehler wird sehr oft dadurch begangen, daß man den Anfänger die Stücke so lange spielen läßt, bis er sie auswendig kann [...]. Besser ist es daher, wenn man ihn das aufgegebene Tonstück nur so lange üben läßt, bis er es in einer sehr mäßigen Bewegung zusammenhängend spielen kann." (TÜRK 1789/1962, 18)
Die folgende Äußerung CARL CZERNYS in seiner Pianoforte-Schule zielt in eine
ähnliche Richtung:
"Manche Lehrer haben den Grundsatz, dem Schüler so lange ein Stück einstu-dieren zu wollen, bis es ganz vollkommen gehe [...]. Die auf die [...] Art unter-richteten Schüler können wohl ein mühsam eingelerntes Stückchen zuletzt vor Zuhörern spielen, und damit einigen Beifall gewinnen; aber außerdem wissen sie fast gar nichts." (CZERNY 1839, Bd.1, zit. nach WEHMEYER 1983, 215)
Erstaunlich aus Sicht der heutigen Klavierpädagogik, in welcher das Ideal der per-
fekten Wiedergabe in jedem Stadium der Ausbildung für einen optimalen Lernerfolg
als unverzichtbar gilt, ist die Tatsache, dass ein solches Vorgehen nicht als inakkurat
und damit als mangelhaft angesehen wurde. Das Gegenteil war der Fall. Die Klä-
rung dieses scheinbaren Widerspruchs gelang MARTIN GELLRICH (1992). Er be-
schrieb die dieser Praxis zugrunde liegende und von der heutigen Situation grundle-
gend verschiedene Vermittlungsform aus dem Geist der Einheit von Erfindung und
Ausführung. GELLRICH zeigte, dass ein wesentlicher Teil der Übezeit am Klavier
mit dem Erlernen musiksprachlicher Elemente, mit Passagenübungen und, wie er es
nennt, "Sätzchen-Spiel" zugebracht wurde. Beide Arten bezeichnet er als integrierte
"technisch-musikalische Übungen". Das Erlernen des Instrumentalspiels vollzog
sich dabei auf der Grundlage der musikstrukturellen Bestandteile, aus denen die
Kompositionen hergestellt waren. Das Beherrschen dieser Bestandteile garantierte
auch die Fähigkeit, aus diesen Bestandteilen erstellte Werke auszuführen. Komposi-
tion und Spiel waren in der Improvisation miteinander verknüpft.
GELLRICH hebt besonders die ursprüngliche Einheit von musikalisch-improvisatori-
schem Lernen und technischer Übung hervor. Der Schüler hatte weniger vorgege-
bene Übungen nachzuspielen, sondern entsprechend dem Stil der Zeit Floskeln
29
selbst zu erfinden und neu zu kombinieren. Anstatt einzelne Stücke zu üben, wurde
der musikalische "Wortschatz" praktiziert, aus dem die Stücke aufgebaut waren:
"Die Passagenübung füllte nach Czernys Aussage die Hälfte der Übezeit aus. Die restliche Zeit wurde der Sätzchen-, der Etüden-, der Improvisationsübung, dem Blattspiel und eben dem Einstudieren von Vortragsstücken gewidmet." (GELLRICH 1992, 131)
Eine Passage stellt eine bestimmte Tonverbindung als Grundlage für einen gewissen
Kompositionsstil dar, und die Summe der bekannten Passagen eine Art musikali-
schen "Grundwortschatz". Dieser wurde variiert und kombiniert, so dass musikali-
sche Floskeln und Sequenzen entstanden. Zur Illustration sei eine typische Passage
aus dem Lehrbuch von PHILIPP CHRISTOPH HARTUNG angeführt:
30
Abb. 3: HARTUNG (1749/1977), Anhang, 1.
Verschiedene Möglichkeiten, Passagen im Stil BEETHOVENS zu erfinden und zu
variieren, demonstriert CARL CZERNY in seiner Anleitung zum Fantasieren auf dem
Pianoforte:
31
Abb. 4: CARL CZERNY: op. 200, S. 6.
32
Abb. 5: CARL CZERNY: op. 200, S. 7.
33
War ein ausreichender Grundstock an Passagen gelernt, konnten darauf aufbauend
kleine Formen geschaffen werden, von MARTIN GELLRICH als "Sätzchen" bezeich-
net. Typische Beispiele für solche Kleinformen, die sowohl technische als auch mu-
sikalische Lernziele miteinander verbanden, stellen die 160 achttaktigen Übungen
op. 821 von CARL CZERNY dar:
Abb. 6: CARL CZERNY: op. 821. 10.
34
Abb. 7: CARL CZERNY: op. 821. 21.
Beherrschte ein Schüler auch die Bildung solcher Kleinformen, konnte die Herstel-
lung umfangreicherer Stücke angegangen werden. Die integrale Verbindung von
technischem Training und Übung in der Herstellung eigener Musik führte nach
MARTIN GELLRICH dazu, dass
"[...] Musik im 18. Jahrhundert ähnlich wie eine Muttersprache angeeignet wurde, nämlich durch das Spielen musikalischer Sätze. Im Sätzchen-Spiel lernte das Kind mit Sequenz und Kadenz umzugehen. Es lernte ferner den Ge-brauch der musikalischen Syntax und Grammatik und übte sich schließlich auch im Darstellen bzw. Ausdrücken von Affekten und Charakteren. Nimmt man noch das Generalbaßspiel hinzu, so wurden dem Schüler schon in den er-sten Lehrjahren alle Werkzeuge in die Hand gegeben, um eigenhändig Mu-sikstücke herstellen zu können." (GELLRICH 1992, 13)
Das Üben von Passagen verfolgte also keineswegs nur technische Zwecke, sondern
schuf auch die stilistische, kompositorische und improvisatorische Grundlage des
Musizierens.
Die Wiedergabe von Kompositionen stellte in diesem Zusammenhang nur einen
kleinen Teil der Klavierpraxis dar, nicht zu vergleichen mit der dominierenden Rolle
der Interpretation fremder Werke seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als
das Récital zur bestimmenden Ausführungsform von solistischer Klaviermusik
wurde.
35
2.2 Werk und Rationalisierung: Das 19. Jahrhundert
2.2.1 Veränderungen zur Zeit Carl Czernys
Ein erster Hinweis auf einen Wertewandel weg von spontanen Äußerungsformen
und die Voraussetzung für neue Unterrichtsmethoden findet sich in einer Fußnote
zur vierten Auflage von C. PH. E. BACHS Versuch über die wahre Art das Clavier zu
spielen aus dem Jahr 1787. Hier relativiert C. PH. E. BACH seine bereits zitierte Aus-
sage aus der ersten Auflage, dass Veränderungen an Stücken immer dann zu billigen
seien, wenn sie besser oder zumindest genauso gut seien wie das Original. In der
Ergänzung betont er die Bedeutung der schriftlich fixierten Komposition an sich und
mahnt bei Veränderung zur Vorsicht:
"Denn man wählt bey der Verfertigung des Stückes, unter andern Gedanken, oft mit Fleiß denjenigen, welchen man hingeschrieben hat und deswegen für den besten in dieser Art hält, ohngeacht einem die Veränderungen dieses Ge-danken, welche mancher Ausführer anbringt und dadurch dem Stücke viel Ehre anzuthun glaubt, zugleich der Erfindung desselben mit beygefallen sind." (BACH 1994, 14*)
CARL CZERNY (1791-1857) schildert in seinen Erinnerungen ein Erlebnis mit
LUDWIG VAN BEETHOVEN, das sich etwa 25 Jahre nach Erscheinen des eben zitier-
ten BACHschen Textes zutrug. Hier spitzt sich der Konflikt zwischen Komponist und
Pianist zu, aus dem der Komponist und damit indirekt das schriftliche Medium
schließlich als Sieger hervorging:
"Als ich z.B. einst (um 1812) in Schuppanzighs Musik das Quintett mit Blasin-strumenten vortrug, erlaubte ich mir im jugendlichen Leichtsinn manche Ände-rungen, –Erschwerung der Passagen, Benützung der höheren Oktave etc.– Beethoven warf es mir mit Recht [...] mit Strenge vor. Den anderen Tag erhielt ich von ihm folgenden Brief, den ich hier genau nach dem mir vorliegenden Originale abschreibe. 'Lieber Czerny! Heute kann ich Sie nicht sehen, morgen werde ich selbst zu Ihnen kommen, um mit Ihnen zu sprechen. Ich platzte gestern so heraus, es war mir sehr leid, als es geschehen war, allein das müssen Sie einem Autor verzeihen, der sein Werk lieber gehört hätte, gerade, wie es geschrieben, so schön Sie auch übri-gens spielten [...].'
36
Dieser Brief hat mich mehr als alles andere von der Sucht geheilt, beim Vor-trag seiner Werke mir irgendeine Änderung zu erlauben, und ich wünsche, daß er auf alle Pianisten von gleichem Einfluß wäre." (CZERNY 1968, 34f.)
Damit fordert die gestiegene Bedeutung der schriftlich definierten Komposition ih-
ren Tribut: Solche Schwierigkeiten zeugen von der Etablierung des Musikwerks als
Wert an sich und korrespondieren mit der allmählich sich vollziehenden Aufgaben-
teilung in Komponist und Interpret. Die originalgetreue und möglichst genau den
Vorstellungen des Komponisten entsprechende Interpretation setzte sich im weiteren
Verlauf des 19. Jahrhunderts als Ziel des Instrumentalspiels durch.
Während früher der Zweck einer Komposition bereits erfüllt sein konnte, wenn das
Stück ein einziges Mal durch den Autor aufgeführt wurde und schriftliche Verbrei-
tung vielfach aus instruktiven Beweggründen erfolgte, wurde nun das Verlegen und
der Verkauf von Musikwerken in schriftlicher Form zum wirtschaftlichen Prinzip
und die maximale Verbreitung von Noten mit dem Ziel ihrer Wiedergabe zum
Zweck von Komposition. Je weitflächiger aber die Verteilung von Musikwerken
erfolgte, desto weniger konnten mündlich überlieferte Ergänzungen, auffüh-
rungspraktische Regeln und die Kenntnis stilistischer Besonderheiten bei den Lesern
der Notentexte vorausgesetzt werden. Als Folge dieses Verteilungsprinzips wurde es
für die Komponisten immer wichtiger, ihre Gedanken möglichst detailliert und un-
missverständlich zu codieren. Im Bestreben, auch Tempovorstellungen zu objekti-
vieren, war auch die Erfindung des MÄLZELschen Metronoms (die Patentanmeldung
erfolgte im Jahr 1816) und seine Anwendung durch LUDWIG VAN BEETHOVEN in
jener Phase nur konsequent.
Medientechnologische Voraussetzungen für die massenhafte Herstellung und Ver-
teilung von Drucksachen im 19. Jahrhundert, für den Notenverkauf als indirekte
Existenzgrundlage der Komponisten und für die Etablierung des Musikwerks waren
entscheidende Fortschritte auf dem Gebiet der Drucktechnik, insbesondere die Er-
findung der Lithographie durch ALOIS SENEFELDER im Jahr 1797.
Die Qualität der im 19. Jahrhundert veröffentlichten Notenausgaben verbesserte sich
ständig, die Drucksachen wurden immer detaillierter und übernahmen die Rolle von
Normen, die von den Ausführenden erfüllt werden mussten. Von der Richtigkeit des
Druckerzeugnisses musste nun im Gegensatz zu früher, auch aufgrund der großen
Sorgfalt, mit der die meisten Komponisten und Verleger die Herstellung der Vorla-
gen überwachten, ausgegangen werden. Je mehr dabei die Originalität und Einma-
ligkeit des Kunstwerks den in früherer Zeit herrschenden "vom Regelwerk abhängi-
gen Gruppengeschmack" (WÖRNER 1993, 281) ablöste, desto weniger war Verände-
rung und kritische Prüfung des Notentextes, ob er denn mit den Regeln der Tonset-
37
zung im Einklang stehe oder eventuell der Korrektur bedürftige Fehler enthalte,
durch den Ausführenden notwendig oder einsichtig, ja nicht einmal mehr statthaft.
Eine Veränderung des Notentextes beim Vortrag geriet zunehmend in den Ruch ei-
ner Respektlosigkeit gegenüber dem Komponisten und seinem Werk. Folglich
wurde das uneingeschränkte Meistern aller Noten und Ausführungsanweisungen der
Vorlage und die Bewältigung ihrer technischen Schwierigkeiten zur neuen Aufgabe
und Meßlatte für die Qualität ausübender Musiker.
Auch für die Musikerziehung boten die modernen drucktechnologischen Möglich-
keiten neue Perspektiven. Die Bedeutung dieser Neuerungen für den Klavierunter-
richt lässt sich ermessen beim Vergleich des zeitlichen Aufwands für die Unterwei-
sung eines Schülers vor etwa 1800 mit der Situation danach. Bis dahin war es noch
Usus gewesen, einen Schüler fast täglich zu unterrichten, wie etwa bei DANIEL
GOTTLOB TÜRK:
"Wer das Klavier zum Vergnügen spielen lernt, der hat genug gethan, wenn er täglich zwey Stunden darauf verwendet; anfangs wöchentlich etwa vier, wenn es seyn kann sechs, und in der Folge zwey bis vier Stunden Unterricht mit ein-gerechnet: wer aber das Klavierspielen zu seinem Hauptgeschäfte machen will, für den sind täglich drey bis vier Stunden Uebung kaum hinreichend, und au-ßer diesen ist wenigstens noch Eine [sic] Lectionsstunde nöthig." (TÜRK 1789, 11)
Auch LUDWIG VAN BEETHOVEN hielt einen nur "einige Male" pro Woche statt fin-
denden Unterricht für unzureichend. Er äußerte sich gegenüber dem Freiherrn
KÜBECK VON KÜBAU mit der Bitte, dieser möge ihm wegen seiner knappen Zeit bei
der Betreuung einer Schülerin assistieren:
"Ich unterrichte eine junge Person einige Male in der Woche. Öfter kann ich nicht und das ist unzureichend, um sie weiter zu bringen." (zit. nach LANDON 1994, 52)
Dass BEETHOVEN davon ausging, der Lehrer-Schüler-Kontakt habe täglich zu erfol-
gen, geht aus dem weiteren Verlauf des Textes unzweifelhaft hervor. KÜBECK VON
KÜBAU übernahm daraufhin BEETHOVENS Assistenz im Unterricht dieser jungen
Person und unterrichtete sie
"[...] täglich von 5 bis 6 Uhr abends." (zit. nach LANDON 1994, 52)
38
Zu Beginn des Unterrichts war eine Betätigung des Instruments oft ausschließlich in
Gegenwart des Lehrers erwünscht. FRIEDRICH WILHELM MARPURG beispielsweise
empfahl, selbstständiges Üben des Schülers im Anfangsunterricht völlig zu unter-
binden:
"In den ersten Stunden der Unterweisung ist es gar nicht rathsam, junge Perso-nen in Abwesenheit des Meisters zur Ueberstudirung ihrer Lection anzuhalten. Sie sind zu flüchtig, als daß sie ihre Hände in der ihnen vorgeschriebenen Lage zu erhalten, sich die Mühe geben sollten. [...] Sie können durch eine üble Wiederholung in einem Augenblicke niederreissen, was ein geschickter Mei-ster in einer Zeit von drey Viertheilstunden mit Sorgfalt gebauet hat." (MARPURG 1762, 6)
Auch FRANÇOIS COUPERIN hatte sich in diesem Sinn geäußert. Er empfahl dem Leh-
rer, das Klavier abzuschließen und den Schlüssel mitzunehmen. Teile der Texte von
MARPURG und COUPERIN ähneln sich übrigens derart, dass der Eindruck entstehen
könnte, MARPURG habe bei COUPERIN abgeschrieben:
"Es ist in der ersten Unterrichtszeit besser, die Kinder nicht in Abwesenheit des Lehrers üben zu lassen. [...] Ich nehme deshalb während des Anfangsunter-richts der Kinder aus Vorsicht den Schlüssel des Instruments, auf dem ich sie unterweise, mit, damit sie in meiner Abwesenheit nicht in einem Augenblicke verderben können, was ich in aller Sorgfalt ihnen in 3/4 Stunden beigebracht habe." (COUPERIN 1717/1933, 12)
Für die Praxis des Klavierunterrichts bot die Entwicklung neuer Arten von Klavier-
schulen entscheidende Rationalisierungsmöglichkeiten. Aufgrund im Verlauf des
19. Jahrhunderts in erhöhter Menge und Qualität zur Verfügung stehender Drucksa-
chen mussten Lehrer nicht mehr selbst komponieren können, noch musste (oder
konnte) es der Schüler bei einem solchen Lehrer lernen. Der Notendruck wurde prä-
ziser und ausführlicher, so dass die auf S. 20 erwähnten kognitiven Leistungen beim
Notenspiel, das Anbringen von Korrekturen und das Entschlüsseln von Kürzeln, an
Bedeutung verloren. Es war nicht mehr erforderlich, die vorliegenden Notentexte
musikstrukturell nachzuvollziehen. Im Vertrauen auf Richtigkeit und Vollständig-
keit des Textes konnte nun Note für Note wiedergegeben werden.
Auf dieser Grundlage etablierte sich, veränderten gesellschaftlichen Bedingungen
Rechnung tragend, ein zunehmend breitenorientierter Klavierunterricht. Der zeitli-
che Aufwand pro Schüler konnte reduziert werden, und ein Großteil des Lernens
fand nun selbstständig anhand gedruckter Publikationen statt. Eine Reduktion des
Unterrichtsaufwandes von etwa einer Stunde täglich (TÜRK, BEETHOVEN, vgl. S. 37)
39
auf eine Stunde wöchentlich (professionelle Ausbildung vor etwa 100 Jahren wie
heute) entspricht einer Rationalisierung um etwa den Faktor sechs; nimmt man die
Äußerung von PHILIPP DAVID KRÄUTER über die Unterweisung bei J. S. BACH (vgl.
S. 17) wörtlich, ergibt sich sogar eine Rationalisierung um den Faktor fünfzig!
CARL CZERNY nutzte als einer der Ersten die neuen technologischen Möglichkeiten
intensiv. Er begann, bändeweise Passagen und Sätzchen zu fixieren, um einerseits
im eigenen Unterricht schnell darauf zugreifen zu können, aber auch, um sie der
Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Das umfangreiche Etüden-Schaffen CARL
CZERNYS steht im unmittelbaren Zusammenhang mit den neuen drucktechnischen
Möglichkeiten, die in mehrfacher Hinsicht eine neue Dimension der Musikvermitt-
lung versprachen. War bis dahin der persönliche Kontakt zu einem Lehrmeister die
einzige Möglichkeit gewesen, sich in die Geheimnisse der Virtuosität einweisen zu
lassen, so erschien es nun als völlig neue Chance, durch den Erwerb z.B.
CZERNYscher Studienwerke sich diesen Einblick selbstständig zu verschaffen.5 Der
besondere Ruf CZERNYS als Schüler BEETHOVENS und Lehrer LISZTS tat ein Übri-
ges, dass die Verleger ihm seine Etüdensammlungen gleichsam aus den Händen ris-
sen (vgl. CZERNY 1968, 26f.). Man kann es CARL CZERNY nicht verübeln, dass er
dieser unersättlichen Nachfrage (vgl. JANSEN 1991, 67) durch Produktion immer
neuer Bände von Etüden nachkam und sich auf diese Weise eine materielle Grund-
lage schuf, die es ihm ermöglichte, seine Unterrichtstätigkeit zu reduzieren und
letztlich ganz aufzugeben.6
Die Drucklegung von musikalisch-technischen Beispielen in Form von Sätzchen
und Etüden hatte allerdings folgenschwere Konsequenzen: Sie machte die musik-
sprachlichen Bestandteile des damals aktuellen Stils, wie sie auf S. 28ff. dargestellt
und bis dahin als lebendige Musiksprache und veränderliche Beispiele weitgehend
mündlich tradiert worden waren, vermeintlich zu feststehenden Werken. Die Käufer
CZERNYscher Etüden nutzten die Übungsstücke jedenfalls nicht mehr als musik-
sprachliche Muster und Anregung zum Selbsterfinden, sondern als feststehende
Kompositionen, mit denen sie genauso streng verfuhren wie etwa mit dem Notentext
5 Sogar der Selbstunterricht anhand gedruckter Medien schien nun möglich zu werden. ADOLPH
KULLAK berichtet diesbezüglich in seiner Ästhetik des Klavierspiels über die Klavierschule von
J. P. MILCHMEYER aus dem Jahr 1797. Diese erhob den Anspruch, eine Anleitung zu geben, "[...]
wie man das Pianoforte [...] ohne Meister spielen lernen könne." (KULLAK 1861/1916, 70). 6 CZERNY berichtet in seinen Erinnerungen über seine exzessive Unterrichtstätigkeit aus dem Jahr
1816: "Damals gab ich in der Regel elf bis zwölf Lektionen täglich, von acht Uhr früh bis acht
Uhr abends, und unterrichtete bei dem höchsten Adel und in den ersten Familien Wiens. Diese
einträgliche, aber auch höchst anstrengende und meine Gesundheit in Anspruch nehmende Be-
schäftigung dauerte durch mehr als zwanzig Jahre bis zu dem Zeitpunkt, wo ich das Unterricht-
geben (1836) gänzlich aufgab." (CZERNY 1968, 25)
40
einer Sonate BEETHOVENS. Schließlich war inzwischen das Meistern vorgegebener
Schwierigkeiten und die Bewältigung aller vom Komponisten notierten Vorgaben
zum Ziel der Musikausübung geworden.
Durch die Drucklegung geriet jedenfalls der ursprüngliche Zweck der Übungen aus
dem Passagen- und Sätzchen-Spiel als technische und musikalische Beispiele in den
Hintergrund. Vielfalt und Menge der produzierten Etüden machte die eigene Erfin-
dung durch Variation und Improvisation auf der Grundlage von musiksprachlichen
Elementen überflüssig: Alle Eventualitäten pianistischer Bewegungsausführung
(diese wird nun unter der Bezeichnung "Technik" erstmals zum getrennt ausgewie-
senen Problem!) wurden von CZERNY bedient. Auch die zunehmende Trennung der
Ausführung von der Komposition und damit die Verlagerung des Interesses auf In-
terpretation als vordringliches Ziel des Klavierunterrichts führte dazu, dass Kompo-
sition und Improvisation zunehmend aus dem Blickfeld musikalischer Ausbildung
und Betätigung gerieten.
Wo aber die Interpretation von Komposition und Improvisation getrennt war, dort
vollzog sich die Spaltung in "technische" und "musikalische" Aspekte des Musizie-
rens. Beherrschung pianistischer "Technik" wurde zur Voraussetzung für musikali-
sche Ausdrucksfähigkeit und das Spiel von Übungsstücken zur Schaffung dieser
Voraussetzung unverzichtbarer Bestandteil des Klavier-Übens.
Aus der Sicht ihrer Entstehungsgeschichte stellt damit das Schicksal der Etüden
CARL CZERNYS ein typisches Beispiel für eine fehlgeleitete Medienanwendung dar,
und für den Autor wurde der schnelle Erfolg seiner Produkte zum Stigma, das ihm
bis heute anhaftet. CZERNY selbst bedauerte gegen Ende seines Lebens, den Wün-
schen der Verleger nach immer neuen Etüden zu oft nachgekommen zu sein, ver-
blasste doch sein umfangreiches Werk von über 800 Opera vor dem Erfolg seiner
"nur" ca. 70 Etüdenbände. Kurz vor seinem Tod schrieb er diesbezüglich an den
Verleger ANDRÉ:
"Geehrter Herr und Freund, Schon vor ungefähr 8 Jahren hatte ich Herrn Schlesinger eine von ihm bestellte Sammlung von Etüden jeder Gattung zugesagt und er dieselbe auch nach und nach im Laufe der Jahre erhalten. [...] Auch schrieb ich Ihnen, wie schwer es ist, in dieser beschränkten Form etwas neues und hübsches zu finden, und wie höchst zuwider mir dieses Fabrizieren von solchen Kindereyen ist, da derglei-chen für meinen Künstlerberuf sehr nachtheilig seyn kann. Durch ernste Com-positionen, denen ich jetzt seit Jahren meine Zeit widme /: Quartette, Sinfo-nien, Kirchenwerke etc. :/ hoffe ich, wenn mir Gott noch so langes Leben schenkt, diesen Fehler wieder zu verbessern, den ich immer nur aus Gefällig-keit gegen die Herrn Verleger beging, und der auch schuld ist, daß das Ausland
41
sich mit dem bloßen Nachdruck dieser Kleinigkeiten begnügt." (zit. nach WEHMEYER 1983, 83f.)
Mit der Trennung der Ausführung von der Produktion im Verlauf des 19. Jahrhun-
derts entstand eine veränderte Arbeitshaltung: Der Sinn der Übung als Selbstzweck
wurde ersetzt durch den neuen der vorbereitenden Übung. Damit vollzog sich ein
grundlegender Bedeutungswandel des Begriffs Üben.7 Im 18. Jahrhundert hatte die
Clavierübung noch für die gesamte Ausübung der Kunst am Instrument gestanden.
Im Geist jener Zeit, die noch nicht trennte zwischen einem musikalischen Gedanken
und seiner Ausführung, wäre es sinnlos erschienen, technische Probleme der Aus-
führung separat zu betrachten: Hier waren die Begriffe Üben und Ausüben noch
Synonyme: Übung war jede Beschäftigung mit dem Instrument, jedes Spiel, unab-
hängig vom Niveau: vom Anfänger bis zum Meister, der Vortrag inbegriffen.
ISABELLA AMSTER wies in einem Aufsatz über die Klavierübung im Alltag des Mu-
sizierens auf die Allgemeingültigkeit des Begriffes Clavierübung hin, die sich auch
lexikologisch untermauern lässt:
"Daher sucht man auch vergebens in den Lexica und theoretischen Schriften allgemeinen oder klavierpädagogischen Charakters dieser Zeit nach einer ge-nauen Definition von 'Klavierübung'. Sie ist keine bestimmte Form, umfaßt vielmehr alle in der Zeit des 17. und 18. Jahrhunderts üblichen Formgattungen: Suiten, Fugen, Ricercare, Chaconne, Variationen, Sonaten usw. Da diese For-men den Umkreis des täglichen Musizierens ausmachten, so war eben jedes Musizieren am Klavier eine Klavier-Übung. Solche 'Übungen' bildeten also nicht eine Vorbereitung für einen außerhalb des täglichen häuslichen Musizie-rens liegenden Zweck repräsentativer Art (wie Vortrag im Konzertsaal), son-dern waren Stoff für eine allgemein-musikalische Betätigung des Spielers mit besonderer sachgemäßer Berücksichtigung seines Instrumentes." (AMSTER 1930, 173f.)
Als Beispiel für eine solche Übung im ursprünglichen Sinn sei die Clavier-Übung,
IV. Teil von JOHANN SEBASTIAN BACH angeführt, bekannt als Goldberg-Variatio-
nen:
7 Eine grundlegende Abhandlung zum Begriff des (nicht nur musikalischen) Übens liegt von OTTO
FRIEDRICH BOLLNOW (1991) vor.
42
Abb. 8: Titelblatt der Erstausgabe der Clavier-Übung, IV. Teil (Goldberg-Variatio-
nen) von JOHANN SEBASTIAN BACH.
Am Beispiel des Wohltemperierten Klaviers formuliert ISABELLA AMSTER diese
Einheit von Denken und Spielen folgendermaßen:
"Das Technische erscheint hier in einer musikalischen, geschlossenen Form, technische Prinzipien und musikalische Gestaltung fallen zusammen." (AMSTER 1930, 173)
Im Verlauf des 19. Jahrhunderts vollzog sich die Spaltung der Clavier-Übung in
Technik und Interpretation. Damit gewann der Begriff Üben eine neue Bedeutung
im Sinne vorbereitender Übung. Im Geist des 18. Jahrhunderts würde das Sprich-
wort "Übung macht den Meister" etwa bedeuten: "Ständige Betätigung in der
Kunstausübung und Beschäftigung mit der Musik ergibt kontinuierliche Verbesse-
rung durch Lernen." In der neuen Bedeutung des 19. Jahrhunderts bekommt das
43
Wort jenen negativen Beigeschmack, den es vielfach noch heute besitzt, wenn etwa
unter Musikern der Satz fällt: "Ich muss üben." "Übung macht den Meister" bedeutet
nun: "Fleiß und Entbehrungen liegen auf dem Weg zur Meisterschaft."
Aus den beiden Klassen musikbezogener Medien des 18. Jahrhunderts, Clavier-
schule als theoretische Abhandlung in verbaler Form und Clavierübung in Noten-
form, wurden vier: Aus den Clavierschulen des 18. Jahrhunderts ging einerseits die
so genannte Praktikerliteratur8 hervor, die theoretische Betrachtungen über das Kla-
vierspiel beinhaltet und sich mit der künstlerischen und technischen Problemlösung
der Interpretation befasst. Sie besteht vorwiegend aus verbalem Text und spielt bis
heute in der Ausbildung von Instrumentalpädagogen eine wichtige Rolle. Der Ter-
minus Klavierschule andererseits wurde im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts
mit völlig neuem Inhalt gefüllt und bezeichnet seitdem ein Unterrichtsmedium, das
sukzessive im Schwierigkeitsgrad ansteigende Spielstücke für Anfänger enthält.
Die Clavierübung als Sammelbegriff für die ausübende Praxis des 18. Jahrhunderts
spaltete sich auf in Werke, deren Interpretation Ziel aller Bemühungen wurde und
hierauf vorbereitende Übungen (vgl. AMSTER 1930, 174). Dabei entstand eine neue
musikalische Gattung: die Etüde (vgl. AUGUSTINI 1986). Deren erste Exemplare
erschienen im Jahr 1804 in Form der Études pour le pianoforte en 42 exercices...
von JOHANN BAPTIST CRAMER. Beispielhaft für die neue Bedeutung der vorberei-
tenden Übung bzw. Etüde sei hier der Artikel Essercizi aus Dizionario e Bibliogra-
fia della Musica, erschienen in Mailand 1826, zitiert, den ISABELLA AMSTER fol-
gendermaßen übersetzte:
"Es sind Musikstücke, komponiert für eine technische Schwierigkeit der Stimme, für eine besondere und schwierige Art, das Instrument zu spielen, welche sich auf alle Stufen der Tonleiter und auf alle Lagen erstreckt... Da die Übungen nur zum Studium im Zimmer bestimmt sind, um den Schüler mit den Schwierigkeiten aller Art in den Arbeiten berühmter Komponisten vertraut zu machen, so gebe man sich keine Mühe, sie angenehm fürs Ohr zu machen [...]." (AMSTER 1930, 174)
Der Hinweis auf die sekundäre Rolle des Ohres bei einer musikbezogenen Tätigkeit
wäre noch wenige Jahrzehnte zuvor als absurd abgetan worden und kennzeichnet
einen entscheidenden Wandel der Kommunikationsebene: die Abkehr von der Un-
terhaltungsfunktion des Musikers (vgl. WÖRNER 1993, 454), von dem Primat der
"Ergötzung" des Publikums unter alleiniger Referenz des Klangeindrucks und statt
dessen die Hinwendung zur Betrachtung spieltechnischer Probleme bei der Übertra-
8 Zum Begriff vgl. SCHMIDT-BRUNNER (1982, 15).
44
gung von Notentexten auf die Klaviatur. Damit verlagerte sich die primäre Kommu-
nikationsebene von der Dimension Musiker - Publikum in die Richtung Musiker -
Instrument oder (im günstigeren Fall) Musiker - Werk bzw. Musiker - Geist des
Komponisten. Die Berücksichtigung aller im Notentext vorgegebenen Vorschriften
kann dabei unter ungünstigen Umständen bei der Wiedergabe von Werken die Auf-
merksamkeit des Ausführenden derart absorbieren, dass das Klangergebnis auch bei
der Interpretation sekundär wird. Obwohl seine Produkte zunehmend zu Opfern ei-
ner derartigen Behandlung wurden, muss betont werden, dass für CARL CZERNY
selbst der erste Rang der Klanggestaltung nicht in Frage stand:
"Das wichtigste Mittel, um auch solche Passagen angenehm zu machen, die hart, überladen, misstönend scheinen, ist: die Schönheit des Tons: [...] Es ist damit so, wie im Sprechen, wo eine rauhe polternde Stimme auch den beson-nensten Ausdruck beleidigend machen kann, während dagegen die beschei-dene, ruhig sanfte Aussprache selbst jene Worte mildern kann, die sonst verlet-zend sein würden" (CZERNY 1839, Bd.3, 53f., zit. nach GELLRICH 1992, 135)
Die Verlagerung des Interesses auf die originalgetreue Bewältigung von Musikwer-
ken in Form von Notentexten steht in unmittelbarem Zusammenhang mit der Eta-
blierung der Klassik. Das in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gewachsene hi-
storische Bewusstsein (vgl. RICHTER 1997, 79) hatte, wie THOMAS NIPPERDEY be-
tont, auch Auswirkungen auf die Künste:
"Als die Künste bürgerlich wurden, ist die Bildung dieser Bürger gleichzeitig historisch geworden, und diese Historisierung greift auch auf die Künste aus. Vergangene Kunst wird in bisher noch nie dagewesener Weise neben der ge-genwärtigen Kunst präsent, gleichberechtigt oder gar übermächtig." (NIPPERDEY 1988, 38)
Damit gewann Komposition zunehmend den Anspruch, bleibende Werke zu schaf-
fen. Die neue Aufmerksamkeit, mit der nun im Sinne dieses überzeitlichen An-
spruchs auch Werke der Vergangenheit bedacht wurden, manifestiert sich in der
Wiederentdeckung der Kompositionen JOHANN SEBASTIAN BACHS, symbolisiert
durch die Wiederaufführung der Matthäus-Passion durch FELIX MENDELSSOHN-
BARTHOLDY im Jahr 1829. Die Sammlung bedeutender Werke der Vergangenheit
ergibt den Begriff der Klassik. Aus der Tatsache, dass dieser Begriff heute zwei ver-
schiedene Bedeutungen, eine engere und eine weitere besitzt, lässt sich rekonstruie-
ren, dass er nach dem Ende der klassischen Epoche im engeren Sinn entstanden sein
45
muss – eben als beide Bedeutungen noch vereint waren.9 Die Tatsache, dass der
weitere Begriff der Klassik bis heute den gesamten Komplex der "E-Musik" umfasst
(jedenfalls ist es nicht unüblich, beispielsweise ein Werk STRAWINSKYS als klassi-
sche Musik zu bezeichnen), deutet darauf hin, dass mit der Etablierung der Klassik
am Ende der klassischen Epoche im engeren Sinn gleichzeitig mit einer neuen Mu-
sikauffassung eine neue Musikgattung geschaffen wurde. Zu deren Charakteristika
gehört der Anspruch, sich in überzeitlicher Perspektive mit den zu Klassikern ver-
dichteten Kunstgrößen der Vergangenheit zu messen. In der Praxis dieser "ernsten
Musik" (vgl. WÖRNER 1993, 454) gerieten "unterhaltende" Elemente in den Hinter-
grund, und die Musikausübung wurde allmählich zu einem transzendenten Akt der
Kommunikation des Interpreten mit dem Geist des Komponisten, dem die Zuhörer
im zum "Kunsttempel" gewordenen Konzertsaal schweigend beiwohnen durften.
THOMAS NIPPERDEY bemerkt zu diesem Prozess der Mystifizierung der Kunst in
jener Epoche:
"Die Künstler sind Heilige und Märtyrer, sind wie Beethoven (im späten 19. Jahrhundert) Prometheus und Prophet, Verkünder des heroischen Evangeliums von Leid und Überwindung. Die Sprache des Quasi-Religiösen ist im Nach-hinein oft fremd und mit ihrem schwülstigen Pathos oft unerträglich [...]. Philosophisch gesprochen: Kunst transzendiert die Welt und ist insofern ein Stück Transzendenz. [...] Kunst hat es mit der Wahrheit zu tun, sie präsentiert Wahrheit und Sinn im Symbol für das Gefühl, sie vermittelt noch – das Ganze. [...] Der Künstler triumphiert gegenüber dem Konkurrenten, der Anspruch auf das Erbe der Religion erhebt, dem Wissenschaftler, weil er nicht der reinen Intellektualität verschrieben ist und vor allem nicht der Spezialisierung durch Fachleute." (NIPPERDEY 1988, 25f.)
Die Kunstausübung verlor als Folge der Historisierung ihre Unbefangenheit, wurde
gleichsam "erwachsen" und damit erstmals "problematisch". Indem nämlich "das
Klassische [...] auf den Sockel gestellt" wird "oder in die Vitrine" (NIPPERDEY 1988,
53), kann Musikausübung zum Problem werden:
"Umgang mit Kunst steht im Schatten der Vergangenheit und ist schon da-durch pluralisiert. Damit rückt aber auch die gegenwärtige Kunst und der Um-gang mit ihr in eben diesen langen Schatten der Vergangenheit. Das Verhältnis zur Tradition, ihrer Macht und Übermacht, wird zum existentiellen Problem." (NIPPERDEY 1988, 39)
9 Dieser Zusammenhang bestätigt sich bei der Betrachtung der auf S. 53f zitierten Bemerkung
ANTON SCHINDLERS zur "classischen" Epoche in seiner zwischen 1835 und 1840 in Aachen ent-
standenen Beethoven-Biographie.
46
Diese Problematisierung schuf die Grundlage für den Siegeszug der Instrumental-
pädagogik. Letztere bot ihre Dienstleistung als Schlüssel zur Lösung dieser Proble-
me an und profitierte so von der Verlagerung auf die kunstreligiöse, fast "esoteri-
sche" in jedem Fall aber scheinbar nur für "Eingeweihte" zugängliche Ebene. Bis
heute bezieht die Instrumentalpädagogik aus dem Exklusivanspruch auf diese
"Weihe" ihr Existenzrecht. Dies – und die Abkehr von der Kommunikation mit dem
Publikum als oberster Instanz allen Musizierens – ermöglichte in Verbindung mit
der Entmündigung des Ohrs allerdings auch die Erfolgsgeschichte des Dilettantis-
mus.
2.2.2 Die Geschichte des Dilettantismus
Im 19. Jahrhundert wurde das Klavierspiel enorm populär (vgl. BALLSTAEDT &
WIDMAIER 1989). Die neuen medialen Möglichkeiten, aber auch verbesserte Her-
stellungsverfahren im Instrumentenbau, die das Klavier erschwinglich machten (vgl.
WEBER 1921/1972, 76), trugen dazu bei, dass dieses zum beliebtesten Musikinstru-
ment des 19. Jahrhunderts wurde; eine Erfolgsgeschichte, die bis in die Gegenwart
ausstrahlt. JOHANNES JANSEN bemerkt dazu:
"Das einstige Luxusgut, ein Spielzeug der Reichen, war erschwinglich gewor-den. Bereits um die Mitte des 19. Jahrhunderts gehörte es zum festen Inventar eines 'besseren' Hauses. Durch das Klavier nahm das Bürgertum in einer nie dagewesenen Breite an der Musikentwicklung teil. Aber Klavierspielen ge-hörte nicht nur zum guten Ton, es wurde zur Leidenschaft – und die Pianoma-nie zur Begleiterscheinung der industriellen Revolution." (JANSEN 1991, 67)
Dass dieser Aufschwung die gesamte westliche Welt erfasste, davon zeugen unter
anderem die Produktions- und Verkaufszahlen für Klaviere in verschiedenen Regio-
nen. FOLKE AUGUSTINI nennt die folgenden Herstellungszahlen der Klavier-Fabri-
ken in England, den Vereinigten Staaten und Deutschland:
"1802 fabrizierte Broadwood in England 400 Klaviere, 1825 bereits 1.500 In-strumente pro Jahr. In den Vereinigten Staaten bestanden 1860 vier große Kla-vierbauwerke [...] mit einer gemeinsamen Jahresproduktion von etwa 15.000 bis 20.000 Klavieren pro Jahr. 1889 bauten in Deutschland circa 380 Firmen ungefähr 70.000 Instrumente." (AUGUSTINI 1986, 56)
47
Aus dem weiteren Verlauf der Arbeit von AUGUSTINI (1986, 56) geht eine zusätzli-
che Vervielfachung der Produktion auf 170.000 Instrumente allein in Deutschland
im Jahr 1905 hervor. Um die Wende zum zwanzigsten Jahrhundert war schließlich,
wie OSCAR BIE in seinem Buch Das Klavier und seine Meister bemerkt, eine kla-
vierlose Wohnung kaum noch vorstellbar:
"Das Klavier ist ein Lebensfaktor geworden. Diejenigen, welche nicht Klavier spielen, stehen heute ausserhalb einer grossen Gemeinschaft, die dies Haus-mittel der Musik kultiviert. In klavierlosen Wohnungen scheint eine fremde Atmosphäre zu sein." (BIE 1901, 280f.)
Diese beeindruckende Erfolgsgeschichte des Klavierspiels im Verlauf des 19. Jahr-
hunderts wurde begünstigt durch mehrere Faktoren.
Das Klavier in Verbindung mit dem Print-Medium bot erstmals in der Geschichte
eine mit relativ geringem Aufwand praktizierbare Möglichkeit der häuslichen Wie-
dergabe komplexerer Arten von Musik durch eine Einzelperson. Vor der Erfindung
von mechanischer Tonaufzeichnung (im Jahr 1887) und Rundfunk (in den zwanzi-
ger Jahren des 20. Jahrhunderts) war Hausmusik die einzige Möglichkeit des Mu-
sikkonsums im bürgerlichen Heim. Das Klavier hatte dank konstruktiver Verbesse-
rungen eine ausreichende Stabilität und großes klangliches Volumen erreicht. So
wurden mit der Erfindung der doppelten Auslösung durch die Brüder Erard und de-
ren Patentierung im Jahre 1821, mit der Einführung des gusseisernen Rahmens zur
Stabilisierung der erhöhten Saitenspannung, der Kreuzbesaitung und der Befilzung
der Hämmer entscheidende Verbesserungen geschaffen, bis sich in der zweiten
Hälfte des 19. Jahrhunderts die Entwicklung des Klaviers in die Form, die noch
heute besteht, weitgehend vollzog (vgl. PALMIERI 1989, 245ff.). Der Wunsch, In-
strumentalmusik zu hören, dessen Erfüllung bis dahin einen aufwändigen Konzert-
besuch, zumindest aber (bei kammermusikalischer Hausmusik) ein entsprechendes
Ensemble erforderlich gemacht hatte, ließ sich nun leichter erfüllen. Auch um
Werke der Symphonik kennenzulernen, war das Klavier, insbesondere beim vier-
händigen Spiel, durchaus geeignet. Wie sehr die Verklanglichung auch von Werken,
die eigentlich für Orchester oder Kammermusikensembles komponiert waren, vor
Erfindung der Schallaufzeichnung zu den Aufgaben des Klaviers gehörte, lässt sich
unter anderem der großen Zahl von Klavierauszügen entnehmen, die im 19. Jahr-
hundert den Markt überschwemmten.
Ein weiterer Faktor, der die Verbreitung des Klavierspiels begünstigte, liegt im be-
sonderen Ansehen des Virtuosentums begründet. Das transzendente Image von
Kunst und die Rolle der Virtuosen als Idole lösten eine Welle der Begeisterung für
das Klavierspiel aus. Das aktive Klavierspiel barg für viele ehrgeizige jungen Men-
48
schen des 19. Jahrhunderts die Hoffnung, vielleicht irgendwann selbst einmal zu
Virtuosen zu werden und damit die eigene Existenz zu transzendieren. War das 18.
Jahrhundert noch geprägt von einer festen Weltordnung und der gesellschaftliche
Stand in jener Zeit noch weitgehend unverrückbar gewesen, so bot das 19. Jahrhun-
dert erstmals die Möglichkeit sozialen Aufstiegs für breitere Bevölkerungskreise
und damit die Versuchung, durch eigene Leistung einen Hauch göttlicher Aura zu
erlangen. Nachdem die Standesschranken gefallen waren, schien der Traum in greif-
barer Nähe, durch eigene Leistung auf dem Instrument gesellschaftliche und materi-
elle Schranken zu sprengen, wie es PAGANINI und LISZT vorgemacht hatten. Ein be-
sonderer Reiz ergab sich im Kontext der angestrebten Transzendenz aus dem bis
heute ungebrochenen Spannungsverhältnis zwischen Veranlagung und Fleiß. Die
Stellung der Virtuosen reichte in eine quasi überirdische Sphäre hinein, die bis dahin
nur qua Geburt erreichbar gewesen war. War nicht dieser Zustand der Transzendenz
im Bereich der Musik insgeheim doch durch hervorragenden Einsatz zu erreichen?
Oder bedurfte es erst des Fleißes, um eine möglicherweise angeborene Begabung
wirksam werden zu lassen? Gerade weil musikalische Begabung im Bild des fortge-
schrittenen 19. Jahrhunderts von einer besonderen genetischen Prädestination, ja in
ihrer Transzendenz geradezu von neuem Adel zu zeugen schien, war es besonders
reizvoll, seine eigenen Möglichkeiten und damit insgeheim seine eigene Auser-
wähltheit durch intensive Betätigung am Klavier auszutesten.
Dass das Klavier bei diesen Bemühungen vor anderen Instrumenten bevorzugt
wurde, resultiert auch aus seiner maschinellen Machart. Es entspricht dem Zeitgeist
der industriellen Revolution, indem es durch konstruktiven Aufwand den Geist der
Rationalisierung, welcher in Gestalt allgegenwärtiger Technifizierung das Leben
bereits erheblich erleichtert hatte, auch auf das Musizieren anwendbar machte. Die
Möglichkeit der Wiedergabe einer Symphonie durch eine einzige Person, die dank
des zudem vorab geleisteten Arrangements nicht mehr im Partiturspiel ausgebildet
zu sein brauchte, kann in diesem Zusammenhang (trotz unbestreitbarer Abstriche im
klanglichen Bereich) als wesentlicher Rationalisierungserfolg gewertet werden.
FOLKE AUGUSTINI macht auf das typische Leistungsdenken jener Zeit aufmerksam,
aus dem heraus Virtuosentum angestrebt wurde, und stellt den Zusammenhang zur
Rezeption der Werke CARL CZERNYS im Geist der Industrialisierung her:
"So wirkten die vielen Pianisten als Vorbilder für die große Menge der Laien, die sich nun ihrerseits auch musikalisch betätigen wollten. Daß es möglich ist, auch ohne Genialität und überragende Begabung einige Fertigkeit auf dem Klavier zu erlangen, hatte Carl Czerny gezeigt. [...] Dazu kommt dann noch die Tatsache, daß das Klavier aufgrund seiner überwiegend technischen Konzep-tion für Laien leichter zugänglich ist als Instrumente, deren Töne nicht durch
49
einen ausgebildeten Stimmer vorgegeben sind, wie die Streich- und Blasin-strumente, bei denen das Gehör eine große Rolle spielt; und hatte denn nicht auch Arbeit zu den Fortschritten und Errungenschaften des täglichen Lebens geführt?" (AUGUSTINI 1986, 57)
Eine umfassende musikalische Ausbildung, wie sie zu Zeiten der Einheit von Kom-
position und Ausführung die Norm gewesen war, schien in diesem Streben nicht
erforderlich, ja unter der Prämisse eines möglichst rationellen Lernens sogar eher
hinderlich, denn die vorzutragenden Werke lagen in Form von Notentexten bereits
fest. Im Geist der Rationalisierung war es nur konsequent, die Quantität und Ge-
schwindigkeit der zu leistenden Tastenbewegungen durch körperliches Training bis
zur Virtuosität zu steigern zu suchen.
Im Bemühen, das inzwischen als einzig erstrebenswert erachtete Ziel der Interpreta-
tion von Meisterwerken zu erreichen, musste CZERNY missverstanden werden. Es
musste nun als Zeitverschwendung erscheinen, beim Üben weiterhin durch Passa-
gen- und Sätzchen-Spiel eigene musikalische "Gedanken" zu entwickeln. Die bereits
vollbrachte Vorleistung CARL CZERNYS wurde, ähnlich wie die konstruktiven Vor-
leistungen der Klavierbauer mit dem Ziel einer möglichst einfach bedienbaren und
trotzdem variablen Tonerzeugung, zu diesem Zweck gern in Anspruch genommen.
Die Kosten für die Notenbände mit seinen Etüden schienen durch den Mehrwert ra-
tionelleren Übens und dadurch schnelleren Fortkommens mehr als ausgeglichen zu
werden. Diesem Missverständnis erlag auch ADOLPH KULLAK in seiner Ästhetik des
Klavierspiels, einem typischen und dem wohl bedeutendsten Beispiel für Praktiker-
literatur des 19. Jahrhunderts. Er propagiert das zielgerichtete Studium anhand
CZERNYscher Werke und erklärt die hohe Beliebtheit CZERNYS in der zweiten Jahr-
hunderthälfte:
"Das Czernysche Prinzip bestand darin, in den Etüden den Geist möglichst wenig auf irgendeinen tieferen Inhalt abzuleiten, es sollte die Mechanik aus-schliesslich im Vordergrunde des Interesses bleiben; dieser für das Praktische sehr ergiebige Standpunkt hat denn auch manchen Werken eine unbedingte Popularität eingetragen." (KULLAK 1876/1994, 96)
In der Auflage von 1916, die von WALTER NIEMANN bearbeitet wurde, sind Ergän-
zungen zu finden, die die Formulierungen KULLAKS noch verschärfen. So lautet das
letzte Zitat in der Auflage von 1916 (die Ergänzung ist kursiv gedruckt):
"Das Czernysche Prinzip bestand darin, in den Etüden den Geist möglichst wenig auf irgendeinen tieferen Inhalt abzuleiten, durch Hinwegräumen von allem nur irgendwie geistig Erschwerendem zu flüssigem, raschen Spielen ge-
50
radezu zu zwingen; es sollte die Mechanik ausschliesslich im Vordergrunde des Interesses bleiben; dieser für das Praktische sehr ergiebige Standpunkt hat denn auch manchen Werken eine unbedingte Popularität eingetragen." (KULLAK 1861/1916, 98)
Noch schärfer formuliert KULLAK sein reduziertes Verständnis CZERNYS, wo er die
ältere Methode HUMMELS kritisiert und diese der seiner Meinung nach besseren,
weil rationelleren Methode CZERNYS gegenüberstellt. Das dabei von ihm benutzte
Attribut "geistabtötend" wird nicht etwa als Nachteil gesehen, denn es geht seiner
Auffassung nach ja nun beim Klavierspiel nur noch um Ausführung, nicht mehr um
inhaltliches Schaffen:
"Nur fehlt es Hummel noch an der praktischen Einsicht der Czerny'schen Lehrmethode, die auf kürzerem Wege die Mechanik zu bilden weiß, und in dieser Beziehung den ganzen neueren Fortschritt begründet hat. Hummel ist noch nicht Mechaniker genug, die Handbildung ist bei ihm noch nicht ein Er-zeugnis rein technischer Arbeit geworden, aus welcher sie durch die zwar geistabtödtenden, aber schnell wirkenden [Hervorhebung von mir, H.K.] Mit-tel späterer Methodik als ein vollkommener Mechanismus hervorging." (KULLAK 1876/1994, 78)
Aufgabe des ausführenden Musikers ist es damit, sichtbare mechanische Arbeit bei
der Ausführung des Notentextes zu leisten. ADOLPH KULLAK schließt zwar, wie
zumindest der Titel Ästhetik des Klavierspiels nahelegt, die musikalische Intention
nicht aus, doch seine folgende Bemerkung lässt keine Zweifel darüber offen, dass
für ihn die entscheidende Anforderung beim Klavierspiel auf einem anderen Gebiet
liegt:
"Die Mechanik ist die erste und unerlässlichste Bedingung des Klavierspieles. [...] Die Mechanik muss vollkommen sein; so wenig das geschickteste rhetori-sche Genie den Redner macht, wofern die Zunge stottert, schwerfällig, oder wohl gar der Sprache unmächtig ist, ebenso wenig macht das ausserordentlich-ste Verständnis aller Kompositionen oder die üppigste Fantasie den Klavier-spieler, wenn es der Mechanik gebricht." (KULLAK 1876/1994, 122)
Bemerkenswert und typisch für das Denken in der zweite Hälfte des 19. Jahrhun-
derts ist dabei, dass KULLAK in der naheliegenden und häufig strapazierten Analogie
Redner – Musiker die Redekunst primär an der mechanischen Beweglichkeit der
Zunge festmacht. Stottern ist für ihn also ein mechanisches und kein psychologi-
sches Problem!
51
Improvisation und Komposition haben dabei keinen Platz mehr in pianistischer
Ausbildung und Betätigung:
"Das Klavierspiel ist reproduzierende Kunst. Die Improvisation und Komposi-tion auf dem Pianoforte unterliegen Regeln, welche in allgemeinere Gebiete des musikalisch Schönen hineinreichen." (KULLAK 1876/1994, 117)
Auch hier präzisiert die Auflage von 1916 durch eine Ergänzung. Die Rede ist von
der Ästhetik des Klavierspiels:
"Ihr spezieller Kreis ist die Reproduktion dessen, was in einer ursprünglichen Tätigkeit der künstlerischen Kraft bereits voraus geschaffen ist." (KULLAK 1916, 135f.)
Die Idee der Rationalisierung forderte die Abtrennung alles Überflüssigen und die
Konzentration auf das Wesentliche. Auch die zeitgenössischen Pianisten lieferten in
ihrer Übepraxis Beispiele, die diese Trennung versinnbildlichen. OSCAR BIE be-
richtet diesbezüglich, wie EUGEN D'ALBERT
"[...] sich mechanisch in Skalen übt, während er gleichzeitig neue Noten liest, oder wie Henselt Bach spielt, während er die Bibel liest [...]." (BIE 1901, 281)
Als Folge der Beschränkung auf die Wiedergabe konnte jeder durch Vermittlung
ausreichender Kenntnisse im Notenlesen und im Umgang mit der Klaviatur das Kla-
vierspiel erlernen. Die so möglich gewordene Verbreitung des Musizierens auf der
Grundlage von Liebhaberei begründete den Dilettantismus, dessen erste Vorboten
sich bereits vor der Wende zum 19. Jahrhundert ankündigten (vgl. AMSTER 1930,
174). Der Begriff Dilettant beinhaltete zunächst aber, ähnlich wie heute im Be-
griffspaar Profi – Amateur, keinerlei negativen Beigeschmack. So war es durchaus
üblich, Dilettanten mit positiven Attributen zu versehen. Auch ADOLPH KULLAK
berichtet noch von einem "vortrefflichen Dilettanten" (1916, 74). Die Abwertung
des Dilettantismus gegen Ende des 19. Jahrhunderts geht einher mit dem Scheitern
der Bemühungen, auf dem Weg der Rationalisierung Virtuosität zu erreichen. Diese
ungeeigneten Versuche in "Pseudo-Virtuosentum" wurden allmählich zum typischen
Wesenszug von Dilettantismus und gaben diesen schließlich der Lächerlichkeit
preis. In der folgenden Bemerkung aus dem Gründungsjahrgang 1878 der Zeitschrift
Der Klavier-Lehrer deutet sich bereits ein Umkippen der Bedeutung von Dilettan-
tismus ins Negative an:
52
"Da nun Jeder sich für befähigt hält, auf dem Pianoforte, diesem so leicht zu-gänglichen Instrumente, wenn nicht wie ein durchgebildeter Musiker, so doch mit einer gewissen künstlerischen Auffassung Werke unserer Tondichter wie-derzugeben, so wird uns die fast epidemische Verbreitung des Klavierspiels erklärlich. Dem Umstande allein also, dass in der Musik der das Kunstwerk Ausführende nicht mit zum Handwerk zählt, sondern einen höheren Rang ein-nimmt wie in den bildenden Künsten, verdankt die Tonkunst im Felde der Re-produktion so viele berufene und unberufene Jünger; aus gleichem Grunde macht sich in keiner Kunst der Dilettantismus so breit, als in ihr. In keiner anderen Kunst auch ist der Lehrstand so stark vertreten, als in der Musik, da aber auch hier wieder dieselben Ursachen wirken, so wird auch in keinem zweiten Kunstgebiete von Lehrern so viel gesündigt, wie im musikali-schen Felde. Klavierlehrer oder Klavierlehrerin glaubt heut zu Tage Jeder wer-den zu können, der mit oder ohne Talent einen gewissen Grad von Fingerfer-tigkeit sich erworben hat." (NAUMANN 1878, 105)
Dass jene Rationalisierungsstrategien, die sich im Wirtschaftsleben als durchschla-
gend erfolgreich erwiesen hatten, auf dem Gebiet künstlerischer Betätigung unge-
eignet sein könnten, hätte zu jener Zeit zwar vielleicht erahnt werden können, kon-
kretisierte sich aber erst nach dem Zusammenbruch dieser positivistischen Denk-
weise um die Wende zum 20. Jahrhundert (vgl. Abschnitt 2.3). So verbreitete sich
das Klavierspiel auf der Grundlage zumeist unreflektierter Nutzung gedruckter Me-
dien unter Konzentration der Aufmerksamkeit auf die Bewegungsausführung. Hier-
durch vergrößerte sich die Kluft zwischen Virtuosentum und Dilettantismus weiter
(vgl. GELLRICH 1992, 44). Aus Sicht der älteren Handwerkstradition musste es in
diesem Zusammenhang auch seltsam erscheinen, wenn die Praxis des Klavierspiels
nun aus der ausschließlichen Wiedergabe von Stücken bestand, die selbst herzustel-
len die Ausführenden nicht im Entferntesten mehr in der Lage gewesen wären.
Wenn dann noch – was sich im Laufe des Jahrhunderts zunehmend durchsetzte –
auswendig gespielt und damit der Eindruck erweckt wurde, der Interpret gebe sich
spontaner Eingebung hin, war, wie es GRETE WEHMEYER nennt, das "Talmi" per-
fekt:
"Das 'Als ob', das Talmi, war perfekt: seit Czerny setzen die Instrumentalisten alles daran, des Virtuosenglanzes eines Liszt, eines Paganini, eines Thalberg teilhaftig zu werden. Sie 'arbeiten', schuften, werden von den Konservatorien trainiert, bis sie – oft – wie 'dressierte Pudel' sind; und dann verleugnet man das alles und versucht den Anschein von 'freier Improvisation' zu erwecken – wie Paganini oder Liszt." (WEHMEYER 1983, 180)
53
Bei derartigem Auswendigspiel handelte es sich keineswegs mehr um Musizieren im
umfassenden Sinn, wie es von den alten Virtuosen noch aufgrund erworbener musi-
kalisch-struktureller und auditiver Fähigkeiten praktiziert wurde, sondern um die
Wiedergabe von Fall zu Fall und "Takt für Takt mit eisernem Willen" (WEHMEYER
1983, 180) mühsam eingepaukter Notentexte. Dass aber die Grundlage der Virtuo-
sität immer weniger vorhanden war, zeigt nicht zuletzt das vielfache Scheitern von
Vortragsbemühungen, wenn anstatt von Souveränität und Freiheit dem Publikum
der Eindruck von Nervosität und Unsicherheit im Behalten des Notentextes vermit-
telt wurde: Erscheinungen, die den Dilettantismus schließlich der Lächerlichkeit
preisgaben.
Was ANTON SCHINDLER in seiner BEETHOVEN-Biographie bezüglich der Medien-
anwendung für die Vermittlung der Kompositionslehre beklagt, ist ohne Einschrän-
kung auch auf die Unterweisung im Klavierspiel übertragbar:
"Die jetzige Generation der Componisten ersieht aus Vorstehendem, auf wel-chem Wege die Componisten der früheren Epoche, welche von der Kunstge-schichte die 'classische' genannt wird, die Kenntnis des naturgemäßen Gebrau-ches aller Instrumente übernommen hat, nämlich auf dem der m ü n d l i -c h e n U e b e r l i e f e r u n g , den man den practisch-empirischen nennt. Dies war der Weg, auf dem die sogenannte 'Kunst zu instrumentiren', das Kunst- H a n d w e r k überhaupt, wohl zwei Jahrhunderte hindurch gelehrt worden, wie es in allen andern schönen Künsten der Fall gewesen, uns bis zu diesem Tage noch ist. Sollte die Frage entstehen, welcher Weg wohl zu Errei-chung solcher Kunstgeschicklichkeit der sichere und zweckmäßigere sey, der frühere, practisch-empirische, oder der nunmehr eingeschlagene vermittelst gedruckter Methoden [Hervorhebung von mir, H.K.], welche sich bis zu scla-vischer Nachahmung gegebener Musterbeispiele, somit bis zur Schablone, ver-stiegen haben, um die Erfindungsgabe des Kunstjüngers im Keime schon, wenn nicht ganz zu tödten so doch sicher und gewiß nicht zu kräftigen, viel-mehr träge zu machen; wir wiederholen, sollte eine derartige Frage gestellt werden, so entscheiden wir uns unbedingt für den Weg, den unsere Altvordern gegangen, weil er im analogen Verhältniß zu dem in andern Künsten steht, vor allem, weil er den Kunstjünger zu Selbstdenken auffordert und ihm die Sache nicht so leicht macht, als es vermittelst der bestehenden Methoden geschieht. Daß jener Weg nothwendig ein gedehnterer seyn müsse, als der moderne, macht ihn auch noch vorzuziehen, weil er dem Lernenden zu naturgemäßer Entwicklung aller intellectuellen Kräfte Zeit gelassen und keinerlei Sprünge gethan werden können." (SCHINDLER 1871/1970, Bd.1, 35f.)
Die eigene Erfindung ging in der Praxis des Klavierspiels – auch in der Absicht der
Vermeidung jenes "gedehnteren Weges" – bis zur Wende zum 20. Jahrhundert fast
54
vollständig verloren, und die dem zu Grunde liegenden Missverständnisse wirken
bis in die Gegenwart fort. Noch heute sind Noten-Ausgaben der Etüden CZERNYS
beliebte Unterrichtsmedien, wobei ihre Behandlung kaum anders erfolgt als vor 100
Jahren. Indiz für das unverändert bestehende Problem der Trennung von Denken
und Spielen ist die widersprüchliche Praxis, CZERNYS Kompositionen einerseits ab-
schätzig zu beurteilen, andererseits aber den Schülern als notwendiges Übel zur
Technik-Schulung aufzubürden. Der Geist von Fleiß und Entbehrungen, von (oft
nicht endenden) Durststrecken zur Schaffung vermeintlicher Voraussetzungen zum
Musizieren hat sich im Klavierunterricht vielfach bis heute erhalten (vgl. S. 144).
ULRICH MAHLERT verglich in einem Vortrag beim EPTA10-Jahreskongreß 1995 die
Czerny-Rezeption vor 100 Jahren mit der heutigen. Dabei zeigte er, wie wenig sich
die Anwendung Czernyscher Studienwerke im Klavierunterricht seitdem geändert
hat. MAHLERT zitiert zunächst einen Text EDUARD HANSLICKS aus dem Jahr 1892:
"'Man spricht selten mehr von Czerny, und wenn es geschieht, mit einer Art Herablassung. Und doch spielen in diesem Augenblick hunderte von Schülern seine Etüden und arbeiten hunderte von Lehrern, die alle in ihrer Jugend aus Czernyschen Heften gelernt haben. So wirkt er als unentbehrlicher und un-übertroffener Klavierpädagoge, als musikalischer Ober-Schullehrer noch heute fort und wird weit ins kommende Jahrhundert hinüberwirken.'(HANSLICK 1892, S. 32)11 Diese Prognose des Wiener Musikkritikers und -gelehrten Eduard Hanslick aus dem Jahre 1891 aus Anlaß von Czernys 100. Geburtstag hat sich durchweg bis heute bewahrheitet. Auch 100 Jahre später noch bestehen viele Vorurteile ge-genüber Carl Czerny (1791-1857), und gleichzeitig werden nach wie vor seine klavierpädagogisch bewährten Etüden als offenbar unverzichtbares pianisti-sches Unterrichtsmaterial gelehrt und geübt." (MAHLERT 1995, 126)
Als Folge der Trennung von Geist und Technik nahm CZERNYS Ruf irreparablen
Schaden. Die Macht des gedruckten Mediums, das allein durch seine Existenz den
vorliegenden Text als zu erfüllende Norm installiert, scheint nahezu unbezwingbar:
das Medium hat sich verselbständigt.
Das Lernen mit Hilfe schriftlicher Medien ermöglichte andererseits eine rasche Ver-
breitung von Musik, wie sie anders nicht denkbar gewesen wäre. Mit nur wenig
Übertreibung kann man sagen, dass ein entscheidender Vorteil des Klavierspiels
gegenüber anderen Arten des Musizierens und damit ein Garant für seine Verbrei-
10 EPTA: European Piano Teachers Association 11 EDUARD HANSLICK: Karl Czerny. (Zu seinem 100. Geburtstage 1891.) in: ders., Aus dem Tage-
buch eines Musikers (Der 'Modernen Oper' VI. Theil). Kritiken und Schilderungen, Berlin 1892,
S. 32-40.
55
tung in den Wohnzimmern des 19. Jahrhunderts auf der Tatsache beruht, dass es so
gut wie überhaupt keiner musikalischen Fähigkeiten bedurfte. Mittels der neuen
Lehrmethoden konnte die Wiedergabe vorgefertigter Arrangements jedem beige-
bracht werden, der die erforderliche Akribie und Geduld aufbrachte, diese zu ent-
schlüsseln:12 Tugenden, die speziell dem weiblichen Geschlecht anerzogen waren,
was dazu führte, dass das Klavierspiel in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu
einem Hauptbetätigungsfeld der Damenwelt wurde. Viele dieser Damen nutzten die
Chance, aus dem Klavier-Boom als Lehrerinnen Kapital zu schlagen, womit der Be-
ruf der Instrumentallehrerin zu einem der ersten Frauenberufe und, in einer Art
"Kunstpriestertum", zu einer Alternative zur Ehe wurde:
Abb. 9: Der Klavier-Lehrer, 27. Jg. (1904), Heft 16, S. 240.
Die alte virtuose Tradition des eigenschöpferischen Passagen- und Sätzchen-Spiels
musste schon allein aufgrund der Tatsache ins Hintertreffen geraten, dass die starke
Nachfrage nach Klavierunterricht von umfassend nach alter Schule ausgebildeten
Lehrern allein quantitativ nie hätte bewältigt werden können (vgl. DE VRIES 1996,
28). Unter Berücksichtigung des erforderlichen Zeitaufwands für Unterricht (vgl. S.
12 Im zwanzigsten Jahrhundert weiter perfektioniert durch eingedruckte Fingersätze.
56
39) hätte bei mündlicher Vermittlung die Schere zwischen Angebot und Nachfrage
immer weiter auseinander gehen müssen. Mittels gedruckter Medien war nun aber
eine schnelle Verbreitung möglich. Dass die großen Vorbilder des virtuosen Kon-
zertierens, verkörpert beispielsweise durch CLARA SCHUMANN, sich inzwischen auf
die ausschließliche Interpretation von Werken klassischer Musik verlegt hatten, kam
den neuen Klavierlehrerinnen und ihrer Vermittlungsmethode sehr gelegen, schie-
nen diese Veränderungen im Konzertleben doch scheinbar die neue Lehrmethode zu
bestätigen, die dem Vorbild des großen Virtuosen direkt durch Reproduktion und
ohne Umwege über scheinbar unnötigen musikalischen Ballast näherzukommen
suchte. Erschwerend kam hinzu, dass die Praxis der Improvisation, die sowohl für
CLARA WIECK als auch FRANZ LISZT noch unverzichtbare Grundlage und Mittel-
punkt der musikalischen Ausbildung gewesen war, als Folge der "Virtuosenjubel-
jahre" zwischen 1830 und 1850 massiv in Verruf geraten war. Neben den wirklich
fähigen Improvisatoren und Virtuosen erschienen in jener Zeit nämlich vermehrt
"Pseudo-Virtuosen" auf der Bildfläche, die auf unqualifizierte Weise versuchten, es
den Könnern gleichzutun. Sie nahmen sich größte Freiheiten beim Spiel und mein-
ten, wenn sie nur ihrer spontanen Eingebung nachgäben, müsse sich eine ähnliche
Wirkung auf das Publikum einstellen wie bei den Großen. Dies führte zu einer Will-
kür beim Vortrag, und damit, wie FRIEDRICH WIECK berichtet, zu lächerlichen Er-
gebnissen. WIECK beweist parodistisches Talent, wo er diese geschmacklose Will-
kür am Beispiel des Pianisten "Forte" karikiert:
"Forte macht mehrere gefährliche Läufer hinauf und hinunter und viele Octa-venpassagen fortissimo mit aufgehobenem Pedal – und verbindet damit so-gleich – ohne abzusetzen – die Mazurka, die presto angefangen wird. Von Tact und Rhythmus war nichts zu hören, aber wohl von immerwährendem rubato und unmusikalischen Rückungen. Einige Noten wurden ziemlich undeutlich pp gesäuselt und sehr verschleppt gespielt, andere plötzlich sehr schnell, überstark und hastig angeschlagen, so dass die Saiten klirrten und der letzte B-dur-Accord einer Saite das Leben kostete." (WIECK 1853, 101)
Kurz darauf geht das Konzert folgendermaßen weiter. Insbesondere der Wider-
spruch zwischen mangelnden Fähigkeiten und "Selbstgenügsamkeit" – heute würde
man sagen "Starallüren" – reizt dabei zur Karikatur:13
13 Neben dieser Karikatur in Textform sei auf den folgenden Seiten die ebenso ironische Bildfolge
Der Virtuos von WILHELM BUSCH aus dem Jahr 1865 angeführt. Sie illustriert die Gebärden der
Virtuosen jener Zeit ebenfalls eindrucksvoll.
57
Abb. 10: WILHELM BUSCH: Der Virtuos, aus: Üben & Musizieren, 3/1996, S. 10.
58
Abb. 11: WILHELM BUSCH: Der Virtuos, aus: Üben & Musizieren, 3/1996, S. 11.
59
"Forte durchwühlt mehrere fremdartige Accorde in höchster Schnelligkeit mit aufgehobenem Pedal und geht, ohne abzusetzen, zur Fis-moll-Mazurka über. Er accentuirt heftig, einen Tact zieht er auseinander und schenkt ihm zwei Viertel mehr, dem anderen nimmt er ein Viertel weg, und so fährt er fort, bis er mit grosser Selbstgenügsamkeit schliesst und nach einigen verzweifelnden und verminderten Septimenaccorden sogleich das 'Ständchen von Schubert' (D-Moll) nach der Transscription von Liszt damit verbindet. – Es entsteht, wäh-rend die zweite Saite auf dem zweigestrichenen B auch gesprungen und Klir-ren verursacht, ein heimliches Flüstern, von wem das Stück wohl sein könne, [...] bis endlich [...] Forte – mit der 'Verschiebung' schliesst, die er bereits schon vielmals in seiner Begeisterung angewendet." (WIECK 1853, 101f.)
Anschließend lässt WIECK den Möchtegern-Virtuosen "Forte" seine zweifelhafte
Kunstauffassung folgendermaßen erläutern:
"Man muss bei solchen Schönheiten sich ganz seiner Eingebung und Empfin-dung überlassen. Ein anderes Mal mache ich drei Tacte daraus, wie eben der Genius und die Begeisterung in mir winken und wirken. Das nennt man: 'äs-thetische Überraschung.' Henselt, Moscheles, Thalberg, Clara tragen freilich nicht so vor – dafür können sie aber auch keine Effecte und keine Reisen mehr machen." (WIECK 1853, 102)
In Anbetracht dieser Willkür ist es nicht verwunderlich, dass sich eine Gegenbewe-
gung formierte, die sich schließlich durchgesetzt hat. Sie legte Wert auf die original-
getreue Wiedergabe des Notentexts und verlangte vom Interpreten, dem Kunstwerk
mit angemessenem Respekt entgegenzutreten. Auch FRIEDRICH WIECK forderte die-
sen Respekt, der den "Clavierfurien" fehlte, in Form angemessener "Pietät":
"Man spielte sie auf moderne Weise, d. h. brillanter, bravourmässiger, im schnelleren Tempo, leidenschaftlicher und heftiger accentuirt, mit einem Worte: 'modern concertmässig' und versündigte sich somit gegen die, diesen Meisterwerken schuldige Pietät." (WIECK 1853, 105)
Dabei wird deutlich, wie sehr sich der Wandel vom Kunsthandwerk zur Werktreue
in der Biographie FRIEDRICH WIECKS – vielleicht noch deutlicher in der seiner
Tochter CLARA (vgl. DE VRIES 1996) – widerspiegelt. Er, der bei der Ausbildung
seiner Töchter und Schüler noch wesentlich auf vielseitige, im umfassenden Sinn
virtuose Ausbildung in Form von Improvisation, Komposition und Interpretation
60
Wert gelegt hatte,14 muss sich nun gegen – scheinbar – aus jenen Ausbildungsme-
thoden hervorgegangene Auswüchse wenden. Wie sehr WIECK aber als Verfechter
von Kunst und Geschmack auf verlorenem Posten steht und gleichsam an zwei
Fronten gleichzeitig kämpft, zeigt die Tatsache, dass auf der Gegenseite bereits die
Auswüchse des anderen Extrems, nämlich des stupiden Abspielens von Noten, ihre
Schatten vorauswerfen:
"Ueberall begegnet man, namentlich in der jüngsten Generation, dem Dutzend-spiel, d.h. es spielt einer wie der andere, weder stümperhaft noch meisterhaft, weder musikalisch noch unmusikalisch – aber brav und hausbacken, die Noten im Tact, was freilich immer noch besser ist als die Zukunftsdrescherei." (WIECK 1853, 116)
Indem sich WIECK im Zweifel für das langweilige "Dutzendspiel" entscheidet, wird
klar, wie groß die Verfehlungen des Pseudo-Virtuosentums gewesen sein müssen. In
der Tradition dieser Gegenbewegung steht bis heute die Pflege des hohen Stellen-
werts originalgetreuer Interpretation von Meisterwerken im klassischen Instrumen-
talspiel, wohingegen spontane Äußerungsweisen häufig verachtet und gemieden
werden. "Vorteil" dieser Tradition für die Zunft der Instrumentalpädagogen und da-
mit mitursächlich für die Dauerhaftigkeit der "soliden Ausbildung" auf der Grund-
lage technischer Schulung auch in der Unterrichtspraxis des 20. Jahrhunderts: Indem
der Notentext zum Maß allen Musizierens wird, lassen sich eingeschränkte Fähig-
keiten von Lehrern ideal kaschieren. So kann der Lehrer dozierend und erläuternd
anstatt musizierend auftreten, was sowohl der Bequemlichkeit seines Unterrichtsstils
als auch der Pflege seiner Aura im Geist der Exegese von Kunstwerken förderlich
ist. Der dieser Tradition entstammende Widerspruch zwischen Musizieren und Do-
zieren – einerseits Interpretation als höchste musikalische Äußerungsform zu wer-
ten, die auf der anderen Seite aber mit dilettantischen Lehrmethoden erreicht werden
soll – brachte dem Beruf des Klavierlehrers allerdings bereits in der zweiten Hälfte
des 19. Jahrhunderts ein durchaus ambivalentes Ansehen ein.
FRIEDRICH WIECK, der sich als Vertreter der alten Schule sah und solche Tendenzen
konsequent bekämpfte, karikiert die Vorgehensweise einer solchen entbehrungsrei-
chen "soliden" Ausbildung anhand schriftlicher Medien, wo jede Bewegung bis hin
zum Fingersatz (bis heute übrigens gängige Praxis) vom Lehrer vorgeschrieben
wird, in Form des fiktiven Lehrers "Büffel". Ein Schüler dieses Lehrers berichtet:
14 Dies zeigt sich unter anderem in WIECKS Vademecum für den ersten Pianoforte-Unterricht. Vgl.
diesbezüglich DE VRIES (1996, 125).
61
"Herr Büffel geht ganz solid [Hervorhebung von mir, H.K.]: erst muss ich den Gradus ad Parnassum noch ganz durchackern, dann erst will er ein Concert von Beethoven mit mir vornehmen und die gehörige Applicatur darüber schreiben. Das werde ich dann ö f f e n t l i c h spielen und dann – hat er und die Tante gesagt – w e r d e i c h A l l e s t o d t m a c h e n . " (WIECK 1853, 10)
Die alte virtuose Tradition in der Einheit von Produktion und Wiedergabe war um
die Jahrhundertwende endgültig gebrochen, und die Praxis der Improvisation ver-
schwand fast völlig aus dem Konzertleben, wie OSCAR BIE berichtet:
"Auch unsere Ersten haben aufgehört im Konzert zu improvisieren, nur 'Kon-zertkomiker' besorgen es noch. Und von einer privaten bezaubernden Improvi-sationskunst, wie man sie von Beethoven und Liszt kannte, hört man heute weniger. Die Konzerte gehören grösstenteils der Vorführung bekannter Werke, die sich oft – wie Beethovens Es-dur-Konzert – bis zur Übersättigung wieder-holen. Es wird gelehrt, es wird vorgespielt, aber es kocht nirgends vom Drange des Schaffens. Das Klavierspiel ist ein Weltberuf bis in die äussersten Periphe-rien des Dilettantismus, der keinen Accord zusammen anschlagen und keine Noten punktieren kann." (BIE 1901, 282)
Nun gewannen in der Instrumentalpädagogik selbst ernannte Priester des Ge-
schmacks, wie sie HUGO RIEMANN im Titel eines Aufsatzes aus dem Jahr 1895 iro-
nisch bezeichnete, die Oberhand. Vordergründig aus Pietät gegenüber Komponist
und Werk, in Wirklichkeit aber oft, um mangelnde musikalische Autorität der Leh-
rer zu kaschieren, entstand in dieser Phase das bis heute von Anbeginn des Unter-
richts gültige Ausbildungsziel, möglichst bald und möglichst korrekt notierte Übun-
gen und Stücke wiederzugeben. Viele Klavierlehrer waren dabei mangels musikali-
scher Kenntnisse völlig von Unterrichtsmedien abhängig. Die korrekte Bewältigung
der Klavierschule geriet nun in den Mittelpunkt der Bemühungen und damit die
Kriterien richtig und falsch bei deren Ausführung. Die Tradition der Demut gegen-
über Werk und Komponist übertrug sich auf die einfachsten Lernstücke und begün-
stigte die Tendenz, das gedruckte Medium als oberste Instanz zu betrachten, die
nicht nur nicht hinterfragt, sondern bei dieser Art der Ausbildung auch nicht mehr
verstanden werden musste. HUGO RIEMANN klagt:
"Der Unterricht eines älteren Orchestermusikers ist auf alle Fälle dem einer selbst ohne rhythmisches Gefühl und ohne harmonisches Verständnis fehler-haft dilettierenden Dame vorzuziehen. Die selbst nur halbgebildeten Lehrerin-nen sind hinsichtlich der Lehrmethode völlig unselbständig und genötigt, sich an eine sogenannte 'Klavierschule' [Hervorhebung von mir, H.K.] anzuklam-mern; [...] unfähig, eine verständige Auswahl des darin gebotenen Materials zu
62
treffen und je nach der Anlage des Schülers Sprünge zu machen, lassen sie denselben sich durch den ganzen Ballast meist sehr mittelmäßig gesetzter Mu-sik durcharbeiten. Des Schülers Lust zur Musik erlahmt bei diesem pedanti-schen Einerlei gar bald, und er kommt nur langsam vorwärts. So vergehen Jahre, die Klavierschule ist noch immer nicht absolviert, und außer einigen Salonstücken 'zum Vorspielen' lernt der Ärmste nichts kennen." (RIEMANN 1895/1967, 36)
Die von GRETE WEHMEYER plastisch dargestellten weiblichen Tugenden, die auf die
Vermittlung des Instrumentalspiels prägenden Einfluss hatten, taten ein Übriges,
dass sich die musikalischen "Aktivitäten", quasi als Belohnung für die erduldeten
Entbehrungen der "soliden Ausbildung" (vgl. S. 61), auf diese wenigen "Vorspiel-
stücke" beschränkten. Diese Klavierlehrerinnen hatten, wie GRETE WEHMEYER
schreibt,
"[...] Fleiß, Ordnung, Sauberkeit, asketische Selbstverleugnung geübt. Was konnten sie, die selber keine Klavierspielerinnen geworden waren, anderes vermitteln als ein sehr domestiziertes Virtuosentum, das mehr mit penibler Haushaltführung zu tun hatte als mit Kunst. So kam sie zustande, die Klavierlehrerin, streng und etwas säuerlich, vom Le-ben enttäuscht, die sich wahrscheinlich strikt an Czernys oder eines anderen Anweisung hielt, eine Übung 10-, 12-, 20- oder 30 mal zu wiederholen. Zucht und Ordnung herrschte dort. Die Frauen, an ihre Reservat-Kultur gewöhnt, hatten sicher auch großen Anteil an dem Rückzug aus dem Aktuellen, den die Pianistik und die Klavierpädagogik antraten. Sie verhielten sich ihrer zeitge-nössischen Musik gegenüber nicht abenteuerlustig oder experimentierfreudig. Was Wunder, daß nach einigen Jahrzehnten die zeitgenössische Musik ganz aus dem Klavierunterricht verschwand. Die Klavierlehrerinnen haben es – ohne Schuld – auf dem Gewissen, daß das Klavierspielen eine so enge, frigide, ängstliche Angelegenheit werden konnte. Sie sind der Umschlaghafen oder die Nahtstelle zwischen bürgerlicher Lebensansicht und Kunst." (WEHMEYER 1983, 114f.
Die Vermittlung des Klavierspiels geriet dabei, wie HUGO RIEMANN meinte, insge-
samt in beklagenswerten Zustand:
"Wer erteilt heute nicht Musikunterricht? Jeder Orchestermusiker vom Ka-pellmeister an bis herunter zum Posaunenbläser und Paukenschläger der unter-geordnetsten Gartenkapelle giebt Privatstunden, und zwar nicht für sein In-strument, sondern für das moderne Allerweltsinstrument, das Klavier. Das Klavier ist eine wirkliche Landplage geworden. Der schlimme Umstand, daß man, um Klavier zu spielen, wenig oder gar kein musikalisches Gehör zu ha-
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ben braucht, weil die Töne fix und fertig daliegen und nicht gebildet zu werden brauchen, verschuldet es, daß 'ein bisschen Klimpern' heute schon zur notwen-digen Erziehung der Bauernmädchen gehört, und daß jeder Klavierunterricht erteilen kann, der die Beziehung der Notenzeichen zu den Klaviertasten begrif-fen hat. Beamten- und Offizierswitwen oder -töchter, die sich genieren, Ver-käuferinnen zu werden oder ein Putzgeschäft anzufangen, geben zu billigen und billigsten Preisen Klavierstunden, lediglich darauf hin, daß sie selber frü-her 'zu ihrem Vergnügen' etwas Unterricht auf dem Instrumente erhalten ha-ben. Wie das ausfällt, mag man sich denken. Dem Verfasser dieser Zeilen wurden Schüler zugeführt, die nach zweijährigem Unterricht bei 'einer Dame' noch nicht einmal unterscheiden konnten, ob's 'hinauf oder herunter ging' und keine Note kannten, obgleich sie einiges Talent hatten." (RIEMANN 1895/1967, 34f.)
Die Mischung aus den Idealen Disziplin und Ordnung einerseits und der Trans-
zendenz von Virtuosität andererseits, die mit ersteren Mitteln vergeblich zu errei-
chen versucht wird, führt zu musikalischer "Pseudo-Aktivität", basierend auf akku-
ratem Notenspiel, verbrämt mit dem Ideal der "soliden Ausbildung". Das Vertrauen
in die Beteuerungen der Pädagogen, die anstatt musikalischer Fähigkeiten haupt-
sächlich Notenlesen und Fingersätze vermittelten, je konsequenter die technischen
Grundlagen gelegt würden, desto einfacher habe man es später, wurde untermauert
durch das Leistungsdenken des industriellen Zeitalters und führte zu einer Verdrän-
gung musikalischer Lerninhalte aus weiten Bereichen des Klavierunterrichts.
Aus diesem Geist wurde die Tendenz genährt, die Lösung technischer Probleme,
trotz ungeeigneter Mittel, anstatt in qualitativen Sensibilisierungsprozessen in quan-
titativen Steigerungen eben dieser Mittel zu suchen. Aus psychologischer Sicht
könnte man einem solchen Verhalten sucht-ähnlichem Charakter zuschreiben. Wie
bei allen derartigen Verhaltensweisen führt jede Steigerung der Mittel weiter vom
eigentlichen Ziel weg. Und ebenso gibt es immer jemanden, der für Nachschub sorgt
und daran verdient, in diesem Fall am Verkauf von Notenmaterial, wie JOHANNES
JANSEN am Beispiel von CZERNYS Etüden schildert:
"Wer sie kaufte, war noch kein gemachter Pianist, aber die Hoffnung, es zu werden, steckte in jedem Band, der da über die Ladentische ging. Doch mit der wachsenden Zahl aufstrebender Talente, die sich seiner Systematik anvertrau-ten, wuchs auch die Zahl ihrer Opfer, zumal in der Generation der Enkel- und Enkel-Enkel-Schüler: Czernygeprüft, aber total frustriert endet noch heute manche hoffnungsvoll begonnene Karriere, denn die 'klassische' Klavierpäd-agogik, die sich auf ihn als ihren Urheber beruft, hat sich von den Intentionen Czernys meilenweit entfernt." (JANSEN 1991, 69)
64
Die Nachfrage nach gedruckten Werken war jedenfalls riesig und schuf einen neuen
Industriezweig:
"Das Bedürfnis nach entsprechendem Notenmaterial war ungeheuerlich, und die Verleger beeilten sich, durch Modernisierung des Druckwesens – und die Komponisten durch eine Massenproduktion – die Nachfrage der inflationär an-steigenden Klavierspielerschar zu befriedigen." (AUGUSTINI 1986, 58)
Am Ende des Versuchs, den Erfolg durch ständig steigende Dosierung ungeeigneter
Mittel zu erzwingen, standen immer öfter körperliche Erkrankungen. CLAUDIA DE
VRIES berichtet in ihrer Arbeit über CLARA SCHUMANN aus den achtziger Jahren des
19. Jahrhunderts von einem
"[...] epidemisch sich verbreitenden Übel des Armleidens." (DE VRIES 1996, 39)
Das unentwegte, stereotype Absolvieren immer der gleichen Bewegungen anhand
immer der gleichen Stücke mit immer dem gleichen Fingersatz führte insbesondere
bei Studierenden an den in der zweiten Jahrhunderthälfte zahlreich gegründeten
Konservatorien regelmäßig zu körperlicher Überlastung. Hier, wo sich eigentlich die
Ausbildung professioneller Musiker vollziehen sollte, wurde mit derselben Einsei-
tigkeit an der Einstudierung von Werken gearbeitet, wie sie sich im Anfangsunter-
richt anhand von Klavierschulen etabliert hatte – und damit in Wirklichkeit dilettan-
tische Unterrichtspraxis auf höherer Ebene fortgeführt. Dass auch in dieser ver-
meintlich professionellen Ausbildung vom ursprünglichen Virtuosentum nicht mehr
viel vorhanden war, verdeutlicht HUGO RIEMANN anhand der folgenden Beschrei-
bung eines Absolventen eines Konservatoriums. RIEMANN berichtet von physischer
Selbstzerstörung durch "Fingerkrampf" als Folge einseitigen Übens, wenn musikali-
sche Fähigkeiten (wie in der Regel übrigens noch heute) fast ausschließlich prak-
tisch anhand von Literatur- und Etüdenspiel "eingepaukt" werden:
"Ein junger Mann, der vor Jahren eine solche Anstalt verließ und als Klavier-virtuose in die Öffentlichkeit trat, hatte ein Repertoire von einem Mozartschen, einem Beethovenschen und einem Schumannschen Konzerte, war aber außer-stande, ein mittelmäßig schweres Stück erträglich abzuspielen, das nicht auf seinem Repertoire stand, da er jene Konzerte nur durch jahrelanges mühsames Einpauken hatte bewältigen lernen, während sein übriges musikalisches Fas-sungsvermögen [Hervorhebung von mir, H.K.] keine entsprechende Fortent-wicklung genommen hatte. Dass den jungen in der Ausbildung begriffenen Virtuosen und Virtuosinnen für längere Zeit das Spielen gänzlich untersagt
65
werden muss, weil sie sich entweder den Fingerkrampf angespielt oder das Nervensystem überreizt haben, ist eine ganz gewöhnliche Erscheinung. Der-gleichen würde nicht möglich sein, wenn nicht die Musikschüler ein Übermaß von Zeit auf das praktische Spiel verwendeten, natürlich auf Kosten aller an-derweitigen Studien; solange sie auf der Anstalt sind, geben sie sich nur allzu-gerne dem Wahne hin, wirkliche Virtuosen werden zu können [...]." (RIEMANN 1895/1967, 11)
Diese Kritik an Mängeln in der Bildung des "musikalischen Fassungsvermögens"
korreliert mit der bereits auf S. 28 zitierten Bemerkung CARL CZERNYS über die
Nachteile einer Übeweise, die sich anhand der möglichst fehlerfreien Wiedergabe
einiger weniger Werke vollzieht. Letztere Praxis hatte sich zwar in der institutionali-
sierten Ausbildung der zweiten Jahrhunderthälfte unwiderruflich durchgesetzt, je-
doch gab es Bestrebungen, das musikalische Fassungsvermögen der Studierenden
durch begleitenden Unterricht in "Musiktheorie" zu verbessern. So wurden an vielen
Konservatorien kompositorische Elemente in den Fächerkanon aufgenommen – al-
lerdings nicht, damit die Studierenden selbst komponieren lernten, sondern aus-
schließlich, um ihnen die Machart der zu interpretierenden Werke näherzubringen.
Die Bezeichnung Musiktheorie verdeutlicht, dass es sich nicht um praktisch an-
wendbare Kompositionslehre handeln sollte, sondern dass theoretisches Verständnis
der Klassiker entscheidendes Lernziel war.15
Der Verzicht auf schöpferisches bzw. anspruchsvolles Musizieren oder Komponie-
ren im "Theorieunterricht" deutet, wie schon letzterer Begriff selbst, darauf hin, dass
hierdurch die Trennung von Erfinden und Spielen nicht aufgehoben werden sollte. 15 Die Trennung in Musiktheorie und Musikpraxis birgt allerdings Diskussionsstoff und aus Sicht
des schöpferischen Musizierens konnte bereits für ARNOLD SCHÖNBERG Tonsatz keine "Theorie"
sein. Eine solche Beschränkung auf die Betrachtung war für ihn nur schwer nachvollziehbar. Er
schreibt in seiner Harmonielehre:
"Wenn einer musikalische Komposition unterrichtet, wird er Theorielehrer genannt; wenn er aber
ein Buch über Harmonielehre geschrieben hat, heißt er gar Theoretiker. Aber einem Tischler, der
ja auch seinem Lehrbuben das Handwerk beizubringen hat, wird es nicht einfallen, sich für einen
Theorielehrer auszugeben. Er nennt sich eventuell Tischlermeister, das ist aber mehr eine Stan-
desbezeichnung als ein Titel. Keinesfalls hält er sich für so was wie einen Gelehrten, obwohl er
schließlich auch sein Handwerk versteht. Wenn da ein Unterschied ist, kann er nur darin beste-
hen, dass die musikalische Technik 'theoretischer' ist als die tischlerische. Das ist nicht leicht ein-
zusehen." (zit. nach HAEFELI 1999, 47).
Bereits hier sei auf die einschneidenden Veränderungen hingewiesen, die diesbezüglich von der
gegenwärtigen Medienentwicklung ausgehen. Mit dem direkten Zugriff auf klangliche Strukturen
ohne visuelle Zwischenschritte wird der Begriff "Theorie" (griech. : betrachten) relati-
viert. Bezüglich dieser aktuellen Entwicklung vgl. insbesondere Abschnitt 4.5.
66
Auch verwertbare improvisatorische Fähigkeiten wurden hier kaum vermittelt – dies
war ebenso wenig beabsichtigt. Auch die Tatsache, dass derartige Lerninhalte in der
Regel nicht von Beginn der musikalischen Ausbildung an, sondern erst mit Errei-
chen der Oberstufen Bedeutung erlangten, trug und trägt zur peripheren Bedeutung
des eigenen Schaffens in der Musikausbildung bei.
Die Aufgabenbeschränkung des Musikschülers auf die Wiedergabe besteht in der
Regel bis heute, und das, was MARTIN GELLRICH das verloren gegangene "Herz-
stück" musikalischer Ausbildung nennt, war durch Einführung des Theorie-Unter-
richts nicht wiederzugewinnen:
"Als sich etwa um die Jahrhundertmitte die Kunst des Klavierspiels zur Inter-pretationskunst wandelte, verlor das Sätzchen-Spiel bald an Bedeutung. Es hatte im Rahmen der Interpretationskunst keine Bedeutung mehr. Der Funkti-onsverlust hatte weitreichende Folgen, unter denen wir noch heute zu leiden haben. Mit dem Sätzchen-Spiel wurde das muttersprachliche Musiklernen so-zusagen seines Herzstücks beraubt. Die verschiedenen Teile der Instrumental-übung waren nämlich [...] ursprünglich alle über das Sätzchen-Spiel miteinan-der verbunden. Weil das Kernstück herausgebrochen wurde, zerfiel die Instru-mentalübung in ihre Bestandteile. Die Passagenübung, das Variations- und Etüdenspiel, sowie die Übung von Vortragsstücken, standen nun beziehungslos nebeneinander." (GELLRICH 1992, 81)
Entscheidender Grund für den von MARTIN GELLRICH erwähnten Zerfall der ganz-
heitlich-komplexen Musikausbildung in Einzelteile waren die Auswirkungen der
schriftlichen Medienkultur in der Musikvermittlung auf Grundlage des gedruckten
Werkes als opus perfectum und damit die Trennung des Wiedergabe-Vorgangs vom
Schaffensprozess. Die folgende Kritik HUGO RIEMANNS, in der er die Schuld für
diese Einengung der musikalischen Ausbildung ausschließlich in der Institution des
Konservatoriums sucht, scheint vor diesem Hintergrund zu einfach und lässt tiefer
liegende Ursachen außer Acht:
"Die heute fast allgemeine ausschließliche Dressur auf praktische Musikübung ist eine traurige Errungenschaft der neuesten Zeit, und sie ist lediglich auf die Einrichtung der Konservatorien zurückzuführen." (RIEMANN 1895/1967, 24)
Sicherlich zeigen sich Mängel einseitiger Bemühungen am deutlichsten dort, wo
professionelle und damit ernsthafteste Bemühungen scheitern. Allerdings existieren,
wie gezeigt wurde, vielfältige Ursachen dieses Phänomens im komplexen Bezie-
hungsgefüge zwischen gesellschaftlicher Situation und Vermittlungsform.
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Der Begriff des Dilettantismus gewann gegen Ende des 19. Jahrhunderts allerdings
unwiderruflich jenen abschätzigen Unterton, der ihm noch heute anhaftet. HUGO
RIEMANN berichtet im Jahr 1895 von einem "jetzt verrufenen Sinn" dieses Begriffes:
"Es wird aber [...] eine Generation groß gezogen, welcher ganz verkehrte Be-griffe von der Kunst durch den Lehrer überliefert sind und welche daher von einem einseitig bornierten Standpunkte aus Künstler und Kunstwerke beurteilt, eine Generation von Dilettanten in dem jetzt verrufenen Sinn des Wortes [Her-vorhebung von mir, H.K.] [...], d. h. Leute, die ein bißchen musizieren, aber schlecht und ohne Verständnis für poetische Intentionen und höhere Flüge des musikalischen Genies." (RIEMANN 1895/1967, 38f.)
Weder die Schließung der Konservatorien, wie sie RIEMANN möglicherweise gefal-
len hätte, noch der Versuch einer ganzheitlicheren Musikvermittlung standen aller-
dings als Konsequenzen ernsthaft zur Debatte. Die grassierenden physischen Schä-
den durch Instrumentalspiel lenkten den Blick in der zweiten Hälfte des 19. Jahr-
hunderts statt dessen zunehmend auf ein Gebiet, dessen Erfolge in Wirtschaft und
Industrie den Schluss nahelegten, seine Errungenschaften auch auf das reproduzie-
rende Musizieren nutzbringend anzuwenden: die Naturwissenschaft.
In der Ahnung, dass es vielleicht doch qualitative und nicht nur in der Quantität des
Übens begründete Unterschiede bei der Erlangung von Virtuosität gäbe, wurde nun
das Geheimnis des Klavierspiels mit rationalen Methoden zu entschlüsseln versucht.
1879 erschien in der Zeitschrift Der Klavier-Lehrer ein Artikel mit dem Titel Ueber
die gesundheitsschädlichen Folgen des Uebens, von einer gewissen HULDA
TUGENDREICH, in dem die Betrachtung des Klavierspiels aus naturwissenschaftli-
cher Sicht als pädagogische Perspektive und als Mittel gegen Spielerkrankungen
propagiert wird:
"Ich glaube, dass, wenn die Kunst des Klavier-, Violin- und Orgelspiel-Unter-richts als Wissenschaft vom physikalischen Standpunkt aus betrachtet würde, wie es Kullak und Ward Jackson aus London verlangen, so würde sich das Leiden weniger häufig als jetzt zeigen und den Lernenden würde ihre Aufgabe sehr erleichtert werden." (TUGENDREICH 1879, 109)
1878, im Gründungsjahr genannter Zeitschrift, veröffentlichte GUSTAV STOEWE den
Aufsatz Ueber die Wichtigkeit des Studiums der Anatomie für Klavierspieler vom
Fach. Darin äußert er ebenfalls die Hoffnung, dass anatomische Betrachtungen die
in einer Sackgasse befindliche Entwicklung des Klavierspiels voranbringen könnten:
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"Während in den letzten Jahrzehnten fast auf allen Gebieten der Musik neue Erscheinungen aufgetreten sind, welche es vermocht haben, reformatorisch in dieselbe einzugreifen – ich nenne nur die musikalische Komposition und die Theorie der Musik – [...], so müssen wir Pianisten uns wohl gestehen, dass auf dem Gebiete der Technik des Klavierspiels seit Langem ein Stillstand einge-treten ist. [...]. Der Grund dieser Erscheinung liegt meines Erachtens darin, dass es an einem neuen Standpunkte fehlte, an einem ganz neuen Gesichts-kreise, von welchem aus man sich der heutigen Technik gleichsam fremd ge-genüber zu stellen und sie in ihren Einzelheiten kritisch zu betrachten ver-mochte. Ein solcher Standpunkt nun könnte durch die A n a t o m i e genom-men werden. [...] Hat sich doch die Technik selbst gleichsam unbewusst aus den physiologi-schen Gesetzen heraus entwickelt, warum sollte die Anatomie, welche s e l b s t im Laufe der Jahre so ungeheure Fortschritte gemacht hat, nicht ein-mal kontrolliren dürfen, ob nicht etwa Mancherlei in der Spiel- oder Lehrme-thode mit den Forschungen der Wissenschaft im Widerspruch steht, warum sollte sie nicht sogar reformatorisch in dieselbe eingreifen dürfen?" (STOEWE 1878, 238f.)
Als Konsequenz dieser mechanistischen Betrachtungsweise gewannen in jener Zeit
gymnastische Hilfsmittel zum Training der Hand oder zur Haltungskorrektur beim
Klavierspiel an Bedeutung.16 So wurden zur vorbereitenden Kräftigung der Finger-
muskulatur folgende Geräte angepriesen:
16 Bereits in der ersten Jahrhunderthälfte waren die ersten mechanischen Hilfsmittel zum Klavier-
spiel wie z.B. der Logier'sche Chiroplast (vgl. DE VRIES 1996, 119), der Kalkbrennersche Hand-
leiter (vgl. DE VRIES 1996, 120) oder das Herz'sche Dactylion (vgl. BALLSTAEDT & WIDMAIER
1989, Anhang, Abb.5) auf dem Markt erschienen. Aber erst in der zweiten Jahrhunderthälfte fan-
den diese Entwicklungen gewisse Verbreitung. So warb im Jahre 1880 das "Berliner Seminar zur
Ausbildung von Klavier-Lehrern und Lehrerinnen" mit folgendem Text in einer Anzeige der
Zeitschrift Der Klavier-Lehrer um Schüler, in dem das ganze Arsenal an Hilfsmitteln präsentiert
wird:
"Meine Anstalt ist ausgerüstet mit den bewährtesten mechanischen Hilfsmitteln, welche in neue-
rer Zeit zur Beförderung der leichteren Beweglichkeit der Finger, der richtigen Lage des Armes
und der Hand, der ruhigen und graden Körperhaltung am Klavier und des sicheren, taktmässigen
Spieles erfunden worden sind. Es sind im Gebrauch die Handhalter von Lenz, Spengler und Boh-
rer, Seebers Fingerbildner, der Rumpf'sche Gradhalter, die Metronome von Decher und Mustroph
und Gley's Taktuhr." (Der Klavier-Lehrer, 3.Jg. (1880), S. 51)
69
Abb. 12: Der Klavier-Lehrer, 20. Jg. (1897), S. 275.
Um die Finger-Krümmung in den richtigen Winkel zu bringen, wurde folgendes
Hilfsmittel eingesetzt: Ein Ring verhindert, dass die Finger zu flach gehalten wer-
den:
70
Abb. 13: Seebers Fingerbildner, in: Der Klavier-Lehrer, 3. Jg. (1880), S. 57.
Gegen jedwede Bewegung des Handgelenks war der "Lenz'sche Finger-, Hand-, und
Handgelenkleiter" gedacht:
Abb. 14: Lenz'scher Handleiter. Aus: Der Klavier-Lehrer, 1. Jg. (1878), S. 256a.
71
Zur guten Körperhaltung sollte "Frau Henriette Rumpf's Vorrichtung zur Regelung
der Körperhaltung beim Klavierspiel. (Patent.)" beitragen:
Abb. 15: "Rumpf's Gradhalter" in: Der Klavier-Lehrer, 2. Jg. (1879), S. 285.
Dabei wird das Kinn in den Halter mit der Bezeichnung "a" gelegt, damit der Kopf
nicht mehr bewegt werden kann. Der Rest des Mechanismus wird um den Körper
geschnallt. Die Rezension lobte das Instrument in höchsten Tönen. So könnten nach
Meinung des Rezensenten bei Anwendung dieses Gerätes Jahre der Ausbildung ge-
spart werden:
"Man erzielt durch die Vorrichtung die Hauptsache beim Klavierspiel: die ab-solute ruhige Haltung und ein ruhiges Weiterlesen der Noten [Hervorhebung von mir, H.K.], vermeidet das Notenverlieren und das unruhige Suchen nach Tasten und Noten, glättet das holperige Spielen, und zwar Alles in kürzester Zeit, während sonst Jahre dazu gehören, und dennoch in vielen Fällen ein ruhi-ges Spielen gar nicht erreicht wird.– Der oben beschriebene Rumpf'sche Gradhalter hat sich bei verschiedenen Ver-suchen, die ich mit demselben angestellt habe, als so zweckmässig für die Re-gelung der Körperhaltung am Klavier erwiesen, dass ich ihn der wärmsten Empfehlung werth erachte und ihn Solchen, deren schlechte Körperhaltung ihre Gesundheit sowohl als auch ihre Fortschritte im Klavierspiel beeinträch-tigt, nicht dringend genug zur Anschaffung empfehlen kann." (BRESLAUR 1879, 285)
Interessante Rückschlüsse lassen sich aus diesem Beispiel in mehrfacher Hinsicht
ziehen. Einerseits wird plastisch ein Klavierspiel-Ideal der damaligen Zeit vor Au-
gen geführt. Im Gegensatz zur Praxis vieler Virtuosen, die sich in unbändigen Posen
am Klavier produziert hatten, wird hier im Geist der Entsagung die absolut ruhige
72
Körperhaltung bei stetem Blick in die Noten propagiert. Ohne zu übertreiben kann
man hier von einem maschinellen Reproduktionsideal sprechen, dessen Sinn in einer
visuellen 1:1 Wiedergabe der Noten besteht, ähnlich wie ein Plattenspieler oder ein
CD-Player die Informationen einer Platte abtastet. Nicht umsonst geht die Verbrei-
tung der Schallaufzeichnung zu Beginn des 20. Jahrhunderts einher mit deutlichem
Bedeutungsverlust des Klavierspiels (vgl. S. 76). Die zahlreichen Bearbeitungen von
Symphonien und anderen Werken der Musikliteratur für Klavier zwei- oder vier-
händig aus dem 19. Jahrhundert können aus dieser Perspektive durchaus als erster
Schritt auf dem Weg zur Omnipräsenz von Musik mit Hilfe von technischen Hilfs-
mitteln gesehen werden, deren Höhepunkt in den heutigen Möglichkeiten der
Schallaufnahme- und -wiedergabe-Technik erreicht zu sein scheint. Das Klavier
übernimmt in diesem Fall keine originär musikalische Funktion als Instrument, son-
dern eine Rolle als Medium, bei dessen Benutzung nicht eigentlich die Interessen
des Musizierenden im Vordergrund stehen, sondern die seines sozialen Umfeldes.
Darüber hinaus zeigt die Rezension zum Rumpf'schen Gradhalter die typische ratio-
nal-kausale Denkweise jener Zeit:
Als Probleme werden genannt:
Beeinträchtigung der Gesundheit durch Klavierspiel
Mangelnde Fortschritte.
Als Ursache wird vermutet:
Schlechte Körperhaltung.
Daraus folgt der Schluss:
Abhilfe schaffen Hilfsmittel zur Korrektur der Körperhaltung.
Diese lineare Denkweise geht einher mit der Tendenz, komplexe Vorgänge durch
Auflösen in kleinste Bestandteile verstehen zu wollen. Wenn ADOLPH KULLAK im
folgenden die Finger-Bewegung beim Klavierspiel zu erklären versucht und dabei
vom Ganzen und seinen Teilen spricht, ist auch hier unschwer eine reduktionistische
Weltsicht erkennbar:
"Der Anschlag besteht aus Aufheben, Niederfallen und Andrücken. Jeder die-ser Faktoren muß für sich geübt werden. Ein vollkommenes Ganze [sic] ist nur durch Vollkommenheit seiner Theile erreichbar. – Das Aufheben kann [...] in erschwerender Anforderung so hoch als möglich gesteigert werden. Oft ist das Hochhalten der Finger schon eine treffliche Uebung, und ist dieselbe vorzüg-lich auf den vierten und fünften Finger zu erstrecken." (KULLAK 1876/1994, 139)
Die Tendenz zum Zerlegen in kleinste Bestandteile ist auch in Klavierschulen zu
beobachten. So erscheint am Anfang der Bisping-Klavierschule aus dem Jahr 1900,
73
nachdem das System der Notenschrift auf der ersten Seite abgehandelt ist, auf der
darauf folgenden Seite die folgende Lektion:
Abb. 16: BISPING (1900, S. 4).
Auffällig ist dabei der (nicht vorhandene) musikalische Gehalt. Die Melodieführung
kann durchaus als unsinnig bezeichnet werden: Die Elemente der Musik werden
schon zu Beginn des Lernens abgetrennt. Dieser Ansatz zeigt den Versuch, Musik
durch Systematisierung und Atomisierung zu vermitteln. Auch hier schlägt der Geist
der "soliden Ausbildung" (S. 61) durch, bei der zuerst durch Schweiß und Tränen
eine technische Grundlage gelegt werden muss, bevor daran gedacht werden kann,
zu musizieren.
Als Elemente des Klavierspiels lassen sich bei BISPING ausmachen:
1. Lesen der Noten
2. Zählen des Metrums
3. Beachten der Fingersätze
4. Trennen der Hände (einzeln üben)
5. Heben und Senken der Finger.
Als sechster Punkt sei hinzugefügt, dass auch hier nicht auf die Hände, sondern nur
auf die Noten geblickt werden darf, denn zwei Seiten weiter findet sich folgende
Bemerkung:
"Anfänger im Klavierspiel haben vielfach die Angewohnheit, auswendig zu spielen, d. h. anstatt auf die Noten, auf die Tasten zu sehen. Der Lehrer suche dem dadurch rechtzeitig vorzubeugen, dass er die Hände des Schülers mit ei-nem Stück Papier bedeckt. Leicht und schnell gewöhnt sich alsdann der Schü-ler daran, auf die Noten zu sehen." (BISPING 1900, 6)
74
Auch rhythmische Elemente wurden nun abgetrennt und separat zu vermitteln ver-
sucht. Das Ausrufen der Zählzeiten im angeführten Notenbeispiel von BISPING, jede
Zahl mit Ausrufezeichen versehen, zeugt davon. Aus der Clavierübung (im ur-
sprünglichen Sinn, vgl. S. 41) ist ein Exerzieren geworden und das Studierzimmer
zum geschlossenen Exerzierplatz.
Im Trend lag es nun auch, dass mechanische Hilfsmittel erfunden wurden, um
Rhythmik separat zu vermitteln. Als Gerät, mit dessen Hilfe die Schüler nun Takt-
festigkeit lernen sollten, sei "Gley's Taktuhr" genannt. Im Jahr 1880 erschien ein
Artikel in Der Klavier-Lehrer über die Taktuhr, die dort folgendermaßen abgebildet
ist:
Abb. 17: Die Taktuhr, in: Der Klavier-Lehrer, 3. Jg. (1880), S. 117.
Im begleitenden Text, der offensichtlich vom Erfinder selbst verfasst wurde, heißt
es:
"Man lasse den Takt durch Aufklopfen mit einem Stabe und Zählen nachbilden und achte genau darauf, dass der Schüler die Note durch Liegenlassen, und die Pause durch Aufheben des Stabes genau wiedergebe, was eben beim Lernen nach der Taktuhr sehr leicht ist, weil der, die geometrischen Figuren durchlau-
75
fende Zeiger, den Eintritt der Note wie Pause, dem Auge darstellt." (GLEY 1880, 117)
Eher beiläufig zeigt sich auch an der Wortwahl GLEYS im letzten Satz der Wandel
hin zur Präferenz des visuellen Sinneskanals.
Wie sehr sich das moderne Klavierspiel zu diesem Zeitpunkt bereits von der umfas-
senden älteren Schule, wie sie z.B. FRIEDRICH WIECK noch verkörperte, entfernt
hatte, lässt sich auch ermessen, wenn man die BISPINGsche bzw. GLEYsche Methode
mit WIECKschen Äußerungen vergleicht. Dabei zeigt sich, dass sich fast alle päd-
agogischen Grundsätze innerhalb der fünfzig Jahre, die zwischen beiden Veröffent-
lichungen lagen, in ihr Gegenteil verkehrt haben! FRIEDRICH WIECK zählte nämlich
in Clavier und Gesang folgende "Clavierregeln" auf, die er in der Klavierpädagogik
für überwunden hielt:
"'Du sollst nicht auswendig spielen, sondern auf die Noten sehen, sonst lernst du nicht vom Blatt lesen. Du musst kein Stück spielen, was nicht gehörig beziffert ist, damit du dir keine falsche Fingersetzung angewöhnst. Du darfst nicht auf die Tasten sehen bei springenden Tönen und Accorden, weil das von den Noten abzieht. Du musst hübsch beim Spiel zählen lernen, damit du immer streng im Tact bleibst.' Um auch einmal dem Geist der Zeit Rechnung zu tragen: 'solche und ähnliche Dinge gehören zu meinen w i r k l i c h ü b e r w u n d e n e n Standpunkten;' [kursive Hervorhebung von mir, H.K.] – ich wünsche, dass die Zukunftsmusi-ker ihre Standpunkte auch so glücklich überwinden mögen – nicht durch hohle Floskeln und Phrasen und durch leeres Strohdreschen – sondern durch 'prakti-sche erfolgreiche Wirksamkeit und Streben nach dem Besseren.'" (WIECK 1853, 70)
Zum Zählen hatte sich übrigens auch CARL CZERNY noch folgendermaßen geäußert:
"Es ist nicht sehr vorteilhaft, wenn man den Schüler zum Lautzählen oder gar zum Taktschlagen mit dem Fusse anhalten will." (zit. nach WEHMEYER 1983, 216)
Unter dem maßgeblichen Einfluss gedruckter Medien waren kreative oder emanzi-
patorische Elemente ins Hintertreffen geraten. Bei der praktischen Musikausübung
ging es nicht mehr um produktives, sondern um reproduktives Tun, bei dem zwar
das eigentliche künstlerische Ziel, die anspruchsvolle Interpretation, immer ange-
strebt blieb, allerdings vor lauter Entbehrungen im Sinn der "soliden Ausbildung" in
76
die fernere Zukunft verschoben wurde. Diese Tradition kann bis zur bedingungslo-
sen Unterwerfung des ausübenden Musikers unter den Notentext führen, die für
CHRISTIAN KADEN sogar gleichbedeutend ist mit einer Aufhebung der Arbeitstei-
lung zwischen Komponist und Interpret. Der ausführende Musiker gerät zum Me-
dium:
"Damit jedoch ist, in einem zentralen semantischen Bereich von Musik, die Aufhebung der Arbeitsteilung zwischen Komponist und Interpret postuliert. Der Interpret hat – bis heute ist diese Norm geläufig – nichts Eigenes zu geben, sondern vorgefertigtes Vorgefühltes, emotionale Opera perfecta nachzufühlen und weiterzureichen." (KADEN 1993, 145)
In diesem Zusammenhang deutet auch die Tatsache, dass sich das Klavierspiel in
direkter Konkurrenz mit der elektromechanischen Tonaufzeichnung befand, darauf
hin, dass die Ideale des Klavierspiels eher auf informellem Gebiet lagen. Mit der
Verbreitung elektroakustischer Medien zu Beginn des 20. Jahrhunderts verlor das
Klavierspiel jedenfalls erheblich an Attraktivität. ANDREAS BALLSTAEDT und
TOBIAS WIDMAIER berichten:
"Produktion und Absatz von Klavieren gerieten spätestens mit Einführung des Radios – die Zahl der Rundfunkteilnehmer nahm Mitte der 1920er Jahre sprunghaft zu – in eine schwere Krise. Während Musik in den Wohnungen des Besitz- und Bildungsbürgertums – zum privaten Vergnügen oder zur Unter-haltung von Gästen – bislang nur dann erklungen war, wenn eines oder meh-rere Familienmitglieder über eine gewisse Fertigkeit im Instrumentalspiel oder Gesang verfügten, ließ sich mit Hilfe der technischen Musikmittler der Wunsch nach Musik in den eigenen vier Wänden auf eine völlig neue und be-queme Weise befriedigen. Innerhalb einer Generation, etwa zwischen Mitte der 1890er und 1920er Jahre, vollzog sich im häuslichen Musikleben Schritt für Schritt ein grundlegender Wandel, der von einigen Zeitgenossen bitter beklagt wurde: 'Jetzt spielt unser Volk nicht mehr ein Instrument, jetzt dreht es die Kurbel und hört zu. Aus der Aktivität wird es in die Passivität gedrängt, was wohl als das schlimmste Zeichen des musikalischen Niedergangs angesehen werden darf.'17" (BALLSTAEDT & WIDMAIER 1989, 352)
Die von BALLSTAEDT & WIDMAIER zitierte Äußerung aus dem Jahr 1912, in der der
kulturelle Niedergang durch Verlust aktiver Musikausübung beklagt wird, muss vor
dem geschilderten Hintergrund hinterfragt werden. Klavierspiel unter den beschrie-
17 FUHLBRÜGGE: Der Kampf gegen den musikalischen Schund, in: Allgemeine Deutsche Lehrer-
zeitung LXIV, 1912, S. 474.
77
benen Voraussetzungen beinhaltet zwar unzweifelhaft einen höheren feinmotori-
schen Aufwand als das Drehen der Kurbel eines Grammophons; allerdings muss
kritisch gefragt werden, in welchen Teilbereichen die dabei geleistete musikalische
Aktivität die des Schallplatten-Abspielens wesentlich übersteigt. Aus dieser Sicht
muss der "musikalische Niedergang", den die Allgemeine Deutsche Lehrerzeitung
beklagte, relativiert werden. Der "musikalische Niedergang", wenn man bei diesem
Ausdruck bleiben will, hatte bereits im Vorfeld stattgefunden, als nämlich aufgrund
beschränkter medialer Möglichkeiten das Musizieren unter den maßgeblichen Ein-
fluss des Auges geriet. Andererseits kann man die massive Erhöhung der Musikprä-
senz in den Wohnzimmern des 19. Jahrhunderts als begrüßenswerten Zwischen-
schritt im Prozess der Verbreitung und Vermittlung von Musik werten.
Die Popularisierung des Klavierspiels im 19. Jahrhundert hatte zwar ursprüngliche
("virtuose") musikalische Fähigkeiten nicht grundsätzlich weitertragen können. Das
Phänomen des Dilettantismus kann aber als Ausgangsbasis für weiterführende ge-
sellschaftlich-musikalische Entwicklungen betrachtet werden, die im Zuge fort-
schreitender Medienentwicklung auch wiederum auditives Musizieren breiteren Be-
völkerungskreisen nahe bringen könnten.
Heute wird das Klavierspiel in der Regel noch in der Tradition des 19. Jahrhunderts
vermittelt. Erst in jüngster Zeit und durch neueste Medientechnologie eröffnen sich
Möglichkeiten, die durch Verbreitung elektronischer Wiedergabemedien enorm ge-
stiegene Präsenz von Musik zu Konsum und Berieselung durch musikstrukturelle
Lernprozesse zu ergänzen. Dazu später mehr.
78
2.3 Aporie: Das 20. Jahrhundert beginnt
Um die Jahrhundertwende setzte ein deutlicher Umschwung bei der Suche nach den
Geheimnissen der Virtuosität ein. Die mechanischen Hilfsmittel, die zur Förderung
der Beweglichkeit und Kraft der Finger geschaffen worden waren, verschwanden
schlagartig aus der Fachpresse. Nun richtete sich alle Aufmerksamkeit auf neue, als
revolutionär erachtete Ansätze, die die Ausnutzung von Schwung- und Gewichts-
kräften beim Klavierspiel propagierten.
Versuche, das Klavierspiel durch Steigerung des Fingertrainings zu erlernen, waren
zu diesem Zeitpunkt, nach insgesamt mehr als fünfzigjährigen Versuchen, endgültig
diskreditiert. Unter anderem gesundheitsschädigende Folgen des Übens machten
diesen Schluss unumgänglich.
In der Folge schlugen die Bestrebungen scheinbar in das Gegenteil um, blieben aber
im Kern noch immer mechanistisch bestimmt: Nun wurde versucht, die Finger als
Kraftquelle mehr ganzheitlichen Spielbewegungen unterzuordnen. Begriffe wie
"Fall", "Gewicht" und "Schwung" wurden bedeutsam. Typische Vertreter dieser
neuen Richtung waren LUDWIG DEPPE, seine Schülerin ELISABETH CALAND, TONY
BANDMANN und RUDOLF MARIA BREITHAUPT.
In einem Artikel über Ludwig Deppe in seiner Methode des Klavierunterrichts aus
dem Jahr 1900 wird dieser Umschwung deutlich. Mit "gewöhnliche Spielart" ist da-
bei das traditionelle Fingerspiel mit relativ ruhig gehaltener Hand gemeint:
"Die Hand darf deshalb nicht überbürdet werden, wie es bei der gewöhnlichen Spielart so häufig geschieht, wo man von den einzelnen Fingern Kraftleistun-gen verlangt, für die sie von der Natur nicht beanlagt sind. Demnach also muss die Hand von dem Arm getragen, entlastet werden. In schöner runder Linie hebt der Arm die Hand mit erhobenem Pulse über die Klaviatur, um sie dann durch den ' b e h e r r s c h t e n f r e i e n F a l l ' in die Tasten zu senken, wo die Finger die Töne beseelt zu Gehör bringen." (Der Klavier-Lehrer, 23. Jg. (1900), 154)
Dadurch, dass die Aufmerksamkeit nun auf größere Teile des Körpers gerichtet
wurde, komplizierte sich die Betrachtung der Klaviertechnik wesentlich. Die Viel-
falt der Lehren und verschiedenen klavierpädagogischen Ausrichtungen nahm er-
heblich zu. Viele Übungen, die nun von diversen Lehrern erfunden wurden, um die
vermeintlichen Geheimnisse des Klavierspiels zu vermitteln, muten an wie esoteri-
sche Meditationsübungen. Um das besagte Ziel des "leichten Armes" zu erreichen,
empfiehlt z.B. ELISABETH CALAND folgende Übung, umschrieben mit dem geheim-
nisvollen Begriff "Schulterblattsenkung":
79
"Als erste Uebung sei Folgendes mit grösster Aufmerksamkeit auszuführen: um des Gefühls uns bewusst zu werden, wie man die Hand, durch den Arm vom Rücken getragen, leicht machen kann, hebe man die Arme, von den Schultern aus, leicht nach vorne, ohne jedoch die Schultern selbst hinaufzuzie-hen. Man lenke seine volle Aufmerksamkeit auf die Muskeln der Schultern und des Rückens während dieser Uebung; des intensiven Gefühls, dass die Arme vom Rücken aus getragen und festgehalten werden, muss man sich voll bewusst bleiben, indem man die Arme langsam auf die Tasten niedersinken lässt." (CALAND 1897, 9f. und CALAND 1905, 34)
Während für ELISABETH CALAND die Leichtigkeit des Armes entscheidend ist,
spricht sich z.B. eine Zeitgenossin, TONY BANDMANN, zwar grundsätzlich ebenso
für die Ausnutzung von Armbewegungen aus, kommt aber zu dem Schluss, dass das
Gewicht in der Schwere des Armes und der Hand zur Geltung kommen muss:
"Fall und Schwung setzen ein Gewicht voraus, umsomehr, sobald sie eine Kraftleistung zum Endzweck haben. Dieses Gewicht ist vorhanden in der Schwere des Armes, der Hand und der Finger." (BANDMANN 1903, 178)
Eine beinahe euphorische Aufbruchsstimmung in der Diskussion neuer Methoden
um die Jahrhundertwende vermittelt (trotz häufig diametral auseinanderführender
Theorien) vielfach den Eindruck, als ob die endgültige Entschlüsselung der Ge-
heimnisse des Klavierspiels kurz bevorgestanden hätte. Jeder Autor für sich versucht
den Eindruck zu vermitteln, dem entscheidenden Hindernis, das dem Erreichen all-
gemeiner Virtuosität noch entgegensteht, auf der Spur zu sein. Gemeinsamkeit der
in alle Richtungen divergierenden Klavierlehren jener Zeit ist allerdings die Tatsa-
che, dass kaum mehr jemand wagte, sich für das scheinbar überholte Fingerspiel
auszusprechen.
Rückendeckung erhielten diese Tendenzen gegen die Fingertechnik durch Untersu-
chungen mit wissenschaftlichem Anspruch durch OSKAR RAIF, Professor an der
"Berliner K. Hochschule für Musik", veröffentlicht im Jahr 1901 in den von Carl
Stumpf herausgegebenen Beiträgen zur Akustik und Musikwissenschaft.
Hier versucht RAIF empirisch zu beweisen, dass beim Klavierspiel keine Fingerbe-
wegungen vonnöten sind, die die physische Leistungsfähigkeit des durchschnittli-
chen, ungeübten Menschen übersteigen. Er ließ verschiedene Testpersonen mög-
lichst schnelle Hin-und-Her-Bewegungen mit verschiedenen Fingern machen und
kam zu folgendem Schluss:
80
"Die Annahme, daß der Claviervirtuose einer über das vorhandene normale Maß gesteigerten Beweglichkeit der einzelnen Finger bedarf, erweist sich bei eingehender Beobachtung als irrthümlich. Zahlreiche Versuche mit Personen aus allen Ständen und Berufsclassen haben mir ergeben, daß wir in einer Secunde durchschnittlich 5 bis 6 Anschlagsbe-wegungen mit dem zweiten und dritten Finger, und nur 4 bis 5 mit den übrigen Fingern hervorbringen können. Im Allgemeinen haben Gebildete wohl eine größere Fingerbeweglichkeit als Personen niederer Stände, keineswegs aber Clavierspieler eine größere Be-weglichkeit als Nichtclavierspieler. Unter den letzteren konnten einige mit Leichtigkeit 7 Anschlagsbewegungen in einer Secunde hervorbringen, während eine ganze Reihe guter Clavierspieler es im gleichen Zeitraume nur auf 5 Bewegungen brachte." (RAIF 1901, 352)
Im Kontext des Scheiterns der traditionellen Fingermethode schienen RAIFS Er-
kenntnisse völlig mit den neuen Erfahrungen beim Klavierspiel im Einklang zu ste-
hen. Seine Forschungsergebnisse schienen die Erkenntnis zu untermauern, die ohne-
hin in der Luft lag: Das Geheimnis des Klavierspiels muss auf einer anderen Ebene
zu finden sein als auf der der Fingerbeweglichkeit oder -kraft. Man tendierte damals
dazu, zu glauben, dass Lockerheit und Spiel mit Handgelenkbewegungen die Lö-
sung bringen könnten. In der Folge wurde es deshalb häufig als überflüssig erachtet,
der Ausbildung der Finger beim Klavierspiel besondere Aufmerksamkeit zukommen
zu lassen. Obwohl RAIFS Untersuchungen lediglich die Geschwindigkeit des iso-
lierten Hin-und-her-Bewegens eines einzelnen Fingers betrafen, leisteten sie doch
der Meinung Vorschub, die Beweglichkeit der Finger sei von vornherein bei jedem
Menschen ausreichend für das Klavierspiel.18
Auch das Ausbildungsziel, die Finger zum Zweck des Klavierspiels zu kräftigen,
geriet in Frage. So äußerte TONY BANDMANN die Überzeugung, man müsse und
könne die einzelnen Finger gar nicht trainieren:
"Aber – wenn Oskar Raif nachgewiesen hat, dass es eine Täuschung sei, zu glauben, man müsse normale Finger erst gelenkig machen, damit sie die nötige S c h n e l l i g k e i t der Bewegung erreichten, – so möchte ich behaupten, es ist eine ebensolche Täuschung, wenn man glaubt, durch Uebung der einzelnen Finger deren K r a f t nennenswert zu beeinflussen." (BANDMANN 1903, 178)
18 Die Untersuchungen RAIFs zeigen einen typischen Fall von "Zeitgeist-Wissenschaft". Vor dem
historischen Hintergrund des Scheiterns der Ausbildung am Klavier durch Fingertechnik mussten
die Untersuchungen RAIFs zu diesem Ergebnis führen. Das erwünschte Ergebnis bedingt dabei
Fragestellung und Versuchsanordnung.
81
Erstmals wird hier im Zusammenhang von subjektiven Erfahrungen beim Klavier-
spiel von "Täuschung" gesprochen. Die Wissenschaft wird nun in ihrem von der
unmittelbaren menschlichen Erfahrung abweichenden Zugang zur neuen Hoff-
nungsträgerin der Klavierpädagogik. Bei Diskrepanzen zwischen der eigenen sub-
jektiven Wahrnehmung und wissenschaftlichen Erkenntnissen wird nun im Zweifel
der Wissenschaft vertraut. Vor dem Hintergrund des Scheiterns vorangegangener
Bemühungen, das Geheimnis des Klavierspiels zu entschlüsseln, kann diese Wen-
dung nicht verwundern. Sämtlichen überkommenen und aus subjektiven Erfahrun-
gen der ausübenden Instrumentalisten entstandenen Grundlagen, die bisher für das
Spiel gegolten hatten – insbesondere symbolisiert durch die Tradition des isolierten
Fingerspiels –, wurde nun aus gutem Grund mit Misstrauen begegnet.
Im Gegensatz zu den ersten physiologisch orientierten Ansätzen zwanzig Jahre zu-
vor (z.B. von GUSTAV STOEWE, vgl. S. 68) wird die Wissenschaft nun nicht mehr
nur als Mittel zur Unterstützung der Klavierpädagogik gesehen, sondern geradezu
als Rettungs-Anker, um grundsätzliche Widersprüche zu klären. Dass die Lösung
der Geheimnisse nur im Bereich der Bewegungsführung des Armes liegen könne,
dieser Irrtum war um 1900 gängige Meinung; welchen anderen Schluss hätten die
gemachten Erfahrungen auch zugelassen?
Die Tendenz, Probleme des Klavierspiels mit wissenschaftlichen Hilfsmitteln in den
Griff bekommen zu wollen, erreichte um die Wende zum zwanzigsten Jahrhundert
ihren Höhepunkt. Die gängigen Methoden, Virtuosität zu vermitteln, hatten zum
Ende des 19. Jahrhunderts weitgehend versagt. Statt Virtuosen verließen hauptsäch-
lich Dilettanten die Konservatorien. Die Wissenschaft avancierte zur Hoffnungsträ-
gerin, diesem Mangel abzuhelfen. Von ihr wurden konkrete Hilfen für die Praxis
erwartet, so auch von einem gewissen DR. HERTER, der sich 1905 in der Zeitschrift
Der Klavier-Lehrer folgendermaßen äußert:
"Indes ist doch eine wissenschaftliche Untersuchung der Körperbewegungen nicht nur, wie jeder Einblick in die Werkstatt der Natur, von allgemeinem In-teresse, sondern auch von bestimmtem praktischen Wert für denjenigen, wel-cher eine schwierige Bewegungstechnik, wie sie das Klavierspiel darstellt, be-herrschen will. Was dagegen zu sprechen scheint, sind eben nur Scheingründe. Gewiss erlernt auch der Naturmensch vieles unbewusst aus sich heraus oder durch Nachahmung Anderer, aber wie unvollkommen und oft auf welchen Umwegen!" (HERTER 1905, 85)
Derartiges Vertrauen in die Wissenschaft währte allerdings nicht lange. Anstatt
nämlich endlich die drängenden Fragen zu beantworten, lieferte sie im Jahr 1905 ein
82
erstes handfestes Ergebnis, aber eines, das alle Hoffnungen auf praktische Verwert-
barkeit schlagartig zunichte machte.
EUGEN TETZEL zeigte 1905 in seinem Buch Das Problem der Modernen Klavier-
technik, dass das künstlerische Erleben beim Klavierspiel aus wissenschaftlicher
Sicht in der Tat auf groben Täuschungen beruhen muss. Dieses Werk besiegelte die
Abspaltung der Praxis des Klavierspiels von der Wissenschaft. TETZEL bewies
darin, dass sich der gesamte klangliche Darstellungsbereich des Klaviers auf die
Frage reduzieren lässt, wann und mit welcher Geschwindigkeit die Tasten bzw.
Hämmer bewegt werden. Subjektiv empfundene Kategorien wie z.B. Klangfarbe
oder Schönheit des Tons sind nach TETZEL beim Klavier ausschließlich durch Ver-
änderungen der Lautstärken zu erzielen:
"Daraus ergibt sich mit unbedingter Sicherheit die für das Klavierspiel grund-legende Erkenntnistatsache: Der Klavierton an sich hat bei gleicher Tonstärke auch gleiche Klangfarbe. Die Klangfarbe ist also bei gleicher Tonstärke nicht durch die Anschlagsart des Spielers zu beeinflussen." (TETZEL 1912, 13)
Die Konsequenzen beschreibt CARL ADOLPH MARTIENSSEN in seinem Buch
Schöpferischer Klavierunterricht:
"Folglich kann der Klavierton auch nur in einer einzigen Weise verändert wer-den: er kann je nach der größeren oder geringeren Endgeschwindigkeit des Hammerfluges entweder lauter oder leiser sein, und nur parallel mit der Ton-stärke kann sich seine Klangfarbe verändern, – eine andere Veränderung, etwa bei gleicher Tonstärke nach Belieben weicher oder härter zu spielen, ist un-möglich." (MARTIENSSEN 1957, 26)
Diese Erkenntnisse waren derart befremdlich, dass sich TETZEL einiger der damals
berühmtesten Physiker rückversichern musste. Er gab Gutachten bei Geheimrat
Prof. Dr. RUBENS, Direktor des physikalischen Instituts Berlin, Geheimrat Prof. Dr.
MAX PLANCK, Direktor des Instituts für theoretische Physik an der Königlichen
Universität zu Berlin und später Nobelpreisträger, und Geheimrat Prof. Dr. KRIGAR-
MENZEL, Dozent der Physik, ebenfalls an der Königlichen Universität zu Berlin, in
Auftrag. Sie bestätigten einhellig die Erkenntnisse TETZELS. MAX PLANCK schreibt:
"Eine Beeinflussung der Klangfarbe einer Saite durch die Art des Anschlags kann, sofern der Hammer frei gegen die Saite fliegt, nur durch eine verschie-dene Geschwindigkeit des Hammers, also durch verschiedene Tonstärke be-wirkt werden." (TETZEL 1912, 172)
83
Diese Erkenntnis steht in derart eklatantem Widerspruch zu der Erfahrungswelt des
Musikers, dass mit dieser Veröffentlichung jede Verbindung zwischen künstleri-
scher und wissenschaftlicher Sicht des Klavierspiels verloren war. Auch die phy-
siologisch orientierte Klaviermethodik, wie sie OSKAR RAIF, LUDWIG DEPPE oder
ELISABETH CALAND begründet hatten, obschon ursprünglich mit teilweise wissen-
schaftlichem Anspruch, konnte mit diesen Erkenntnissen nicht mehr vereinbart wer-
den. Es gelang in der Praxis auch nicht, das subjektive Spielgefühl, wie es
ELISABETH CALAND z.B. anhand der Schultern zu erklären versucht hatte, zu diesen
physikalischen Tatsachen in Beziehung zu setzen. Die Klavierpädagogik war zum
Rückzug in die Irrationalität verdammt, und die Erkenntnisse EUGEN TETZELS wer-
den im Klavierunterricht in der Regel ignoriert.
Diese Widersprüche zeigen krisenhafte Züge, wie sie zu Beginn des zwanzigsten
Jahrhunderts auf vielen Gebieten zu Tage traten. In der Klavierpädagogik ließ die
grundlegende Verunsicherung die Suche nach dem richtigen Weg zu einem Pendeln
zwischen Extremen werden – um dann schließlich in Ratlosigkeit zu enden. Sollte
den eigenen Gefühlen und damit dem Unmittelbaren oder aber den sekundären
Systemen, wie sie die Wissenschaft zur Verfügung stellte, vertraut werden? Die von
THOMAS NIPPERDEY aus gesellschaftlicher Sicht diagnostizierte "Modernitätskrise"
lässt sich anhand der Entwicklung des Klavierspiels zu Beginn des 20. Jahrhunderts
gut nachvollziehen:
"Die einfache sieghafte Selbstgewißheit bürgerlicher Pragmatiker, der auf Wissenschaft, Technik und Wirtschaft, auf Arbeit und Moral gegründete Fort-schrittsglaube, vom politischen Credo des Liberalismus, des Nationalismus, des Imperialismus überwölbt, geriet auch im normalen, praktischen Bürgertum außer Kurs, ja wurde unmöglich. Nicht nur das – nostalgische – Gefühl für die Kosten der Modernisierung (etwa Heimat-, Geborgenheits- und Traditions-verluste) und Entfremdungen – das war ja schon seit der Romantik ständiger Kontrapunkt der Gebildeten gewesen – , sondern die spezifische Zuspitzung zum Krisengefühl, darauf kam es an. Nicht mehr Konservative und Traditio-nalisten waren davon erfaßt, sondern eigentlich alle, das Unbehagen in und an der modernen Kultur wurde zu einer Signatur der Gegenwart. Die Welt ist technischer, wissenschaftlicher, rationaler geworden, entzauberter auch: rechenhafter und bürokratischer, kälter und abstrakter. Nicht nur das Vertraute schwindet, der Rückhalt an der Tradition, sondern auch das Freie und Unmittelbare. Die Reflexivität zerstört alle Unmittelbarkeiten. Sekundäre Systeme gewinnen Macht über den Menschen, Rollenteilungen und Rollen-zwänge. Die primären Erfahrungen werden von sekundären Erfahrungen überlagert." (NIPPERDEY 1988, 82f.)
84
Hierbei vollzog sich eine geistesgeschichtlich entscheidende Entwicklung. Der
Glaube an die Allmächtigkeit von Wissenschaft und Technik, kaum gewonnen,
wurde um die Wende zum 20. Jahrhundert massiv erschüttert. Der menschliche
Geist verlor die Kontrolle über sich19 und seine Umgebung. Die Verbindung
zwischen Wissenschaft und allen Gebieten der Kunst war spätestens zu diesem
Zeitpunkt nicht mehr aufrecht zu erhalten.
Der Kunsthistoriker CLAUS BAUMANN zeigt, dass auch in der Bildenden Kunst die
ehemals parallele Entwicklung von Kunst und Wissenschaft zu Beginn des zwanzig-
sten Jahrhunderts von Auflösungserscheinungen gekennzeichnet ist:
"In Bezug auf den gemeinsamen RAUMZEIT-Nenner verläuft die Entwick-lung der Kunst von der Renaissance an nicht zunehmend konträr zur Entwick-lung der Naturwissenschaften, sondern parallel. Und dies so konsequent, daß, setzt man von der Renaissance an bis heute einen Entwicklungsprozeß von der umfassenden zur kleinstmöglichen Aussage voraus, dann beide, Naturwissen-schaft und Kunst, fast exakt zur gleichen Zeit bei den ihnen möglichen klein-sten Aussagen, Raum und Zeit betreffend, anlangten: 1912 Malewitsch mit dem 'Schwarzen Quadrat' und 1916 Einstein mit der Formel 'E=mc2';" (BAUMANN 1994, 15)
Widersprüche zwischen Subjekt und Objekt, die zu jener Zeit deutlich wie nie zuvor
zu Tage treten, werden am Beispiel des Klavierspiels ebenso evident wie z.B. in der
Bildenden Kunst oder den Wissenschaften. Die Erkenntnisse TETZELS führen die
Entwicklung des Klavierspiels an jenen "Nullpunkt", der für die Physik durch
ALBERT EINSTEINS Spezielle Relativitätstheorie im Jahr 1905 und für die Komposi-
tion durch die erste "atonale" Komposition, die Klavierstücke op. 11 von ARNOLD
SCHÖNBERG im Jahr 1909 markiert wird.
In dieser Phase trennen sich Kunst und Wissenschaft endgültig. Die Erklärbarkeit
künstlerischer Phänomene wird nun prinzipiell negiert. HELGA DE LA MOTTE-
HABER befasst sich in ihrer Musikpsychologie mit der Rezeption des Buches Die
Lehre von den Tonempfindungen als physiologische Grundlage für die Theorie der
Musik von HERMANN VON HELMHOLTZ aus dem Jahr 1863. Hier glaubt sie, das Jahr
1913 als entscheidenden Wendepunkt auszumachen:20
19 Insbesondere durch das Wirken SIGMUND FREUDs. 20 HELGA DE LA MOTTE-HABER leitet diese erstaunlich präzise Festlegung auf das Jahr 1913 mögli-
cherweise aus der Tatsache ab, dass die HELMHOLTZsche Lehre in jenem Jahr ihre sechste und
letzte Auflage erfuhr (vgl. RECHENBERG 1994, 463).
85
"Das Buch von Helmholtz ist im Zusammenhang mit jenen Versuchen zu ver-stehen [...], die Naturgesetzlichkeiten für den Bereich der Kunst aufweisen wollten. Daß das Jahr 1913 eine Zäsur in der Geschichte der Rezeption seiner Gedanken bedeutet, hängt nur mittelbar mit dem Ausbruch des ersten Welt-krieges zusammen, sondern vielmehr damit, daß das Interesse an solchen Be-mühungen erlahmte; die rasche Entwicklung der Musik demonstrierte zu deut-lich, daß Aussagen, die auf den gleichen Fundamenten wie jene der Naturwis-senschaften basierten, für die Musik nicht zu erstellen sind." (DE LA MOTTE-HABER 1984, 62)
Die Dramatik dieser Situation für die Klavierpädagogik besteht darin, dass erst kurz
vor der Jahrhundertwende das ältere System des exzessiven Fingerspiels unter dem
Druck grassierender Erkrankungen zusammengebrochen war. Nun endet auch der
wissenschaftliche Versuch, die Geheimnisse der Virtuosität zu entschlüsseln, quasi
als letzte Hoffnung, das Klavierspiel doch noch versteh- und damit schlüssig lehrbar
zu machen, ergebnislos.
Deutlich geht sowohl die vorläufige Euphorie zu Beginn des 20. Jahrhunderts als
auch deren anschließender Zusammenbruch aus dem Vorwort von WALTER
NIEMANN zur sechsten Auflage von ADOLPH KULLAKS Ästhetik des Klavierspiels
hervor. Selten musste ein Herausgeber eine Auflage eines Buches derart revidieren.
Im Jahr 1916 distanziert sich NIEMANN radikal von seinen eigenen Einschätzungen
aus dem Jahr 1906. Die "neue" Methode des Klavierspiels unter Berücksichtigung
physiologischer Erkenntnisse scheint, wie der folgende Ausschnitt aus NIEMANNS
Vorwort deutlich macht, völlig versagt zu haben:
"Als die vierte Auflage 1906 erschien, stand die moderne, psycho-physiologi-sche Methodik des Klavierspiels der Deppe-Caland-Lehre, des Breithaupt-schen Arm- und Gewichtsspiels, der Clark-, Jaell-, Leschetizky-Methoden usw. im Vordergrund eines geradezu sensationellen Interesses. Entzückt ob der berauschenden Entdeckungen der wahren Kraftquellen des Klavierspiels, schüttete man das Kind mit dem Bade aus und verurteilte alles, was metho-disch auf älterem, physiologisch nicht urbar gemachtem Boden stand, in Bausch und Bogen. Ich [...] gab [...] meiner damaligen Neuausgabe vielfach ein fremdes und manchem in der scheinbar einseitigen Parteinahme für die moderne Methodik mit Recht sehr unerwünschtes Gesicht. Die neun Jahre haben mich immer mehr überzeugt, dass, da ich die moderne, einseitig physiologisch aufgebaute Klaviermethodik als Extrem der Revolution gegenüber dem Extrem der Reaktion der älteren Methodik als eine notwendige, aber vorübergehende Erscheinung ansehe, diese Pflicht ihrer Einarbeitung in die ältere Methodik nicht mehr vorliegt." (KULLAK 1861/1916, XIIf.)
86
Indem NIEMANN nun die neuen Wege verwirft, vollzieht er gezwungenermaßen ei-
nen Rückschritt zu eigentlich bereits gescheiterten Methoden der Vergangenheit.
Die Hoffnungen auf eine theoretische Lösung der Geheimnisse der Virtuosität
rückten jedenfalls in weite Ferne.
Für das transzendente Image des Virtuosen und zu einem gewissen Grad auch des
Lehrers war diese Krise andererseits durchaus förderlich. Wenn es nicht möglich ist,
die Fähigkeit zum Musizieren entsprechend zu vermitteln, muss die Ursache für das
Können wohl in der Begabung liegen. Diese scheinbar genetisch verursachte Aus-
nahmestellung des Künstlers erhöht seine Attraktivität. Die aus dem 19. Jahrhundert
überkommene Aura des Künstlers erhielt durch das Scheitern der rationalen Metho-
den zusätzliche Bestätigung. Wenn die Virtuosität mit "irdischen" Mitteln nicht zu
erklären ist, muss es sich folglich um eine Art übermenschliche Fähigkeit handeln.
So nimmt der Künstler in der Gesellschaft einen Teil der Rolle des Adligen aus frü-
heren Zeiten ein: Es liegt aus dieser Perspektive eine Auserwähltheit von Geburt
vor, die den Künstler in eine Position zwischen Diesseits und Transzendenz erhebt.
Eine seltsame Aura von Mystik und Esoterik lag in den Unterrichtszimmern, wo der
Geist der Musik mit schmuckvollen Metaphern zu vermitteln versucht wurde. Wun-
derliche Äußerungen wie die folgende finden sich durchaus noch in der sechsten
Auflage von 1916 von ADOLPH KULLAKS Ästhetik des Klavierspiels:
"Bald ist es das zarte Streicheln der Fingerspitze, bald die ihre Beute durch-bohren wollende Hand. Einmal falten sich die Finger enggeschlossen wie eine Masse zusammen, ein andermal fahren sie im Tarantellauf, spinnenartig ge-spreizt daher, dann wieder stehen ein oder mehrere Finger fest wie eingewur-zelt auf einer Stelle, und andere weben geheimnisvolle Figuren, dann springt geschossartig, oder wie der Löwe auf seine Beute sich wirft, die Hand von ei-nem Punkt nach einem entfernten." (KULLAK 1861/1916, 250f.)
Der didaktische Wert solcher Aussagen ist allerdings zumindest ebenso zweifelhaft
wie beispielsweise die bereits zitierte, eher der rationalen Welt entnommene Äuße-
rung von ELISABETH CALAND bezüglich der Frage, wie sich die Schulter beim Spiel
anzufühlen habe. Der Unterricht wird so zu einem Versuch, das Nichtwissen um die
Zusammenhänge hinter einer sagenumwobenen Sprache zu verbergen. Der ange-
nehme Nebeneffekt für den Lehrer: Sollte der Unterricht keinen Erfolg zeitigen,
verbietet seine Aura Zweifel an seiner Didaktik. Die Ursache für den Misserfolg
wird dann mit mangelnder Begabung des Schülers erklärt. Die fragwürdige Unter-
scheidung in musikalische und unmusikalische Menschen erfuhr hierdurch ihre
scheinbare Bestätigung. Der Schüler taugt nicht zum Künstler, er muss "Mensch"
bleiben.
87
Der Rückzug der Klavierpädagogik ins Irrationale in den Jahren um 1910 vollzog
sich mit einem kräftigen Pendelschlag. Endlich hatte das Klavierspiel wieder ein
eigenes Existenzrecht auszufüllen, das ausschließlich im emotionalen Bereich ge-
sucht und mit poetischen Assoziationen ausgefüllt wurde. Von dieser Wendung
zeugt das 1911 zum ersten Mal erschienene Büchlein Von der Poesie des Klavier-
spiels von JOSEPH PEMBAUR D. J. Hier werden poetische, die Fantasie beflügelnde
Anregungen gegeben – insbesondere, um den geistigen Hintergrund für die zu inter-
pretierenden Werke zu schaffen und mit Gestaltungskraft zu füllen. Es wird nun, da
schon kein rationales Gegenstück zur Musik vorhanden zu sein scheint, das Gefühl
als Äquivalent bemüht. Auch das Vokabular PEMBAURS vermittelt eine poetische
Stimmung, so werden beispielsweise Vergleiche mit Gedichten RILKES angestellt
(vgl. PEMBAUR 1917, 11). PEMBAUR empfiehlt zum Studium des Klavierspiels ins-
besondere Begleitungen von Melodramen und Liedern und begründet dies wie folgt:
"Abgesehen davon, daß diese Werke uns mit den bedeutendsten Dichtern be-kannt machen, deren Beziehungen, wie die der Maler und anderer Künstler zu den Komponisten, seien sie nun durch ihre Gedichte und Bilder oder durch ihr Leben geknüpft, viel zu wenig beachtet werden, zeigen sie uns, wie man ganz bestimmte Gefühle in Tönen zum Ausdrucke bringt, und wir lernen dadurch wieder in der sogenannten absoluten Musik bestimmte Tongruppen in die ent-sprechenden Gefühle umzudeuten." (PEMBAUR 1917, 37)
Ein Beispiel für diese direkte Umdeutung in Gefühle, wie sie PEMBAUR vorschlägt,
sei zur Verdeutlichung angefügt:
88
Abb. 18: PEMBAUR 1917, S. 8.
Charakteristisch für die Auffassung PEMBAURS ist die von romantischen Vorstellun-
gen geprägte Ansicht, dass allein das Gefühl die Transzendenz des Kunstwerks zu
erschließen vermag. Hinzu kommen Elemente der Affektenlehre, indem bestimmten
Spielfiguren bestimmte Gemütszustände zugeordnet werden.
Die Zeitschrift Der Klavier-Lehrer erschien im Jahr 1910 zum letzten Mal, nachdem
es nun im Zustand allgemeiner Ratlosigkeit offenbar keine Geheimnisse gab, deren
Diskussion nutzbringend erschienen wäre. Die Integration dieser Zeitschrift in die
Musikpädagogischen Blätter ist Indiz dafür, dass das Musizieren nun weniger in-
89
strumentenspezifisch und damit weniger äußerlich betrachtet wurde. Das Klavier-
spiel insgesamt verlor in jener Zeit erheblich an Faszination, wesentlich mitverur-
sacht durch die Verbreitung akustischer Wiedergabemedien (vgl. S. 76 und
BALLSTAEDT & WIDMAIER 1989, 351-364).
2.4 Reformansätze
Das Problem des dilettantischen Klavierspiels wurde regelmäßig von den Autoren
der Praktikerliteratur artikuliert. EUGEN SCHMITZ z.B. wies im Jahr 1919 in der
Einleitung zu seinem Buch Klavier, Klaviermusik und Klavierspiel auf die Gefahr
hin, die besteht, wenn auf einem Instrument, auf dem die Tonhöhen konstruktions-
bedingt festliegen und durch einfaches Drücken einer Taste zum Erklingen gebracht
werden können, vorgefertigte Noten gespielt werden. Zunächst begrüßt er aber, dass
"[...] das Klavier im Laufe der Zeit insbesondere das beliebteste Hausinstru-ment geworden ist, das heute im Fürstenpalast wie im bescheidenen Bürger-haus seinen festen, unbestrittenen Platz gefunden hat. Freilich hat diese gemeinverbreitete Pflege des Klavierspiels auch ihre S c h a t t e n s e i t e n . Das Klavier ist das einzige Instrument, das den Ton fertig hergibt. Keine Nachprüfung, etwa mit Hilfe des Gehörs, ist nötig oder möglich. Mit rein mechanischer Fingertechnik läßt sich verhältnismäßig viel erreichen. Ein Musizieren, das seinen Anfang und sein Ende im Klavierspielen findet, verfällt darum nur zu leicht jener G e d a n k e n l o s i g k e i t und O b e r f l ä c h l i c h k e i t , die leider für das Dilettantentum von heute zum beschämenden Kennzeichen zu werden droht. Soll darum das moderne häusli-che Klavierspiel wirklich kulturelle Bedeutung gewinnen, so müssen sich nicht nur die Finger, sondern auch Geist und Herz daran beteiligen. Zunächst muß ein tieferes Eindringen in Wesen und Technik der Musik, als es das Instrument allein zu vermitteln vermag, angestrebt werden durch Schulung des Gehörs, durch Studium wenigstens der Elemente der musikalischen Grammatik [...]." (SCHMITZ 1919, 1f.)
Ähnliche Bedenken waren von Vordenkern wie z.B. HUGO RIEMANN seit der zwei-
ten Hälfte des 19. Jahrhunderts regelmäßig geäußert worden und waren Anlass für
Versuche, durch Einführung von Musiktheorie in den Fächerkanon an Konservato-
rien die aufgetretenen Mängel zu kompensieren. Das erkannte Grundübel aber,
nämlich das Spiel ohne hinreichende Beteiligung des Gehörs, war mit der Einfüh-
rung der Musiktheorie offensichtlich nicht grundsätzlich gebannt, dies belegen
90
EUGEN SCHMITZ’ Äußerungen aus einer Zeit, in der die Musiktheorie in aller Regel
bereits Bestandteil höherer musikalischer Ausbildung war.
Einen weiteren Ansatz im Kampf gegen den Dilettantismus stellt die durch LEO
KESTENBERG initiierte Einführung der Staatlichen Musiklehrerprüfung im Jahr 1925
dar (vgl. ECKSTAEDT 1996, 63). Durch eine zentral geregelte Abschlussprüfung
sollte ein einheitlicher Qualitätsmaßstab für die Instrumentallehrer-Ausbildung ge-
schaffen werden. Die Inhalte dieser Prüfung zeigen Bestrebungen, durch entspre-
chende Anforderungen in den begleitenden Fächern Musikgeschichte und Musik-
theorie eine umfassende musikalische Bildung von Instrumentallehrern zu gewähr-
leisten. Hierbei blieben die praktischen Ausbildungsinhalte am Instrument auf den
reproduktiv-interpretatorischen Bereich beschränkt.
Dagegen zeigt das 1930 in der Musikpädagogischen Bibliothek als Band 4 erschie-
nene Buch Klavierpädagogik von FRIEDA LOBENSTEIN einen über die Anforderun-
gen der Staatlichen Musiklehrerprüfung hinausweisenden Ansatz. Klavierpädagogik
wird von ihr nicht auf Aspekte des Instruments beschränkt, sondern als Teil einer
umfassenden Musikerziehung gesehen. LOBENSTEIN grenzt sich bewusst ab von ei-
nem auf solistische Leistungen abgerichteten, vordergründig-technischen Klavier-
spiel:
"Dieses Buch wurde 'Klavierpädagogik' betitelt. Hiermit soll ausgedrückt wer-den: es ist nicht nur eine Klaviermethodik oder eine Techniklehre, es stellt also nicht einen Lehrgang lediglich für das Klavierspiel auf. Klavierpädagogik heißt: Musikerziehung unter wesentlicher Einbeziehung des Klavierspiels. Hierdurch grenzt sich diese Arbeit bewußt ab von einer Unterweisung für die Beherrschung des Klaviers nur als eines Soloinstruments. Es soll so den Richt-linien entsprochen sein, wie sie der Herausgeber in seiner prinzipiellen Einlei-tung zur 'Musikpädagogischen Bibliothek' vorgezeichnet hat. Denn auch diese 'Klavierpädagogik' hat als leitenden Gedanken, einen Beitrag für die Musik-pädagogik als Ganzheit zu liefern, das instrumentale Spiel – in diesem Fall das Klavierspiel – einzuordnen in diese Ganzheit." (LOBENSTEIN 1931/1960, 3)
Als entscheidender Sinneskanal des Musizierens wird von ihr das Gehör genannt:
"Als der diese musikalischen Grundstrukturen aufnehmende Sinn wurde das Gehör einem besonderen, planmäßigen Bildungsprozeß zugeführt, und so wurde die Gehörbildung zu einer zentralen Aufgabe der Musikerziehung." (LOBENSTEIN 1931/1960, 3)
FRIEDA LOBENSTEIN legt besonderen Wert auf die zentrale Funktion der Improvisa-
tion als im musikalischen Kontext praktizierte (und nicht, wie in Musiktheorie üb-
91
lich, aus dem musikalischen Zusammenhang gelöste) Gehörbildung und Mittel für
die Ausbildung des Klangvorstellungsvermögens:
"Die schöpferischen Kräfte sollen zur Betätigung entfaltet werden auf dem Gebiet der Improvisation, und die Improvisation trat in den Vordergrund, weil in ihr eben der Anteil der schöpferischen Selbsttätigkeit und einer aus Eigen-stem fließenden Erarbeitung der Stoffgebiete entscheidendste Bedeutung hat. Die Fähigkeit, alle diese Bewegungsvorgänge zu erkennen, die Bereitschaft für die Improvisation sind nur zu erzielen, wenn das musikalische Gehör genügend gebildet wird, um mit einer klaren, sicheren Klangvorstellung alle musikali-sche Betätigung zu leiten." (LOBENSTEIN 1931/1960, 4)
Die Reformideen FRIEDA LOBENSTEINS konnten sich in der Praxis allerdings nicht
durchsetzen. Einerseits hatte Improvisation immer noch mit dem Ruf der niederen
Kunst zu kämpfen, was neben den lächerlichen Versuchen in "Pseudo-Virtuosen-
tum" des 19. Jahrhunderts (vgl. S. 56f.) auch in der Erscheinung gründet, dass
Improvisation fester Bestandteil der Unterhaltungsmusik blieb und somit von der
auf schriftliche Medien sich stützenden Interpretationspädagogik als typisches Un-
terscheidungsmerkmal zwischen niederer und hoher Kunst herangezogen werden
konnte. Die improvisatorische Tradition in der Ausübung klassischer Musik war
spätestens seit der Jahrhundertwende verloren, so dass diese Fähigkeit, da in der Re-
gel nicht mehr vorhanden, auch nicht mehr vermittelt werden konnte. Die anhal-
tende Beschränkung auf die Wiedergabe gedruckter Werke blieb übrigens auch Ga-
rant dafür, dass restriktiver Unterricht weiterhin möglich und damit Dilettantismus
unter Klavierlehrern schwer zu entlarven blieb. Damit tragen auch Interessen der
Selbstbehauptung der Zunft – bis in die Gegenwart (vgl. S. 134) – zu einem ausge-
prägten Beharrungsvermögen tradierter Unterrichtsformen bei.21
21 In Deutschland hat insbesondere auch die politische Entwicklung in den 30er Jahren dazu beige-
tragen, ganzheitliche Ansätze im Keim zu ersticken. So konnte FRIEDA LOBENSTEIN nur bis 1933
Leiterin des Musiklehrerseminars an der Staatlichen Hochschule für Musik in Berlin bleiben und
musste 1939 nach Brasilien auswandern. Diese geistig-politische Entwicklung ist als entschei-
dend auch für die Stagnation der Musikerziehung in Deutschland in jener Zeit zu werten. So be-
dient das Vorwort ADOLF HITLERS in einem Prospekt des Robert-Schumann-Konservatoriums
der Stadt Düsseldorf aus dem Jahre 1939 alle Klischees von der Trennung in "von Gott begna-
dete" Genialität und "technisches Können" als Voraussetzung zu musikalischer Äußerung, die
mit Ende des 19. Jahrhunderts eigentlich hätten überwunden sein sollen:
"Wer von der Größe der Schönheit oder dem Schmerz, dem Leid einer Zeit und seines Volkes
durchdrungen oder überwältigt wird, kann, wenn er von Gott begnadet ist, auch in Tönen sein In-
neres erschließen. Das technische Können ist wie immer die äußere notwendige Voraussetzung
für die Offenbarung der inneren Veranlagung." (HITLER 1939).
92
2.5 Die zweite Jahrhunderthälfte
Die Rolle des Gehörs und des Klangvorstellungsvermögens als zentrale Instanzen
musikalischer Betätigung wird in allen ernst zu nehmenden Klavierdidaktiken des
20. Jahrhunderts ausdrücklich hervorgehoben. Andererseits beschränken sich fast
alle Autoren auf Aspekte des Interpretierens von Notentexten. Aus dieser Tatsache
ergibt sich erheblicher Diskussionsbedarf.
In ihrem 1929 in Deutschland erschienenen und in der Instrumentalpädagogik im-
mer noch aktuellen Buch Der lebendige Klavierunterricht legt etwa MARGIT VARRÓ
Wert auf die Feststellung, dass es sich auch bei ihrer Didaktik nicht um technisch
orientierten Drill, sondern um eine ganzheitliche Erziehung zur Musik handele.
Auch sie widmet der Ausbildung des Gehörs besondere Aufmerksamkeit:
"Der Klavierunterricht ist, wie jede Unterweisung im instrumentalen Spiel, in erster Linie als Musikunterricht aufzufassen. Er entspricht diesem Zweck nicht, wenn sich der Lehrer darauf beschränkt, dem Schüler das Notenlesen beizu-bringen, sowie die manuelle Fertigkeit, deren er bedarf, um die den Noten ent-sprechenden Tasten kunstgerecht anzuschlagen. Der Klavierunterricht kann nur dann als Musikunterricht angesprochen werden, wenn die Entwicklung der technischen Fertigkeit Hand in Hand geht mit der Ausbildung des Gehörs und der Erziehung des musikalischen Verständnisses. – Dies klingt selbstverständ-lich, ist es aber nicht. – Es ist so viel gesündigt worden durch den seelenlosen technischen Drill, der zahllosen jugendlichen Musikliebhabern das Wesen der Musik verschleiert, entstellt und verleidet hat, daß es an der Zeit ist, als erste Hauptregel den Satz aufzustellen: das Kind muß alles verstehen, was es spielt, besser gesagt, es muß bereits richtig musikalisch aufgefaßt haben, was es am Instrument doch nur wiedergeben soll. Sonst wird Klavier gespielt, aber nicht musiziert.
Für die Musikerziehung könnte man mit wenig Spitzfindigkeit aus dieser Äußerung schließen,
dass musikalische Ausbildung sinnvollerweise darin bestehen müsse, ausschließlich technische
Lehrinhalte zu vermitteln, da musikalische Fähigkeiten, weil angeboren, nicht bildbar seien.
Der Glaube an den menschlichen Willen als Garant für Erfolg, der das ausgehende 19. Jahrhun-
dert geprägt hatte und der sich in der Klavierpädagogik in den mechanischen Übehilfen spiegelt,
die technokratische Hybris, die eigentlich spätestens mit dem Ende des Ersten Weltkriegs hätte
bewältigt sein müssen, wurde im Hitlerdeutschland geradezu verzweifelt wieder heraufbeschwo-
ren. Dass es sich hierbei auch und gerade auf dem Gebiet der Kunst um eine ungeeignete Strate-
gie handeln muss, hätte eigentlich auch das Scheitern einseitiger Bemühungen in der Vermittlung
des Klavierspiels der zweiten Hälfte des vorangegangenen Jahrhunderts gelehrt haben müssen.
So gesehen kann der geistige Hintergrund des Nationalsozialismus als (hoffentlich letzter) ver-
geblicher Versuch betrachtet werden, die auf S. 83 erwähnte Modernitätskrise ungeschehen zu
machen und als zu komplex erachtete Weltbilder durch konkretere, damit aber unzulässig verein-
fachte zu ersetzen.
93
Abweichend von der gewohnten Unterrichtspraxis [Hervorhebung von mir, H.K.] fällt der hier dargestellten Methode der Entwicklung des Gehörs eine zentrale Rolle zu." (VARRÓ 1929, 7f.)
Besonders aufschlussreich ist dabei, dass MARGIT VARRÓ die zentrale Bedeutung
des Gehörs in ihrer Methode als "abweichend von der gewohnten Unterrichtspraxis"
bezeichnet. In ähnlicher Weise sieht auch KARL LEIMER in seinem Buch Modernes
Klavierspiel nach Leimer-Gieseking die Bedeutung des Gehörs bei seiner Methode
als Ausnahme:
"Der Hauptunterschied meiner Unterrichtsweise gegenüber anderen [Hervor-hebung von mir, H.K.] und eine der wichtigsten Grundlagen meines Systems ist die Trainierung des Ohres. Die meisten Klavierspieler hören sich selbst gar-nicht [sic] richtig!" (LEIMER 1931, 11)
Wo immer in der Praktikerliteratur des 20. Jahrhunderts das Primat des Ohrs beim
Musizieren hervorgehoben wird, wird meist gleichzeitig betont, dass es sich dabei
um eine positive Ausnahme und besondere Errungenschaft der Methode des jeweili-
gen Autors handele.
Auch CZESLAW MAREK setzt sich in seiner Lehre des Klavierspiels mit dem zentra-
len Problem der Ausbildung des Gehörs auseinander. MAREK stellt dabei eine Hier-
archie von musikalischen Fähigkeiten auf, deren Reihenfolge weder beim Musizie-
ren noch beim Lernen verändert werden darf:
1. Klangvorstellungsvermögen 2. Klanggestaltungskraft 3. Klangdarstellungsfähigkeit (=Technik)
Aus dieser Hierarchie ergibt sich für MAREK, dass Technik nur auf der Grundlage
einer Klangvorstellung erworben werden kann:
"Der Musizierende muß befähigt werden, alles, was er spielt, oder singt, inner-lich zu hören, und zwar ehe er es spielt oder singt. Jedes anders geartete 'Musi-zieren' ist inhaltlos und daher zwecklos. Wollte ein Musiklehrer seinen Instru-mental- oder Vokalunterricht mit der Förderung der Klanggestaltungskraft oder gar Technik beginnen, ohne auf den noch unentwickelten Zustand des Klangvorstellungsvermögens seines Schülers Rücksicht zu nehmen, so wären seine Bemühungen unzweckmäßig. Die Anweisungen und Anregungen, wel-che zur Steigerung des Ausdruckswillens und zur Differenzierung der musika-lischen Gestaltung führen, können, ähnlich wie der Lehrgang der Technik, erst dann ihren Zweck erfüllen, wenn der Stoff des Musizierens, also die Melodie,
94
der Rhythmus und die Harmonie der zu erlernenden Musikstücke, im Klang-vorstellungsvermögen des Musikschülers lebt bzw. durch Vermittlung des Klangvorstellungsvermögens zu seinem 'inneren Inhalt' geworden ist. Diese Forderung gilt für alle Unterrichtsstufen, ganz besonders ist sie aber für den Anfängerunterricht wichtig." (MAREK 1986, 36f.)
Eine ähnliche Meinung vertritt auch CARL ADOLPH MARTIENSSEN. Er setzt sich in
seinem Standardwerk Schöpferischer Klavierunterricht ebenfalls ausführlich mit
dem Problem der Ausbildung des Gehörs auseinander. MARTIENSSEN demonstriert
am Beispiel des jungen W. A. MOZART den von ihm (MARTIENSSEN) so genannten
Wunderkindkomplex. Daran versucht er zu verdeutlichen, wie MOZART als kleines
Kind an die Musik herangeführt wurde. Dieses Muster, dieser "Komplex", dient ihm
als Idealbild musikalischen Lernens, an dem sich seiner Meinung nach jeder Musik-
unterricht orientieren muss. MARTIENSSEN zitiert einen Brief des salzburgischen
Hoftrompeters SCHACHTNER an MOZARTs Schwester mit der Schilderung, wie
MOZART zum ersten Mal in einem Streichquartett die zweite Geige spielte, ohne
dieses Instrument jemals erlernt zu haben. Seine höchst konkrete Klangvorstellung
suchte und fand von selbst die richtigen Töne auf dem Griffbrett, wenn auch zu-
nächst
"[...] mit lauter unrechten und unregelmäßigen Applicaturen [...]." (MARTIENSSEN 1957, 3)
MARTIENSSEN beschreibt auch, wie Wolfgang seine ersten Erfahrungen am Klavier
sammelte:
"Über die Erlernung des Klavierspiels berichtet Schlichtegrolls Nekrolog nach Mitteilungen der Schwester: 'Die Tochter (die Schwester W.A. Mozarts) zeigte ein so entscheidendes Talent zur Musik, daß der Vater früh mit ihr den Unterricht im Klavier begann, dies machte auf den etwa dreijährigen Knaben einen großen Eindruck; er setzte sich auch ans Klavier und konnte sich dort lange mit dem Zusammensuchen von Terzen unterhalten, die er unter Freudenbezeugungen über seinen Fund zu-sammen anschlug; auch behielt er hervortretende Stellen der Musikstücke, die er hörte, im Gedächtnis. Im vierten Jahre seines Alters fing der Vater gleich-sam spielend an, ihn einige Menuette und andere Stücke auf dem Klavier zu lehren; in kurzer Zeit konnte er sie mit der vollkommensten Sauberkeit und mit dem festesten Takte spielen. Bald regte sich in ihm der eigene Schaffenstrieb, im fünften Jahre komponierte er kleine Stücke, die er seinem Vater vorspielte und von diesem zu Papier bringen ließ.'" (MARTIENSSEN 1957, 2)
95
Wolfgang konnte zu dieser Zeit noch keine Noten lesen.22 MARTIENSSEN zieht fol-
gende Schlussfolgerungen:
"Was ist nun das Wichtige an diesen Berichten? Das psychologisch und päd-agogisch Wichtigste ist, daß bei dieser musikalischen Frühentwicklung nicht das intellektuelle Lernen, sondern der Sinn, der Gehörssinn, der Klangsinn, im spielenden Sichbetätigen das primum agens ist. Die Grundlage gibt das von Musik erfüllte Haus. Klänge und Melodien speichern sich im Gehirn auf. [...] Suchend, und das ist das Wichtige, mit dem Gehörssinn suchend geht der Dreijährige ans Klavier und kann sich nicht genug tun in den neuen Ent-deckungen, die er hier macht." (MARTIENSSEN 1957, 3)
Auch nach MARTIENSSENS Meinung stellt ein solches Musizieren unter der Führung
des Gehörs in der Wirklichkeit der Musikpädagogik die Ausnahme dar. Ebenso wie
CZESLAW MAREK das Bilden der Klangvorstellung vor Wiedergabe von Noten kei-
neswegs für selbstverständlich hält und wie KARL LEIMER und MARGIT VARRÓ sich
in ihrer vom Ohr gesteuerten Lehrmethode als Ausnahme sehen: – ebenso bezeich-
net auch CARL ADOLPH MARTIENSSEN dieses vom Klangvorstellungsvermögen aus-
gehende Musiklernen als seltene positive Ausnahme. Als Normalfall im üblichen
Klavierunterricht und gleichzeitig Negativbeispiel stellt MARTIENSSEN (1957, 8)
22 Auch der Lernweg CLARA WIECKS zeigt eine eindeutige Priorität in der Ausbildung des Au-
ditiven vor dem Visuellen. Sie spielte erst jahrelang nach Gehör, bevor sie Noten lernte. MARTIN
GELLRICH berichtet:
"Sie begann erst zwischen dem vierten und fünften Lebensjahr, einzelne Worte zu sprechen,
wohl u. a. deshalb, weil sie in ihrer Kindheit einer 'wenig sprachseligen Magd' überlassen war.
Klavierspielen hörte sie jedoch sehr viel und bildete dadurch schneller ein Gehör für musikali-
sche Töne als für Sprache aus. Im vierten Lebensjahr begann sie unter Anleitung ihrer Mutter,
auf dem Klavier einige Übungen bei stillstehender Hand im Fünftonraum und außerdem leichte
Begleitungen nach dem Gehör zu Tänzen zu spielen. Die Doppelgleisigkeit der Lernmethode:
Passagenübungen und Spiel nach dem Gehör, wurde von ihrem Vater F. Wieck fortgeführt, bei
dem sie ab dem fünften Lebensjahr Unterricht hatte. 'Sie lernte zunächst stufenweise alle Tonlei-
tern in Dur und Moll rasch nach einander mit beiden Händen zusammen, sowie Dreiklänge in je-
der Lage und aus allen Tonarten. Zugleich ließ sie der Vater nach dem Gehör eine Menge eigens
für sie geschriebener kleiner Stücke einüben' (LITZMANN 1906, 6). Clara lernte gleichzeitig Kla-
vierspielen und Sprechen. Ähnlich wie das Gefühl für den Sprachrhythmus beim Mutterspra-
chenerwerb über das Nachahmen angeeignet wird, bildete Clara durch Imitation ihres Vaters
ziemlich rasch ein sicheres Taktgefühl aus. Die Berechnung der Takteinteilung lernte sie erst mit
acht Jahren, zugleich mit dem Bruchrechnen in der Schule, in einem Alter, in dem sie immerhin
bereits Hummels Konzert op. 73 bewältigte. Ähnlich wie das Lesen beim Muttersprachenerwerb,
spielte auch das Notenlesen bei Claras Musiklernen zunächst keine Rolle. Sie lernte das Notenle-
sen über das Schreiben und begann erst im ausgehenden sechsten Lebensjahr mit dem Spiel nach
Noten. Dank dieser Unterrichtsmethode lernte Clara schon sehr früh neben dem Spiel nach Noten
auch zu improvisieren und zu komponieren." (GELLRICH 1992, 78)
96
statt dessen ein Modell vor, bei dem die Bewegungsausführung rein visuell vom
Notenbild motiviert ist (siehe S. 99).
Sollte ein solches Musizieren in der Tat heute noch der Normalfall sein, und sollten
die zuletzt zitierten Äußerungen der Praktiker zutreffen, beruhte der gängige, von
visuellen Medien geprägte Klavierunterricht in der Regel, wie es CZESLAW MAREK
bereits auf Seite 93 formuliert hatte, auf "inhalts- und zwecklosem 'Musizieren'",
wobei der Begriff "Musizieren" dann zu Recht in Anführungszeichen erscheinen
würde.
Wie schwierig eine aktive Mitwirkung des Gehörs bei einem solchen Musikunter-
richt offensichtlich ist, geht unter anderem aus der Komplexität und Diffusität der
einzelnen methodischen Ansätze hervor, mittels derer die Autoren der Klavierpäd-
agogik dilettantisches, visuell-motorisches Spiel zu bekämpfen suchen. Auch die
Tatsache, dass sich die Autoren, wie im folgenden gezeigt werden soll, im Lösungs-
ansatz teils erheblich widersprechen, deutet auf grundsätzliche Schwierigkeiten.
MARGIT VARRÓ stellt die folgende Forderung auf:
"Die Noten sind nur als die Symbole bereits vorhandener Tonvorstellungen einzuführen [...]." (VARRÓ 1929, 40)
Zu diesem Zweck stellt sie eine Methode in fünf "Graden" vor, wie ihrer Meinung
nach richtiges Musiklernen erreicht werden kann. Diese Methode stützt sich stark
auf das Singen. Prinzipiell muss ein Ton immer vorher gesungen werden, bevor er
gespielt wird. Die Tonvorstellung wird erst Schritt für Schritt auf die Tastatur über-
tragen:
"Erster Grad. Hören – Nachsingen. (Rein gehörsmäßiges Memorieren mit Ausschluß visuel-ler und motorischer Vorstellungen.) [...] Zweiter Grad. Hören – Nachsingen – Spielen. (Gehörsmäßiges und motorisches Memorieren; visuelle Vorstellungen in Verbindung mit der Klaviatur.) [...] Dritter Grad. Vomblattsingen – Klavierspielen. (Visuell-auditiv-motorisches Memorieren.) [...] Vierter Grad. Notenlesen – Tonvorstellung – Klavierspiel. [...]
97
Fünfter Grad. Notenlesen – Memorieren in der Vorstellung – Klavierspiel ohne Noten." (VARRÓ 1929, 40ff.)
Die Methode von VARRÓ musste stark gekürzt wiedergegeben werden. Es handelt
sich um einen Exzerpt aus 14 Seiten. Der Umfang der Originaldarstellung deutet auf
die Komplexität der Methode und die hohe Bedeutung hin, die die Autorin dieser
Problematik beimisst. Dass die von MARGIT VARRÓ bearbeiteten Probleme bis heute
akut sind, geht auch aus der Tatsache hervor, dass noch im Jahr 1998 ein EPTA-
Kongress eigens zu dieser Thematik stattfand (vgl. FREY-SAMLOWSKY 1998).
Auch von CZESLAW MAREK (1986, 37f.) wird ausdrücklich das Singen, unter ande-
rem in Form von Solmisation, als unverzichtbares Hilfsmittel und Zwischenstufe
propagiert.
Mit Nachdruck spricht sich allerdings CARL ADOLPH MARTIENSSEN gegen die, wie
er sie bezeichnet, "Gehör-Sing-Schulung" aus:
"Es wird immer angenommen, daß der Gesangskomplex des schöpferischen Klangwillens auf den Instrumentalkomplex rein automatisch fördernd ein-wirke. D i e s e A n n a h m e a b e r i s t e i n I r r t u m . " (MARTIENSSEN 1957, 103)
Seiner Meinung nach kann das Problem, im Klavierunterricht die Klangvorstellung
des Schülers zu fördern, durch Singen nicht gelöst werden. Er ist statt dessen der
Überzeugung, dass
"[...] die beste Gehör-Sing-Schulung einer s c h l a f m ü t z i g - l a n d l ä u -f i g e n Klavierpädagogik n i c h t auf die Beine helfen kann [...]" (MARTIENSSEN 1957, 106),
weil es
"[...] zwei verschiedene Leitungswege sind, die von seinem Klang-Kraftzen-trum gespeist werden; und eine strenge Prüfung wird stets ergeben, daß entwe-der das Singen im Mittelpunkt des schöpferischen Klangwillens stand oder das Spielen – oder daß meistens beides nur halbe Intensität hatte. Man mache sich dieses Denkexperiment nicht zu leicht und prüfe objektiv! Und mit solchen sehr schwierigen Doppelkomplexen sollte der normale Klavierunterricht be-ginnen?" (MARTIENSSEN 1957, 107)
98
Der Konflikt zwischen Gegnern und Befürwortern des Singens als Vorstufe instru-
mentalen Musizierens kann an dieser Stelle nicht entschieden werden. Auch die Be-
deutung von Solmisation kann hier nur angedeutet werden. Ziel der ausführlichen
Darstellung war aber, zu zeigen, wie schwierig es im Klavierunterricht zu sein
scheint, das Klangvorstellungsvermögen auszubilden. Auch wenn alle methodischen
Zwischenstufen, wie von MARGIT VARRÓ vorgeschlagen, Anwendung gefunden
haben sollten, bleibt nichtsdestoweniger als Anschlußproblem die bange Frage, ob
das gerade geweckte Klangvorstellungsvermögen sich beim Notenspiel nicht bald
etwa wieder in das eben überwundene Schattendasein zurückziehen könnte. Dabei
bleibt auch die Kontrolle dieser Vorgänge durch den Lehrer ein grundsätzliches
Problem, das MARGIT VARRÓ folgendermaßen formuliert:
"Die Überwachung dessen, ob das innere Gehör des Schülers beim Notenspie-len mitwirkt oder nicht, ist eine mißliche Sache." (VARRÓ 1929, 46)
Auch die Motorik könnte nämlich beim reproduktiven Spiel stereotyp eingeübter
Stücke theoretisch eine fehlerlose Wiedergabe gewährleisten. Häufig scheitert eine
solche Spielweise allerdings, wenn die stereotype Motorik unter Einwirkung von
Nervosität oder äußeren Störungen destabilisiert wird.
Eine Deutung dieses offensichtlichen Kernproblems der Musikerziehung ist er-
staunlich einfach, wenn man sich die anthropologischen Grundlagen der betrachte-
ten Vorgänge vergegenwärtigt, wie sie der Medienwissenschaftler und Pädagoge
RAINALD MERKERT in seinem Aufsatz Zur Anthropologie des Hörens benennt. Er
beschäftigt sich dort mit dem Verhältnis des menschlichen Hörens zu anderen
Wahrnehmungsarten im Allgemeinen:
"Für Psychologen ist ebenso wie für Pädagogen und Anthropologen unbestrit-ten, daß alle Weltorientierung auf dem menschlichen Tast-Bewegungs-System beruht und daß Tastsinn und Gesichtssinn einander zugeordnet sind, beide ei-nen Sinneskreis bilden. Das Zusammenspiel von Hand und Auge macht es möglich, daß wir die im Hantieren mit den Dingen einmal begriffenen Eigen-schaften und Umgangsqualitäten ihnen später auch ansehen können." (MERKERT 1988, 759)
Zur Verknüpfung von Gehörsinn und Tastsinn beim Musizieren unter Nutzung visu-
eller Medien wäre damit, wie sich aus MERKERTS Bemerkung unzweifelhaft schlie-
ßen lässt, eine gewisse Überwindung von der Natur präferierter Strukturen erforder-
lich. Eine Musikpädagogik, die sich aber vorwiegend auf schriftliche Medien und
damit auf den visuell-haptischen Sinneskreis stützt, festigt demnach ohnehin begün-
99
stigte Verknüpfungen unter Umgehung des Gehörsinnes und kann so in der Regel23
nicht zu schöpferischem Musizieren führen. CARL ADOLPH MARTIENSSEN stellte die
psychischen Vorgänge beim durchschnittlichen Klavierspiel, wie er sie sich vor-
stellte, dem Ideal des "Wunderkindkomplexes" schematisch folgendermaßen gegen-
über. Dabei stellen die beiden ersten Schemata den Idealfall vor und nach dem No-
tenlernen dar. Das dritte Schema steht für durchschnittlichen Musikunterricht als
Negativbeispiel:
Abb. 19: Spielfunktion vor dem Notenlernen (nach MARTIENSSEN 1957, S. 5).
Abb. 20: Verhältnis der Sphären beim Wunderkindkomplex, also beim richtig
ausgebildeten Spieler, nach dem Lernen der Noten (nach MARTIENSSEN 1957, S. 7).
23 Diese Konstellation begünstigt damit die Ausnahmestellung "musikalischer Begabung" in von
Schriftlichkeit beherrschter Kultur.
100
Abb. 21: Verhältnis der Sphären beim durchschnittlich ausgebildeten Spieler (nach
MARTIENSSEN 1957, S. 7).
Obwohl die Fragwürdigkeit schriftlicher Vermittlung in der musikpädagogischen
Diskussion des 20. Jahrhunderts, wie gezeigt wurde, erkannt und regelmäßig thema-
tisiert wurde, ist die Herrschaft der visuellen Methode in der Musikerziehung bis-
lang ungebrochen. Dieser Widerspruch, einerseits für den Gehörsinn die unzweifel-
hafte Führung beim Musizieren zu reklamieren, ihn andererseits aber in der Praxis
nicht hinreichend bedienen zu können, findet seine Fortsetzung in den Äußerungen
der Praktiker zum Thema "Technik". Auch hier besteht zunächst einhellige Überein-
stimmung der Autoren in der Ansicht, dass Spieltechnik keine äußerlich-mechani-
sche Angelegenheit sei, wie sie noch Ende des 19. Jahrhunderts gesehen wurde,
sondern Teil einer vom Ohr dominierten Ganzheit. Folglich beruhen auch spieltech-
nische Probleme nach Meinung aller maßgeblichen Autoren vorwiegend auf unzu-
reichend ausgebildetem Klangvorstellungsvermögen. Es kann, wie im folgenden
gezeigt werden soll, als gängige Lehrmeinung angesehen werden, dass Technik es-
senziell mehr ist als das, was von außen, etwa in Form von Fingerbewegungen,
wahrgenommen werden kann, vielmehr wesentlich auf psychischen Vorgängen be-
ruht. So betont KARL LEIMER in seinem Buch Modernes Klavierspiel nach Leimer-
Gieseking, dass die Konzentration auf das Klangergebnis die beste technische
Schulung sei:
"Das ununterbrochene Hinhören auf die gespielten Töne, die Kontrolle über die exakte Ausführung: das ist der Weg, der schnell und sicher zur ausgefeilte-sten Technik führen muß. Die Finger sind Diener des Kopfes; was ihnen der Kopf befiehlt, führen sie aus. Ist sich also der Kopf durch ein gut geschultes Ohr über die Ausführung klar, so wird der Finger dieselbe wiedergeben. Auch die schwierigsten technischen Probleme werden in diesem Fall von den Fin-gern in ganz kurzer Zeit, manchmal direkt oder in wenigen Minuten, gelöst [...]." (LEIMER 1931, 18)
101
An anderer Stelle fasst er diese ganzheitliche Auffassung folgendermaßen zusam-
men:
"Technik ist ein Produkt der Geistesarbeit!" (LEIMER 1931, 6)
Im selben Geist wie KARL LEIMER versucht JOZSEF GAT in seinem Buch Die Tech-
nik des Klavierspiels die häufig irrtümlich als Hauptproblem angesehene Schnellig-
keit des Spiels zu entmystifizieren:
"Diese Jagd nach Schnelligkeit ist überhaupt nicht begründet. Unsere Muskeln und Nerven sind auch ohne besonderes Üben zu außerordentlich schneller Ar-beit befähigt, zu viel schnellerer Arbeit, als sie selbst der größte Klaviervir-tuose braucht. Die Aufgabe besteht nur darin, diese Schnelligkeit anwendbar zu machen [...]. Hier muß allerdings immer wieder betont werden, daß die wichtigste Voraussetzung für die Schnelligkeit des Spiels die Schnelligkeit der musikalischen Vorstellung ist." (GAT 1965, 102)
Auch GÜNTHER PHILIPP betont in seinem 1984 in der DDR erschienenen Buch Kla-
vier, Klavierspiel, Improvisation die Bedeutung der Klangvorstellung für die Bil-
dung von Technik:
"Wenn wir kein einwandfreies Spiel erreichen, kann der Fehler auch im ersten Punkt unserer Übersicht liegen: in unklarer oder fehlender Klangvorstellung, die oft auf mangelhafter Bedeutungserfassung des Werkes beruht. Das fängt beim verständnislosen Lesen des Notenbildes an und geht bis zu dürftigen klanglichen Erinnerungsbildern. Deshalb sind theoretisches Verstehen, Ausbil-dung des Klangbewußtseins und des Formgefühls sowie reichliches b e -w u ß t e s Hören von Musik so außerordentlich wichtig für die pianistische Ausbildung. [...] Ich hoffe, es ist spätestens an dieser Stelle deutlich geworden, daß der Schwerpunkt des Übens und Unterrichtens in der geistigen Vorberei-tung auf das Spiel zu suchen ist." (PHILIPP 1984, 88)
Nach RENATE KLÖPPEL sind Leistungsgrenzen eher durch geistiges Üben anstatt
Fingerübungen zu überwinden:
"Üben vollzieht sich vor allem im Kopf und weniger in den Fingern." (KLÖPPEL 1993, 17)
KURT SCHUBERT schreibt in seinem Büchlein Die Technik des Klavierspiels:
102
"Umso reicher und charakteristischer werden die den Klang erregenden Spiel-bewegungen ausfallen, je reicher und phantasievoller die Vorstellungswelt be-lebt ist, aus der der reale Klang geboren werden soll, und je intensiver der Klangwille ist, der den Spieler beseelt." (SCHUBERT 1954, 8)
JOZSEF GAT betont die Gefahr motorischen Musizierens mit der Trennung der Be-
wegung von der Klangvorstellung:
"Unter dem Vorwande der Entwicklung der Schnelligkeit trennen sich ihre Bewegungen von ihrer musikalischen Vorstellung und verhindern so, daß ihre Technik tatsächlich im Dienst der Musik steht." (GAT 1965, 102)
Zur Bekämpfung dieses Grundübels und zur Wiedergewinnung des verlorengegan-
genen "Herzstücks" des Musizierens wird in jüngerer Zeit vermehrt die (Wieder-)
Einführung von Improvisation in den Instrumentalunterricht gefordert. Dies erfolgt
gemäß der Annahme, dass beim Improvisieren, anders als beim reproduzierenden
Spiel, die eigene Klangvorstellung unabdingbare Voraussetzung zur Tonerzeugung
ist. In den Jahrgängen 1995 und 1996 der Zeitschrift Üben & Musizieren erschienen
insgesamt sechs Aufsätze, die sich mit dem Thema Improvisation24 befassen, 1999
wurde diesem Thema gar ein ganzes Heft gewidmet25. Damit ist dieses Themenge-
biet eines der meistdiskutierten. In diesen Veröffentlichungen werden Hoffnungen
artikuliert, improvisatorischer Instrumentalunterricht könne entscheidende Defizite
der herkömmlichen Methoden kompensieren. Sämtliche, insbesondere bislang defi-
zitäre musikalische Lernziele tauchen auf, wenn es darum geht, Argumente für Im-
provisation zu finden. WOLFGANG BRUNNER setzt in seinem Aufsatz Improvisieren
wozu? große Hoffnungen in improvisatorisches Musiklernen:
"Es liegt noch ein großes und lohnendes Aufgabenfeld für die Instrumental-Musikpädagogik vor uns, das bisher viel zu wenig angegangen wurde." (BRUNNER 1996, 35)
Auch ANSELM ERNST nennt in seinem Buch Lehren und Lernen im Instrumental-
unterricht den folgenden umfangreichen Themenkomplex:
"Improvisation ist – zumindest im Unterricht mit Kindern – ein Lernfeld, des-sen psychologische und methodologische Bedeutung kaum überschätzt werden
24 BIESENBENDER (1995), PHILIPP (1995), BRUNNER (1995), WIEDEMANN (1996), BRUNNER
(1996), CHMEL (1996). 25 Heft 2.
103
kann. [...] Und was das Improvisieren methodisch bereithält – als Lernmethode für Technik, Musiktheorie, Ausdrucksschulung und Zusammenspiel –, ist noch nicht annähernd ausgeschöpft." (ERNST 1991, 50)
GÜNTHER PHILIPP weist folgendermaßen auf positive Transfereffekte der Improvi-
sation auf wesentliche musikalische Ausbildungsziele hin:
"Improvisation fördert Interpretation und Musikverständnis, Musikverständnis fördert Interpretation und Improvisation, ständige ausschließliche Interpreta-tion 'genau nach Vorschrift' führt zur künstlerischen und persönlichen Verar-mung." (PHILIPP 1984, 406)
Dass als Folge rein reproduktiver Ausbildung eine solche Verarmung nicht nur bei
Pianisten zu beobachten sei, sondern auch bei Streichern, obwohl diese aufgrund
aufwändigerer Tonerzeugung eine exaktere Klangvorstellung beim Spiel zu benöti-
gen scheinen, beklagt der Frankfurter Celloprofessor GERHARD MANTEL. Er hält
Improvisation für notwendig auch in der Ausbildung klassischer Musiker, die seiner
Meinung nach sonst auch bei der Interpretation erhebliche Defizite hätten:
"Warum soll eigentlich ein Kind nicht improvisieren? Nur weil der Lehrer es nicht kann? In einem Symposium über Gruppenunterricht wurde vor kurzem von einem offenbar unfähigen Klavierlehrer höhnisch vom 'improvisierenden Klavierlehrer' gesprochen! Gerade das Kind hat auf diesem Gebiet viel weni-ger Hemmungen als die meisten Erwachsenen. Beim Improvisieren kann man ja gerade in Bezug auf den Text, dessen Kritik sonst immer im Vordergrund steht, nichts falsch machen. Die damit gewonnene Freiheit schlägt sich fast immer als großer Gewinn bei allem nieder, was mit Tonqualität zu tun hat: Strichverlaufskurve, Dynamik, Farbe – alles erscheint freier als bei der 'mög-lichst richtigen' Umsetzung von vorgegebenen gedruckten Noten. Beim Improvisieren werden außerdem Intervalle mit Bewegungen in Bezie-hung gebracht, statt mit gedruckten Symbolen; ganz spielerisch werden so auf diesem wichtigen Sektor bedeutende Fortschritte möglich. Was wird hier nicht alles versäumt! Bei meinen letzten Aufnahmeprüfungen waren zehn von zwölf Hauptfachkandidaten, die mit schweren Werken der Celloliteratur anrückten, nicht in der Lage, ein Kinderlied, das alle kannten (Alle Vögel sind schon da), in Es-Dur auf dem Cello fehlerfrei zu spielen, wobei weder an Tonschönheit noch an Intonation irgendwelche Anforderungen gestellt waren. Warum sollen all die Parameter, die sozusagen frei verfügbar sind für Fortschritte, dem Um-stand geopfert werden, daß ein Schüler bei der Erfassung eines gedruckten Textes vielleicht noch Schwierigkeiten hat? Er wird auch die Texterfassung ei-nes Tages lernen, allerdings dann auf dem Niveau des flexiblen, freien Spiels statt auf dem einer dürren Pflichterfüllung Ton für Ton." (MANTEL 1994, 17)
104
HERBERT WIEDEMANN setzt sich in seinem Aufsatz Improvisierendes Lernen als
Weg zum Life-Time-Spielen mit dem Problem auseinander, dass viele Erwachsene
im Nachhinein vom Instrumentalunterricht deshalb enttäuscht sind, weil sie keinen
Zugang vermittelt bekamen, der ihnen die dauerhafte Fähigkeit zum Musizieren ge-
schaffen hätte. Wie der Titel bereits verrät, sieht HERBERT WIEDEMANN in der Im-
provisation auch hierfür einen Lösungsansatz:
"In einer Befragung, welche Erwartungen sie an einen geglückten [...] Instru-mentalunterricht hatten, bestand im Wesentlichen Einmütigkeit über drei Bereiche: 1. Das Instrumentalspiel sollte dazu führen, sich selbst musikalisch ausdrücken zu können. 2. Das Instrumentalspiel soll dazu dienen, 'klassische Musik' intensiver zu er-fahren und zu erleben. 3. Das Instrumentalspiel sollte Medium sein, sich seine Hörwelt tätig aneignen zu können. Die Unterrichtspraxis zeigt, daß sich diese drei Lernbereiche nicht durch me-chanische Einübung eines Notentextes einlösen lassen. Ein Klavierspiel, das vorwiegend von der Auge-Hand-Koordination getragen wird, führt dazu, daß die Schüler/innen nur greifen, ohne zu begreifen. Das Ohr hat dabei nur noch die Funktion, zwischen falsch und richtig zu unterscheiden. Ein Unterricht, der die Umsetzung der drei oben genannten Bereiche anstrebt, muß Gelegenheit bieten, daß sich die Lernenden Musik am Klavier hörend bzw. horchend und begreifend erschließen. Nur auf diese Weise wird die innere Klangvorstellung entwickelt und das Begreifen von Sinnzusammenhängen gefördert: Beide Lernfelder bilden unumgängliche Voraussetzungen dafür, daß sich Lernende musikalisch selbst ausdrücken, Stücke nach Gehör spielen und komponierte Stücke eigenständig gestalten und interpretieren können. [...] Als methodischer Weg, diese drei Lernziele in der Unterrichtspraxis einzulö-sen, bietet sich das Improvisierende Lernen an. Dabei bildet nicht eine notierte Komposition und deren Gestaltung bzw. Interpretation am Instrument den Fo-kus des Klavierspiels, sondern gestaltungsoffene, melodische, harmonische und rhythmische Strukturen. Sie werden anhand von Vorspielen und Imitieren – durch Horchen und Hören – und anhand von Zeigen und Erklären – durch Greifen und Begreifen – vermittelt." (WIEDEMANN 1996, 13f.)
Sollten solche Inhalte von Vorspielen, Horchen und Imitieren wieder zu grundle-
genden Bestandteilen des Instrumentalunterrichts werden, rückten in der Tat Klang-
vorstellungsvermögen und Gehör und damit die Einheit aus Erfinden und Ausfüh-
ren, von Denken und Spielen (so der Titel einer Veröffentlichung: UHDE & WIE-
LAND 1989) wieder in den Mittelpunkt musikalischen Tuns.
105
Eine praktische Realisierung unter gegebenen Unterrichtsbedingungen wirft aber
grundsätzliche Fragen auf. Nicht nur der persönliche Kontakt zwischen Schüler und
Lehrer ist heute unmöglich wieder auszubauen, wie es erforderlich wäre, um die ge-
forderten Inhalte etwa durch täglichen Unterricht wie im 17. und 18. Jahrhundert
(vgl. Abschnitt 2.1) zu vermitteln. Auch der Verlust der Fähigkeit des Improvisie-
rens in der klassischen Musiktradition stellt keine günstige Voraussetzung dar.26
Darüber hinaus scheint es, als sei, wenn allenthalben der Modebegriff "Improvisa-
tion" als Allheilmittel zur Bekämpfung bekannter Defizite beschworen wird, in
Wirklichkeit der Oberbegriff gemeint: das Spiel nach dem Gehör. Und dieses kann
keineswegs automatisch auf den Teilbereich der Improvisation reduziert werden,
sondern beinhaltet – insbesondere in der Lernphase – die auditive Nachahmung. So
kann es nicht verwundern, dass die erwähnte Flut von Veröffentlichungen zum
Thema Improvisation bislang weitgehend im luftleeren Raum stattfand und kaum
Auswirkungen auf die Unterrichtspraxis hatte.
In jüngerer Zeit wurde aber der grundsätzliche Zusammenhang zwischen einseitiger
Medienorientierung und improvisatorischem Defizit erstmals in einer musikpädago-
gischen Zeitschrift thematisiert. So schrieb ULRICH MAHLERT im Vorwort zum The-
menheft Improvisation von Üben und Musizieren im April 1999:
"Kein Zweifel: Wer heute improvisieren lernen will, der findet durchaus ein vielfältiges didaktisches Material vor. [...] Seit drei Jahrzehnten ist das Lern-feld Improvisation von der schreibenden Zunft gründlichst beackert worden. Aber offenbar reicht das nicht, führt die Publikation immer neuer Lehrwerke nicht zum gewünschten Erfolg, vermögen diese nicht zu halten, was sie in be-ster Absicht versprechen. [...] Dabei empfinden manche Lehrkräfte durchaus einen Nachholbedarf und versuchen, sich über Lehrwerke weiterzubilden. Aber oft genug gelangen sie dabei vor allem zu der frustrierenden Einsicht, dass das 'Spielen ohne Noten' nur schwer ausschließlich über Noten und Worttexte zu erlernen ist. Es bedarf zumindest einer Ergänzung durch Fortbil-dungsveranstaltungen, die inzwischen glücklicherweise keine Seltenheit mehr sind. (MAHLERT 1999, 1)
Grundsätzliche Fragen des Verhältnisses von visueller zu auditiver Informationsdar-
bietung – und damit zwangsläufig der Medienperspektive – werden damit aufgewor-
fen. Soll der primäre Sinneskanal bei der Vermittlung des Musizierens vom Auge
auf das Ohr übergehen, so müsste eigentlich das schriftliche Medium an Einfluss in
26 Die beiden Begriffe Klassik und Improvisation bilden von vorn herein ein Gegensatzpaar. Eines
der konstituierenden Elemente des Klassikbegriffs liegt in der Suche nach bleibenden Werten;
dagegen beruht Improvisation auf der Gegenwartsperspektive (wörtlich: "unvorhergesehen").
106
der Musikerziehung abgeben und interaktive, insbesondere auditive Medien an Ge-
wicht gewinnen.
Eine solche Verlagerung des Schwerpunkts hätte allerdings weit reichende Auswir-
kungen, insbesondere auf die Anforderungen an Musikpädagogen. Fortbildungsver-
anstaltungen, wie von ULRICH MAHLERT erwähnt, können nur ein Anfang sein. In
letzter Konsequenz würde die geforderte Wiedereinführung der Improvisation neben
dem Wechsel vom visuellen zum auditiven Sinneskanal auch eine Neuordnung der
Musiklehrerausbildung erfordern. Denn schon die vielfach geforderte Improvisation
kann nicht die geforderte Bedeutung gewinnen, solange die seit der Mitte des 19.
Jahrhunderts getrennten Aufgabengebiete Komposition und Interpretation katego-
risch weiterbestehen und die Musiklehrerausbildung sich auf den zweitgenannten
Teilbereich konzentriert. Jeder, der nicht nur sehr oberflächlich improvisieren will,
muss sich auch mit Kompositionslehre befassen, in täglicher schöpferischer Praxis
und weit über die bestehenden "theoretischen" Lehrinhalte in Tonsatz (vgl. S. 65)
hinaus. Was bei den zitierten Fürsprechern unter dem Stichwort Improvisation fir-
miert, muss nämlich – nur so können die erhofften Effekte erzielt werden – letztlich
gleichgesetzt werden mit einer viel umfassenderen musikalischen Ausbildung des
Ohrs im Sinne der verlorengegangenen Virtuosität im weiten Sinn, wie sie in Kapi-
tel 2.1 dargestellt wurde.
Die Tatsache, dass Improvisation nichts Willkürliches ist und nicht losgelöst von
Komposition betrieben werden kann, wurde bereits angedeutet, ist heute aber,
ebenso wie die Praxis der Improvisation selbst, vielfach in Vergessenheit geraten
und muss deshalb nachdrücklich betont werden. Bedeutende Musiker bieten sich als
Zeugen für diese enge Verschränkung von Improvisation und Komposition an. Wie
bereits in Abschnitt 2.1 erwähnt, bezeichnet C. PH. E. BACH das improvisatorische
Verzieren von Kadenzen als
"[...] eine Composition aus dem Stegereif." (BACH 1753/1994, 131)
Auch ARNOLD SCHÖNBERG kann zur Richtigstellung bemüht werden. Komposition
und Improvisation unterscheiden sich nach seiner Aussage nur durch den Zeitfaktor.
Er bezeichnet eine Komposition als
"[...] verlangsamte Improvisation." (zit. nach BIESENBENDER 1995, 8)
Ähnlich äußert sich der amerikanische Jazz-Pianist KEITH JARRETT:
"'Ich habe', sagte Jarrett einmal, 'eigentlich nie einen so großen Unterschied ge-sehen zwischen dem, was ich improvisiere und dem, was ich komponiere. Im-
107
provisation ist doch einfach ein beschleunigter Prozeß der [sic] Komponierens, der keinerlei nachträgliche Korrekturen oder Änderungen oder Auslassungen erlaubt [...].'" (RÜEDI 1985, 196)
FERRUCCIO BUSONI meinte gar, dass die schriftliche Notation nichts anderes sei als
ein Notbehelf, um Improvisation festzuhalten:
"Die Notation, die Aufschreibung, von Musikstücken ist zuerst ein ingeniöser Behelf, eine Improvisation festzuhalten, um sie wiedererstehen zu lassen." (BUSONI 1917, 20)
Der Kompositionsvorgang unterscheidet sich von Improvisation demnach haupt-
sächlich in der Loslösung vom Zeitfaktor und gewinnt somit, wie CHRISTIAN
KADEN betont, einen Freiheitsgrad hinzu:
"Daß der Improvisator ungebundener hantiere als der Komponist, steht nicht fest; man kann sogar der entgegengesetzten Auffassung huldigen und der kompositorischen Entscheidungsfindung einen sprunghaften Freiheitszuwachs bescheinigen." (KADEN 1993, 47)
Wer fantasiert, befasst sich implizit mit Komposition. Und wer improvisieren kann,
ist im Prinzip Komponist – bis ins 19. Jahrhundert hinein eine solche Selbstver-
ständlichkeit, dass die folgende Bemerkung FRIEDRICH WIECKS aus einem Brief an
seine Frau nicht der geringsten Erläuterung bedurfte:
"Gestern hat Klara vor den allerfeinsten Kennern Dresdens gespielt [...]. – Daß sie komponieren könnte, wollte aber niemand glauben, weil es bei Frauenzim-mern von dem Alter noch niemals dagewesen. Als sie aber über ein aufgege-benes Thema phantasiert hatte, so war alles außer sich." (FRIEDRICH WIECK: Brief an CLEMENTINE WIECK vom 19. März 1830, in WIECK 1968, 27)
Diese Zusammenhänge sind für viele Musikpädagogen der Gegenwart allerdings nur
sehr schwer nachvollziehbar. Die einseitige Ausrichtung auf schriftliche Informa-
tionsträger und damit auf die Reproduktion hat dazu geführt, dass heute in der
Instrumentalpädagogik in der Regel entgegengesetzte Ansichten vorherrschen. Im
Gegensatz zu den zitierten Musikern wird nämlich von Musikpädagogen vielfach
die umgekehrte Hierarchie vertreten, die CHRISTIAN KADEN folgendermaßen
charakterisiert:
108
"Durchaus zum guten Ton gehört es bereits, Improvisation zwar als Grund- und Elementarprinzip musikalischer Gestaltgebung anzuerkennen, zugleich je-doch zum bloßen Negativ abzuwerten: zum Gegenbild von Komposition. Sie [...] stelle [...] sozusagen Komposition eines niederen Grades dar, noch ohne schriftliche Fixierung vor allem, auf 'entwicklungsgeschichtlich frühe[r] Stufe'." (KADEN 1993, 47)
Diese Umkehrung von Werten entspringt direkt den Verirrungen der Virtuosenju-
beljahre des 19. Jahrhunderts (vgl. S. 56) in Verbindung mit einer Monokultur der
Schriftlichkeit und fiel im Umfeld damaliger weiblicher Erziehungsideale auf
fruchtbaren Boden. In dieser Tradition wird sie bis heute weitergetragen. Wie fremd
Improvisation, Komposition und ganzheitliche Ansätze, die zur Wiedererlangung
des verlorengegangenen "Herzstücks" des Musizierens aber unabdingbar erforder-
lich wären, auch im vergangenen Jahrzehnt noch gerade in der Musikpädagogik zu
sein schienen, verdeutlicht auch ein Blick auf den Bericht der Neuen Musik-Zeitung
vom EPTA-Jahreskongreß 1994 über den Vortrag des US-amerikanischen Pianisten
und Klavierpädagogen SEYMOUR BERNSTEIN. Den Formulierungen der Berichter-
statterin ist deutlich spürbar ein gewisses Unbehagen bei der Zusammenfassung sei-
ner Gedanken zu entnehmen:
"Mit Spannung wurde der Vortrag von Seymour Bernstein 'With your own two hands: Lecture-master Class' [sic] erwartet. Mit viel Humor stellte Bernstein – Pianist, Lehrer, Komponist – sein 1993 in der Übersetzung von Gerhard Schroth erschienenes Werk 'Mit eigenen Händen' dem Publikum vor. [...] Als zweiten Schwerpunkt äußerte er, es müsse die Kreativität des Schülers als ein wesentlicher Unterrichtsschwerpunkt zu beachten sein, und demzufolge müsse der Lehrer einsehen, daß Improvisation und sogar eigene Kompositio-nen für jeden Schüler und Studenten ein 'Muß' seien." (FREY-SAMLOWSKI 1994, 14)
Insbesondere das Wörtchen "sogar" markiert die in Frage stehende, in der Musik-
pädagogik aber verbreitete Hierarchie zwischen Komposition und Improvisation.
Auch das Verb "einsehen" deutet zumindest auf unterstellten Widerwillen unter
Pädagogen. Aber auch wenn er es "einsieht": wie soll der Lehrer etwas vermitteln,
das er selbst nicht gelernt hat?
So lange Irrtümer über das Verhältnis von Improvisation und Komposition weiter
bestehen, birgt auch ein Improvisationskonzert auf der Tagung eines Klavierlehrer-
verbandes einige Brisanz. Im Wissen, mit einem solchen Konzert an den Grund-
festen hundertjähriger Unterrichtstradition zu rütteln, sah sich GÜNTHER PHILIPP
genötigt, in der unteren Hälfte des Programmzettels seines Improvisationsabends auf
109
einer EPTA-Tagung am 1. November 1996 die folgende Erklärung abdrucken zu
lassen:
"Die Improvisation wurde in ihrer künstlerischen und pädagogischen Bedeu-tung erst in unserer Zeit voll erkannt als ein eigenständiges Schaffensgebiet. Sie kann neue Musik hervorbringen, die in ihrer hohen Komplexität, Zufalls-bedingtheit und Reaktionsnotwendigkeit so niemals komponiert (notiert) wer-den könnte. Das Risiko des unabgesicherten virtuosen Spiels, das Wagnis des (im Detail oder insgesamt) nicht festgelegten Ablaufs und völlig offenen Klangprozesses, die ästhetische Balance zwischen Chaos und Ordnung und die unerläßlichen blitzschnellen Entscheidungsprozesse ohne Korrekturmöglich-keit – all das sind Schwierigkeiten, die zugleich den besonderen Reiz der Im-provisation bedingen. Der Hörer wird unmittelbarer Zeuge eines schöpferi-schen Geschehens. Die Spannweite reicht vom frei unbewußten Selbstausdruck (Emotionsverlauf) bis hin zu geistig disziplinierter konzentrativer Durchset-zung eines immanenten Spielkonzepts und Formkalküls." (EPTA-Dokumenta-tion 1996, 74)
Aus jedem Satz dieser Erklärung spricht ein tiefes Bedürfnis nach Rechtfertigung
und Richtigstellung. Dass aber derartige Erklärungen auf einer musikpädagogischen
Verbandstagung heute erforderlich sind, belegt das Vorhandensein von fundamen-
talen, auf der Schriftlichkeit der Unterrichtstradition sich gründenden Missverständ-
nissen. Ein Zurechtrücken dieser Missverständnisse erschüttert aber wiederum die
Grundfeste der "soliden Ausbildung" (vgl. S. 61), stellt es doch die Vorherrschaft
der visuell-reproduzierenden Unterrichtsmethode in Frage.
Wenn also allenthalben improvisierendes Lernen gefordert wird, um bekannte und
benannte Defizite der Musikpädagogik auszugleichen, wäre damit zwangsläufig ein
Richtungswechsel verbunden hin zu einer im ursprünglichen Sinn virtuosen Musik-
pädagogik unter Wiedergewinnung des "Herzstücks" (S. 66) des Musizierens. Die-
ser Richtungswechsel erfordert aber einen Wechsel der Medienperspektive. Die
Vorherrschaft der reproduzierenden Schriftlichkeit in der Musikerziehung ist mit
diesem ganzheitlichen Ansatz kaum vereinbar. Die visuell geprägte Weltsicht des
19. Jahrhunderts, welche die westliche Instrumentalpädagogik bis heute dominiert,
wäre auch auf der Medienebene wieder zu ersetzen, zumindest aber zu ergänzen
durch diejenige, die ursprünglich jedes musikalische Tun bestimmt und die in allen
weniger von Schriftlichkeit geprägten Kulturen nie in Gefahr war: die Führungsrolle
der Klanglichkeit, auch was den Medienkanal betrifft.
Keine der einmaligen Errungenschaften der abendländischen Musikkultur, weder die
Möglichkeit der kompositorischen Festlegung und Überlieferung noch die Mehr-
stimmigkeit wären ohne die schriftliche Codierung möglich gewesen. Eine gewisse
110
Elitebildung und Abspaltung von "plebejischen Traditionen" (KADEN 1993, 185),
auch in Form des beschriebenen Dilettantismus, war aber unvermeidbare Folge die-
ses medialen Zwischenschritts auf der Suche nach einer Verbreitung aktiven Musi-
zierens in der Gesellschaft. Inzwischen bieten neue Medien, die den Umgang mit
musikalischer Komplexität erstmals mit dem direkten Zugriff auf klangliche Struk-
turen verbinden, zukunftsweisende Perspektiven.
2.6 Zwischenergebnis
Schon lange ist die Musikpraxis entscheidend von Medien geprägt. Insbesondere der
Übergang von der professionellen, handwerklichen Musizierpraxis vor 1800 zum
ausgebreiteten Dilettantismus des 19. Und 20. Jahrhunderts wäre ohne einschnei-
dende medientechnologische Veränderungen nicht möglich gewesen. Erst lithogra-
phische Druckverfahren ermöglichten die Verbreitung des Klavierspiels im 19.
Jahrhundert als Massenphänomen. Bereits hier zeigen sich enorme Rationalisie-
rungseffekte bei der Vermittlung. Damit verbunden ist aber auch eine Tendenz zum
oberflächlichen Umgang mit musikalischen Strukturen. Die Funktion des Klaviers
als Wiedergabemedium im Wohnzimmer des 19. Jahrhunderts verlangte zunächst
nur Reproduktion möglichst präziser Drucksachen. Die mit diesem oberflächlichen
Umgang verbundene Abwertung des Dilettantismus zum Negativum gegen Ende des
19. Jahrhunderts steht mit einer dominierenden visuellen Mediensphäre gegenüber
der (nicht vorhandenen) auditiven in direktem Zusammenhang.
Auf der anderen Seite prägte sich auf dieser medialen Grundlage eine dezidierte In-
terpretationskultur heraus, die vor zweihundert Jahren noch unvorstellbar war.
Gleichzeitig ging die Verbindung zwischen Erfinden und Ausführen verloren, die
Arbeitsteilung in Komposition und Interpretation vollzog sich, auch dies ein Resul-
tat medialer Veränderungen. Damit verlor auch Improvisation ihre Grundlage. Das
klassische Musizieren ist bis heute stark medial geprägt, und die Abhängigkeit von
Noten ist in der traditionellen Ausbildung maximal.
Bemühungen der modernen Musikpädagogik, diese Abhängigkeit zu mindern,
scheitern häufig an dieser fest verwurzelten Medienbindung, die bislang kaum in
Frage gestellt wurde, aber auch an mangelnden Alternativen. Doch welche Bedeu-
tung kommt der aktuellen digitalen Medienrevolution in diesem Zusammenhang zu?
111
3 Medienwissenschaftliche Grundlagen
Entscheidende Veränderungen der Medientechnologie vollziehen sich gegenwärtig
nicht mehr auf dem Gebiet der Drucktechnik, sondern der elektronischen Medien.
Im Anschluss an den historischen Teil, in dem den schriftlichen Medien besondere
Aufmerksamkeit gewidmet wurde, soll in diesem Abschnitt die Entwicklung audio-
visueller Medien aufgegriffen werden.
3.1 Die Medienthematik in der klassischen Klavierpädagogik
In der musikpädagogischen Literatur ist das Thema Medien bislang unterrepräsen-
tiert, in den meisten Werken der klavierpädagogischen Literatur bleibt es ausgespart.
Dies entspricht der Tatsache, dass die technische Entwicklung auditiver Medien erst
mit dem zwanzigsten Jahrhundert begann. Während der Gebrauch von schriftlichen
Medien in Notenform derart selbstverständlich ist, dass er nie gesondert thematisiert,
ja meist nicht einmal als solcher erkannt wird, nehmen andere Arten von Medien
einen marginalen Raum in der Literatur ein. Im folgenden sollen die seltenen Äuße-
rungen von Klavierpädagogen zum Thema Medien weitgehend unkommentiert zu-
sammengefasst werden, um die Bandbreite aufzuzeigen, in welcher sich die Mei-
nungen bewegen. Dabei lassen sich folgende Themenbereiche unterscheiden:
Hören von Aufnahmen bedeutender Interpreten
Der größte Teil der seltenen Fälle, in denen in der klavierpädagogischen Literatur
auf auditive Medien Bezug genommen wird, betrifft die Möglichkeit, durch das Hö-
ren von Aufnahmen sich mit Interpretationen unterschiedlicher Pianisten vertraut zu
machen. Von den meisten Autoren wird es als entscheidende Chance der elektri-
schen Schallaufzeichnung erachtet, berühmte Interpreten auch außerhalb des Kon-
zertsaals zu hören. Bereits in der Frühzeit der elektromechanischen Schallaufzeich-
nung, gegen Ende des vorletzten Jahrhunderts, wurde dieser damals noch weit in die
Zukunft weisende Aspekt in einem Artikel von HEINRICH DESSAUER in der Zeit-
schrift Der Klavier-Lehrer aufgegriffen:
"Durch den Phonographen wäre es nun möglich, jungen Musiklehrern und Konzertspielern die Leistungen der ausübenden Tonkünstler der ganzen Welt
112
zugänglich zu machen. Wir müssten in die innerste Werkstatt des Meisters in dessen Lehrstube wandern!" (DESSAUER 1892, 264)
Auch HEINRICH NEUHAUS hält in seinem um die Mitte des 20. Jahrhunderts ver-
fassten Buch Die Kunst des Klavierspiels die Tatsache, dass nun jedermann freien
Zugang zu vorbildlichen Interpretationen hat, für einen bedeutsamen Fortschritt. Er
vertritt darüber hinaus die revolutionäre Ansicht, dass sogar der Unterricht an Kon-
servatorien vom Plattenhören verdrängt werden könnte:
"Für talentierte und fortgeschrittene Pianisten sind Plattenaufnahmen augen-blicklich wahrscheinlich das beste erzieherische Mittel. Auf Platten ist so viel Vortreffliches und Wunderbares bewahrt, daß sie mir manchmal den sündhaf-ten Gedanken suggerieren, als sei die Zeit nicht mehr fern, wo der Unterricht fortgeschrittener Pianisten der höheren Kurse des Konservatoriums oder in der Aspirantur durch individuelle Pädagogen ganz von selbst aussterben wird und diese den Platten Platz machen." (NEUHAUS 1967, 192)
JAKOW MILSTEIN, wie NEUHAUS russischer Pianist, äußert sich ähnlich euphorisch.
Auch er spricht davon, dass die Rolle der Schallplatte beim Lernvorgang eines Ta-
ges die Bedeutung des persönlichen Lehrers überragen könnte:
"Es besteht kein Zweifel, daß [...] sich die Diskrepanz zwischen dem Ersatz (der die mechanische Aufzeichnung letztendlich doch irgendwie immer blei-ben muß) und dem vollwertigen Naturprodukt (also der lebendigen Musik) un-vermeidlich immer mehr ausgleichen wird. Manche nehmen sogar an, daß die 'Konserven' mit der Zeit alle Eigenschaften einer 'natürlichen Nahrung' anneh-men werden. Besonders wertvoll sind die Aufzeichnungen vom Vortrag großer, vielerfahre-ner Künstler. [...] Man spricht sogar davon, daß das Hören von Schallplatten in unserer Zeit mitunter wichtiger sei als die Stunden beim eigenen Lehrer." (MILSTEIN 1976, 183f.)
Eigene Aufnahme und Wiedergabe
Neben der Schallplatte als Wiedergabemedium empfiehlt ANDOR FOLDES in seinem
Buch Wege zum Klavier auch, das eigene Spiel aufzunehmen, um sich eine Vorstel-
lung von der Wirkung der eigenen Interpretation zu machen. Er äußert dabei die
Überzeugung, dass das bewusste Hören gesondertes Lernziel sein müsse. Zunächst
113
stellt er deshalb den Zusammenhang zur verbreitet mangelhaften Beachtung des Ge-
hörsinnes her:
"Wenn ich sagte, das Musiklesen sei der erste Schritt auf dem Weg zu gutem Klavierspiel, so muß ich nun hinzufügen, daß Musikhören – das eigene Spiel sowohl wie das Musizieren anderer – ein ebenso wichtiger Bestandteil der Ausbildung jedes jungen Musikers ist. Viele Studierende beschäftigen sich stundenlang damit, an ihrem Instrument fieberhaft schwierige Stellen zu üben. Oft laufen diese Anstrengungen auf wenig mehr als das Bewegen der Finger auf den Tasten hinaus. Die auf diese Weise am Klavier verbrachte Zeit wird nicht die gewünschten Ergebnisse bringen, wenn diese jungen Pianisten nicht die Fähigkeit zu gewissenhaftem Hören erlangt haben. Natürlich ist es doppelt schwer, auf das eigene Spiel zu hören. Das Spielen an sich nimmt einen stark in Anspruch, und gleichzeitiges Spielen und Hören erfordert eine große Kon-zentration. Andererseits wird durch den Prozeß des Hörens Energie absorbiert, deren Fehlen dann die Exaktheit der Ausführung beeinträchtigt. Man erlernt die Kunst des Hörens eher, wenn man sich zunächst auf die von anderen gespielte Musik konzentriert anstatt auf die selbst produzierte. Man wird erst dann imstande sein, gleichzeitig zu spielen und zu hören, wenn man gelernt hat, mit offenen Ohren das Musizieren anderer anzuhören. [...] Schallplatten sind eine ausgezeichnete Quelle musikalischer Unterweisung und können den jungen Musikern gar nicht warm genug empfohlen werden. Der Studierende kann ungeheuer viel lernen, wenn er zunächst unter bestmöglichen Bedingungen gespielte Konzerte reifer Künstler anhört und dann später sein eigenes Spiel anhand von Platten – die jedes private Tonstudio aufnimmt – überprüft." (FOLDES 1990, 20ff.)
Als dieser Text um die Mitte des 20. Jahrhunderts entstand, war es noch schwierig,
eigenhändig Aufnahmen durchzuführen, deshalb die Erwähnung von Tonstudios.
Heute hat sich diese Situation grundlegend geändert: Eigene CD-Produktionen sind
an der Tagesordnung.
Auch der Kölner Pianist HELMUT WEINREBE plädiert für eigene Aufnahmen, zu-
mindest für sehr fortgeschrittene Schüler:
"Für den Klavierpädagogen und den sehr weit fortgeschrittenen Schüler ist die Möglichkeit, erübte Werke auf Tonband oder Kassette zu spielen, im Unter-richt nicht mehr hinwegzudenken." (WEINREBE 1994, 125)
Für weniger weit fortgeschrittene Schüler rät er allerdings von der Aufzeichnung des
eigenen Spiels ab:
114
"So sehr Tonbandaufnahmen von Kindern im Klavierspiel quasi zum Famili-enalbum gehören, spürt der selbstkritische Schüler durch die Perfektion des Mediums einen Anspruch, dem er noch nicht gewachsen ist." (WEINREBE 1994, 125)
Hören von Lehrstücken
Die auditive Vermittlung von Lehrstücken spielt bislang nur bei der Suzuki-Methode
eine zentrale Rolle. Das Hören der Tonträger wird hier als weitaus wichtiger einge-
schätzt als die eigene Arbeit am Instrument! Deshalb kommen hier auditive Medien
schon im Unterstufenunterricht zum praktischen Einsatz:
"Auf das tägliche Hören der Schallplatten muß immer wieder hingewiesen werden. Die Suzuki-Erziehung basiert auf Nachahmung und Wiederholung [...]. Das Hören der Musikbeispiele ist doppelt so wichtig wie das Üben, betont Dr. Suzuki. Viele Dinge, das sollten Eltern einsehen, werden durch das Hören vermittelt: a) Tonfolgen b) Formgefühl c) Harmonische Zusammenhänge d) Gedächtnisschulung e) Auffassen neuer Melodien f) Schulung des musikalischen Ausdrucks." (BIGLER / LLOYD-WATTS 1984, 24)
Diese Art nachahmenden Lernens stößt insbesondere im europäischen Kulturkreis
vielfach auf Skepsis, weil die Suzuki-Methode mit "Dressur" von kindlichen Groß-
gruppen assoziiert wird (vgl. V. GUTZEIT 1998).
Aufnahme von Unterrichtsstunden
HEINRICH NEUHAUS propagiert auch die elektroakustische Aufnahme und Verbrei-
tung von Unterrichtsstunden. Auf diese Weise könnten seiner Meinung nach Entfer-
nungen leichter überwunden werden und auch die Provinz in den Genuss vorbildli-
chen Unterrichts kommen, ein Problem, das in der geographischen Situation der
Sowjetunion, in der NEUHAUS wirkte, besonderer Aufmerksamkeit bedurfte:
115
"Man wird Tonbandaufnahmen von wirklichen Unterrichtsstunden sogenannter 'führender Meister' und selbstverständlich auch anderer anfertigen, sie verviel-fältigen und an die Musikschulen, Lehranstalten und Konservatorien der ver-schiedenen Städte verschicken, wie man das mit Filmen tut. Ich hoffe, daß man bald dazu kommt. Der Nutzen wäre gewaltig." (NEUHAUS 1967, 123f.)
Lassen solche Thesen im Zeitalter von Datenfernübertragung und Internet hellhörig
werden, so erweist sich die Fortschrittlichkeit im Denken HEINRICH NEUHAUS' auch
in der folgenden Äußerung. Dort entwarf er, lange vor der Etablierung multimedia-
ler Technologien, zumindest theoretisch eines der ersten Multimedia-Pakete der
Klavierpädagogik: ein Buch in Kombination mit Schallplatten:
"Ich bin überzeugt, daß in naher Zukunft Bücher, die dem meinen ähnlich sind, nur unter Beifügung klanglicher Aufzeichnungen erscheinen werden, denn nur diese können eine vollständige und klare Vorstellung vermitteln." (NEUHAUS 1967, 193)
In den immerhin bereits über 30 Jahren seit Veröffentlichung der Kunst des Klavier-
spiels in Deutschland haben sich die Vorhersagen NEUHAUS' in der Praxis allerdings
zumindest für die klassische Instrumentalpädagogik nicht bewahrheitet. Der Frage,
warum solche modernen Medienansätze nur schwer Eingang in die kulturelle Reali-
tät finden, wird auf S. 134ff. nachgegangen.
Ebenfalls sehr selten kommt in der klavierpädagogischen Praxis die im folgenden
von GÜNTER REINHOLD geschilderte, völlig neue Art der Tonaufzeichnung zum
Einsatz:
"Wesentliche Erkenntnisse kann man auch durch eine Neuentwicklung, den Bösendorfer-Computerflügel gewinnen, einen ganz normalen Flügel, in den eine Zusatzeinrichtung zur elektronischen Speicherung eingebaut ist, die eine absolute Identität von Aufnahme und Wiedergabe garantiert. Bezogen auf die beim Flügel intendierte Klangrichtung sitzt ein Pianist seitlich am Instrument; bei der Wiedergabe kann man aus dem Saal, also aus der Position des Publi-kums das eigene Spiel beurteilen. Die Verlangsamung der Spielgeschwindig-keit erlaubt eine höhere Kontrolle der Genauigkeit und darüber, inwieweit kleinste Abweichungen hiervon ausdrucksmäßige Wirkungen beinhalten. Auch werden bei liegendem Pedal im Originaltempo verschwimmende Anschläge durch Verlangsamung hörbar [...]. Ausdrucksmäßige Maßnahmen lassen sich genau untersuchen." (REINHOLD 1996, 32f.)
Um die zitierten Äußerungen einordnen zu können, müssen zunächst grundsätzliche
Merkmale der zur Sprache gebrachten Arten von Medien und Musikinstrumenten
116
herausgearbeitet werden. Eine genaue Systematik der unterschiedlichen Technolo-
gien findet sich im Anhang. Visuelle Medien, Film- und Videoaufzeichnung, wer-
den dabei ausgespart. In der Praktikerliteratur (vgl. WEINREBE 1994, 126, REINHOLD
1996, 32, MARTIENSSEN 1957, 199, WERNER 1993, 47) nimmt dieses Feld nur einen
äußerst geringen Raum ein.
3.2 Allgemeine Medienentwicklung
WOLFGANG MANZ (1991, 49) erwähnt in seiner Übersicht über die Unterrichtsme-
dien vier Kategorien von technischen Neuerungen nach der Erfindung des Buch-
drucks:
1. Fotografie und Reproduktion 2. Audio- und Videoaufnahme 3. Elektronische Datenverarbeitung 4. Datenfernübertragung
Die aktuelle Entwicklung zeigt als Folge sich durchsetzender Digitaltechnik eine
Auflösung der Grenzen zwischen diesen Medienkategorien und eine Integration in
der elektronischen Datenverarbeitung. Die analoge Ton- und Bildtechnik, die das
20. Jahrhundert entscheidend mitgeprägt hat, wird damit weitgehend überflüssig:
Analoge audiovisuelle (AV-) Medien werden gegenwärtig von digitalen Medien
verdrängt, von einer Technologie, deren scheinbar unaufhaltsamer Siegeszug auf
eine gerade erst fünfzigjährige Geschichte zurückblickt. Die technische Entwicklung
hat in den achtziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts die digitale Verarbeitung
von Audiosignalen mit einem Datenfluss von ca. 1 Megabit27 pro Sekunde und in
den neunziger Jahren die digitale Verarbeitung bewegter Bilder mit einem um Grö-
ßenordnungen höheren Datenfluss (je nach erforderlicher Qualität und Codierungs-
art bis zu 200 Megabit pro Sekunde) möglich gemacht (vgl. REIMERS 1994). Damit
kann ein Datenverbund aus Bild-, Ton- und Textverarbeitung realisiert werden, der
üblicherweise als multimedial bezeichnet wird, obwohl der Begriff monomedial
wohl treffender wäre. Unter dem Begriff neue Medien werden inzwischen gewöhn-
lich eben diese Medien subsumiert, die Informationen in digitaler Form speichern,
27 Ein bit ("binary digit") ist die kleinste Informationseinheit. Davon zu unterscheiden ist die Ein-
heit "byte". Sie besteht aus acht bit. Diese Informationsmenge wird benötigt, um ein Zeichen,
z.B. einen Buchstaben, aus einer Menge von 256 Elementen zu codieren. Speicherkapazitäten
werden in der Regel in byte gemessen.
117
reproduzieren und übermitteln. Alle digitalen Medien bedienen sich der Technologie
der elektronischen Datenverarbeitung, unabhängig davon, ob es sich um klanger-
zeugende, speichernde oder übermittelnde Geräte handelt. Die Tatsache, dass alle
Arten digitaler Information von ein und demselben Rechner verarbeitet werden kön-
nen, hat zur Folge, dass dieses Medium bei entsprechender Kapazität gleichzeitig
Informationen speichern, kombinieren, übermitteln und entgegennehmen kann: es
wird interaktiv. Was im Jahr 1992 in einem Computer-Anwenderbuch zur Definition
von Multimedialität noch in die Zukunft projiziert wurde, ist inzwischen weitgehend
Realität geworden:
"Die herkömmlichen Massenmedien wie Fernsehen, Radio, Video, Film und Zeitung sind für den Empfänger ein einziger Monolog: Er kann ihn auf sich wirken lassen, sich berieseln lassen oder das Programm wechseln oder aus-schalten. Unmittelbares Gestalten oder Verändern der Massenmedien liegt nicht im Bereich der Möglichkeiten des Empfängers. Seine Rolle ist die des Empfängers, und zwar immer. [...] Multimedia soll die herkömmlichen Massenmedien und Kommunikationsdien-ste in die interaktive Welt der Computer integrieren. Der Computer soll Kom-munikationsmittel werden, ein Gerät, das alle Eigenschaften in sich vereint: Telefon, Computer, Fernseher, mit Sprach- und Gesten-Eingabe, Bildtelefon und ISDN-Anschluss. Das wäre ein Medium für alles, 'the medium to end all media' [...]." (FISCHER/KLUG 1992, 581)
Hinzu kommt heute, dass auch die elektronische Klangerzeugung und -bearbeitung
und damit die Musikproduktion im gleichen Gerät wie die Speicherung vollzogen
werden kann. Das Medium wird damit auch zum Musikinstrument. Beide Katego-
rien sind nicht mehr eindeutig zu trennen. Näheres dazu in Abschnitt 3.3.3.
3.3 Spezielle Medienentwicklung im Bereich Musik
Grundsätzlich wird die technologische Entwicklung unmittelbaren Zugriff und so-
fortige Vervielfältigbarkeit klanglicher Informationen ermöglichen. Was der Foto-
oder auch der Fernkopierer (Telefax) für die Vervielfältigung von Schrift leistet,
wird auch auf Musik anwendbar: Eine Vervielfältigung, Bearbeitung und Übermitt-
lung erfordert nicht mehr die Zeit der Erstellung der Information (der Übergang von
der Abschrift zum Druck im 18. Jahrhundert bezeichnet auf dem Gebiet der schrift-
lichen Musikbearbeitung eine vergleichbare Zäsur, vgl. S. 18), sondern wird in
praktisch unbegrenzt kleinen Zeiträumen erfolgen können. In Verbindung mit Fort-
118
schritten auf dem Gebiet der Datenfernübertragung folgt hieraus, dass jede Art von
(im musikalischen Kontext natürlich vorwiegend auditiver) Information in beliebig
kurzer Zeit an jedem beliebigen Ort verfügbar sein wird.
3.3.1 Klangdatencodierende Digitaltechnik
Bei der Betrachtung der gegenwärtigen Möglichkeiten der Speicherung von Musik
können zwei Arten der digitalen Verarbeitung unterschieden werden.
In der klangdatencodierenden digitalen Audiotechnik, wie sie in den verbreiteten
Arten von Aufzeichnungs- und Wiedergabegeräten (z.B. CD) zum Einsatz kommt,
erfolgt nach elektroakustischer Wandlung mittels Mikrofonen (dies zunächst wie bei
der analogen Tonaufnahme) nicht die unmittelbare Speicherung der analogen Wel-
lenform, wie es bei der Analogtechnik Prinzip ist. Die Gestalt dieses nur vorläufig
analogen elektrischen Signals wird statt dessen abgetastet und die ermittelten Ab-
tastwerte als diskrete (digitale) Werte gespeichert. Die Qualität der Aufzeichnung
hängt dabei unmittelbar von der Genauigkeit der Abtastung ab. Je höher diese Ge-
nauigkeit ist, desto mehr Daten fallen an und müssen verarbeitet werden. Die
Schnelligkeit der verfügbaren Mikroprozessoren erlaubt bereits heute bei der Audio-
aufzeichnung eine eindeutige qualitative Überlegenheit von Digital- gegenüber
Analogtechnik.
Auditive und visuelle Information wird, wie es sich gegenwärtig bei der Aufnahme
und Wiedergabe auf Festplatten und flüchtigem Speicher bereits andeutet, zuneh-
mend unabhängig vom Zeitfaktor und damit entmaterialisiert und entlinearisiert.
Alle aus der Textverarbeitung bekannten Bearbeitungsmöglichkeiten – Kopieren,
Schneiden, Einfügen, Wiederholen, in Grenzen auch schnellere oder langsamere
Wiedergabe – werden auch bei AV-Medien möglich.
3.3.2 Steuerdatencodierende Digitaltechnik
Neben der klangdatencodierenden digitalen Audiotechnik hat eine zweite Art der
digitalen Aufzeichnung von Musik Bedeutung gewonnen, bei der die zuletzt er-
wähnten Manipulationsmöglichkeiten wesentlich umfangreicher sind. Hierbei wer-
den unmittelbar die Erzeugungsparameter der Musik festgehalten. Einfach ausge-
drückt: es wird registriert, wann welcher Ton auf einem Instrument mit welcher Dy-
namik gespielt wurde; die Aufstellung von Mikrofonen entfällt. Hier wird nicht nach
akustischen, sondern musikalischen Parametern codiert: Registriert werden insbe-
119
sondere Zeitpunkt, Dauer und Lautstärke von Klangereignissen. Über die Klang-
farbe sind weitere Übereinkünfte notwendig.
Aufwändige Beispiele für diese Technologie sind der selbstspielende Bösendorfer
Computerflügel SE oder das Yamaha Disclavier. Bei der Wiedergabe bewegt sich
unter jeder Taste ein Linearmotor, der wiederum vom Computer mit den gespei-
cherten Daten gespeist wird und die Taste entsprechend beschleunigt. Dies ent-
spricht dem selben Prinzip, wie es bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts in selbst-
spielenden Klavieren (z. B. Welte Mignon) angewandt wurde, allerdings in weit prä-
ziserer Ausprägung. Mit den mittels Abnahme von Tastenbewegungen gewonnenen
Steuerdaten können aber, wie es in der Regel bei der Produktion von Popularmusik
Anwendung findet (und wesentlich preiswerter als mit selbstspielenden Klavieren zu
realisieren ist), auch synthetische Klangerzeuger angesteuert werden.
Mit dieser Technologie ist die Aufzeichnung von Musik nur möglich, wenn ihre Er-
zeugungsparameter erfasst werden können. Gut gelingt dies bei einem Tastenin-
strument, bei dem es nach TETZEL (vgl. S. 82f.) ausreicht, zusätzlich zum Pedal
Zeitpunkt und Stärke der jeweiligen Tasten- bzw. Hammerbewegungen zu
speichern, um eine eindeutige Codierung zu gewährleisten. Für unterschiedliche
Arten von Instrumenten, von Zupf- bis hin zu Blasinstrumenten existieren
Applikationen, die die Registrierung von Steuerdaten ermöglichen. Vorteile der
steuerdatenbezogenen Aufzeichnung liegen in der Flexibilität und der Vielfalt
musikalischer Bearbeitungsmöglichkeiten. Das Tempo ist frei manipulierbar und
jedes Instrument eines beliebig komplexen Arrangements kann einzeln behandelt,
verändert oder aus dem Gesamtklang ausgeblendet werden. Auf diese Weise
codierte Musik kann auch beliebig in andere Tonarten transponiert werden.
Das Verfahren der Aufzeichnung spielbezogener Daten wird als sequencing (engl.)
bezeichnet. Das hierbei erforderliche Datenprotokoll wurde im Jahr 1983 von Mu-
sikinstrumentenherstellern in der MIDI-Spezifikation28 festgelegt, auf deren Grund-
lage Aufnahmegeräte und Klangerzeuger aller Hersteller sich miteinander verbinden
lassen.
Während die klangdatencodierende Art der Aufzeichnung in der Tradition der Wie-
dergabemedien steht, entstammt die steuerdatencodierende Aufzeichnungsart der
Tradition der Musikinstrumente. Die Tatsache, dass hier beliebig bearbeitbare musi-
kalische Parameter codiert werden, macht diese Aufzeichnungsart auch für die Mu-
sikpädagogik interessant. In den Bereichen Transkription, Komposition, Notation,
Gehörbildung ist eine multisensurale Verbindung von Schriftlichkeit und Klang mit
28 MIDI: Abkürzung für Musical Instruments Digital Interface.
120
dieser Technologie möglich, die bislang im Musikunterricht noch wenig genutzt
wird.
3.3.3 Der Sampler
Der Sampler entstammt ursprünglich ebenfalls der Tradition der steuerdatencodie-
renden Musikinstrumente. Er besteht aus flüchtigem RAM-Speicher, von dem
Klangdaten aufgenommen ("gesampelt") und wiedergegeben werden können. Er
wurde geschaffen, um, per MIDI angesteuert, möglichst originalgetreu Klänge zu
produzieren, die per Mikrofon in ihm aufgezeichnet und gespeichert wurden. Auf
diese Weise wurden auch natürliche Instrumentalklänge in der elektronischen Musik
zugänglich, ähnlich wie es auf elektromagnetische Weise bereits im Mellotron ver-
wirklicht wurde. Ursprünglich war der zur Verfügung stehende Speicher allerdings
sehr knapp und teuer, so dass nur sehr kurze Klangschnipsel abrufbereit sein konn-
ten. Damit befand sich die Funktion des Samplers noch eindeutig in der Tradition
der Klangerzeuger, also der Musikinstrumente. Je länger aber die gespeicherten
Klänge wurden, desto mehr näherte sich die Funktion des Samplers der eines Wie-
dergabemediums an. Ein Tastendruck genügt in diesem Fall, um eine längere Se-
quenz erklingen zu lassen. Die Taste des Tasteninstruments wird damit zum Start-
knopf eines Wiedergabemediums. Inzwischen werden in Form von MP3-Playern
auch reine Wiedergabegeräte angeboten, die keine beweglichen Speichermedien
mehr enthalten.
Eine zwangsläufige Folge der Vergrößerung von Rechnerkapazitäten ist also die
Vermischung von steuerdatencodierender und klangdatencodierender Sphäre. Damit
verschmelzen die bislang getrennten Funktionen von Musikinstrument und Wieder-
gabemedium. Das rein quantitative Phänomen der größeren Leistungsfähigkeit von
Rechnern führt also in Form des Samplers zu der neuen Qualität der Verschmelzung
von Musikinstrument und Medium.
Der Sampler vereint die Eigenschaften klangdatencodierender und steuerdatenco-
dierender Technologien und verkörpert damit die Verschmelzung von Musikinstru-
ment und Medium.
Da ein Sampler im Prinzip nichts anderes ist als ein Computer, bedeutet dies auch:
Computer können behandelt werden wie Musikinstrumente und sind dann Musikin-
strumente.
121
Damit setzt sich konsequent eine technologische Entwicklung fort, die seit Jahrtau-
senden darin besteht, Mittel zur Klangerzeugung zu finden, die die menschliche
Stimme transzendieren oder ergänzen. Der Computer (oder das digitale Medium, der
Synthesizer oder wie man es nennen mag) steht in dieser Tradition und damit in kei-
ner anderen als alle anderen Musikinstrumente, sei es die Violine oder die Orgel.
Die bedeutsamen Auswirkungen dieser Tatsache auf die Musikkultur werden in Ab-
schnitt 4.5 näher erörtert. Der Gelehrtenstreit um einen Laptop oder ein Musik-
instrument für jeden Schüler könnte unter dieser Voraussetzung eine Akzent-
verschiebung erfahren. Immer bedeutsamer wird jedenfalls die Frage werden, wie
Computer bzw. digitale Medien sinnvoll für gute musikalische Bildung genutzt
werden können.
Solche Fragen mögen heute noch theoretisch erscheinen, werden aber sehr schnell
auch praktische Relevanz gewinnen. Während in der Praxis die Klangerzeugung
akustischer Musikinstrumente in der Hand von Interpreten der elektronischen
Klangerzeugung heute noch uneinholbar überlegen erscheint, sieht die Theorie an-
ders aus. Die elektronische Klangerzeugung ist der Klangerzeugung akustischer In-
strumente äquivalent und kann grundsätzlich gleichwertige Klänge erzeugen. Damit
liegen entscheidende Fragen der Zukunft nicht in der Entscheidung zwischen akusti-
scher oder elektrischer Tonerzeugung, sondern – neben dem Problem der Übertra-
gung der Schallwellen an das menschliche Ohr – in der Gestaltung von Schnittstel-
len zwischen Musiker und Instrument. Elektronische Klangerzeugung ist dabei üb-
rigens, wie nicht nur das Trautonium bezeugt, keineswegs zwangsläufig an eine
Tastatur als Schnittstelle gebunden. In letzter Konsequenz wird damit der Begriff
"Clavierspiel" auch in seiner erweiterten Bedeutung in traditionellen Schreibweise,
die noch das Musizieren auf allen Tasteninstrumenten umfasst, zu eng. Fragen der
Klangerzeugung werden auch auf S. 177 ff. erörtert. Eine systematische Aufstellung
auditiver Medien findet sich im Anhang.
122
123
4 Perspektiven
4.1 Orientierungsschwierigkeiten der Musikpädagogik
Während auf dem Gebiet der Allgemeinen Didaktik bereits seit mehreren Jahrzehn-
ten eine eigene mediendidaktische Tradition besteht, scheinen, wie in Abschnitt 3.1
gezeigt wurde, in der Musik- und dabei besonders der Instrumentalpädagogik An-
sätze zur Aufarbeitung der medientechnologischen Entwicklung rudimentär. Eine
Ursache hierfür ist die Dominanz der Interpretation in der Ausbildung am Instru-
ment, womit automatisch das schriftliche Medium als Vorlage des Musizierens im
Mittelpunkt bleibt. Wird diese Tradition nicht hinterfragt, stellt sich die Medienfrage
nicht.
Eine weitere Ursache für die geringe Aufmerksamkeit, die mediendidaktische Ten-
denzen der Allgemeinen Pädagogik in der Musikpädagogik finden, ist die von
künstlerischen Vorstellungen beherrschte Sonderrolle der Musikpädagogik im Fä-
cherkanon und die damit verbundene Überzeugung, dass Erkenntnisse der Allge-
meinen Didaktik auf die Musikdidaktik nur sehr begrenzt übertragbar sind. Von
Vertretern der Musikpädagogik wird wiederholt beteuert, dass musikalische Lern-
prozesse weniger in allgemein-didaktischen Kategorien fassbar seien, sondern, wie
beispielsweise die Musikpädagogin URSULA DITZIG-ENGELHARDT feststellt,
"[...] daß Musiklernen oft eigenen Gesetzmäßigkeiten gehorcht." (DITZIG-ENGELHARDT 1987, 383)
Das Verhältnis zwischen wissenschaftlicher Pädagogik und Musikpädagogik befin-
det sich deshalb in einem besonderen Spannungsverhältnis. Die Musikpädagogik
bemüht sich zwar seit einigen Jahrzehnten, ihrem selbstgestellten wissenschaftlichen
Anspruch zu genügen, muss aber zugeben, dass gültige wissenschaftliche Kriterien
bislang nicht vorliegen. CHRISTOPH-HELLMUTH MAHLING bemerkt zur Suche der
Musikpädagogik nach einem eigenen wissenschaftlichen Standort:
"Die Bemühungen, Musikpädagogik als eine autonome Wissenschaft zwischen Musikwissenschaft und Erziehungswissenschaft zu etablieren, sind durch zahl-reiche Versuche gekennzeichnet, Standort, Selbstverständnis und Aufgabenbe-reich zu klären. Ein überzeugendes und allgemein anerkanntes Ergebnis steht hier einstweilen noch aus. Nicht zuletzt darin scheint aber auch der derzeitige Konzeptpluralismus begründet, der seinerseits wiederum im Autonomiestreben der Musikpädagogik eine Art Selbstbehinderung darstellt." (MAHLING 1978, 64)
124
Auch SIGRID ABEL-STRUTH führt die mangelnde wissenschaftliche Grundlegung der
Musikpädagogik im folgenden auf die Verschiedenartigkeit der in der Musikpäd-
agogik existierenden didaktischen Ansätze zurück:
"In der Unterschiedlichkeit der wissenschaftlichen Herkunft musikpädagogi-scher Forschungsansätze mit ihren gelegentlich konkurrierenden methodischen Tendenzen sind wohl entscheidende Ursachen dafür zu suchen, daß der päd-agogische Umgang mit Musik so schwer zu wissenschaftlicher Grundlegung findet." (ABEL-STRUTH 1985, 70)
Musikdidaktiken beruhen auf Traditionen und sind deshalb nur innerhalb relativ
großer Zeiträume beeinflussbar. Neue wissenschaftliche Erkenntnisse fließen auf-
grund der in Frage stehenden Gültigkeit für musikalische Lernprozesse, wenn über-
haupt, nur verzögert in die Musikdidaktik ein und können dann erst nach Generatio-
nen der Erprobung traditionell "bewährte" oder "festgefahrene" (je nach Blickwin-
kel) Strukturen infrage stellen. Objektivierte Verfahren zur Verifizierung von Lern-
fortschritten stehen nicht zur Verfügung.
Die Art und Weise, in der gegenwärtig Studierende der Instrumentalpädagogik aus-
gebildet werden, unterscheidet sich deshalb, wie die Neue Musikzeitung unter nur
leichter Übertreibung meldet, kaum von der vor hundert Jahren:
"Wenn man Lehrproben von Hochschulabsolventen hört und sieht, hat man häufig den Eindruck, daß da der gleiche Unterricht abläuft, wie er vor 25, 50 oder 75 Jahren gehalten wurde. Man könnte meinen, im Instrumentalunterricht sei die Zeit in den letzten 100 Jahren stehengeblieben. Nichts zu spüren davon, daß die Kinder und Jugendlichen heute anders sind als vor 50 oder noch vor 20 Jahren. Nichts zu spüren vom Einfluß pädagogischer Forschung und Erkennt-nis aus dem Anfang und der Mitte unseres 20. Jahrhunderts, geschweige denn neuester Erkenntnisse." (KORWARD 1993, 17f.)
Bemühungen einer Musikpädagogik mit wissenschaftlichem Anspruch, dieser ver-
meintlichen Stagnation zu begegnen, haben allerdings nur selten Erfolg. Auf der
Grundlage einer immer wieder beteuerten Sonderrolle und der damit verbundenen
besonderen Komplexität musikalischer Lernvorgänge bemüht sie sich zwar, eigene
Methoden zu entwickeln, die den selbstgestellten wissenschaftlichen Ansprüchen
genügen. Die nach wie vor bestehende Methodenunsicherheit zeigt aber, dass "wis-
senschaftliche Grundlegung" (ABEL-STRUTH, s. o.) immer noch weit entfernt zu sein
scheint; und schließlich muss die wissenschaftliche Musikpädagogik auch ihre prin-
zipielle Ohnmacht eingestehen, verbindliche Antworten zu geben. So berichtet
125
URSULA DITZIG-ENGELHARDT über Versuche, Erkenntnisse aus der Allgemeinen
Pädagogik auf die Musikpädagogik zu übertragen und diesbezügliche Einwände
SIGRID ABEL-STRUTHS:
"Zur Aufschlüsselung von Lernprozessen in einzelne aufeinanderfolgende Stu-fen wurden Taxonomien entwickelt, durch die eine systematische Darstellung des kognitiven, des emotionellen und des psychomotorischen Verhaltensbe-reichs angestrebt wurde. Die Übertragung allgemeiner Lerntheorien auf das Musiklernen wird den hochkomplexen Vorgängen musikalischer Wahrneh-mung, musikalischen Verstehens und Agierens jedoch nur bedingt gerecht. So warnt Sigrid Abel-Struth [...]: 'Kein Verfahren ist in der Lage, Ziele musikali-schen Lernens umfassend oder auch nur zureichend auf wissenschaftliche Weise zu bestimmen oder logisch zu deduzieren.' [...] Die spezifischen Strukturen des Faches Musik machen eine eigens dafür ent-wickelte Taxonomie erforderlich." (DITZIG-ENGELHARDT 1987, 420f.)
Indem URSULA DITZIG-ENGELHARDT als Vertreterin einer Musikpädagogik mit wis-
senschaftlichem Anspruch die Eignung der Wissenschaft negiert, musikpädagogi-
sche Fragestellungen abschließend zu beantworten, ja die Methode der logischen
Deduktion für die Musikpädagogik als letztendlich ungeeignet bezeichnet, stellt sie
implizit die Eignung wissenschaftlicher Herangehensweisen beim Versuch der Er-
stellung der von ihr selbst geforderten Taxonomie in Frage.
Die Wissenschaftlichkeit in der Musikpädagogik scheint also vorwiegend damit be-
schäftigt zu sein, einen eigenen Standort zu suchen. Konkrete Hilfen für den Instru-
mentalunterricht scheinen aus dieser Richtung kaum zu erwarten. HERBERT
WIEDEMANN beschreibt in seinem Buch Klavierspiel und das rechte Gehirn diese
Situation und die vergebliche Suche nach lerntheoretisch fundierter Perfektionierung
der Musikdidaktik am Beispiel des Klavierunterrichts:
"Wenn Begriffe wie 'intuitive Erkenntnis', 'seelische Kraft' und 'intellektuelles Erfassen' oder gar 'Inspiration' sich nicht anhand lerntheoretischer Parameter definieren, abgrenzen oder operationalisieren lassen, ist es nicht möglich, di-daktische Konzepte auf solche Lernziele hin zu entwickeln. Vielleicht ist dies mit ein Grund dafür, daß viele Werke der Klaviermethodik und viele Klavier-schulen trotz ihres Anspruchs, zu einem Klavierspiel als 'seelisch-geistige' Tä-tigkeit hinzuführen, letztlich eben nur Anleitung zur Technik des Klavierspiels sind." (WIEDEMANN 1990, 12)
Es scheint, als hätten rationale Versuche, das Phänomen des Musizierens zu fassen,
erhebliche Schwierigkeiten mit der Komplexität des Sujets.
126
4.2 Lernen durch Nachahmung
Der symptomatischen Unsicherheit der Verfasser von pädagogischer oder wissen-
schaftlicher Literatur bezüglich musikalischer Lernvorgänge steht eine bemerkens-
wert einheitliche und stabile, aber auch verblüffend unkomplizierte Position entge-
gen, wenn sich bedeutende Musiker zu diesem Komplex äußern. Einige Beispiele
hierfür sollen im folgenden gegeben werden.
In den Kritischen Büchern der Davidsbündler äußert sich ROBERT SCHUMANN bei-
spielsweise unter anderem über die Studien für das Pianoforte von J. N. Hummel.
Dort schreibt er über die grundlegenden Fragen der Musikdidaktik:29
"Methode, Schulmanier bringen wohl rascher vorwärts, aber einseitig, klein-lich. Ach! wie versündigt ihr euch, Lehrer! Mit eurem Logierwesen30 zieht Ihr die Knospen gewaltsam aus der Scheide! Wie Falkeniere rupft ihr euren Schü-lern die Federn aus, damit sie nicht zu hoch fliegen [...] – Wegweiser solltet ihr sein, die ihr die Straße wohl anzeigen, aber nicht überall selbst mitlaufen sollt!" (SCHUMANN 1982, 10)
RICHARD WAGNER betont in seiner Schrift Mitteilung an meine Freunde aus dem
Jahr 1851, dass er sich glücklich schätze, in seiner Jugend nicht zu viel durch erzie-
herische Methoden beeinträchtigt worden zu sein. So konnte er "die Kunst selbst" zu
seinem Erzieher machen. Wenn nur die Motivation und die Möglichkeit der Ausein-
andersetzung mit der Kunst vorhanden sei, könne seiner Meinung nach jeder zu ei-
nem Künstler, er verwendet den Begriff "Genie", werden. "Die eine verschmähte Gabe: 'der nie zufried'ne Geist, der stets auf Neues sinnt', bietet uns allen bei unserer Geburt die jugendliche Norn an, und durch sie allein könnten wir einst alle 'Genies' werden*; jetzt, in unserer erziehungs-süchtigen Welt, führt nur noch der Zufall uns diese Gabe zu, – der Zufall, nicht erzogen zu werden. Vor der Abwehr eines Vaters, der an meiner Wiege starb, sicher, schlüpfte vielleicht die so oft verjagte Norn an meine Wiege, und ver-lieh mir ihre Gabe, die mich Zuchtlosen nie verließ, und, in voller Anarchie, das Leben, die Kunst, und mich selbst zu meinem einzigen Erzieher machte." (WAGNER 1983, 221f.)
29 Einen Teil der Belege verdanke ich MARTIN GELLRICH (1992, 59f.). 30 LOGIER hieß der Erfinder des "Chiroplasten", einer Vorrichtung, welche die Handhaltung beim
Klavierspiel regelt.
127
Die durch Stern markierte, den Text begleitende Fußnote illustriert den Konflikt
zwischen Kunstausübung und ihrer Pädagogik. Ein Vertreter der Zunft der Musik-
erzieher musste diese Bemerkung als "Zumutung" für seinen Stand zurückweisen:
"* Über diese Behauptung ärgerte sich, seinerzeit, der Kölnische Professor Bischoff; er hielt sie für eine ungebührliche Zumutung an sich und seine Freunde." (WAGNER 1983, 221)
Auch ARNOLD SCHÖNBERG, der sich intensiv als Musikpädagoge betätigte, macht
sich Gedanken über das Verhältnis von Kunst und Pädagogik. Was WAGNER "Norn"
genannt hat, nennt SCHÖNBERG "Neigung". Und was WAGNER das Lernen an der
Kunst selbst genannt hat, nennt SCHÖNBERG "Nachahmung". Er kritisiert dabei die
verbreitete Vorgehensweise der Pädagogik, Lehrziele zu definieren und Methodiken
aufzustellen, die doch in Wirklichkeit das eigentliche Ziel, die Erziehung zur Kunst,
verfehlten. Er führt die Verbreitung des Dilettantismus unmittelbar auf diese Vorge-
hensweise zurück. Seiner Überzeugung nach gibt es in der Kunst nur eine adäquate
Lernweise, und zwar die der Nachahmung von Vorbildern:
"Gab es früher Dilettanten, die sich vom Künstler nicht im Können unterschie-den, sondern nur dadurch, daß sie nicht Broterwerb durch Kunsttätigkeit be-zweckten, so gibt es heute allzu viel Künstler, die sich vom Dilettanten nicht im Können, wohl aber dadurch unterscheiden, daß sie ausschließlich auf Brot-erwerb ausgehen, der fähige Dilettant aber ist verhältnismäßig selten gewor-den. Eine Hauptursache dieser Erscheinung ist die Pädagogik. Sie verlangt von bei-den, vom Künstler wie vom Dilettanten zu viel und zu wenig: das Lehrziel. [...] In der Kunst gibt es nur einen wahrhaften Lehrmeister: die Neigung. Und der hat nur einen brauchbaren Gehilfen: die Nachahmung." (SCHÖNBERG 1964, 42f.)
Die besondere Bedeutung des Vorbilds im Unterricht bei JOHANN SEBASTIAN BACH
hebt MONIKA HEINRICH hervor:
"Ein wesentlicher Grundsatz, auf welchem Bachs Unterricht aufgebaut war, lautete: Lernen am Vorbild. Bach vertrat die Ansicht, daß durch Nachahmung von Qualitätvollem der Geschmack auf beste Weise gebildet werden könnte – ein Prinzip, nach dem er selbst gelernt hatte." (HEINRICH 1996, 6)
Aus der Sicht der genannten Künstler lässt sich insgesamt eine Parteinahme zu Gun-
sten des Lernens durch Nachahmung von Vorbildern feststellen. Aufnahme und
128
Verarbeitung von Klangeindrücken spielen dabei die entscheidende Rolle. Die
Instrumentalpädagogik scheint diese Methode momentan neu zu entdecken. Auf
dem 4. Symposium des Instituts für Begabungsforschung und Begabtenfördering in
der Musik thematisierte jedenfalls ULRICH MAHLERT diesen Bereich,
"[...] indem er auf das Lernen durch Nachahmen einging. Dieses Nachahmen, das in der Pädagogik oft geringschätzig als 'Papageienmethode' abqualifiziert wird, sei so selbstverständlich, dass es anscheinend nicht reflektiert werden müsse. Dabei seien wichtige Fragen rund um das Nachahmungslernen für den Unterricht besonders relevant. Die Frage, inwieweit man SchülerInnen durch ein Vorspielen in ihrer interpretatorischen Freiheit determiniert, ist nur eine von denen, die in diesem Themenkomplex virulent sind." (KOCH 1998, 31)
Unabdingbare Voraussetzung für die Nachahmung ist allerdings das Vorhandensein
geeigneter Vorbilder. Bei der Betrachtung von Werdegängen von Musikern stößt
man regelmäßig auf Phänomene des Lernens durch Nachahmung, die von außen
betrachtet als nahezu autodidaktisch erscheinen. Dieses vollzieht sich im Idealfall in
Form direkter auditiver Verarbeitung nicht zu komplexer und häufig wiederholter
klanglicher Strukturen, die auf die Notation entweder verzichtet oder sie nur als se-
kundäres Hilfsmittel nutzt. Für den russischen Pianisten JEWGENIJ KISSIN z.B. war
die ältere Schwester Vorbild für seine Beschäftigung mit dem Klavier in frühester
Kindheit:
"Als die ältere Schwester bei Frau Mama mit regelmäßigem Unterricht begann, spielte der Bruder ihr alles nach. Noten kannte er nicht." (Der Spiegel 29/1994, 144)
Ähnliche Umgebungsbedingungen lagen im Elternhaus der israelischen Pianistin
EDITH KRAUS vor:
"Meine um sieben Jahre ältere Schwester hatte Klavierunterricht und ich spielte immer alle ihre Stücke aus dem Gehör nach." (HAUFE 1999, 31)
Auch der Keyboarder DAVE GREENSLADE, Mitglied der Popgruppe Colosseum, er-
innert sich an seine ersten Gehversuche am Klavier:
"Ich hatte keine Notenbücher, ich suchte mir einfach bestimmte Akkorde auf den Tasten und spielte aus dem Kopf. Mein Vater zeigte mir kleine Melodien, und ich versuchte sie nachzuspielen." (Keyboards 3/1995, 40)
129
Eine entscheidende Schwierigkeit bei dieser Art zu lernen, die Flüchtigkeit der zu
imitierenden Klänge, stellt allerdings hohe Anforderungen an die musikalische Auf-
fassungsgabe des Lernenden und sein Gedächtnis für musikalische Gestalten. Als
vorteilhaft gegenüber dieser Flüchtigkeit der Musik wirkte sich in der Vergangenheit
häufig eine zufällige Konstellation aus, wie sie nicht nur bei JEWGENIJ KISSIN und
EDITH KRAUS, sondern auch vielen anderen Fällen vorlag: Sie begünstigte die Mög-
lichkeit der Nachahmung bereits in frühester Kindheit, wenn eine ältere Schwester
oder ein älterer Bruder das Klavierspiel erlernte und bestimmte Passagen ausrei-
chender Einfachheit so oft wiederholte, dass dies die aktive Aufnahme und Nach-
ahmung durch den Jüngeren ermöglichte. JOHANN GROLLE erwähnt in einem Spie-
gel-Artikel die Geschichte eines amerikanischen Sklavenjungen Mitte des 19. Jahr-
hunderts, der zur Überraschung seines Herrn die von den Töchtern des Hauses ge-
übten Werke ebenfalls gelernt hatte. Der Hausherr hörte abends in seinem Salon
Musik und entdeckte den Sklaven am Klavier:
"In der Dunkelheit saß dort der vierjährige Tom über das Piano gebeugt. Fast fehlerfrei spielte er, was er während der Klavierstunden der Töchter seines Herrn gehört hatte." (GROLLE 1997, 142)
Der ältere Bruder war ebenfalls Vorbild für den französischen Pianisten ALAIN
PLANÈS, der im Alter von vier Jahren selbstständig mit dem Klavierspiel begann:
"Nach den Unterrichtsstunden ging ich regelmäßig zum Klavier und spielte das nach, was ich beim Unterricht meines Bruders gehört hatte." (DÜRER 2001, 19)
Auch im Falle WOLFGANG AMADEUS MOZARTS trug die ältere Klavier spielende
Schwester möglicherweise die entscheidenden klanglichen Anregungen bei, die der
junge Wolfgang noch vor Beginn der Ausbildung durch seinen Vater für seine audi-
tive Sensibilisierung nutzen konnte, so dass er bereits von klein auf in der Lage war,
musikalische Gestalten zu erkennen und selbst anzuwenden. Diese intensive Gehör-
bildung gipfelte schließlich in der weithin als genial betrachteten Leistung, als
MOZART im Alter von 14 Jahren das Miserere von GREGORIO ALLEGRI nach
zweimaligem Hören notierte:
"Als Kind von 6 Jahren war Mozart fähig, alle Töne und Akkorde nach dem Gehör niederzuschreiben; bekannt ist seine erstaunliche Leistung als 14jähriger Knabe, als er in Rom das Miserere von Allegri nach 2maligem Hören aus dem Gedächtnis niederschrieb." (BENDA 1898, 335)
130
Es ist müßig, zu fragen, ob MOZART diese Leistung auch hätte vollbringen können,
wenn er nur eine einzige Gelegenheit gehabt hätte, das Stück zu hören. Unstrittig ist
aber, dass die Möglichkeit der Wiederholung eine Erleichterung für das Erkennen
und Behalten musikalischer Gestalten darstellt, nicht nur für Ausnahmeerscheinun-
gen wie MOZART, sondern generell.
Die maßgebliche Vorbildfunktion älterer musizierender Geschwister kann nicht
endgültig bewiesen werden. Es deutet aber Vieles darauf hin, dass die von ihnen
dargebotenen und ständig wiederholten klanglichen Strukturen entscheidend waren
für das Lernen der Jüngeren.
Eine ähnliche Funktion können inzwischen Medien erfüllen. Da diese im Gegensatz
zu lebenden Vorbildern wesentlich einfacher manipulierbar sind, spielen sie eine
immer bedeutendere Rolle bei musikalischen Lernvorgängen.
4.3 Nachahmung mittels Tonträger
Weitgehend unbemerkt von der etablierten Musikpädagogik und außerhalb des klas-
sischen Instrumentalunterrichts hat sich im zwanzigsten Jahrhundert eine eigene
Lernkultur anhand von Tonträgern entwickelt, die sich die beliebige Wiederholbar-
keit der Darbietung mittels Schallplatten bzw. Tonbändern zu Nutze macht, um die
naturgegebene Flüchtigkeit der Musik zu überwinden. Eine solche mediale Ver-
mittlung ist für Lernen und Ausübung bestimmter Musikstile bereits prägend ge-
worden. Der Jazz-Pianist WOLFGANG DAUNER berichtet z.B. über sich und seine
Musiker-Kollegen, wie die Schallplatte für sie zum entscheidenden Lern-Medium
wurde:
"Die meisten von uns waren Autodidakten. Das heißt, ich habe zwar ganz klas-sisch Klavier gelernt, aber von Jazz hat mir niemand was gesagt, ich habe mir alles aus den Platten rausgeschrieben!" (Keyboards 1/1995, 26)
Auch CHICK COREA bezeichnet im folgenden Ausschnitt aus einem Interview dieje-
nigen Musiker als seine Lehrer, deren Schallplatten er hörte:
"Später [...] waren in erster Linie Musiker meine Lehrer, denen ich auf Schall-platte zuhörte. Man sollte diese Phase in der musikalischen Entwicklung nicht unterschätzen. Aufnahmen kann man immer und immer wieder anhören und dabei analysieren." (Keyboards 7/1986, 23)
131
Auch der Pianist und Dirigent ANDRÉ PREVIN betätigte sich im Jazz. Seine Me-
thode, diesen Stil zu lernen, war ebenfalls vom Medium Schallplatte bestimmt, wie
aus dem Kommentar zu seiner CD André Previn's Trio Jazz: King Size hervorgeht.
Sein pianistisches Vorbild war ART TATUM. Das Medium ermöglichte PREVIN, ohne
persönlichen Kontakt zu diesem von TATUM zu lernen:
"Hearing Art Tatum's record Sweet Lorraine on the radio intrigued him, not so much from a jazz viewpoint, but in wonder that 'someone could use that much imagination and technique whithin a thirty-two bar framework.' Previn bought Tatum records, transcribed some on paper ('it's like copying out a Mahler score') and for some time – he was about fourteen – his ambition was 'to play even longer runs than Tatum'." (HENTOFF 1959)
Der Jazz-Pianist MICHEL PETRUCCIANI hat seinen eigenen Stil ebenfalls auf der
Grundlage von Nachahmung und Transkription entwickelt:
"Jazz ist sehr autodidaktisch. Man muß die Menschen kopieren, die man ver-ehrt. Ich habe alle Oscar-Peterson-Soli kopiert und von der Platte notiert. Alle, die ich liebe, Bill Evans, Errol Garner, Art Tatum... ich habe sie alle studiert und dann langsam meine eigene Stimme gefunden." (Rheinische Post, 2.2.1998)
Der Kino-Organist HORST SCHIMMELPFENNIG, der in den zwanziger Jahren das
Glück hatte, durch seinen Bruder, Musiker auf einem Ozeandampfer, Zugang zu
Schallplatten aus den USA zu bekommen, schildert seinen Zugang zur Musik gera-
dezu als Lehrstück auditiven Lernens:
"Der Klang dieser Orgel hat mich fasziniert, infiziert, möchte ich sagen. Ich habe mir diese alten Schellackplatten so oft alleine am Klavier vorgespielt, mitgespielt, zusammen gespielt, in der gleichen Tonart, so daß ich die Melodie und Harmoniebegleitung erfaßte und bis zum heutigen Tag nicht vergessen konnte. Ich habe gar nicht gewußt, daß es für mich als Junge damals ein uner-hörtes Musikdiktat war; das Gehör wurde geschult, das Erinnerungsvermögen und der Sinn für Klang. So kam ich zur Musik." (SCHMIDT 1987, 345)
Notentext erfüllt in diesen Fällen nur die Funktion eines Hilfsmittels und damit Se-
kundärmediums, mit dem die primäre klangliche Anregung, die zur selbstständigen
Anfertigung der Partitur führte, untrennbar verbunden ist. Ähnlich wie vor Etablie-
rung der Klassik im 19. Jahrhundert (vgl. S. 44) erfüllt er hier weniger die Rolle ei-
ner absoluten Referenz, sondern dient mehr als Gedächtnisstütze zum Zweck der
132
Reaktivierung ursprünglicher klanglicher Vorstellungen (vgl. SCHLÄBITZ 1997b,
19).
Lernprozesse mittels auditiver Medien sind für jüngere Musikstile, insbesondere des
populären Bereichs, typisch. Gegenüber klassischem Instrumentalunterricht besteht
hier ein grundlegend anderer Medienansatz. Die Akzeptanz moderner Kommunika-
tionsmedien durch die Musiker dieser Stile ist sehr hoch, und ihre Anwendung er-
folgt im Gegensatz zur klassischen Musikerziehung mit großer Selbstverständlich-
keit. Wie aus der folgenden, von JOSEF ZAWINUL berichteten Anekdote hervorgeht,
wurde die Möglichkeit der Tonaufzeichung von Jazz-Musikern sehr früh aufgegrif-
fen. So war bereits im Jahr 1963 für den Jazz-Saxophonisten BEN WEBSTER das
Tonbandgerät entscheidende Übungshilfe. ZAWINUL stellte WEBSTER damals wäh-
rend seiner Abwesenheit seine New-Yorker Wohnung zur Verfügung – für ihn keine
ganz uneigennützige Tat, denn so bekam er als junger Europäer die Gelegenheit, im
persönlichen Kontakt mit seinen Vorbildern zu spielen und mit ihnen interagierend
zu lernen:
"Und wie ich zurückgekommen bin, hat der dort mit seinem Tape-Recorder gehaust – aber sehr ordentlich! – und hat da geübt. Und der Coleman Hawkins ist immer vorbeigekommen, und sie haben gespielt. So hab' ich ihn dort woh-nen lassen, denn es war ja groß genug, und hab' vier Monate mit diesen zwei Alten gespielt und gelernt und gelernt." (Keyboards 7/1996, 38)
Die Möglichkeit einer auf klanglicher Nachahmung beruhenden Lernkultur existiert
damit bereits nicht mehr nur auf der Grundlage des lebendigen Kontakts mit einem
leibhaftigen Lehrer als Vorbild, wie es von Musikern gefordert wurde (vgl. S. 126
ff.), sondern auch über mediale Vermittlung klingender Informationen und gewinnt
dadurch, nachdem sie in über hundert Jahren schriftlicher Musikerziehung in den
Hintergrund geraten war, erneut an Bedeutung. Der amerikanische Jazz-Pädagoge
JAMEY AEBERSOLD bezeichnet in seinem Lehrwerk Ein neuer Weg zur Jazz-Impro-
visation die Imitation mittels Tonträger als Standard-Lernmethode der meisten
Jazzmusiker:
"Ich empfehle, auch mit normalen Jazzaufnahmen mitzuspielen. [...] Das ist ausgezeichnetes Hörtraining. Die meisten Jazzmusiker der letzten Jahrzehnte haben auf diese Art zu spielen gelernt." (AEBERSOLD 1996, 35)
Die Beherrschung der Notenschrift ist damit nicht mehr zwingend Grundvorausset-
zung zum Musizieren. Der Bedeutungsverlust der Notation mündet sogar schon viel-
fach in einen vollständigen Verzicht. Zu den bedeutenden Musikern, die in der Zeit
133
der aufkommenden elektroakustischen Medien völlig ohne Notenkenntnisse
Weltruhm erlangt haben, gehören z.B. der Jazz-Pianist ART TATUM, der Komponist
IRVING BERLIN, JOHN LENNON, PAUL MCCARTNEY und LUCIANO PAVAROTTI.
Immer häufiger finden sich auch unter klassischen Musikern Beispiele für Lernpro-
zesse mittels auditiver Medien. Eine bemerkenswerte Lernbiographie schildert dies-
bezüglich der Londoner Klavierpädagoge PETER FEUCHTWANGER aus seiner Jugend
im amerikanischen Exil:
"Da ich als Kind wegen meiner unbefriedigenden Leistungen in der Schule keinen Klavierunterricht haben durfte und wir nach der Emigration auch kein Klavier zuhause hatten, schwänzte ich oft die Schule, ging statt dessen zu einer Nachbarin (einer alten Dame aus München) und spielte all das auf dem Kla-vier, was ich auf meinen und ihren Schallplatten gehört hatte. So spielte ich sämtliche Chopin-Etüden (nach Aufnahmen von Cortot und Backhaus), fast alle Beethoven-Sonaten nach Platten von Schnabel und viele andere Klavier-stücke nach. Da unser Plattenspieler und auch der der alten Nachbarin zu schnell lief und ich ein absolutes Gehör hatte, spielte ich alle diese Werke ei-nen Halbton zu hoch. Als ich die Werke darauf in Konzerten in der richtigen Tonart hörte, transponierte ich sie sofort einen halben Ton tiefer ohne jegliche Schwierigkeiten. Dadurch lernte ich auch die natürlichste Art zu transponieren, worauf ich auch bei meinen Schülern großen Wert lege. Ich muß noch hinzu-fügen, daß ich keine Noten lesen konnte." (FEUCHTWANGER 1996, 18)
Auch die Pianistin IDIL BIRET war mittels Schallplatten in der Lage, ein Klavierkon-
zert von JOHANNES BRAHMS zu spielen, obwohl ihr der Zugriff auf Noten von Leh-
rer und Eltern verweigert wurde.
"Ich habe das zweite Klavierkonzert mit Toscanini und Horowitz auf Schall-platte gehört. Meine Eltern hatten das für mich gekauft. Und ich spielte das ganze Konzert auswendig von der Schallplatte. Ich machte mir sogar meinen eigenen Klavierauszug." (BUSLAU 1997, 9f.)
Solche Lernvorgänge mittels Tonaufzeichnungsmedien sind bislang Ausnahmen und
vollziehen sich meist außerhalb des Unterrichts oder gar im Konflikt mit dem Leh-
rer. Für die polnische Pianistin EWA KUPIEC stand sogar der Verbleib an der Musik-
schule in Frage. Sie berichtet über ihre Zeit am Lyzeum in Katowice:
"Diese Jahre, zwischen 12 und 15, waren wahrscheinlich die intensivsten über-haupt. Denn ich konnte keine Noten schreiben, konnte ja aber perfekt nach dem Gehör spielen. Als ich dann 15 war, hatte man sich entschieden, daß ich weiter auf dieser Schule bleiben kann." (DÜRER 1998, 10)
134
Die hier geschilderten Lernwege erinnern an den kindlichen Spracherwerb und ver-
körpern theoretisch in idealer Weise das Vorbild des MARTIENSSENSCHEN "Wun-
derkindkomplexes" (vgl. S. 94). Sie müßten demgemäß eigentlich als beispielhaft
für Musiklernen angesehen werden. Allerdings führen in der Praxis bereits zaghafte
Versuche, die tradierte Monokultur schriftlicher Vermittlung vorsichtig durch Ton-
träger auch nur zu ergänzen, in Fachkreisen der Instrumentalpädagogik zu erhebli-
chen Irritationen. So sieht sich beispielsweise der Klavierpädagoge und Journalist
STEFAN DETTLINGER einer "verkehrten Welt" gegenüber. Die Tatsache, dass nun
erstmals klangliche Vorbilder in multimedialer Kombination (Klaviernotenausgaben
mit CD, Peters Young Classics Edition) präsent sind, wird von ihm als Gefahr in
mehrfacher Hinsicht gesehen:
"Denn schließlich, verkehrte Welt hin oder her, gewinnt bei den Jugendlichen auch vor allem das Achtung und Wichtigkeit, was auf CD gepreßt wurde und dadurch bequem abrufbar ist. Der Reiz liegt dann aber in der Befriedigung ei-ner Art Nachahmungstrieb, in einer frugalen Imitation. Daß damit ein latenter Verlust an Interpretationsfreiheit einhergehen könnte, ein kreatives Suchen durch geistloses, mechanisches Funktionieren ersetzt, steht auf einem anderen Blatt geschrieben. Denn gerade junge Menschen bekommen sehr schnell eine feste Vorstellung von den Dingen und sind der Gefahr einer Geschmacksnor-mierung ausgeliefert. So könnten sich in den Köpfen rasant starre Interpreta-tionsmuster festsetzen, die vom Klavierlehrer dann in schweißtreibender Arbeit wieder hinauskatapultiert werden müßten. Zweifellos manipuliert die beigelegte CD aber auch das Vorspielverhalten des Klavierlehrers im Unterricht. Für ihn könnte sich, angenommen derartige Edi-tionen gewännen Hegemonie über die einfachen Notenheftchen, einiges än-dern. Er könnte sich etwa beim Vorspiel in der Stunde, um dem Vergleich mit der makellosen Peters-CD standhalten zu können, plötzlich einem Perfektions-zwang ausgeliefert fühlen, der ihn zum Üben vor der Stunde zwingt." (DETTLINGER 1998, 60)
Es sei unbestritten, dass in fortgeschrittenem Ausbildungsstadium zum Interpreten
die Auseinandersetzung mit schriftlichen Quellen entscheidend ist. Auch ist die CD
sicherlich kein ideales Lernmedium. Eine generelle Ablehnung auch unterstützender
Funktionen auditiver Medien beim Musiklernen könnte aber entscheidende Chancen
verschenken. Erstens widerspricht eine solche Ablehnung den Äußerungen aller in
Abschnitt 4.2 zitierten Musiker zum Primat des klingenden Vorbilds, zweitens lie-
gen inzwischen genügend unterschiedliche Interpretationen von Werken auf Tonträ-
gern vor, so dass der Lehrer wie bei der Wahl von Notenausgaben für den Schüler
135
auch hier eine Vorauswahl geeigneter Interpretationen treffen könnte, drittens stellt
das allenthalben geforderte Vorspiel durch den Lehrer eine ebensolche Vorbeein-
flussung des Schülers dar, viertens ist es für viele Schüler eine Überforderung, sich
ohne klingendes Vorbild eine eigene Vorstellung aus dem Text zu bilden und fünf-
tens sollte sich jeder Klavierschüler glücklich schätzen, sollte er auch nur annähernd
in der Lage sein, eine ihn ansprechende, auf Tonträger vorliegende Interpretation
nachzuahmen. Möglicherweise entscheidende und entlarvende Beweggründe für
vielfache Skepsis dem Medium gegenüber offenbaren sich dem Leser schließlich im
letzten Absatz des Zitats von DETTLINGER: Dem Schüler, der dem ungeübtem Vor-
trag durch den Lehrer bisher keine wesentlich differenzierteren Klangerfahrungen
entgegenzusetzen hatte, soll kein Anlass gegeben werden, an dessen Vorbild zu
zweifeln. So verkehrt sich das Argument, den Schüler vor schlechten Vorbildern
bewahren zu müssen, ins Gegenteil: Die Ablehnung des neuen Mediums stellt einen
Versuch zur Abwehr von Konkurrenz dar. Viele Instrumentalpädagogen befürchten
(möglicherweise zu Recht) durch Medieneinfluss klingender Information eine Ge-
fahr für den eigenen Unterrichtsstil und damit einen ähnlichen Macht- und Auto-
ritätsverlust des vorgeblich eingeweihten (vgl. S. 46), in Wirklichkeit aber in seinen
Möglichkeiten beschränkten Lehrers, der auch im Zuge der Verbreitung von
Büchern bereits vor Jahrhunderten das Ende der Ausnahmestellung des Schrift-
kundigen besiegelte. NORBERT SCHLÄBITZ schreibt dazu in seinem Buch Der
diskrete Charme der Neuen Medien:
"Es hat immer wieder Bestrebungen gegeben, nur bestimmte Effekte zuzulas-sen und zu nutzen, andere aber explizit auszugrenzen. Blieb mit der Schrift Wissen noch weitgehend ein Arkanum, da dessen Verwaltung einigen wenigen oblag, welche zugleich auch darüber bestimmten, was an neuem Gedankengut für schriftwürdig befunden wurde, so wurde mit dem Buchdruck Wissen ver-vielfältigbar und für jeden zugänglich. Damit einher ging aber Machtverlust, denn mit der Anzahl der Lesenden stieg die Anzahl der Interpretationen, wel-che zudem in gedruckter Form ihre eigenen Kreise ziehen konnten. Auf eine kanonisierte Denkrichtung wie zur Zeit der Manuskriptkultur zu zwingen, als Schriftgelehrte (meist aus kirchlichen Kreisen) das Geschriebene vortrugen und zugleich die 'richtige' Lesart an die Hand gaben, war fortan schwierig." (SCHLÄBITZ 1995, 75)
Ähnlich schwierig wird es künftig sein, Schüler vor unterschiedlichsten medial ver-
mittelten auditiven Eindrücken zu "schützen".
Bereits zu Zeiten C. PH. E. BACHS vollzog sich ein ähnliches Rückzugsgefecht mit
dem Versuch der Ausgrenzung fremder Kompositionen aus dem Unterricht. Damals
wurde als Vorwand, vom Schüler fremde Kompositionen fernzuhalten, unter ande-
136
rem das Argument genannt, diese seien zu alt oder zu schwer (siehe S. 19). Ähnlich
scheint heute das gelegentlich geäußerte Argument, auditives Lernen sei zu schwie-
rig, häufig eine Übertragung der eigenen Beschränkung visuell erzogener Lehrer auf
ihre Schüler darzustellen. Die Äußerung DETTLINGERS beweist aus dieser Sicht
nichts anderes als die Unvereinbarkeit von auditivem Zugang und Dilettantismus,
wiewohl sich auch der Dilettantismus im 19. Jahrhundert in enger Kopplung an die
Entwicklung der Schriftlichkeit verbreitet hatte (vgl. Abschnitt 2.2.2).
Insbesondere die zunehmende Flexibilisierung in der Handhabung auditiver Medien
wird aber Lernvorgänge über das Ohr weiter erleichtern und auditives Lernen an-
hand musikalischen Materials beliebig wählbarer Komplexität ermöglichen, so dass
derartige Lernvorgänge auf dem individuellen Niveau eines jeden Schülers möglich
werden. Versuche, solche Medieneinflüsse dauerhaft aus dem Musikunterricht fern-
zuhalten, werden misslingen. NORBERT SCHLÄBITZ vergleicht mit der bereits voll-
zogenen Medienrevolution des Buchdrucks:
"Dabei sind, wie die Geschichte des Buchdrucks beispielhaft zeigt, Versuche der medialen Botschaft entgegenzuarbeiten von Seiten Interessierter schlicht zum Scheitern verurteilt." (SCHLÄBITZ 1997a, 23)
Schallplatten und Tonbänder waren nur in begrenztem Umfang in der Lage, musi-
kalische Lernvorgänge, insbesondere komplexerer Arten von Musik, zu unterstüt-
zen. Für das auditive Lernen stellen alle Medien der gegenwärtig zu Ende gehenden
"Frühzeit" der Elektroakustik (z.B. Schallplatten und Tonbänder) aufgrund beliebi-
ger Wiederholbarkeit zwar eine wesentliche Erleichterung dar, indem sie die ur-
sprüngliche Flüchtigkeit der Musik aufheben. Nachahmendes Lernen mit Hilfe die-
ser Medien wird jedoch erschwert durch umständliche Handhabung. Ein solches
Medium, ausschließlich zur Wiedergabe ganzer Werke konzipiert, bietet kaum di-
daktisch verwertbare Eigenschaften. Sollten sich beim Lernvorgang Schwierigkeiten
ergeben, ist die Fokussierung eines kleinen Ausschnittes mittels exakter Wiederho-
lung dieses Teils z.B. ebenso wenig möglich wie die Veränderung der Wiedergabe-
geschwindigkeit ohne gleichzeitige Veränderung der Tonhöhe. Deshalb eignen sich
diese Medien nur bedingt für musikdidaktische Zwecke. Wie aus Kapitel 3 hervor-
ging, entstehen aber neue Möglichkeiten, die diese Einschränkungen aufheben.
Wenn die Medienentwicklung künftig Mittel zur Verfügung stellt, die es jedermann
ermöglichen, auditiv entsprechend seinen Fähigkeiten zu lernen, könnte die Aus-
nahmestellung musikalischer Begabung in unserer Gesellschaft (s. u. S. 140f.) revi-
diert werden. Als entscheidend wird sich dabei die Qualität neuer Medien erweisen,
Information beliebig zeitflexibel und multimedial zu strukturieren. Dies bedeutet,
137
dass die Informationsübermittlung auditiv-visuell für jeden Schüler individuell ge-
staltbar ist. Schwächen im Notenlesen sind damit ebenso zu bekämpfen wie die
heute noch sehr verbreitete Unfähigkeit zur Transposition oder auditiven Nachah-
mung.
Doch handelt es sich bei den beschrieben Lernprozessen von Musikern anhand au-
ditiver Medien nicht vielleicht doch um Ausnahmen aufgrund außergewöhnlicher
genetischer Voraussetzungen, also angeborener Begabung? Im nächsten Abschnitt
soll die gegenteilige Ansicht untermauert werden, nämlich dass entscheidende Fak-
toren des Umgangs mit Musik durch die mediale Strukturierung der zu lernenden
Informationen bestimmt sind und damit gesteuert werden können. Die Darbietung
dieser Information gerät damit zur musikpädagogischen Kernfrage im Informations-
zeitalter.
4.4 Das Problem der Strukturierung
Notentexte in ihrer tradierten Form verleiten dazu, Einzelereignisse wahrzunehmen,
anstatt diese Ereignisse miteinander in Beziehung zu setzen und erschweren auf
diese Weise das Verständnis musikalischer Strukturen. Die Fortschritte nach Noten
lernender Schüler beschränken sich weitgehend auf das lineare Entschlüsseln von
Texten zunehmender Komplexität. Dieses Manko beklagt der Frankfurter Cellist
und Professor GERHARD MANTEL in seinem Aufsatz Strategien des Unterrichts.
Seine folgende Äußerung handelt von der Progression von Lehrwerken für Strei-
cher; sie ist aber auf alle pädagogischen Notenausgaben, unabhängig vom Instru-
ment, übertragbar; für Klavier gelten sie umso mehr, als hier die Komplexität der
Texte im Allgemeinen einen deutlich höheren Grad aufweist als bei Streichern. Die
Rede ist von gedruckten Lehrwerken für den Unterricht am Streichinstrument:
"Sie bemühen sich zwar in den angebotenen Texten durchaus sinnvoll, vom Leichten zum Schwierigeren fortzuschreiten. Die Schwierigkeit bezieht sich aber ausschließlich auf die Komplexität von Texten, also nur auf einen einzi-gen der vielen beim Unterricht relevanten Parameter. Am Text wird gelernt, das 'Richtige' vom 'Falschen' zu unterscheiden, eine letzten Endes unkünstleri-sche Dichotomie;" (MANTEL 1994, 17)
Der musikalische Notencode beruht auf kleinsten Einheiten, wobei die Fähigkeit zu
deren Erfassung und Unterscheidung vielfach irrtümlich als entscheidende Grund-
lage musikalischer Bildung und als hinreichende Voraussetzung für die Fähigkeit
138
zur Interpretation betrachtet wird.31 Dieser Irrtum beruht auf der Missachtung der
Tatsache, dass das schriftliche Medium die aus diesen kleinsten Einheiten gebildeten
größeren musikalischen Strukturen dem Lernenden aufgrund seiner Linearität nicht
zwangsläufig vermittelt, sondern tendenziell eher vorenthält. Der Musikpsychologe
JOHN A. SLOBODA weist auf die sinngebende Bedeutung solcher größerer musikali-
scher Einheiten hin, die sich weit über den vordergründigen Notentext hinaus er-
strecken. Er verwendet dafür den Begriff der semantischen Makrostruktur, der im
weiteren Verlauf eine wichtige Rolle spielen wird:
"Eine lernpsychologisch sinnvolle Gestaltung von Notentextausgaben durch die einschlägigen Musikverlage fehlt bislang. [...] Neuere Untersuchungen zur Textverarbeitung [...], die auch auf den musikalischen Bereich anwendbar er-scheinen, belegen anschaulich die Notwendigkeit angemessener Darstellungs-strukturen. Erst wenn Informationen zur semantischen Makrostruktur verdich-tet werden, ist ein signifikanter Behaltenszuwachs gewährleistet." (SLOBODA 1993, 554)
Auch der Lübecker Pädagoge WILFRIED RIBKE verwendet in seinem Artikel zum
Thema Üben im Handbuch der Musikpsychologie diesen Begriff der Makrostruktur,
deren Erfassung er als entscheidend für sinnvolles Üben erachtet. Auch RIBKE sieht
die mangelnde Vermittlung solcher Makrostrukturen beim Lernen nach Noten als
entscheidendes Defizit:
"Die Integration und Koordination von Noten- und Bewegungsbild (visuelle Ebene) mit der jeweiligen Klang- und Bewegungsvorstellung (auditiv-kin-ästhetische Ebene) sowie deren Repräsentation durch entsprechende Katego-rien, Ausdrucksempfindungen und interpretatorische Konzepte zählen zu den Hauptaufgaben des Übens, die unterschiedliche Gedächtnisleistungen bean-spruchen. Die weitverbreitete Angewohnheit, selbst einfache Tongruppen mit ständigem Blickkontakt zum Notentext zu üben, verhindert nicht nur die inten-sive Wahrnehmung, Vorstellung und Einspeicherung der genannten Reprä-sentationsebenen, sondern ist auch eine der Hauptursachen für fehlerhaftes Spiel. Auswendiges Üben zumindest in Teilbereichen ist deshalb eine grundle-
31 Um das Problem dieser unkünstlerischen Dichotomie anschaulich zu machen, könnte man die
von MANTEL beschriebene Musikerziehung nach Noten vergleichen mit einer Lehrmethode der
Bildenden Kunst, in der bis zur höchsten Komplexität immer schwierigere Umrisse mit be-
stimmten, vorgegebenen Farben ausgemalt werden müssen. Solche Methoden finden sich bei-
spielsweise in Malbüchern, die unter dem Begriff "Malen nach Zahlen" geführt werden. Ähnlich
wie beim linearen Notenspiel vermitteln sich hier künstlerische Strukturen, wenn überhaupt, eher
zufällig.
139
gende Voraussetzung für den Aufbau musikalischer Makrostrukturen, die erst zu einer angemessenen Klangvorstellung führen." (RIBKE 1993, 555)
Entscheidende Probleme des verbreiteten Musikunterrichts können auf eine defizi-
täre Vermittlung solcher Makrostrukturen beim visuellen Lernen zurückgeführt
werden. Dieses Phänomen stellt ein wesentliches Manko auch speziell des Kla-
vierunterrichts spätestens seit seiner Institutionalisierung in Konservatorien und die
Beschränkung der Ausbildung auf die Reproduktion in der zweiten Hälfte des 19.
Jahrhunderts dar. Die bereits u. a. von HUGO RIEMANN (vgl. S. 61) und ARNOLD
SCHÖNBERG (vgl. S. 127) beklagte Ausbreitung des Dilettantismus als vermeintli-
ches Musikertum in der Tradition des fortgeschrittenen 19. Jahrhunderts steht in
ursächlichem Zusammenhang mit der weitgehenden Beschränkung des Instrumen-
talunterrichts auf die Wiedergabe von Notentexten.
Noch härter als HUGO RIEMANN und ARNOLD SCHÖNBERG ging im Jahr 1921 der
Dirigent und Musikpädagoge HEINRICH JACOBY mit der defizitären Praxis des
landläufigen Instrumentalunterrichts ins Gericht und artikulierte als einer der ersten
einen ursächlichen Zusammenhang zwischen grundsätzlichen Problemen der Mu-
sikpädagogik und ihrer Methode der schriftlichen Vermittlung. In der folgenden
Kritik am üblichen Klavierunterricht aus seinem Aufsatz Jenseits von Musikalisch
und Unmusikalisch finden sich Begriffe wie "Dilettanten", "Musikerproletariat" und
"Konservatorien" im folgenden Zusammenhang:
"Der Musikunterricht, wie er heute meistens verläuft, ist geradezu ein Schul-beispiel dafür, wie Erziehung nicht sein soll. Wenn sich die Richtigkeit eines Weges daran erkennen läßt, daß er zum Ziel führt, so zeigen die unzulängli-chen Leistungen der meisten Dilettanten, [...] vor allem aber das halbgebildete Musikerproletariat, dem unsere Konservatorien alljährlich neuen Zustrom bringen, deutlicher als alle theoretischen Überlegungen und Untersuchungen, daß der bisherige Weg nicht einmal für besonders 'Musikalische' der richtige sein kann. Am greifbarsten treten seine Mängel beim Instrumentalunterricht zutage und da wieder am deutlichsten bei dem unglücklicherweise am weitesten verbrei-teten Klavierspiel: Mit seltenen rühmlichen Ausnahmen beginnt man den Un-terricht mit der Benennung der Noten." (JACOBY 1995, 16)
Aus einer deskriptiven Notation, die ursprünglich dazu geschaffen war, flüchtige
musikalische Gedanken festzuhalten, sei nach JACOBY eine präskriptive Notation
geworden, seien Noten geworden, die
140
"[...] die Musik diktieren – uns Grundlage und Vorbild für alles Musizieren lie-fern. [...] Vom ursprünglich spontanen musikalischen Ausdruck ist schließlich nichts übrig geblieben als die Gewohnheit, sobald man musizieren will, Musik nach diesen Noten zu 'machen', d. h. Noten, die irgendein anderer zusammen-gesetzt – komponiert – hat, meist noch ein anderer 'herausgegeben' und inter-pretiert hat, möglichst genau nach Vorschrift zum Klingen zu bringen." (JACOBY 1995, 41f.)
JACOBY gibt der Tradition der Musikpädagogik die Hauptschuld an dieser Situation,
denn einerseits machten die ausbildenden Instanzen sich und ihre Schüler zu Skla-
ven der Notentexte, andererseits gäben sie aber ihrer eigenen Tätigkeit den Anstrich
von etwas Besonderem, eben Künstlerischem, und damit nicht für jedermann Zu-
gänglichem, wodurch Kritik an ihrer Didaktik unmöglich würde. Dadurch bekäme
die "Exegese" von Notentexten, welche die genannten Berufsgruppen als ihre
Hauptaufgabe begriffen, so JACOBY, eine beinahe mystische Dimension, deren
Sphären nur einer Minderheit, nämlich den besonders "Begabten" offenstünden. Er
fährt fort:
"Durch die Entwicklung und Verbreitung dieses Verfahrens bildet sich dann eine Kaste, die die Bewahrung und Überlieferung der Begriffe und der zu lee-ren Formeln gewordenen Symbole in die Hand nimmt, die weitere Komplizie-rung der Gehäuse berufsmäßig betreibt, den Notenhaufen hütet und vergrößert, – und die Handhabung der Instrumente lehrt, mit deren Hilfe man 'Noten zum Klingen bringen kann', und die alles tut, den Nimbus zu verbreiten und auf-recht zu erhalten, daß sie etwas 'Besonderes', etwas nur 'Auserwählten', 'Be-gabten' Zugängliches hege und pflege." (JACOBY 1995, 42)
So radikal diese Einschätzung möglicherweise erscheinen mag, bietet sie doch eine
Erklärung für ein Spezifikum unserer westlichen Musikkultur: die Einteilung in
viele musikalisch "unbegabte" Durchschnittsmenschen und wenige besonders "Be-
gabte". Diese Ausnahmestellung der Begabung behindert die musikalische Entfal-
tungsmöglichkeit des folglich als unmusikalisch erachteten Großteils der Gesell-
schaft, wie auch JOHN A. SLOBODA in einem Aufsatz aus dem Jahr 1993 betont. Er
vergleicht darin die gegenwärtige Situation in der westlichen Welt mit anderen
Kulturkreisen der Erde und hält es für
"[...] wichtig aufzuzeigen, daß neben der westlich-europäischen Musikkultur eine Vielzahl traditioneller Musikkulturen existieren, in denen musikalische Leistungen in der Bevölkerung viel verbreiteter sind als bei uns. In diesen Kulturen ist Musik oft viel tiefer im ganzen Leben und in der Arbeit der Ge-sellschaft verwurzelt [...]. Auf lange Sicht mag es sich herausstellen, daß die
141
moderne westliche Gesellschaft als ungewöhnlich bezeichnet werden muß, weil sie die musikalische Entwicklung bei nahezu allen Menschen bis auf eine kleine Minderheit behindert." (SLOBODA 1993, 576)
Betrachtet man Musik aber als anthropologisch begründetes Phänomen, so kann es
nicht als Normalzustand akzeptiert werden, wenn musikalische Betätigung einer ge-
sellschaftlichen Minderheit vorbehalten bleibt. Allerdings wäre es zu einfach, die
Fachkreise der etablierten Musikpädagogik der mutwilligen Erzeugung von Unmu-
sikalität wider besseres Wissen zu bezichtigen. Eine entscheidende Ursache für die
vorliegende Problematik stellt vielmehr die beschriebene Rolle der Schriftlichkeit in
der europäischen Musikkultur dar und liegt in den damit verbundenen Schwierig-
keiten begründet, die Praxis des Musizierens mit der Speicherung musikalischer In-
formation strukturell zu verbinden.
Die Trennung zwischen einerseits praktischem Musizieren und andererseits der Co-
dierung von Musik mit Hilfe schriftlicher Medien erzeugt Interferenzen, die zu
überwinden nur eine Minderheit, eben die Gruppe der besonders "Begabten", in der
Lage zu sein scheint. Der musikalische Notencode ist über Jahrhunderte entstanden,
und sein Verständnis erfordert Einsichten in musikalische Strukturen, die in der Re-
gel noch nicht vorhanden sein können, wenn mit Musikunterricht auf schriftlicher
Grundlage begonnen wird; eine Erkenntnis, der FRIEDRICH WIECKS Alter Ego in
Gestalt des Lehrers Das in seinem Unterricht folgendermaßen Rechnung trägt, was
allerdings in einer Zeit vor Erfindung auditiver Medien zwangsläufig an sehr zeitin-
tensiven persönlichen Kontakt mit dem Lehrer gekoppelt war (vgl. Kap. 2.1):
"Ich habe also meine Schüler musikalisch und fast zu fertigen, guten Clavier-spielern gebildet, ehe sie eine Note lernten;" (WIECK 1853, 6)
Für den Schüler muss die historisch gewachsene schriftliche Codierung in Einzeltö-
nen oft willkürlich und undurchsichtig erscheinen, worauf auch der Schweizer Ma-
thematiker und Musiker GUERINO MAZZOLA in seinem Buch Geometrie der Töne
hinweist, indem er die elitäre Trennung in wenige Musikalische und viele Unmusi-
kalische wesentlich auf die aus Schülersicht arbiträre Struktur des schriftlichen Zei-
chencodes zurückführt:
"Die überwiegend unmotivierte Zeichenstruktur des musikalischen Notencodes ist [...] ein Grund für die Elitebildung in unserer Musikkultur." (MAZZOLA 1990, 9)
142
Im Zuge der Trennung von Komposition und Interpretation und der damit verbun-
denen Verselbständigung des Musikwerks und seiner Verbreitung und Aufführung
losgelöst vom Komponisten übernahmen Notentexte notwendig eine Funktion als
Primärmedien, die ihnen ursprünglich nicht zu eigen war. Sie mussten intersubjektiv
verstehbar sein und die Vorstellungen des Komponisten möglichst unmissverständ-
lich vermitteln (vgl. KNOLLE & WEIDENFELD 1998, 52). Da eine Partitur aber immer
nur einen kleinen Teil der zu überliefernden Gedanken des Autors enthalten kann32,
besteht beim Studium des Notentextes durch Rezipienten, deren musikalische Bil-
dung sich auf einem anderen Niveau befindet oder in vom Komponisten abweichen-
dem kulturellem Kontext erfolgte, generell die Gefahr der Fehlinterpretation. Nahe
liegende und konsequente Gegenmaßnahme der Komponisten gegen diese Erschei-
nung war eine zunehmende Verfeinerung und Komplizierung der Notation – mit
dem aus pädagogischer Sicht fragwürdigen Resultat weiter steigender visueller Ver-
einnahmung des Spielers.
Eine zunehmende Verfeinerung von Notationsweisen muss also nicht zwangsläufig
zum besseren Verständnis von Werken führen und kann nicht darüber hinweg täu-
schen, dass die Schrift im musikalischen Zusammenhang immer nur eine sekundäre
Funktion unter der Voraussetzung einer primären Klangerfahrung erfüllen kann.
Wesentliche der in Kapitel 2 geschilderten Schwierigkeiten und Missverständnisse
der klassischen Musikerziehung können auf eine Überschätzung des Notentextes als
Primärmedium im pädagogischen Kontext zurückgeführt werden.
Dass es sich beim Phänomen der Spaltung in viele unmusikalische und wenige mu-
sikalische Menschen nicht um einen akzeptablen Zustand handeln kann, darauf
deuten neben den interkulturellen Vergleichen von JOHN A. SLOBODA auch Beob-
achtungen innerhalb der westlichen Kultur hin. HEINRICH JACOBY beobachtete einen
scheinbar paradoxen Zusammenhang: gerade unter den scheinbar "Unmusikali-
schen" glaubt er wider Erwarten einen besonders hohen Anteil von Menschen aus-
machen zu können, die eine ausgeprägte emotionale Affinität zur Musik haben:
32 In dem US-amerikanischen musikpädagogischen Werk Der Mozart in uns wird beispielsweise
davon ausgegangen, dass der Notentext nur etwa ein Zehntel aller musikrelevanten Phänomene
codieren kann: "Das bedruckte Notenblatt spiegelt nur einen kleinen Teil der Musik wider (vielleicht 10 %)."
(GREEN / GALLWEY 1993, 61)
Eine so exakte Bestimmung scheint zwar übertrieben, verdeutlicht aber die Problematik: Über-
steigt die Komplexität eines Notentextes das musikalische Fassungsvermögen des "Interpreten",
ist eine oberflächliche Wahrnehmung unter Auslassung großer Teile der eigentlichen musikali-
schen Zusammenhänge die zwangsläufige Folge. Die Aufmerksamkeit des Ausführenden verla-
gert sich hierbei weg vom eigentlich notwendigen transmediellen Aspekt, der in einer Art ganz-
heitlicher Wahrnehmung zunächst geistig das Klangerlebnis wiederaufleben lässt, bevor er es er-
klingen lässt, hin zum visuell-motorischen.
143
"Merkwürdig und bezeichnend ist es [...], daß man unter diesen 'Unmusikali-schen' auffallend viele Menschen trifft, die Musik leidenschaftlich lieben und so ein ausgesprochenes Gefühlsleben haben, daß man annehmen sollte, der musikalische Ausdruck entspräche ihrem Wesen am ehesten." (JACOBY 1995, 14)
Ein eindrucksvolles Beispiel für diese Pervertierung der Kategorien "musikalisch"
und "unmusikalisch" bei schriftlicher Musikvermittlung liefert die Erzählung Der
Musikfeind aus der Kreisleriana von E. T. A. HOFFMANN. Er beschreibt dort aus der
Sicht eines Kindes, wie dessen musikalische Neigungen durch die musikpädagogi-
schen Bemühungen seiner visuell orientierten Umgebung zunichte gemacht werden.
Höhepunkt dieser Vernichtung von Musikalität in Gestalt von Klavierunterricht ist
der Vortrag eines Scherzos, das der Erzähler aufgrund seines auditiven Zugangs ver-
sehentlich nach F-dur transponiert anstatt im notierten E-dur vorgetragen hatte:
"Ich setzte mich [...] an den Flügel und hämmerte meine Stückchen frisch dar-auf los, und mein Vater rief einmal über das andere: 'Das hätte ich nicht ge-dacht!' – Als das Scherzo zu Ende war, sagte der Kantor [sein Klavierlehrer, H.K.] ganz freundlich: 'Das war die schwere Tonart E-dur!' und mein Vater wandte sich zu einem Freunde, sprechend: 'Sehen Sie, wie fertig der Junge das schwere E-dur handhabt!' – 'Erlauben Sie, Verehrtester', erwiderte dieser, 'das war ja F-dur.' – 'Mitnichten, mitnichten!' sagte der Vater. 'Ei ja doch', versetzte der Freund: 'wir wollen es gleich sehen.' Beide traten an den Flügel. 'Sehen Sie', rief mein Vater triumphierend, indem er auf die vier Kreuze wies. 'Und doch hat der Kleine F-dur gespielt', sagte der Freund. – Ich sollte das Stück wiederholen. Ich tat es ganz unbefangen, indem es mir nicht einmal recht deutlich war, worüber sie so ernstlich stritten. Mein Vater sah in die Tasten; kaum hatte ich aber einige Töne gegriffen, als mir des Vaters Hand um die Oh-ren sauste. 'Vertrackter, dummer Junge!' schrie er im höchsten Zorn. Weinend und schreiend lief ich davon, und nun war es mit meinen musikalischen Unter-richt auf immer aus." (HOFFMANN 1983, 99)
Ein von schriftlichen Medien dominierter Musikunterricht tendiert also dazu, krea-
tive und originär musikalische Kategorien, die sich vorwiegend dem Gehörsinn
vermitteln, zu benachteiligen zu Gunsten normativer und restriktiver Lernformen.
Daran konnte sich aufgrund der im Musikunterricht unveränderten Mediensituation
trotz allgemeiner Fortschritte der Pädagogik seit E. T. A. HOFFMANN bis heute
nichts Grundsätzliches ändern. Ein Beispiel aus der Gegenwart beschreibt der fol-
gende Ausschnitt aus einem Interview mit einer etwa 20-jährigen Studentin aus dem
Jahr 1996. Er liefert aufschlussreiche Einblicke in die Diskrepanz zwischen musika-
144
lischen Bedürfnissen der Schülerin und dem ihr noch in jüngster Zeit zuteil gewor-
denen Klavierunterricht. Aus ihrer folgenden Äußerung geht deutlich der Wider-
spruch zwischen dem starken Bedürfnis, selbst zu musizieren, und der erlittenen
Unterrichtsrealität hervor. Das Interview wurde zu allgemein musikalischen Themen
geführt, das Klavierspiel wurde dabei zufällig angeschnitten, als die Bedeutung von
Musik für das Leben der Studentin zur Sprache kam. Sie antwortete wie folgt:
"Ziemlich hohe Bedeutung, macht einen ziemlich großen Teil meines Lebens aus, würde ich sagen."
Bei der Beantwortung der Zwischenfrage:
"Machst du selber Musik?"
kommt die Interviewpartnerin nach einigem Zögern auf den ihr zuteil gewordenen
Klavierunterricht zu sprechen:
"Nein, kann ich leider nicht, also Klavier nur, aber... [Ende des Satzes]" (Tonbandprotokoll)
Der ihr zuteil gewordene Klavierunterricht konnte die Bedürfnisse der Inter-
viewpartnerin nach musikalischer Betätigung offensichtlich nicht befriedigen. Be-
zeichnenderweise – und bei reiner Reproduktion, wie im traditionellen Unterricht
üblich, genau genommen mit Recht – wird Klavierunterricht von ihr nicht einmal als
Tätigkeit des "Musikmachens" eingestuft. Nach wie vor bestehende grundsätzliche
Probleme dieser Art schildert auch ein Buch eigens zu dieser Thematik: "...mit Kla-
vierspiel hab' ich dann aufgehört" (ECKSTAEDT 1996).
Die schriftliche Musikvermittlung kann musikalische Bedürfnisse der Schüler of-
fenbar nur zu einem Teil befriedigen. Ein Unterricht mit Schülern, die sich weniger
restriktiven Lehrumfeldern unterzuordnen bereit sind und eigene Kreativität entfal-
ten wollen (eigentlich Grundvoraussetzung jeder künstlerischen Betätigung!), ist
unter solchen Voraussetzungen oft zum Scheitern verurteilt. HERBERT WIEDEMANN
befragte ehemalige Klavierschüler nach den Gründen für vollzogenen Unterrichts-
abbruch und fasst das Ergebnis in der lapidaren Formulierung zusammen:
"In einer Befragung, die sich auf Klavierspieler/innen beschränkte, wurde aber auch vielfach beklagt, daß die Inhalte des Klavierunterrichts und die Art der Vermittlung zum Abbruch geführt hätten." (WIEDEMANN 1996, 13)
145
In einer Kunstauffassung, bei der unter der erdrückenden Last der zu meisternden
Notenkonglomerate die Kreativität der eigenen künstlerischen Äußerung verloren
geht, lebt eine Geisteshaltung fort, die in der Tradition weiblicher Tugenden des 19.
Jahrhunderts auf fruchtbaren Boden fiel und bis heute erstaunliche Langlebigkeit
bewiesen hat (vgl. Abschnitt 2.2.2). Diese Tradition gipfelt im noch immer vorhan-
denen Ruf des Klavierunterrichts als Inbegriff von Lustfeindlichkeit, gleichzeitig
aber auch geeignetem Mittel tugendhafter Erziehung zu Disziplin und Ordnung. Wie
bereits im Jahr 1900 in der Zeitschrift Der Klavier-Lehrer das Klavier als "Marterin-
strument" (23. Jg., S. 341) tituliert wurde, wird es noch immer verbreitet mit
"Schweiß und Tränen" (BECKER 1996, 56) assoziiert.
Solche anti-emanzipatorischen Tendenzen werden auch heute noch genährt durch
gedruckte Klavierschulen. Aufgrund ihrer linearen und visuellen Struktur sind diese
nicht gut geeignet, musikalisch-kommunikative Lerninhalte zu vermitteln und för-
dern statt dessen dressurähnliche Lernformen. Dieses Verfahren beinhaltet auf min-
destens zwei Ebenen die Gefahr, dass künstliche Distanzen zwischen dem eigentlich
angestrebten Klangerlebnis und den geforderten Lerninhalten aufgebaut werden:
Zum einen werden Progressionen meist nach motorischem, nicht aber nach mu-
sikstrukturellem Schwierigkeitsgrad strukturiert. Der erwünschte Grad motorischer
oder visueller Komplexität des zu erlernenden Materials führt dadurch oft zu musi-
kalisch sinnlosen Strukturen, die dem Schüler die logischen (und damit auch histori-
schen) Voraussetzungen musikalischer Notation vorenthalten. Im Interesse einer
Förderung der Fähigkeit, Versetzungszeichen zu lesen, gerät beispielsweise das fol-
gende Stück aus dem ersten Band der Klavierschule Wir musizieren am Klavier von
JOHN W. SCHAUM zu einem Musterbeispiel für eine musikstrukturell irritierende
Notationswese, voller verminderter und übermäßiger Intervalle, die musikalisch
sinnentstellend wirken. Nach wenigen Wochen Unterricht muss hier innerhalb von
acht Takten drei Mal das tonale Bezugssystem gewechselt werden:
146
Abb. 22: JOHN W. SCHAUM: Wir musizieren am Klavier, Bd. 1.
Zum anderen werden die Bedürfnisse nach emotionalem Umgang und kreativer Be-
tätigung mit musikalischem Material häufig nicht befriedigt, da die visuelle Ver-
mittlung in Form linearen Notenspiels auf vorwiegend rational-reflektierender
Ebene abläuft. HEINRICH JACOBY bemerkt dazu:
"Beim üblichen Musikunterricht [...] werden diese 'unmusikalischen' Men-schen höchstens Objekt einer intellektuell-manuellen Dressur, wozu meistens das Klavier herhalten muß als das Instrument, für dessen Behandlung man, wie allgemein geglaubt wird, am wenigsten 'musikalisch' zu sein braucht." (JACOBY 1995, 14)
147
Insgesamt entsteht der Eindruck, als ob der verbreitete, visuell orientierte Zugang
zur Musik sich auf kognitiv-intellektuelle Leistungen stütze, die in der westlichen
Gesellschaft dominant geworden sind, die sich aber mit aktivem musikalischem Tun
nur schwer vereinbaren lassen. Dabei werden Schüler mit überdurchschnittlicher
rationaler Intelligenz einerseits zunächst bevorzugt, während Schüler mit geringe-
rem Abstraktionsvermögen benachteiligt werden. Andererseits besteht aber auch für
die zunächst bevorzugte Gruppe die Gefahr der zu starken visuellen Orientierung in
Verbindung mit der Vernachlässigung auditiver und ganzheitlich-musikalischer Fä-
higkeiten aufgrund der einseitigen Förderung ihres ohnehin bereits stärker ausge-
prägten rational-abstrahierenden Denkvermögens und damit der Ausbildung eines
typischen musikalischen Dilettantismus, wie er in Abschnitt 2.2.2 beschrieben
wurde. Für diese (nach üblichen Kriterien "begabte") Gruppe gelten die besonderen
Gefahren des visuell geprägten Spiels, die in Abschnitt 2.4 ausführlich diskutiert
wurden, während die andere, erfahrungsgemäß weitaus größere Gruppe in der Regel
schon früh als "unmusikalisch" aus dem Instrumentalunterricht entlassen wird und in
der Folge – zumindest bislang – dazu verurteilt ist, ihre in der Regel überaus bedeut-
samen musikalischen Bedürfnisse durch den Konsum von Tonträgern und Massen-
medien zu befriedigen.
Die in Abschnitt 2.4 dargelegten, teilweise äußerst aufwändigen Konzepte der Mu-
sikpädagogen, die Nachteile visuellen Musiklernens abzumildern (vgl. S. 96f.), un-
termauern den zwiespältigen Eindruck eines von schriftlichen Medien dominierten
Unterrichts. Keiner der Autoren, die sich dort mit diesen Problemen beschäftigten,
stellte aber das schriftliche Medium grundsätzlich in Frage.
Nichtsdestotrotz verliert die geschilderte Diskrepanz zwischen Inhalten des Instru-
mentalunterrichts und Bedürfnissen von Schülern mit der fortschreitenden Me-
dienentwicklung ihre Zwangsläufigkeit: Musikpädagogik verliert den Zwang zur
Beschränkung auf schriftliche Unterrichtsmedien, die dem Schüler häufig wichtige
Teile auditiver und musikalischer Erfahrungen vorenthalten.
Die Praxis heutiger "U-Musik" zeigt aufgrund ihres geringeren Alters und geringerer
Traditionsorientierung eine modernere Ausrichtung. Hier stellt der Tonträger das
primäre und die Notation das sekundäre Medium dar.33 Diese Re-Etablierung des
33 Die Tatsache, dass schriftliche Notation kein Primärmedium für diese Musikstile darstellt, be-
dingt auch die Fragwürdigkeit der Vermittlung von Popularmusik im Unterricht mittels Noten-
texten, denn Transkriptionen werden dem Charakter dieses Stils in der Regel nicht gerecht. Es
handelt sich um ein Missverständnis, wenn Klavierlehrer dem Wunsch des Schülers, im Unter-
richt auch Popmusik zu spielen, widerwillig nachkommen, indem (oft unter Schwierigkeiten)
148
Klangereignisses als Primärreferenz markiert, wenn auch bislang von der Musikwis-
senschaft kaum registriert, einen entscheidenden Schritt musikkultureller Entwick-
lung: jüngere Musikstile, die nach der Verbreitung elektroakustischer Aufzeich-
nungsmedien entstanden sind, werden zunehmend von diesen geprägt, wobei die
schriftliche Codierung ihre dominierende Rolle weitestgehend verliert. Damit voll-
zieht sich allmählich die Korrektur einer Schieflage, die über Jahrhunderte aufgrund
eines einseitigen Vorsprungs von Drucktechnologien gegenüber der Elektroakustik
entstanden war. Diese Korrektur vollzieht sich allerdings nur langsam, und in der
öffentlichen Meinung sind Vorstellungen vom Musizieren in der Regel noch immer
stark von traditionellen Kategorien der Schriftlichkeit geprägt. So wird z.B. im fol-
genden Ausschnitt aus einem Artikel der Bild-Zeitung als Spiegelbild der öffentli-
chen Meinung die Gedächtnisleistung des auswendig spielenden Pianisten DAVID
HELFGOTT als linearer Vorgang fehlinterpretiert. Dort wird zunächst Helfgotts Leh-
rer PETER FEUCHTWANGER zu dessen Gedächtnisleistungen beim Auswendigspiel
befragt; anschließend kommentiert die Bild-Zeitung:
"Das sind Abermillionen von Noten." (Bild, 24.5.1997)
Eine solche Äußerungsweise drückt ein von Vorstellungen der Schriftlichkeit be-
herrschtes Denken aus, das um die sinngebende Funktion musikalischer
Makrostrukturen nicht weiß – (ähnlich abwegig wäre es, die Leistung eines Schau-
spielers nach der Anzahl der auswendig gelernten Buchstaben zu bewerten). Auch
trägt eine solche verständnislose Bewunderung dazu bei, die Kluft zwischen Musi-
ker und Gesellschaft und damit die Ausnahmeerscheinung "musikalischer Bega-
bung" zu vertiefen.
Noch heute bezeichnen sich große Teile der Bevölkerung selbst als "unmusikalisch",
ohne dass dies als ehrenrührig aufgefasst würde – wobei sich diese Selbsteinschät-
zung bezeichnenderweise wiederum auf visuelle Kategorien gründet. Musikalität
wird nämlich in der Regel mit der hierfür vermeintlich entscheidenden Fähigkeit des
Notenlesens gleichgesetzt. Auch im folgenden Pressebericht über die nationale Vor-
entscheidung zum Eurovisions-Schlager-Grand Prix 2001 werden visuelle und audi-
tive Ebene vermischt:
"Zlatko, der Mann, der aus dem "Big Brother"-Container kam, erging es kaum besser - obwohl er noch getönt hatte, er sei sich '99,9 Prozent' sicher, das Ticket für Kopenhagen zu gewinnen. Dass der mazedonisch-stämmige
Noten fragwürdiger Qualität und Herkunft des gewünschten Stückes besorgt und dann in bester
Tradition der Werktreue Ton für Ton wiedergegeben werden.
149
Schwabe noch nicht einmal Noten lesen kann ('Bin ein Naturtalent'), konnte man bei seiner Ballermann-kompatiblen Hymne 'Einer für alle' allerdings ziemlich deutlich hören." (RP-Online 2001)
Notenlesen und Musizieren stehen aber in keinerlei zwingendem Zusammenhang.
Bei LUCIANO PAVAROTTI hört man eben nicht, dass auch er die Notenschrift nicht
beherrscht. Diese Irrtümer belegen, wie auch die erfolgreich verlaufene Normalisie-
rung des Alphabetismus der letzten Jahrhunderte, den prägenden Einfluss schriftli-
cher Medien auf unsere Kultur. Ebenso wie sich auf der Skala begabt – normal –
behindert die Voraussetzung für das Beherrschen von Lesen und Schreiben im Zuge
der Verbreitung schriftlicher Medien nach rechts verschoben hat, könnten aber neue
mediale Möglichkeiten des Umgangs mit akustischen Strukturen wieder zu einer
gesellschaftlichen Normalisierung von Musikalität führen.
Die für fundiertes Musiklernen erforderliche Ausprägung geeigneter semantischer
Makrostrukturen vollzieht sich, wie jedes Lernen komplexer Fähigkeiten, infolge
der Begrenztheit menschlicher Informationsverarbeitungskapazität in Form der Bil-
dung größerer Sinneinheiten. Von Psychologen wird dieser Vorgang als Chunking
(vgl. SPADA 1992, 144ff.) bezeichnet. Gut verständlich werden diese Vorgänge im
folgenden Ausschnitt aus einem populärwissenschaftlichen Artikel des Spiegel über
das Duell zwischen dem menschlichen Gehirn des Gari Kasparow und dem Com-
puterhirn "Deep Blue" im Jahr 1997 zusammengefasst. Die hierbei beschriebenen
Prozesse gelten für jede Art des Lernens, auch für das Erlernen eines Musikinstru-
ments:
"'Chunking' ist der Begriff, mit dem die Psychologen diesen Prozeß bezeich-nen: Viele einzelne geistige Operationen werden zu Makrooperationen ('Chunks') zusammengefaßt, die dann als Ganzes im Gedächtnis abrufbar sind. Genau zehn Jahre dauere es, so haben die Psychologen errechnet, bis im Hirn jene rund 100 000 Wissens-Chunks verschaltet sind, die nötig sind für Spit-zenleistungen auf einem Spezialgebiet. Dann ist der Experte fähig, ein komplexes Problem in wenigen Makroschritten zu lösen. Die Gedanken des Laien hingegen verheddern sich in unzähligen Einzelschritten. Selbst menschliche Blitzrechner, die innerhalb weniger Sekunden die Wurzeln 100stelliger Zahlen ziehen können, vollführen nicht mehr Rechnungen pro Se-kunde als ein durchschnittlicher Abiturient. Vielmehr jonglieren sie mit vorge-fertigten Zahlenpaketen, die sie in jahrelangem Programmtraining gebündelt haben und nun als Ganzes abrufen. Nicht anders ist es bei Schachspielern. Eindrucksvoll belegte dies ein einfaches Experiment: Die Forscher zeigten Großmeistern fünf Sekunden lang eine kom-plizierte Stellung aus einer Turnierpartie.
150
In fast allen Fällen erinnerten sich die Schach-Cracks anschließend an die Po-sition sämtlicher Figuren. Laien hingegen konnten selten mehr als sechs oder sieben richtig auf dem Brett plazieren. Doch der Vorsprung der Profis schmolz dahin, als sie mit einer willkürlichen Verteilung von Figuren auf dem Brett konfrontiert wurden. Der Möglichkeit beraubt, die Bauernstellung, den Königsflügel oder die offenen Linien als Ganzes zu erfassen und so das Spiel in wenige Chunks zu zergliedern, schnit-ten sie bei den Gedächtnistests kaum besser ab als ein Schach-Anfänger." (GROLLE & SCRIBA 1997, 218)
Ohne einen sinngebenden Zusammenhang kann es keine qualifizierte Gedächtnis-
oder Verstehensleistung geben, gleich auf welchem Gebiet menschlicher Expertise.
Für die Musik wird dieser Sachverhalt von JOHN A. SLOBODA folgendermaßen for-
muliert:
"Es ließ sich jedoch experimentell zeigen, daß Musiker gegenüber Laien nicht besser abschneiden, wenn es darum geht, willkürlich oder zufällig hergestellte Klangereignisse zu reproduzieren. Effektives Gedächtnis beinhaltet, daß Mu-ster und Strukturen wiedererkannt oder langfristig gespeichert werden – Pro-zesse, die sich verbessern, je mehr über die in der Musik zu erwartenden Strukturen gelernt wurde. Diese Lernprozesse werden vielfach nicht offen und bewußt vollzogen. Kinder lernen z.B. überwiegend durch die Beschäftigung mit der Musik ihrer Kultur und nicht durch explizite Instruktion über die theo-retische Struktur die Grammatik der Musik." (SLOBODA 1993, 566)
Die hier geforderte lebendige Beschäftigung mit Musik kann aber nur zu tragfähigen
semantischen Strukturen führen, wenn diese auch in größeren Sinneinheiten prakti-
ziert werden. Anders wäre beispielsweise kein sicheres Auswendigspiel möglich,
denn ohne die Schaffung sinnvoller Makrostrukturen wäre es in der Tat unumgäng-
lich, wie die Bild-Zeitung verlauten ließ (vgl. S. 148), sich wenn nicht "Millionen",
so doch Tausende von Noten einzeln zu merken.
Aber auch sicheres Blattspiel ist unter Verzicht auf solche Strukturen aus größeren
Sinneinheiten nicht möglich. Vermutungen von CHRISTA NAUCK-BÖRNER aus dem
Jahr 1987 zur Wahrnehmung beim Blattspiel, dass von schwachen Blattspielern –
man könnte sie auch als typische "Dilettanten" bezeichnen –
"[...] musikalische Notation wahrgenommen wird ohne Rückgriff auf Kennt-nisse über Strukturen und Redundanz im Notentext" (NAUCK-BÖRNER 1987, 31),
151
werden durch neuere Untersuchungen bestätigt. Neurowissenschaftler an der Uni-
versity of Sussex unter Leitung von Prof. MIKE LAND und Mitarbeit von SOPHIE
FURNEAUX haben sich, unter anderem durch Auswertung von Videoaufzeichnungen,
mit den Vorgängen beim Blattspiel beschäftigt. Beim guten Blattspiel handelt es
sich demnach, wie der New Scientist berichtet, um das Ergebnis der folgenden er-
folgreichen Lernstrategie:
"Strategy, not speed, explains why some professional musicians can sight-read music the first time they pick up an unknown piece. According to researches at the University of Sussex´s Centre for Neuroscience, professionals do not inter-pret the musical notes any faster, they are just more efficient at reading the notes. [...] To test what the differences really were, researchers used a video camera to monitor the movements of the pianists' eyes on the sheet of music. [...] The result was a smooth progression of their eyes through the music with-out prolonged concentration on any one note. Land says this is the ideal strategy a pianist should use if they are already familiar with the score. But the professional had played the piece cold. [...] The biggest pitfall for beginners seems to be dwelling on their mistakes. In the study a novice's eyes would not only drift back a beat or two to notes they had misplayed, but would also, for instance, jump back several bars to check the key signature, which is inscribed at the beginning of each line of music. 'My guess is that the cause of many mistakes is quite often associated with looking back at previous mistakes,' says Furneaux. Furneaux was also surprised at some of the aspects of the professionals' per-formance. Beginners are always told not to look at the keyboard while playing, but the video camera revealed that the professionals occasionally glanced down." (HAMER 1997, 20)
Abgesehen von der nebenbei vermittelten Information, dass im Jahr 1997 offen-
sichtlich immer noch als vorbildhaft betrachtet wird, was bereits FRIEDRICH WIECK
für überwunden gehalten hatte (vgl. S. 75), nämlich dass nur auf die Noten geblickt
werden darf (vgl. S. 73) ergibt sich als Konsequenz die zunächst möglicherweise
überraschende Erkenntnis, dass die neuronalen Abläufe bei richtigem Blattspiel und
Auswendigspiel sich stark ähneln. In beiden Fällen geht es um das Erkennen bzw.
Behalten verinnerlichter musikalischer Strukturen. Noch delikater ist die aus dem
Zusammenhang zwangsläufig zu folgernde Erkenntnis: dass nämlich Notenspiel Ton
für Ton, wie es üblicherweise den Hauptbestandteil von Klavierunterricht bildet, in
der Regel weder die Fähigkeit guten Auswendigspiels, noch – nota bene – die Fä-
higkeit zu adäquatem Blattspiel hervorbringen kann, denn Notentexte sind, wie auf
S. 138f. dargelegt wurde, für sich kaum in der Lage, die erforderlichen musikali-
schen Strukturen zu vermitteln.
152
Beim breiter angelegten (also im ursprünglichen Sinne "virtuosen") Lernen unter
primärer Beteiligung des Ohrs bzw. praktischer Anwendung musikalischer Ma-
krostrukturen und der dabei vermittelten Fähigkeit zur Redundanz- und Irrelevanz-
reduktion und damit zum Unterscheiden des Wichtigen vom Unwichtigen im No-
tentext wächst dagegen die Fähigkeit zu spielen, auch wenn die Noten Fehler,
Lücken oder Unklarheiten aufweisen, indem fehlende Informationen sinngemäß er-
gänzt werden können (vgl. S. 20). Vor diesem Hintergrund verwundern scheinbar
übermenschliche Leistungen von Virtuosen weniger, wie etwa die folgende der jun-
gen CLARA WIECK, über die ihr Vater berichtet. FRIEDRICH WIECK schreibt in einem
Brief an seine Frau voller Stolz, wie CLARA ein ihr unbekanntes handgeschriebenes
Stück des Prager Komponisten VACLAV JAN TOMASCHEK vom Blatt spielte:
"Sie spielte [...] gestern Abend ein Allegro di Bravura (ein neues Manuskript von ihm u. schlecht geschrieben) – nun, sie spielte es ihm vom Blatt." (FRIED-RICH WIECK an CLEMENTINE WIECK, 2. 11. 1837, abgedruckt in WIECK 1968, 72)
Es ergibt sich der scheinbar paradoxe Schluss, dass die Dominanz "guter" Noten-
ausgaben die musikalische Ausbildung am Instrument, auch die Fähigkeit zum
Blattspiel, eher zu behindern als zu fördern scheint. Die Ursache hierfür liegt in der
einseitigen Struktur des Mediums, das dem Spieler eigene musikalisch-strukturelle
Leistungen umso mehr abnimmt, je besser die Notenqualität ist. Wahrscheinliche
Folge dieser scheinbaren Leichtigkeit beim Lernen ist allerdings die defizitäre Aus-
bildung musikstruktureller und auditiver Kompetenz. Im Zuge weiteren Fortschrei-
tens im Unterricht müssen bei diesem Lernweg mit zunehmender Komplexität der
Notentexte immer mehr Informationen linear verarbeitet werden, was die Aufmerk-
samkeit des Spielers voll beansprucht und damit unter anderem der Kontrolle des
Klangergebnisses entzieht. Vor diesem Hintergrund wird auch die folgende, zu-
nächst unlogisch erscheinende Bemerkung MARTIN GELLRICHS verständlich, der vor
den Gefahren des Unterrichts nach Noten, speziell im Anfangsunterricht, wie folgt
warnt:
"Der zu frühe und unvermittelte Beginn nach Noten führt dazu, daß viele [...] die Fähigkeit des Spiels nach Noten nur in defizitärer Form ausbilden. Ein Kardinalproblem ist zweifellos das Fehlen der inneren Tonvorstellung. Auf-grund der Schwierigkeit des Spiels nach Noten beschränken sich Schüler oft nur darauf, gelesene Noten bzw. Fingersätze in Griffe umzusetzen." (GELLRICH 1996, 10)
153
Die Erkenntnis, dass sowohl beim Blatt- als auch beim Auswendigspiel ähnliche
Strukturerkennungsprozesse erforderlich sind, mag überraschen, ist aber geeignet,
verbreitete Irrtümer aufzuklären. So kann professionelles Blattspiel grundsätzlich
daran erkannt werden, dass der "Virtuose" die Struktur erkennt und größere Sinnzu-
sammenhänge herstellt, während der "Dilettant" gewohnt ist, Note für Note zu lesen.
Letzterem wird in Anbetracht der Anzahl der zu merkenden Noten das Auswendig-
lernen beinahe unmöglich gemacht, während ersterer automatisch lernt, je öfter er
das Stück liest. WOLFGANG BRUNNER beschreibt das Ineinandergreifen unter-
schiedlicher musikalischer Fähigkeiten zu einem musikstrukturellen Ganzen bei
vorbildlichem Lernen, mit besonderem Augenmerk auf die Improvisation, folgen-
dermaßen:
"Beim Vortrag schriftlich 'festgelegter' Stücke passieren jedem Musiker Töne, die er nicht beabsichtigt hat. Ein improvisatorisch gewandter Spieler wird so-fort versuchen, diese 'Verspieler' in den vorhergegangenen und nachfolgenden Ablauf so einzufügen, daß die geänderte Struktur sinnvoll und gewollt er-scheint. Besonders beim Spiel vor Publikum hat ein Musiker normalerweise den Ehrgeiz, perfekt zu sein und keine 'falschen' Töne zu produzieren. Die Im-provisation wird notwendig zur Tarnung dessen, was nicht vorhanden sein darf. Ebenso sind Gedächtnislücken zu überbrücken. Ein ähnlicher Vorgang geschieht manchmal beim Blattspielen. Ein Musiker, dessen Blattspielbegabung nicht vorrangig darin liegt, optisch sehr viele Ein-zelheiten auf einmal erkennen zu können, sondern der eher mit Hilfe einer schnellen Einfühlungsgabe in den Stil und musikalischen Zusammenhang ei-nes Werkes – sozusagen 'ganzheitlich' – blattspielt, wird Details oft übersehen, dank seines improvisatorischen Könnens aber trotzdem eine Wirkung erzielen, die der des 'Originals' nahekommt." (BRUNNER 1996, 32f.)
Wurden entsprechende Makrostrukturen vom Schüler erworben, so ergänzen sich
diese mit motorischen und kognitiven Behaltensstrategien zu Gunsten größerer Si-
cherheit und Flexibilität beim Spiel. Im Gegensatz zum stereotypen Einüben von
Stücken anhand vorwiegend motorischer Strukturen entsteht auf diese Weise eine
musikalische Flexibilität, die sich mehr auf die Relativität musikalischer Zusam-
menhänge stützt als auf absolute Werte einzelner Töne. Nur so kann übrigens auch
die Fähigkeit zur Transposition entstehen, die im Zuge der "geistigen Digitalisie-
rung" (vgl. S. 201f.) in der Musikpädagogik weitgehend verloren gegangen ist.
Wahrscheinlich besteht in bestimmten Lernphasen sogar ein komplementäres Ver-
hältnis zwischen motorischem und musikalischem Lernen. Für die israelische Pia-
nistin EDITH KRAUS führte gar ein Aufenthalt im deutschen Konzentrationslager mit
erschwertem Zugang zum Klavier dazu, dass sie einige Stücke besonders gut be-
154
herrscht: nämlich diejenigen, die sie nicht motorisch, sondern quasi virtuell gelernt
hat. Sie berichtet in einem Interview:
"Heißt das, daß Ihnen ein zweistündiges Übepensum ausreichte, um täglich konzertieren zu können?"
"Ich habe auch vieles 'zu Hause' im Kopf ohne Klavier gelernt. 'Zu Hause' kann man nicht sagen, aber auf meiner Lagerstatt oder auf einer Bank im Hof. Diese Stücke sitzen am besten, da sie nicht mechanisch gelernt wurden." (HAUFE 1999, 31)
Die verbreitete Ansicht, die Fähigkeit zur Interpretation von Meisterwerken als
oberstes Ziel der musikalischen Ausbildung könne durch zielgerichtetes und ratio-
nalisiertes Training eben der Wiedergabe einzelner Stücke erreicht werden, erweist
sich als zwar nahe liegender, aber fundamentaler Irrtum.
Die Abspaltung der Interpretation von der Komposition und die Trennung der Aus-
führung des musikalischen Gedankens von seiner Erzeugung im Verlauf des 19.
Jahrhunderts führte zu einer Verlagerung der Aufmerksamkeit weg vom Erwerb mu-
sikstruktureller und auditiver Kompetenz hin zur Lösung motorischer Probleme bei
der Wiedergabe. Gleichzeitig verschob sich die Bedeutung von Virtuosität auf ihre
von außen sichtbaren Bestandteile und führte damit zu einer Einengung des Begrif-
fes auf vorwiegend motorische Könnerschaft. Als Folge dieser eingeschränkten
Sichtweise konzentriert sich die Instrumentalpädagogik bis heute – in bester Absicht
– darauf, möglichst früh motorische Grundlagen als scheinbar optimale Vorausset-
zung für den Erwerb von Virtuosität zu legen. In dem Wunsch, auf kürzestem und
schnellstem Weg Virtuosität zu erlangen, wird so in Wirklichkeit aber Dilettantis-
mus praktiziert.
Auch HEINRICH JACOBY wandte sich grundsätzlich gegen den von klein auf übli-
chen Drill, mit dem Schüler vermeintlich auf Virtuosentum vorbereitet werden.
Noch kompromissloser als z.B. CARL ADOLPH MARTIENSSEN oder KARL LEIMER
vertritt er den Ansatz, dass sich motorische Probleme nur unter ganzheitlicher Be-
trachtung lösen lassen:
"Die Ansicht, daß Kinder nicht frühzeitig genug mit 'Üben' anfangen können, gehört zu den vielen, anscheinend unausrottbaren Denkgewohnheiten, die kei-ner näheren psychologischen und physiologischen Betrachtung standhalten. Man braucht nur den üblichen Entwicklungsgang und die späteren, in keinem Verhältnis zur aufgewendeten Zeit und Kraft stehenden, meist kläglichen Lei-stungen von Kindern mit früh gedrillten Händen zu verfolgen, um zu sehen, daß in den meisten Fällen das Gegenteil des Erwarteten, nämlich Verbildung,
155
erreicht wird. Sechsjährige Wunderkinder haben auch nicht sechs Jahre lang täglich ihre vier bis acht Stunden üben können, um die erstaunlichen virtuosen Leistungen zu erzielen, die wir von ihnen zu hören bekommen. Man wird sa-gen: Das sind eben 'Wunder'kinder, und wir haben es mit 'Durchschnitts'kin-dern zu tun. Aber wer ahnt denn auch nur, wie viele Kinder täglich vom Wun-der, das in ihnen ruht, durch die übliche Schulung zum Durchschnitt herunter erzogen werden? Gingen wir andere Wege, würde uns sicher manche Leistung nicht mehr als Wunder erscheinen, bei der das heute der Fall ist. Über das Üben als Arbeitsmethode – nicht nur bei der Musik – wäre in diesem Zusam-menhang noch mancherlei zu sagen; das würde aber zu weit von unserem Thema abführen. Ich muß mich deshalb darauf beschränken, daran zu erinnern, wie viel leichter die ausführenden Organe einer einzigen intensiven Vorstel-lung gehorchen als noch so exakten und häufig wiederholten 'geübten' Refle-xionen und von außen kommenden Befehlen. Ich habe im Verlaufe von fast 10 Jahren, während deren ich im Sinne dieser Ausführungen zu arbeiten ver-suchte, erfahren, daß mit jedem Jahre, in dem ich die Entwicklung des Klang-empfindungs-, Klangerinnerungsvermögens konsequenter allem Technischen vorausgehen ließ und das Erarbeiten lückenloser durchführte, die Schüler für die Erreichung der gleichen Ziele weniger Zeit brauchten." (JACOBY 1995, 23)
Es ist bemerkenswert, wie scheinbar zwangsläufig die Diskussion der grundsätzli-
chen Probleme abendländischer Musikerziehung immer wieder in den Ruf nach ad-
äquater Beteiligung des Gehörs mündet. Die bereits in Abschnitt 2.4 gewonnene
Erkenntnis, dass nur unter zentraler Berücksichtigung des Klangempfindens letztlich
der Schlüssel zu musikalischer Aktivität gefunden werden kann, ergibt sich nunmehr
auch aus Betrachtungen zur Motorik. Dabei scheint es, als ob Begriffe wie
"Klangempfinden" bei HEINRICH JACOBY bzw. "Klangwille" bei CARL ADOLPH
MARTIENSSEN einerseits und der Begriff der "semantischen Makrostruktur" der Mu-
sikpsychologen andererseits nahezu synonym gebraucht würden.
Als Konsequenz ergibt sich die eigentlich triviale Erkenntnis, dass die Bildung se-
mantischer Makrostrukturen in der Musik essenziell an Eindrücke durch das Ohr als
primären Sinneskanal gebunden sein muss. Dass eine solche Trivialität, nämlich die
der primären Rolle des Ohrs in der akustischen Disziplin Musik, aufwändig unter-
mauert werden muss, belegt den Grad der Pervertierung musikbezogener Vorgänge
in unserer Kultur durch die Dominanz der Sehsphäre bei ihrer Vermittlung, die wie-
derum unlösbar verknüpft ist mit der die einseitigen Fortentwicklung schriftlicher
Medien in der Vergangenheit. Auch die Tatsache, dass das Fach Gehörbildung nicht
implizit an musikalisches Lernen gebunden zu sein scheint, sondern statt dessen an
Hochschulen (also erst in der Schlussphase der musikalischen Ausbildung) als sepa-
rates musikalisches Fach kompensatorisch vermittelt werden muss (und zudem dort
156
häufig unter "Theorie" eingeordnet wird), ist ein Indiz für diese Pervertierung.
Instrumentalpädagogik der Interpretation findet also in einer visuell geprägten Me-
dienwelt in ihrer hohen Spezialisierung vielfach ohne Fundament statt, eben ohne
auf grundlegende musikalische Fähigkeiten bauen oder sie vermitteln zu können.
VOLKER BENDIG nennt dies in einem Aufsatz die
"[...] Diskrepanz zwischen instrumentaler Virtuosität und gehörmäßigem Bankrott." (BENDIG 2001, 60)
Die in Abschnitt 2.5 dargestellte und inzwischen kaum mehr überhörbare Forderung
nach "improvisatorischem Lernen" im Musikunterricht ist Zeichen eines immer
deutlicher artikulierten Unbehagens über grundsätzliche Defizite. Dies ist einerseits
konsequent, gilt doch Improvisation als eine Art des Musizierens, bei der die
Hörsphäre kaum verzicht- oder vernachlässigbar erscheint. Allerdings muss betont
werden, dass Improvisation nicht, wie die aktuelle Diskussion suggerieren mag, die
einzige oder gar bedeutendste Art des Musiklernens unter primärer Beteiligung des
Gehörs ist. Auch die auditive Imitation (vgl. Abschnitt 4.2) gehört in diese Katego-
rie. Die äußeren Bedingungen des Instrumentalunterrichts mit der pro Schüler zur
Verfügung stehenden Zeit, hervorgegangen aus der Rationalisierung des Unterrichts
in der CZERNY-Nachfolge (vgl. Abschnitt 2.2.1) und die bisherige Mediensituation
boten, neben dem eingeschränkten Ausbildungsstand von Musikpädagogen (vgl.
Abschnitt 2.3), bislang allerdings kaum Handhabe zur Realisierung derartiger Unter-
richtsformen – trotz der Mode, in der sich das Stichwort Improvisation seit einiger
Zeit befindet.
Sollte diese nicht eben schmeichelhafte Analyse der musikpädagogischen Situation
in Teilen zutreffen, wäre als nächstes zu fragen, welche Möglichkeiten der positiven
Einflussnahme die Medienentwicklung bietet. Da interaktive Medien in der Instru-
mentalpädagogik noch kaum Einzug gehalten haben, erfolgt die Analyse bereits be-
stehender Musizierformen mittels dieser Medien an der gegenwärtig explodierenden
Kultur autonomen Musizierens außerhalb von institutionellem Musikunterricht. Eine
Betrachtung dieser Vorgänge kann für die Musikpädagogik wertvolle Anregungen
liefern.
157
4.5 Autonomes Musizieren
"Nach dreitausendjähriger, durch Techniken des Zerlegens und der Mechani-sierung bedingter Explosion erlebt die westliche Welt eine Implosion. In den Jahrhunderten der Mechanisierung hatten wir unseren Körper in den Raum hinaus ausgeweitet. Heute, nach mehr als einem Jahrhundert der Technik der Elektrizität, haben wir sogar das Zentralnervensystem zu einem weltumspan-nenden Netz ausgeweitet und damit, soweit es unseren Planeten betrifft, Raum und Zeit aufgehoben. [...] Ist es nicht klar, daß im selben Augenblick, in dem das Aufeinanderfolgen der Gleichzeitigkeit weicht, wir uns in der Welt der Struktur und Gestalt befinden? [...] Die Aufmerksamkeit gilt nicht mehr speziellen Teilaspekten, sondern wendet sich der Gesamtwirklichkeit zu, und wir können jetzt ganz natürlich sagen, 'das Medium ist die Botschaft'." (MCLUHAN 1995, 15, 30)
Diese Worte des kanadischen Medientheoretikers MARSHALL MCLUHAN wurden
bereits im Jahr 1964 erstmals veröffentlicht, erlangten aber erst später unter dem
Einfluss akuter medientechnologischer Veränderungen breitere Aufmerksamkeit.
Obwohl außerhalb eines musikalischen Zusammenhangs verfasst, gewinnen sie
gerade hier an Bedeutung, erweist sich doch die mediale Strukturierung bei der
Vermittlung von Musik als Kernfrage (vgl. Abschnitt 4.4).
Bezogen auf die Musik hat GLENN GOULD, wie MCLUHAN Kanadier und mit dessen
Gedanken vertraut, im Jahr 1966 in seinem Aufsatz Die Zukunftsaussichten der
Tonaufzeichnung (The Prospects of Recording) eine Vision entworfen, die ebenfalls
das Medienumfeld des Einzelnen zum Inhalt hat und die er unter anderem folgen-
dermaßen beschreibt:
"Das Herumspielen an Knöpfen ist in seiner begrenzten Weise ein interpretati-ver Akt. Vor vierzig Jahren konnte der Hörer einen Schalter betätigen, auf dem »Ein« und »Aus« geschrieben stand, und mit einem Gerät, das auf dem neue-sten Stand war, vielleicht ein wenig die Lautstärke regeln. Heute erfordert die Vielfalt der Bedienungselemente, die ihm zur Verfügung gestellt werden, ana-lytisches Urteilsvermögen. Und diese Bedienungselemente sind nur primitive Regelvorrichtungen verglichen mit jenen Möglichkeiten der Teilhabe, deren der Hörer sich erfreuen wird, sobald gebräuchliche Labortechniken von Ab-spielgeräten zum Hausgebrauch übernommen worden sind." (GOULD 1987, 152)
GLENN GOULD postulierte damit im Prinzip die Emanzipation des Musikkonsumen-
ten. Er war davon überzeugt, dass die Medienentwicklung eines Tages die Trennung
158
zwischen Musiker und Hörer auflösen würde. OTTO FRIEDRICH bezeichnet diese
Vision in seiner Gould-Biographie als das Ende musikalischer Passivität und die
Befreiung des Hörers:
"Der Höhepunkt dieser technischen Revolution in der Musik, so glaubte er, wäre die Befreiung des Hörers oder vielmehr die Umwandlung des Hörers von einem passiven zu einem aktiven Teilnehmer." (FRIEDRICH 1994, 154)
Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung waren solche Gedanken ihrer Zeit weit voraus.
Die gegenwärtig sich vollziehenden technischen Veränderungen leisten aber die
Loslösung der Informationsdarbietung vom linearen Medium (vgl. S. 118). Der
Umgang mit Musik wird durch diese Befreiung von medialen Fesseln auch aus der
Sicht des Konsumenten einschneidende Veränderungen erfahren, die die Visionen
GOULDS und MCLUHANS in die Nähe der Realität rücken.
4.5.1 Rückblick
Vor der Erfindung der technischen Schallaufzeichnung bzw. -übermittlung waren
die Möglichkeiten des Einzelnen im Umgang mit Musik sehr begrenzt. Sie
beschränkten sich prinzipiell auf die beiden Möglichkeiten, entweder selbst ein
Instrument zu spielen (oder zu singen), oder dem Spiel einer anderen Person
zuzuhören. Dabei beschränkte sich die Einflussnahme eines Musikkonsumenten
beim Hören von Musik im Prinzip auf die beiden Alternativen, entweder einem
Vortrag beizuwohnen34 oder diesen nicht zu besuchen.
Das 20. Jahrhundert bietet im Zuge der Nutzbarmachung der Elektroakustik zu-
nächst die Überwindung von Distanzen durch das Radio und die Überwindung der
Flüchtigkeit von Musik durch die Schallaufzeichnung. Das Radio bot zwar bald ne-
ben der Ortsunabhängigkeit nicht mehr nur die Wahlmöglichkeit zwischen "Ein"
und "Aus", sondern darüber hinaus die simultane Auswahl zwischen mehreren Pro-
grammen auf unterschiedlichen modulierten Frequenzen. Die Möglichkeiten des
Grammophons bzw. Plattenspielers gehen unter dem Aspekt der Einflussnahme des
Hörers aber weit über die des Radios hinaus: in Abhängigkeit von der zur Verfü-
gung stehenden Software (in diesem Fall in linearer, analoger Form einer Rille, ge-
34 ...und dabei als einzige Möglichkeit der Steuerung durch Zuruf möglicherweise ein "da capo" zu
erreichen oder einen Repertoirewunsch zu äußern.
159
speichert auf Schallplatten) bietet die Schallaufzeichnung freie Programmzusam-
menstellung bei beliebiger Wiederholbarkeit.35
Diese Art der Beeinflussung musikalischer Abläufe durch den Hörer mittels Pro-
grammwahl in einem Radio oder Auswahl von Schallplatten erfolgt, indem Ent-
scheidungen in der Regel im Minuten- oder Stundenabstand getroffen werden, also
(im Gegensatz zum Spiel eines Musikinstruments, bei dem jeder Ton einzeln produ-
ziert werden muss) vergleichsweise selten. Im Gegensatz zur ursprünglichen, äu-
ßerst beschränkten Beeinflussbarkeit vorelektrischer Zeit gewährt die Elektroakustik
aber bereits hier eine deutliche Differenzierung des Zugriffs. Dieser aus heutiger
Sicht wiederum sehr beschränkte Differenzierungsgrad per Einflussnahme auf Ra-
diosender oder Plattenspieler war bis in die 80er Jahre des letzten Jahrhunderts aber
Stand der Technik und begrenzte die Möglichkeiten der Gestaltung ihrer musikali-
schen Umgebung all derer, die kein Musikinstrument erlernen konnten oder wollten.
Befand sich also bis vor kurzem auf der einen Seite im Umgang mit Musik die so-
genannte "passive" Beschäftigung wie das Hören von Radio oder Platten, das sich in
der Darbietungsform nur in musikalisch sehr groben Parametern – also dem Aus-
wählen ganzer Stücke – beeinflussen ließ, so stand auf der anderen Seite das Musi-
zieren, z.B. das Klavierspiel, das auf der Codierung und damit Beeinflussbarkeit
kleinster Einheiten in Form von Noten bzw. der Gestaltung einzelner Töne basierte.
Die Durchlässigkeit vom konsumierenden zum praktizierenden Umgang mit Musik
– als theoretisch denkbarer autodidaktischer Übergang vom Musikkonsument zum
Musiker – war damit allein aufgrund einer großen Distanz zwischen gröbster und
feinster musikalischer Strukturierung und der inkompatiblen Codierungsarten ge-
ring: es war deshalb in der Regel auch für einen Schüler mit Vorkenntnissen nur
schwer möglich, Instrumentalspiel mit Hilfe elektroakustischer Medien zu lernen.
Die inzwischen absehbare Möglichkeit der beliebigen Strukturierbarkeit von Infor-
mation wird diese Distanzen insofern auflösen, als verschiedene beliebig grob oder
fein strukturierte Möglichkeiten des Umgangs mit Musik entstehen werden, zwi-
schen denen eine kleinschrittigere Durchlässigkeit von einer zur anderen möglich
wird. Deutliche Anzeichen einer solchen Ausdifferenzierung existieren bereits –
ähnlich wie bei den Umgangsformen mit Musik auf der Seite der relativ groben Pa-
rameter (Radioprogramm wählen, Schallplatte auflegen) – auch auf der gegenüber-
liegenden Seite, der Einflussnahme in feineren Einheiten, also dem so genannten
"aktiven" Musizieren. Hier sind inzwischen neuere Möglichkeiten der Behandlung
von musikalischen Strukturen entstanden, die Zwischenstufen zwischen den bislang
35 Erst die aktuelle Entwicklung der Online-Technologien (Internet) entmaterialisiert diese Software
völlig, wodurch Orts- und Zeitunabhängigkeit perfektioniert werden und eine neue Qualität der
Gleichzeitigkeit schaffen.
160
gegebenen Möglichkeiten darstellen und damit die Unterschiede zwischen den bei-
den Extremen, dem "konsumierenden", "passiven" Umgang mit Musik und dem
"aktiven Musizieren", nivellieren.36 Ein Beispiel hierfür stellt das seit wenigen Jahr-
zehnten sich entwickelnde Spiel am elektronischen Keyboard dar. Einerseits betätigt
sich der Spieler hierbei in kleinsten Elementen auf der Ebene einzelner Töne, indem
er die Melodie selber spielt. Andererseits wird er vom Medium entlastet, das es ihm
ermöglicht, Harmonie und Rhythmus in größeren Einheiten zu steuern. Die Aktivität
des Musizierenden bei der Melodiegestaltung ist hierbei vergleichbar mit der beim
Klavierspiel, was in der Regel die Ausbildung von Notenkenntnissen erfordert, wäh-
rend auf rhythmischem und harmonischem Gebiet eine stärkere Autonomie des In-
struments und damit eine Entlastung bei gleichzeitig reduzierter Einflussmöglichkeit
des Spielers besteht.
Um die graduellen Unterschiede musikalischer Aktivität zwischen den verschiede-
nen Arten des Musizierens zu beschreiben, könnte ihre unterschiedliche Komplexität
durch Zeitgrößen zu beschreiben versucht werden, innerhalb derer vom Musiker
(bzw. Musikkonsumenten) Entscheidungen getroffen werden können bzw. müssen,
um den Ablauf der musikalischen Darbietung zu beeinflussen. Je kleiner die betref-
fenden Zeiteinheiten sind, desto größere Aktivität wird dem Ausübenden abverlangt.
Die Frequenz solcher Entscheidungen ist beim virtuosen Klavierspiel idealer Weise
sehr hoch und der Abstand zwischen zwei zu beeinflussenden Ereignissen reicht in
den Bereich von Sekundenbruchteilen. Beim Keyboardspiel liegen bezüglich der
Melodiegestaltung diese Zeiteinheiten in ähnlicher Größenordnung wie beim Kla-
vierspiel, während Entscheidungen über den harmonischen Ablauf vom Spieler etwa
taktweise und über den rhythmischen Ablauf oft nur einmal pro Stück nötig werden.
Auf der gegenüber liegenden Seite, die gewöhnlich als "passiver" Musikkonsum
bezeichnet wird, obwohl auch hier aktive Entscheidungen der musikalischen Ge-
staltung gefällt werden, bewegen sich die Zeiträume, innerhalb derer solche Ent-
scheidungen fällig werden, zwischen quasi unendlich, falls immer dasselbe Radio-
36 Indem die Begriffe "aktiv" und "passiv" in Anführungszeichen stehen, soll der Tatsache Rech-
nung getragen werden, dass die traditionelle Anwendung dieser Begriffe eine Polarisierung sug-
geriert, die hier nicht vertreten wird. Jede Beschäftigung mit und Rezeption von Musik erfordert
eine geistige Aktivität, die sich allerdings in ihrer Art unterscheidet. GUERINO MAZZOLA schreibt
zur Frage von Aktivität bei musikalischer Wahrnehmung:
"Aesthesis ist mit der wahrnehmenden Bewertung des Werks durch den Hörer befaßt. Diese Ak-
tivität besteht in einem Für-wahr-Nehmen von Werksmerkmalen in Funktion der individuell va-
riablen Position des Hörers. Diese interpretatorische Bewertung aus einer bestimmten Perspek-
tive heraus ist nicht weniger aktiv als diejenige des Schöpfers – und dies nicht nur im Fall des In-
strumentalinterpreten, sondern ganz generell." (MAZZOLA 1990, 6)
Es gibt keine eindeutig definierbare Grenze zwischen "aktiver" und "passiver" Musikbeschäfti-
gung.
161
programm gehört wird (es wäre zu diskutieren, ob es sich hierbei möglicherweise in
der Tat um eine völlig passive Art des Umgangs mit Musik handelt), Stunden beim
Abspielen von CD-Alben und wenigen Minuten bei der Auswahl von Einzelstücken,
wie es beispielsweise der traditionellen Tätigkeit des Disk-Jockeys entspricht.
4.5.2 Ausblick
Die Medienentwicklung wird künftig unbegrenzt viele weitere Ausformungen mu-
sikbezogener Tätigkeit zwischen bereits existierenden Zwischenformen (z.B. Key-
boardspiel, Tätigkeit des Diskjockeys) und den geschilderten Extremen der ganz
grob (Radio hören) oder ganz fein (Klavierspiel) strukturierten Tätigkeiten hervor-
bringen, mit der Folge einer Individualisierung des Umgangs mit Musik und damit
in der Tat, wie von GLENN GOULD beschrieben, einer Emanzipation des Musikkon-
sumenten.37 Dabei wird die Vielfalt der musikalischen Codierungs- und Strukturie-
rungsmöglichkeiten die Grenzen zwischen Musikkonsum und Musizieren verwi-
schen und durchlässig machen. Die Komplexität der musikalischen Strukturierung
wird beliebig dem musikalischen Niveau des Konsumenten bzw. Spielers bzw.
Schülers – diese Begriffe werden nun synonym! – angepasst werden können. Da die
Schritte zwischen den unterschiedlichen Komplexitätsgraden im musikalischen Um-
gang annähernd beliebig minimierbar sein werden, wird jede musikalische Betäti-
gung, sofern sie mit einer Erhöhung des jeweiligen Komplexitätsniveaus geistig-
musikstruktureller Verarbeitung einhergeht, zum Lernvorgang.
Die bislang strikte Trennung zwischen Musizieren und Musikhören bzw. zwischen
"aktivem" und "passivem" Umgang mit Musik kann sich damit auflösen. Der Unter-
schied zwischen aktivem und passivem Umgang mit Musik wird nicht mehr schein-
bar zwischen Schallplattenkonsument und Musikschüler verlaufen, sondern passive-
rer wird sich von aktiverem Umgang darin unterscheiden, dass Möglichkeiten des
Wechsels des Verarbeitungsniveaus hin zu einer differenzierteren (höherfrequent
37 Ein kurioses Beispiel für den fließenden Übergang zwischen zwei Arten des Musikertums kon-
stituiert sich momentan in Form der Tätigkeit des "Alleinunterhalters". Während ein Alleinunter-
halter traditionell ein Keyboardspieler ist, der sich der Unterstützung hauptsächlich rhythmischer
Fähigkeiten dieses Instrumentes bedient, sind in jüngerer Zeit vermehrt "Alleinunterhalter" zu
beobachten, die das Keyboard mehr und mehr als Attrappe einsetzen, in Wirklichkeit aber haupt-
sächlich vorprogrammierte MIDI-Files wiedergeben und damit in Wirklichkeit eine Tätigkeit
ausüben, die mit "Diskjockey" besser umschrieben wäre. Wichtig erscheint aber, darauf hinzu-
weisen, dass ein solcher "Betrug" umso weniger eine unmoralische Tat darstellt, je besser das
Ziel der guten Unterhaltung des Publikums erreicht wird (vgl. auch die Diskussion um die Unter-
schiede zwischen werk- und publikumszentrierten Perspektiven auf S. 191f.).
162
aktive Entscheidungen abverlangenden) Umgangsform nicht genutzt werden. Auch
oberflächliches, auf die Wiedergabe beschränktes Spiel nach Noten am Klavier, wie
es aus dem Klavierunterricht des 19. Jahrhunderts überliefert ist, müsste mangels
Möglichkeit, die Ebene der musikalischen Struktur zu wechseln, aus dieser Sicht als
eher passiv angesehen werden.
Greift der Hörer aber aktiv in die Strukturen der Musik ein und gestaltet er somit
autonom, so wird er zum Komponisten. Diese Möglichkeit hatte bereits GLENN
GOULD als Konsequenz der Medienentwicklung vorausgesagt und für so zwingend
gehalten, dass er jede Gegenrede als "tollkühn" bezeichnet hätte:
"Es wäre in der Tat tollkühn, von vorn herein die Idee abzutun, dass der Hörer letzten Endes sein eigener Komponist werden kann." (GOULD 1987, 151)
In seinem Aufsatz The Prospects of Recording vertritt GOULD des Weiteren die
These, dass der Umgang mit Musik als Konsequenz der Medienentwicklung die
Aura des Besonderen verlieren würde und, ähnlich wie das Schreiben im Zuge der
Entwicklung schriftlicher Medien, zu einer Standardkulturtechnik werden könnte:
Musikalische Betätigung wäre nicht mehr a priori als künstlerisch zu begreifen:
"Tatsächlich wird diese ganze Frage der Individualität in der kreativen Situa-tion – in dem Prozeß, durch welchen der kreative Akt aus individuellen Mei-nungen resultiert, diese absorbiert und verwandelt – einer radikalen Revision unterworfen werden. Ich glaube, die Tatsache, daß Musik eine so umfassende Rolle in der Regulie-rung unserer Umwelt spielt, deutet daraufhin [sic], daß sie schließlich eine ebenso unmittelbare, nützliche und unfeierliche Rolle übernehmen wird wie die, die Sprache jetzt in unserer täglichen Lebensführung spielt. Damit Musik eine vergleichbare Vertrautheit erlangt, müssen die Implikationen ihrer Stile, ihre Gewohnheiten, ihre Manierismen, ihre Tricks, ihre üblichen Kunstgriffe, ihre statistisch häufigsten Vorkommnisse – mit anderen Worten, ihre Klischees – vertraut sein und von jedermann erkannt werden. Ein massenhaftes Erkennen der Klischeequotienten eines Vokabulars muß nicht bedeuten, daß wir mit den Banalitäten dieser Klischees vollgestopft werden. Wir achten große Werke der Literatur nicht geringer, weil wir als gewöhnliche Menschen die Sprache spre-chen, in der sie zufälligerweise geschrieben sind. Die Tatsache, daß so vieles von unserer täglichen Konversation den langweiligen Vertraulichkeiten übli-cher Höflichkeit gilt, den obligatorischen Bemerkungen über das Wetter, um ein Gespräch einzuleiten, und so weiter, trübt nicht für einen Moment unseren Sinn für die potentiellen Schönheiten der Sprache, die wir gebrauchen. Im Ge-genteil, sie schärft ihn. Sie gibt uns einen Hintergrund, vor dem sich der Vor-dergrund, der der Standort des imaginativen Künstlers ist, um so besser abhe-
163
ben kann. Meiner Ansicht nach wird im Zeitalter der Elektronik die Kunst der Musik zu einem viel brauchbareren Bestandteil unseres Lebens werden, viel weniger nur ein Ornament an ihm sein und es folglich viel tiefgreifender verändern. Wenn diese Veränderungen tiefgreifend genug sind, könnten wir schließlich genötigt sein, die Terminologie, mit der wir unsere Gedanken über Kunst zum Ausdruck bringen, neu zu definieren. Tatsächlich kann es zunehmend unpas-sender werden, auf die Beschreibung von Umweltsituationen das Wort 'Kunst' selbst anzuwenden – ein Wort, das, wie ehrwürdig und geehrt auch immer, zwangsläufig mit ungenauen, wenn nicht in der Tat obsoleten Nebenbedeutun-gen erfüllt ist." (GOULD 1987, 159)
GOULDS Hinweis auf die zu erwartende Vertrautheit mit Klischees meint nichts an-
deres als die Vertrautheit mit der musikalischen Sprachstruktur, oder, wie es an an-
derer Stelle von Musikpsychologen formuliert wurde, mit den semantischen Ma-
krostrukturen des jeweiligen Musikstils. Auch die gegenwärtige Omnipräsenz musi-
kalischer Klischees in Form von Berieselung muss nicht im Widerspruch stehen zur
Emanzipation des Musikhörers, im Gegenteil: Projiziert man die einschneidenden
Auswirkungen der Entwicklung reiner Wiedergabetechnologien auf die Präsenz von
Klangtapeten in die Zukunft unter Berücksichtigung neuer Entwicklungsmöglich-
keiten auf dem Gebiet des interaktiven Umgangs mit musikalischen Strukturen,
bietet die heute allgegenwärtige Berieselung nur eine vage Vorahnung davon, in
welcher Breite als Folge der Realisierung geeigneter medialer Möglichkeiten musi-
kalische Aktivität möglich sein wird.
Bereits HEINRICH JACOBY erachtete es als erstrebenswert, die prinzipielle Verknüp-
fung von Musizieren und Kunst aufzubrechen. Er sah in dieser Verbindung ein kul-
turell hemmendes Phänomen, welches natürliche und unverkrampfte musikalische
Aktivität erschwert. JACOBY wies darauf hin, dass im Zusammenhang mit der ange-
strebten Normalisierung des Umgangs mit musikalischer Syntax auch die Lernvor-
gänge einen natürlicheren, "muttersprachlichen" Ansatz gewinnen würden. Indem
musikalische Betätigung ihre künstliche Überhöhung verlöre, würde nach seiner
Einschätzung auch das Phänomen der "Unmusikalität" hinfällig:
"Dieser Hinweis auf die Muttersprache zeigt vielleicht am deutlichsten, in wel-chem Sinne wir unsere Einstellung den anderen Ausdrucksgebieten gegenüber revidieren sollten und wie irreführend es wirkt, wenn wir bei Fragen, die Aus-drucksgebiete betreffen, ohne weiteres den Begriff Kunst verwenden. Auch bei der Musik müssen wir vermeiden, zuerst an Kunst oder Kunstwerke zu denken oder gar an das, was heute als eine gesellschaftliche Angelegenheit in unseren Theatern und Konzertsälen vor sich geht. Wir haben es in erster Linie mit dem
164
lebendigen, elementaren Ausdrucksmittel zu tun, durch das sich äußern zu können jedem aus den Gegebenheiten der menschlichen Natur heraus möglich und gemäß ist. [...] In diesem Zusammenhange wird die Behauptung 'Jeder Mensch ist musikalisch' nicht mehr so paradox erscheinen, wie sie manchem sonst im ersten Augenblick klingen könnte. Dahin zu gelangen, daß diese Be-hauptung mehr als theoretische Bedeutung erhält, – daß viel mehr Menschen als bisher zu einer Entfaltung der eigenen musikalischen Äußerungs-Fähigkeit kommen, ist vom Standort der Erziehung aus zunächst wichtiger als die mehr oder weniger erfolgreiche reproduktive Auseinandersetzung mit dem in Laufe von Jahrhunderten aufgehäuften Schatz von Kulturgütern, von Werken großer Meister, der durch Aufführungen erst wieder lebendig gemacht werden muß. Selbstverständlich hat auch die musikalische Literatur ihre bedeutsame Rolle in der Erziehung zu spielen, aber nicht, indem man, wie jetzt [1921, H.K.] noch meistens, unreife Kinder dazu dressiert, Kunstschöpfungen aus einer Ausdruckswelt, deren Sprache sie weder zu verstehen noch zu sprechen ver-mögen, nachzuplappern. Erst wenn Musik bereits eigenes, lebendiges Äuße-rungsmittel geworden ist, dürfte an eine Auseinandersetzung mit dem Kunst-werk gedacht werden, die dann intensiver und lebensvoller vor sich gehen wird, als es bei denen zu erwarten ist, die nie anders als aus dem Notenbuch zu musizieren gelernt haben. Der Kreis derer, die auf eine solche Weise teil an ei-ner lebendigen musikalischen Kultur haben können und die erst durch ihre Existenz das Vorhandensein einer solchen Kultur bezeugen, wird bedeutend größer sein, als man heute anzunehmen geneigt ist. [...] Wenn es gelingt, [...] den Nachweis zu erbringen, daß vieles, was heute als Reservat des 'Künstlers' oder 'Fach'-musikers gilt, auf einem geeigneten Weg der Allgemeinheit zugänglich gemacht werden kann, so kommt dadurch die Kunst nicht in Gefahr. Im Gegenteil! Es wird jene, die Bedeutung des Kunst-begriffs entwertende Oberflächlichkeit verschwinden, mit der man oft eine vielen mögliche, an sich selbstverständliche Beziehung zu Ausdrucksmitteln wegen ihrer verhältnismäßigen Seltenheit als 'Kunst'-Leistung bewertet". (JACOBY 1995, 12f.)
Für GLENN GOULD resultiert aus einer solchen Normalisierung des Umgangs mit
Musik neben der Auflösung der Standesschranken zwischen musizierenden und
konsumierenden Bevölkerungsteilen auch eine Aufgabenvermischung unter all de-
nen, die sich mit Musik beschäftigen:
"Indem dieses Medium sich entwickelt, indem es verfügbar wird für Situatio-nen, in denen ganz zurecht die freie Beteiligung des Hörers ermutigt wird, werden jene ehrwürdigen Unterscheidungen in der Klassenstruktur innerhalb der musikalischen Hierarchie – Unterscheidungen, die Komponist, ausführende Künstler und Interpreten voneinander getrennt haben – aus der Mode kom-men." (GOULD 1987, 158)
165
Diese Auflösung der kategorischen Trennung in Menschen, die Musik herstellen
und andere, die sie konsumieren, wird durch ein neues Medium symbolisiert, das
sich seit etwa einem Jahrzehnt entwickelt und das die Eigenschaften von Musikin-
strument und Wiedergabemedium in sich vereint: den Sampler (vgl. Abschnitt
3.3.3). Dieser kann einerseits über ein Keyboard oder MIDI-Befehle gesteuert wer-
den, was zunächst auf eine Funktion als Musikinstrument hindeutet. Wird der
Sampler aber dazu veranlasst, ein längeres Klangereignis wiederzugeben, über-
nimmt er die Funktion eines Wiedergabemediums. Dabei unterscheiden sich die
beiden Qualitäten Musikinstrument und Wiedergabemedium ausschließlich quantita-
tiv durch die Länge der wiedergegebenen Samples, was nichts anderes bedeutet als
eine Verschmelzung der beiden genannten Qualitäten und damit eine Entgrenzung
der bislang streng getrennten Tätigkeiten "Musikkonsum" und "Musizieren": Es
lässt sich keine klare Grenze mehr definieren, ab welcher Länge der aufgenomme-
nen Samples es sich nicht mehr um ein Musikinstrument, sondern um ein Wiederga-
bemedium handelt. Der Sampler bildet damit auch das Bindeglied zwischen (von
den Triggerimpulsen her betrachtet) steuerdatencodierender und (aus der Sicht der
Samples) klangdatencodierender Aufzeichnung.
Einen Einblick in die Praxis des Samplings bietet ein Interview mit DJ Shadow,
veröffentlicht im Dezember 1997 in der Zeitschrift Keyboards. DJ Shadow produ-
ziert CDs, bei deren Aufnahme kein einziges (weder akustisches noch elektroni-
sches!) Musikinstrument zum Einsatz kommt.38 Er berichtet von seinem spontanen
Entschluss, mit dem Sampler Musik zu komponieren. Zwischen Entscheidung und
Realisierung lagen dabei weder Kurse in Musiktheorie noch Etüden; die Elektronik
ermöglichte es ihm, seine musikalischen Gedanken auszuprobieren und direkt in die
Tat umzusetzen:
"Ich habe mir seit 1983 Hip-Hop-Sachen gekauft. Der eigentliche Einfluß aber kam von meinem Vater, der Platten wie Isaac Hayes' Hot Buttered Soul, Sa-chen von Three Dog Night und so was gehört hat. Und was ich nie vergessen werde, war mein erstes Public-Enemy-Konzert in Oakland. Ihr Album Takes a Nation of Millions kam raus, und da hatten sie einen der Songs von Hot Buttered Soul gesampelt und in Black Steel in the Hour of Chaos benutzt. Da-mit konnte ich also gleich was anfangen, und ich erinnere mich noch, daß ich gedacht habe: 'Mein Gott, genau das könnte ich machen.'" (RULE 1997, 16f.)
38 In der Beilage zur CD "Entroducing" (Marlboro Music 00088332) heißt es: "This album consists
entirely of samples. No live instruments, drum machines or keyboards were used."
166
Unbemerkt von weiten Teilen der Musikwissenschaft haben sich die DJs in den
letzten Jahren zu Musikern entwickelt und neue Tätigkeitsfelder erobert, die weit
über ihre ursprüngliche Aufgabe, Schallplatten aufzulegen, hinausgehen. Dabei hat
sich unter maßgeblicher Nutzung des Samplers das "Mixen" auf immer kleinere mu-
sikalische Einheiten ausgedehnt. Die DJs verkörpern die Durchlässigkeit vom Mu-
sikkonsumenten zum Musiker und sind dabei zu einer neuen Art von "Componisten"
im eigentlichen Wortsinn geworden. Für die Stile des Hip-Hop etwa ist die Ver-
schmelzung von Musikkonsument und Musiker auf diese Weise bereits Realität.
Auch ULF PORSCHARDT, Verfasser der Arbeit DJ-Culture, dem wegweisenden mu-
sikwissenschaftlichen Beitrag zur Emanzipation des Diskjockeys, sieht davon ein-
schneidende gesellschaftliche Veränderungen ausgehen:
"Wie die Künstler im Mittelalter waren die DJs zunächst als Handwerker defi-niert. Den DJ als Star und 'Autor' gibt es – von einigen Ausnahmen abgesehen – erst seit kurzem. Doch der DJ-Culture gehört die Zukunft der Popmusik. Neil Tennant von den Pet Shop Boys ist sich ganz sicher: 'Auf Dauer sind zwei Plattenspieler und ein Mischpult aufregender als fünf Gitarrensaiten.' Der DJ stellt den herkömmlichen Künstlerbegriff in Frage, sprengt ihn und wird ihn in renovierter Form re-etablieren." (POSCHARDT 1995, 15)
Eine Technik des Zusammensetzens ("Komponierens") im allerweitesten Sinn stellt
zwar auch die traditionelle Tätigkeit des Diskjockeys dar, indem Tonträger seriell
aneinandergereiht werden. Seit DJs aber begannen, mit den Schallplatten freier zu
hantieren und, zunächst noch anhand von Vinyl-Schallplatten39 und dann durch
39 Noch heute spielen Vinyl-Schallplatten in der DJ-Szene insbesondere im Live-Betrieb aufgrund
der physischen Zugriffsmöglichkeiten eine bedeutende Rolle. Einen Einblick in diese Tätigkeit
bietet der Artikel "Die Musik gibt mir Kraft: Aus dem Alltag eines DJ", erschienen im Februar
1997 in der Jugendbeilage "Cocktail" der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung:
"Der 23jährige besitzt eine Gitarre und einen Bass – seine wichtigsten 'Instrumente' sind jedoch
zwei Plattenspieler, ein Mischpult und mehrere Hundert Vinylplatten. Mit denen kann er 'ge-
nauso Musik komponieren wie mit anderen Instrumenten auch'. Dabei geht er von dem Groove
der zuerst aufgelegten Platte aus und baut den Beat der zweiten Platte in diesen Groove ein, die
Übereinstimmung der beiden Beats überprüft er per Kopfhörer. Falls nötig, wird die Geschwin-
digkeit des zweiten Plattentellers elektronisch oder per Hand nachgeregelt, um danach den Sound
der beiden Platten mit dem Mischpult übereinander zu spielen. Bei der Kombination von zwei
Stücken können so immer wieder neue Werke entstehen, die einen fortlaufenden Rhythmus ha-
ben." (SCHOCHARDT 1997)
Ein grundsätzlicher Wertewandel deutet sich hier in Form neuer Bedeutungen mehrerer musikali-
scher Fachtermini an: so sind die Begriffe "Instrument", "Komponieren" oder "Werk" in einer
gegenüber dem traditionell üblichen Sinn deutlich ausgeweiteten Bedeutung verwendet.
BERND ENDERS meint diese Tätigkeit des Live-Mixens, wenn er konstatiert:
167
Sampling, die Klangmanipulation auf immer kleinere Einheiten zu erweitern, ge-
winnt diese Art des "Komponierens" eine neue Qualität. Die Möglichkeit der digi-
talen Klangspeicherung und die damit verbundenen Möglichkeiten des Samplings
bieten entscheidende Verfeinerungsmöglichkeiten über die Manipulation von analo-
gen Vinyl-Schallplatten hinaus: das Sampling erlaubt die beliebige Genauigkeit des
Zugriffs, was es den DJs ermöglicht, auch auf dem Gebiet der Musikproduktion tätig
zu werden und eigene Werke aus "gesampeltem" Material herzustellen. Aus einem
Interview mit dem britischen Drum 'n' Bass-Musiker RUPERT PARKES ("Photek")
geht deutlich diese Möglichkeit des Musizierens hervor, die insbesondere den Be-
reich zwischen Instrumentalspiel und Komposition entscheidend erweitert:
"Als ich 15, 16 Jahre alt war, begann ich, Tenorsaxophon zu spielen. Wie schon gesagt, war ich von John Coltranes Musik mehr als begeistert und habe Unterricht genommen. Natürlich habe ich in erster Linie versucht, meine Lieb-lingslieder nachzuspielen usw. Auf diese Weise habe ich schon eine Menge über Musik gelernt, aber etwa 1 1/2 Jahre später habe ich dann doch begriffen, daß ich eigentlich nicht ein bestimmtes Instrument spielen möchte, sondern vielmehr Schallplatten machen wollte. Nehmen wir doch die Musik von John Coltrane: in so einem Stück arbeiten Saxophon, Kontrabaß und Schlagzeug zu-sammen. Mit meinen Saxophon-Kenntnissen war ich in der Lage diese Melo-die nachzuspielen, die den Wiedererkennungswert ausmacht, aber das Ge-heimnis dieser Songs lag vielmehr in dem gekonnten Zusammenspiel aller In-strumente. Die Konsequenz: Ich verkaufte das Saxophon und holte mir statt-dessen von Roland die W-30 Workstation. Das war nichts besonderes: eine Tastatur mit einem 15-Sekunden Sampler und integriertem Sequenzer: Damit fing ich an, herumzuexperimentieren, kleine HipHop und Techno Trax zu skizzieren." (VENUS 23 1996, 73)
Dabei kann das musikalische Material bis in kleinste Details den künstlerischen
Vorstellungen angepasst werden. Aus Tausenden von gesampelten Klängen, die
teilweise nur den Bruchteil einer Sekunde dauern, werden z.B. von DJ Shadow neue
Stücke hergestellt:
"Die Diskjockeys, oder besser: die DJs sind die neuen Live-Musiker. Sie erstaunen durch ein
virtuoses Musizieren mit Schallplatten, indem sie die rotierende Scheibe in verschiedenster
Weise manipulieren, durch Scratching, d. i. ein drehzahlvariierendes Wischen über die Platte zur
Generierung neuartiger Klanggeräusche, die einem laufenden Loop zugemischt werden, weiter
durch geschickte Anpassung der Drehzahl und Synchronisierung zweier gleichzeitig laufender
Platten und blitzschnelles, rhythmisch absolut timing-gerechtes Umschalten mit dem Mixer von
einem Track auf einen anderen etc." (ENDERS 1995, 65)
Im Zuge der Weiterentwicklung der Digitaltechnik werden aber möglicherweise auch im DJ-Be-
trieb die analogen Vinyl-Schallplatten an Bedeutung verlieren.
168
"Die meisten Breaks aus dem Album bestehen aus neun Chops, also Sample-Stückchen, manchmal sind es auch mehr. Anders gesagt, wenn der Break etwa so geht [singt: bum, bum, gat...gat, da-bum, gat], dann klingt das zu primitiv und old-fashioned für mich, wenn ich es einfach loope. Also sample ich den ersten Bassdrumschlag, dann die Snare, dann die HiHat, dann die nächste Snare und so weiter. So kann ich den Beat von der Platte für ein paar Takte lang so rekonstruieren, wie er im Original war, ich kann aber auch später etwas ganz anderes daraus machen.Eine Supersache, die ich auf der MPC [Sampler, H.K.] rausgefunden habe, ist die Fade-Funktion. Ich mag es nicht, wenn meine Beats, die ja aus gesampelten Stückchen bestehen, so zerstückelt klingen, wie sie es ja tatsächlich sind. Wenn ich eine Loop mache [...], dann besteht die Schwierigkeit darin, daß sie klingt wie eine Loop aus einzelnen Stückchen oder eine Loop, die es vorher nicht gab. Also sagen wir mal, du hast Schnipsel von einer Loop gesampelt, und möchtest nicht, daß es irgendwie zerhackt klingt. Du möchtest nicht, daß man hört, wie der Decay von der Snare abge-schnitten wird oder so etwas, oder dass keine Ambience auf der Kickdrum ist. Dann gebe ich ihr diese Ambience. Manchmal sample ich einfach Luft von der Platte und leg sie drüber. Und hier kommt die fade-Funktion ins Spiel. Wenn ich Luft sample, und das klingt dann wie [singt: tschhhhhhh], dann wird daraus, wenn du es einfadest, [singt: wwhhschhhhhh]. Und wenn du das jetzt dauernd wiederholst, dann erzeugt das eine unglaubliche Weichheit, und du hast absolut keine leeren Stellen mehr. Man sollte das natürlich nur machen, wenn es nötig ist. Es kann sein, daß das nur einmal in einer zweitaktigen Loop der Fall ist. Auch wenn der Drummer irgendwas gespielt hat, was dir nicht ge-fällt, oder du hast einen Knackser auf der Platte, der dich zwingt, einen Sound früher abzuschneiden, als du eigentlich möchtest, kannst du die Luft einfliegen, um die leere Stelle zu füllen. Wenn das Drumpattern sehr komplex klingt, dann soll das auch so sein. Ich möchte, daß die Leute hören, wie viel Zeit ich mir für jedes Detail des Samples nehme. Ich betrachte den Sampler genauso wie andere Leute ihre Gitarre oder ihr Schlagzeug sehen. Ich möchte der Beste auf diesem Instrument sein." (RULE 1997, 20)
Der Vergleich mit Gitarre oder Schlagzeug ist aus musikstruktureller Sicht durchaus
berechtigt, sind doch die hierbei verarbeiteten musikalischen Einheiten vergleichbar
mit der strukturellen Feingliedrigkeit schriftlicher Codierung in Noten. Ein Unter-
schied zum traditionellen Instrumentalspiel liegt aber neben der Verschmelzung von
Instrument und Medium in der Flexibilität der Verarbeitung, die nicht wie ein No-
tentext zwangsläufig auf diese kleinsten Einheiten reduziert, sondern beliebig grobe
oder feine und damit jederzeit sinnvolle (im Sinne der semantischen Makrostruktur)
Strukturierung zuläßt. Gleichzeitig steht das auditive Signal im Mittelpunkt der mu-
169
sikalischen Betätigung. Den einzig sichtbaren Unterschied zwischen U- und E- Mu-
sikwerken scheint diesbezüglich noch das Vorhandensein einer Partitur darzustellen.
Aber auch dieser Unterschied geht verloren, indem Autodidakten nachträglich
grafische Partituren erstellen. Ein Beispiel hierfür ist ERIK M, über den die Neue
Musikzeitung berichtet:
"Erik M wurde 1970 in der Nähe von Mühlhausen geboren und absolvierte keinerlei musikalische oder akademische Ausbildung. [...] Heute besteht sein Equipment aus allen möglichen Geräten, Hi-Fi-Komponenten wie Minidisc und CD-Player, aber auch Lo-Fi-Geräte wie tragbare Plattenspieler aus den 60er und 70er-Jahren. In unterschiedlichen Zusammenstellungen benutzt der Musiker diese Geräte als Instrumente, zum Beispiel eine Gruppe aus vier Plat-tenspielern, Minidisc- und CD-Playern oder eine um einen Sampler ergänzte Kombination. [...] In anderen Stücken greift Erik M auf andere Verfahren zu-rück: Collagieren, Samplen, Klangsynthese und -bearbeitung per Computer, alles Arbeitsweisen und Kompositionstechniken der avancierten, zeitgenössi-schen Musik, im Besonderen der elektronischen Musik und der musique con-crète. Genau wie diese verwendet Erik M Technologie, Geräte vom Platten-spieler bis zum Computer und Tonmaterial von Umweltaufnahmen über Ton-konserven bis hin zu synthetisiertem Klang. Schließlich hat er eine Notation für seine Musik entwickelt. Er schreibt grafische Partituren, die die Struktur seiner Stücke [...] auf einer Zeitachse präzise verzeichnen. Mit diesen Partitu-ren kann jeder, der die Geräte und Tonträger besitzt, das jeweilige Stück nach-spielen. Daneben verwendet Erik M sein Instrumentatium zum freien Improvi-sieren." (EHRLER 2001, 5)
Diese Entgrenzung von Musikkonsum und Musizieren durch die Verschmelzung
von Medium und Musikinstrument besitzt das Potenzial einer breiten gesellschaftli-
chen Entwicklung. Die Software-Industrie trägt ihren Anteil dazu bei, indem sie
Produkte auf den Markt bringt, die es jedermann ermöglichen sollen, unter einer ein-
fachen Benutzeroberfläche eigene kompositorische Experimente nach DJ-Art zu
vollziehen. Dabei stehen häufig zunächst in einer Art Baukastensystem verschiedene
Klänge, Rhythmen, usw. zur Verfügung, die graphisch angeordnet und beliebig
kombiniert werden können. Beispielsweise bemüht sich die Softwarefirma Systhema
mit ihrem Programm Soundtoys um neue Darstellungsformen von musikalischen
Strukturen, wie RODERICH ROMAN TYLSKI in der Jugendbeilage Cocktail der
Westdeutschen Allgemeinen Zeitung vom 4. April 1997 berichtet:
"Wer andere Menschen mit seinen musikalischen Ergüssen nicht unnötig quä-len wollte, mußte bis vor wenigen Jahren zumindest ein Instrument beherr-schen. Und wer sich sogar an Musik mit dem Computer heranwagte, stand vor
170
einem viel größeren Problem: Er mußte Bücher wälzen und die Programmie-rung der Software pauken. Dank Multimedia sind heute diese Hemmnisse ge-fallen. Ein Programm wie 'Soundtoys' macht es leicht, selbst zu komponieren, aufzunehmen und zu reproduzieren. [...] Die Synthesizer-Sounds, Rhythmen und Effekte lassen sich zu immer neuen Melodien und Sequenzen kombinie-ren." (TYLSKI 1997, 3)
Die Zeitschrift Keyboards berichtet über ein Konkurrenzprodukt der Firma Arbo-
retum:
"Neu im Arboretum-Programm ist auch das Programm MetaSynth. Bei der für Macintosh PowerPC erhältlichen Software handelt es sich um ein Sound-De-sign- und Kompositions-Werkzeug, das komplett grafik-orientiert arbeitet und vor allem auch 'Nicht-Musikern' helfen soll, neue Klangwelten zu erschließen. (Keyboards 12/1997, 13)
Die zunehmende Verbreitung solcher Software trägt einem verbreiteten Bedürfnis
nach eigenkreativem Umgang mit Musik auch auf dieser gegenüber der reinen Wie-
dergabe von Tonträgern deutlich differenzierteren strukturellen Ebene Rechnung. Im
Gegensatz zur Tätigkeit der DJs, die frei mit beliebigen Samples hantieren, weist
diese Software zwar teilweise noch eingeschränkte Möglichkeiten auf. Prinzipiell
schafft die Technologie der Implementierung eines Software-Samplers im Heim-
computer aber die grundlegend neue Situation, dass jeder mit einem Computer aus-
gestattete Haushalt technisch in die Lage nahezu unbegrenzten Musikprodukti-
onspotenzials versetzt wird. Je nach dem musikalischen Bildungshorizont der An-
wender mögen mit Hilfe solcher Softwareprodukte zwar in Mengen undifferenzierte
Erzeugnisse entstehen. Grundsätzlich erweitert diese Technologie aber die Möglich-
keit des Umgangs mit musikalischem Material für weite Bevölkerungskreise funda-
mental.
Bei der Bewertung dieser Phänomene darf nicht der Fehler einer Vermischung
grundsätzlicher Möglichkeiten einer Technologie mit bereits vorliegenden künstleri-
schen Ergebnissen gemacht werden. Die Tatsache, dass es sich aus der Sicht von
Musikpädagogik und Musikwissenschaft hierbei möglicherweise um Erzeugnisse
von niedrigstem Niveau handeln mag, ändert nichts am zukunftsweisenden Potenzial
der Technologie, war doch die Verwirklichung musikalischer Bedürfnisse des Ein-
zelnen bislang entweder von Massenmedien abhängig und trug dadurch deutliche
Züge verordneten Konsums oder war an den nur für eine Minderheit realisierbaren
Besuch einer Musikschule gebunden. Für den Großteil der Bevölkerung, dessen
Möglichkeiten sich bislang darauf beschränkten, ein Radioprogramm aus vielleicht
171
einem Dutzend Möglichkeiten auszuwählen oder ein Musikprogramm aus Tonträ-
gern zusammenzustellen, wird erstmals das Experimentieren auf der Grundlage mu-
sikalischer Strukturen möglich. Bedeutsam ist hierbei auch die Aussicht, dass durch
die flexible Strukturierung Wechsel von einer Stufe niedriger Komplexität des Mu-
sizierens zu einer Stufe höherer Komplexität ermöglicht wird und damit jedes Han-
tieren mit entsprechendem Material zum Lernvorgang werden kann.
So "popularistisch" solche Ansätze zunächst auch erscheinen mögen, so sehr müssen
sie ernstgenommen werden, sind sie doch darüber hinaus in der Lage, erkannte De-
fizite der traditionellen Musikpädagogik auszugleichen: Gegenüber herkömmlichem
Instrumentalunterricht ist ein flexibler und jedermann zugänglicher Umgang mit
klanglichem Material auf einer seinem musikalischen "Fassungsvermögen" (H.
RIEMANN, vgl. S. 64) angepassten strukturellen Ebene möglich. Der Lernvorgang
vollzieht sich in direktem, experimentellem Kontakt zum Klang ohne restriktive
oder separierende Faktoren. Der Umweg über das visuelle Medium kann (zunächst)
vermieden werden. Im Gegensatz zur traditionell schriftlich orientierten Musikpäd-
agogik kommen hier erstmals in der Geschichte der Musikerziehung musikalische
Hör- und Äußerungsmöglichkeiten breiter gesellschaftlicher Kreise auf ein und der-
selben musikalisch-strukturellen Ebene zur Deckung.
Auf dem Gebiet der Musik könnte ein vergleichbarer Prozess in Gang kommen mit
dem der Alphabetisierung im Zuge der Verbreitung schriftlicher Medien. Als die
Beherrschung der Schrift von der Ausnahmeerscheinung zur Normalität wurde, ver-
schwand die künstlerische Aura des Schriftkundigen. Dass sich im bisherigen Ver-
lauf der Geschichte der Elektrizität trotz explosionsartiger Zunahme der Musikprä-
senz durch Massenmedien musikalische Fähigkeiten in der Gesellschaft aber nicht
signifikant verbessert zu haben scheinen und die musikalischen Äußerungsformen
großer Teile der Gesellschaft sich darauf beschränken, konsumierend einer – aller-
dings riesigen – Musikindustrie zu huldigen, mag neben der Kürze der seither ver-
strichenen Zeit an der Struktur traditioneller Medien, genauer gesagt, an der man-
gelnden Durchlässigkeit zwischen bislang zur Verfügung stehenden Möglichkeiten
der Behandlung von musikalischem Material liegen, wie sie als entweder sehr grob
oder sehr fein beschrieben wurden (vgl. Abschnitt 4.5.1). Die folgende Vision
ARNOLD SCHÖNBERGS zur gesellschaftlich-musikalischen Entwicklung kann erst
Realität werden, wenn multimediale Einrichtungen flexible Kombinationen und
Durchlässigkeiten zwischen den von ihm genannten Möglichkeiten des Lesens, des
Spielens und des Hörens von Musik zur Verfügung stellen; Multimedialität ermög-
licht dabei die Betonung des folgenden Satzes auf dem Wörtchen "und":
172
"Die musikalische Bildung würde schneller um sich greifen, wenn die Leute mehr Musik läsen, spielten und hörten, als es heute [1939, H.K.] geschieht." (SCHÖNBERG 1992, 141)
Die junge steuerdatencodierende Aufzeichnungsart bietet neue Möglichkeiten der
Verbindung von schriftlicher und auditiver Codierung auch klassischer Musik. Diese
Technologie schafft die Voraussetzung dafür, dass auch die Schriftlichkeit von Mu-
sik vom musikkulturellen Normalisierungsvorgang nicht ausgeschlossen bleiben
muss. Es existieren vielfältige Softwarelösungen in Form sogenannter Sequencer
(vgl. S. 119), die in der Lage sind, die Daten einer mit einer Tastatur gespielten Mu-
sik zu speichern und in Notenform zu drucken – was der Göttinger Ökonomiepro-
fessor JOHANN BECKMANN etwas voreilig bereits im Jahr 1786 für möglich gehalten
hatte. BECKMANN berichtete in seinen Beyträgen zur Geschichte der Erfindungen
von der Erfindung des "Melographen", einer Maschine, die die Tastenbewegung
eines Klaviers in Notenschrift umsetzt:
"Des Hrn. Ungers eigene Beschreibung seiner Erfindung ist im Jahre 1774 zu Braunschweig [...] unter folgendem Titel einzeln gedruckt worden: Entwurf ei-ner Maschine, wodurch alles, was auf dem Clavier gespielet wird, sich von selber in Noten setzt;" (BECKMANN 1786, Bd.1, 30)
Heute können gespielte Sequenzen beliebig, auch in Notenform, dargestellt oder
umgekehrt mittels Scanner Notenblätter in MIDI-Dateien umgewandelt werden; als
MIDI-Datei vorliegende Musik kann in Notenform gedruckt, am Bildschirm ange-
zeigt, verändert oder in ausgedruckter Form vom Blatt gespielt werden. Die steuer-
datencodierende Musikaufzeichnung (vgl. 3.3.2) verbindet dabei visuelle und audi-
tive Codierungsformen, vereint Eigenschaften von Primär- und Sekundärmedium
und schafft die Möglichkeit multimedialer Darstellung. Ein Beispiel für eine solche
multimediale Darstellung liefert die Schott Digital Music Library, wo auditive und
visuelle Information simultan präsentiert wird:
173
Abb. 23: Schott Digital Music Library: JOHANN SEBASTIAN BACH: Klavierwerke.
Anhand von mittels Steuerdatencodierung gespeicherter Musik ist auch eine Kom-
munikation zwischen Musikern möglich, die unterschiedliche Herangehensweisen
an Musik pflegen. Beim Austausch von MIDI-Dateien steht es jedem Musiker frei,
die ihm angemessene Darstellungsform, ob auditiv oder visuell, in Tabulatur- oder
Notenform, zur Bearbeitung zu wählen. Auch für Menschen, die die Notenschrift
nicht beherrschen, wird auf diese Weise das Komponieren von Werken größeren
Umfangs und größerer Besetzung möglich. Seine 1997 uraufgeführte Sinfonie Stan-
ding Stone etwa hat PAUL MCCARTNEY, wie die Westdeutsche Zeitung berichtet,
mit Keyboard und Computer komponiert:
174
"McCartney, der Noten weder lesen noch schreiben kann, hatte das Stück mit Hilfe eines Computers komponiert und es sich dann von einem Beraterteam orchestrieren lassen. Musik von Grund auf zu lernen, sei ihm versagt geblieben, berichtet er." (Westdeutsche Zeitung, 16.10.1997)
In MCCARTNEYs Bedauern über die ihm entgangene musikalische Ausbildung
schwingt der für die westliche Musikkultur typische Minderwertigkeitskomplex des
musikalischen "Analphabeten" mit. Dass diese gängige Verknüpfung von Musikali-
tät und Beherrschung der Notenschrift aber in die Irre führt, wurde bereits auf S. 148
angedeutet. Wenn nun der deutsche Massenkomponist von Schlagermusik, RALPH
SIEGEL, nach seiner Niederlage gegen ALF IGEL alias STEFAN RAAB in der
deutschen Vorauswahl zum Grand Prix de la Chanson 1998 versucht, seinen
Kontrahenten durch Verbreitung der folgenden Information abzuqualifizieren:
"[...] der müsse 'seine Song-Ideen auf ein Diktiergerät singen, weil er keine Noten schreiben kann'." (WAZ, 24.4.1998),
so symbolisiert dies das Rückzugsgefecht der unterlegenen visuellen gegen die ge-
stärkte auditive Herangehensweise an Komposition. Eine solche Äußerung wird
nicht mehr lange geeignet sein, musikalische Kompetenz eines Konkurrenten zu
diskreditieren – wird doch nun die folgende Vision des 1977 verstorbenen Dirigen-
ten LEOPOLD STOKOWSKI Realität:
"One can see coming ahead a time when a musician who is a creator can create directly into t o n e , not into paper:" (zit. nach UNGEHEUER 1992, 84)
Dies ist die Emanzipation des Kompositionsvorgangs vom schriftlichen Medium.
In der Folge dieser Loslösung des musikalischen Schaffensprozesses von der
Schriftlichkeit vermischen sich auch Improvisation und Komposition. Jede Improvi-
sation auf einem MIDI-fähigen Musikinstrument kann gedruckt oder auf Tonträger
veröffentlicht und damit zum "Werk" werden. Der geringe Speicherbedarf von steu-
erdatencodierter Musik trägt dazu bei, dass z.B. im Internet solch ein Werk bereits
heute in beliebigem Umfang und praktisch ohne Kosten veröffentlicht werden kann.
Auch diese Auflösung medialer Hemmnisse trägt zur Entmystifizierung und Popula-
risierung der Tätigkeit des Komponierens bei. JOSEPH HAYDN brauchte noch minde-
stens das Blatt Papier, den Verleger, den Notensetzer, den Druckstock und die Post-
kutsche, um aus seinen allmorgendlichen Improvisationen Kompositionen von ge-
175
wissem Verbreitungsgrad werden zu lassen. Jeden Morgen nach dem Frühstück
nämlich, so berichtet sein Biograph ALBERT CHRISTOPH DIES,
"[...] setzte er sich ans Klavier und phantasierte so lange, bis er zu seiner Ab-sicht dienende Gedanken fand, die er sogleich zu Papier brachte. So entstanden die ersten Skizzen von seinen Kompositionen." (DIES 1962, 209f.)
Unter heutigen Bedingungen hätte HAYDNS Kompositionsweise vielleicht so ausge-
sehen, wie JOE ZAWINUL bei der Produktion seiner CD Stories from the Danube
Mitte der neunziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts vorgegangen ist. Er gibt
über seine Art, Musik zu schreiben (!) in einem Interview der Zeitschrift Keyboards
Auskunft:
"Ich schreib ja anders als die trainierten Komponisten, ich hab' das nie ge-lernt." "Sie improvisieren alle ihre Stücke..." "Ja, ich improvisiere alles. Ich hab' auch bei diesem Stück alles improvisiert und dann orchestriert." "An einem Keyboard oder an einem Piano?" "Nur an Keyboards." "Dann sicher gleich mit dem Gesamtklang des Orchesters im Kopf?" "Ja, denn Keyboards klingen ja wie ein Orchester, das ist ihr Vorteil. Es war sehr einfach, ich hab' zwei, drei Tage improvisiert und viel mehr, als man jetzt hört. Ich hab dann einfach den Computer aufgedreht. Es erlaubt einem, wie auf einem Tape zu improvisieren, aber man kann alles ausdrucken und sieht sofort, wie es gespielt wird. Und mit der Information vom Druck und dem, was ich selbst runtergeschrieben hab' vom Tape, ist es einfach zu orchestrieren." (Keyboards 7/1996, 30)
Die Tatsache, dass ein weltberühmter Musiker wie JOE ZAWINUL, der einen guten
Teil seines Lebensunterhalts wahrscheinlich aus Tantiemen bestreiten kann,
beteuert, er habe nie komponieren gelernt, mag vielleicht als Koketterie aufgefasst
werden. Sie verdeutlicht darüber hinaus aber die tiefgreifenden Veränderungen, die
der Umgang mit Musik durch neue Technologien erfährt: Die Möglichkeit des
176
klanglichen Experiments eröffnet, wie bereits GLENN GOULD vorausgesehen hatte,
in der Tat jedermann die Möglichkeit der Komposition.
Wie aber jedes mit Hilfe elektroakustischer Medien aufgezeichnete Klangexperi-
ment zur Komposition wird, wird auch jede Komposition, die mit Computerhilfe
und nicht mit Bleistift und Papier entsteht, zum Klangexperiment. Die Komposition
gewinnt damit auch "improvisatorische" Aspekte, indem Kompositionen bereits
während ihres Entstehungsprozesses der Überprüfung unterzogen werden können.
Der Schweizer Komponist RAINER BOESCH pflegt die so entstehenden Möglichkei-
ten als "Malen mit Musik" zu bezeichnen. Seiner Meinung nach fällt ein entschei-
dender Grund für das Phänomen, dass es wesentlich mehr Amateur-Maler als Ama-
teur-Komponisten gibt. Eines Tages könnte dieses "Malen mit Musik" so selbstver-
ständlich sein wie das Malen von Bildern mit Farbe und Papier. Was von den Pio-
nieren der elektronischen Musik der 50er Jahre mit Magnettonband, Schere und
Mischpult vorgemacht worden war, findet nun mit der Entlinearisierung der Tonauf-
zeichnung durch Computer, Festplatte und Sampler Einzug in die Kinderzimmer.
Der Komponist und Pädagoge DAVID GRAHAM vergleicht diesbezüglich in einem
Interview zunächst bisherige Formen des Kunst- und Musikunterrichts an
allgemeinbildenden Schulen:
"Ich habe gemerkt, auch weil ich immer in Schulen gearbeitet habe, daß alle Kunstrichtungen kreativ unterrichtet werden, nur die Musik nicht. Das heißt, wenn man Kunst lernt in der Schule, dann studiert man nicht Rubens oder Pi-casso, sondern man malt direkt Bilder – schon im Kindergarten. Mit Musik macht man das ganz anders. Maximal übt man Mozart, was auch wichtig ist... die kreative und schöpferische Seite wird aber völlig übergangen." (BERHEIDE 1998, 80)
Auf die folgende Frage eines Schülers
"Wie erklärst du dir, daß es im Unterschied, beispielsweise zum eigenständi-gen Malen in Kunstunterricht, im Musikunterricht keine ähnliche Unterrichts-weise gibt?" (BERHEIDE 1998, 80)
antwortet Graham mit dem folgenden Hinweis auf die Medienproblematik:
"Dafür gibt es für mich vor allem einen Grund: die Musik ist für die breite Masse immer ein Geheimnis geblieben – aufgrund dieser 'Zwischensprache', der Notenschrift. Sie ist wie eine Mauer, obwohl sie leicht zu erlernen ist. Beim Malen ist es etwas ganz anderes: Man hat einen Gedanken und malt ei-nen Strich. Das ist ganz einfach und funktioniert – ohne Zwischenschritte. Man
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sieht sofort was richtig und was falsch ist. Bei der Musik braucht man dagegen sogar noch Interpreten, die die Noten spielen können. Wer nicht ein bißchen auf dem Klavier improvisieren kann, hat grundsätzlich einige Probleme. Das hat dazu geführt, dass Musik immer eine elitäre Kunst gewesen ist." (BERHEIDE 1998, 80)
Wenn sich aber ein Komponist sofort hörend mit dem Klang der von ihm geschaffe-
nen Musik auseinander setzen kann, entsteht die Möglichkeit, die Dauer von Lern-
zyklen von angehenden Komponisten, den Klang der von ihnen erzeugten "Partitu-
ren" betreffend, zu minimieren. Ähnlich wie der Maler vor der Staffelei direkt das
Ergebnis seines Tuns kontrollieren kann, indem er einige Schritte zurückgeht, wird
es für den Komponisten möglich, seine Lernzyklen von mehreren Jahren, die nicht
nur GUSTAV MAHLER teilweise auf die klangliche Realisierung seiner Symphonien
warten musste, um Größenordnungen zu reduzieren, indem er die geschaffene Par-
titur vom elektronischen Medium erklingen lässt. Im Zuge der Medienentwicklung
rückt auch die folgende Vision von HANS WERNER HENZE in den Bereich des Mög-
lichen, nämlich dass
"[...] in meinen Augen und nach meiner Erfahrung das Komponieren von Mu-sik lehrbar und erlernbar ist – in der Schule! Gerade so wie man es mit dem Zeichnen oder Malen oder dem deutschen Aufsatz zu tun pflegt." (HENZE 1998)
Kein synthetischer Klangerzeuger war zwar bislang in der Lage, die klanglichen
Möglichkeiten eines Streich- oder Blasinstrumentes in der Hand eines Musikers in
allen Nuancen zu simulieren. Gegenüber dem herkömmlichen Partiturspiel mit in
der Regel nicht mehr als zehn Fingern bietet die synthetische Klangerzeugung für
die Überprüfung von Kompositionen aber bereits heute einen deutlichen Fortschritt.
Auch verkennen Kritiker, die grundsätzlich die klangliche Unterlegenheit elektri-
scher Klangerzeugung gegenüber akustischen Instrumenten postulieren, die Tatsa-
che, dass in der Geschichte des Baus akustischer Instrumente bereits Jahrhunderte
verstrichen sind, während die elektrische Klangerzeugung noch immer im Entstehen
begriffen ist. Wie etwa die Entwicklung des Klaviers Jahrhunderte der künstleri-
schen Auseinandersetzung zur Folge hatte, verspricht die Entwicklung neuer Mu-
siktechnologien für die Zukunft ähnlich bereichernde Aussichten für das Gebiet der
elektronischen Klangerzeugung. BERND ENDERS und CHRISTOPH ROCHOLL mahnen
hier zur Geduld:
178
"Und hier müssen wir geduldig sein und abwarten, bis das elektronische In-strument den künstlerischen Kinderschuhen entwachsen ist. Als das Hammer-klavier erfunden wurde, währte es eine geraume Zeit, bevor Komponisten und Pianisten wie Chopin, Bartók oder Chick Corea bewiesen, welche musikali-sche Vielfalt diesem Instrument entlockt werden kann. In einer Zeit rasanter technischer Entwicklungen ist ein Instrument schneller konstruiert und fabri-ziert als musiziert. Man muß den Musikern wohl noch ein wenig Zeit lassen, bevor ästhetische Urteile angebracht sind." (ENDERS & ROCHOLL 1992, 113)
Es wird auch noch geraume Zeit dauern, bis sich eine angemessene Spieltechnik auf
dem Synthesizer entwickelt haben wird. Die willkürliche Adaptation der Klavierta-
statur für die synthetische Klangerzeugung provoziert eine klavierähnliche Spiel-
weise, die häufig musikalischer und klanglicher Rechtfertigung entbehrt. Statt des-
sen erfordert die besondere Klangqualität des Synthesizers eine eigene Spielweise,
oder besser: so viele verschiedene Spielweisen, wie das Instrument Klänge herzu-
stellen in der Lage ist. Auf diesen Sachverhalt macht JOE ZAWINUL, Pionier des
Synthesizerspiels, im folgenden aufmerksam:
"Es ist ein junges Instrument, und es gibt bis heut' fast keinen, der es spielen kann. Aber das wird kommen. Aber wenn man's spielt, dieses Instrument, dann erschießen einen die Kritiker immer mit der einen, und mit der anderen schrei-ben sie, daß das ja nicht wertvoll ist. Aber dös is immer a Blödsinn! Diese Mu-sik ist genauso wertvoll wie eine andere, nur sie ist halt noch nicht so gut ge-spielt." (Keyboards 7/1996, 39)
Das Klavier, als Spezialfall eines Keyboards mit nur einem bestimmten Klang be-
trachtet, verlangt im Gegensatz zum Synthesizer entsprechend nur eine dezidierte
Spieltechnik. Trotz dieser Einschränkung war es in der Lage, die Kreativität vieler
Musikergenerationen herauszufordern. Das Klavier, betrachtet man es als einen Ver-
such, einen möglichst reichhaltigen Klang mit möglichst einfacher Tonerzeugung,
nämlich dem Druck auf "claves" zu erzielen, lässt sich in die Kategorie steuerdaten-
codierender Medien nahtlos einordnen und stellt aus dieser Sicht – wie übrigens
auch die Orgel – nichts anderes dar als einen Sampler bzw. Synthesizer mit sehr
spezialisierten Möglichkeiten, allerdings in nicht elektrischer Form. In Anbetracht
der reichhaltigen musikalischen Ergebnisse, die das Klavier trotz dieser einge-
schränkten Möglichkeiten hervorzubringen in der Lage ist, müssen künstlerische
Möglichkeiten und Herausforderung der elektronischen Klangerzeugung nahezu
unbegrenzt erscheinen.
Möglichkeiten des Experiments mit Klängen, die in der Vergangenheit nur einigen
wenigen Musikern gegeben waren, werden Allgemeingut. JOSEPH HAYDN, einer der
179
wenigen Glücklichen, die über diese Möglichkeit des Klangexperiments bereits vor
Jahrhunderten verfügten, berichtet von den enormen Vorteilen, die sich ihm als
Hofkapellmeister boten:
"Ich konnte als Chef eines Orchesters Experimente machen, beobachten, was den Eindruck hervorbringt und was ihn schwächt, also verbessern, zusetzen, wegschneiden, wagen. [...] Das Ohr, versteht sich ein gebildetes, muß ent-scheiden und ich halte mich für befugt wie irgendeiner, hierin Gesetze zu ge-ben." (zit. nach HAEFELI 1999, 47)
Interaktive Medien relativieren die Kultur der medialen One-Way-Kommunikation,
die über Jahrhunderte für unsere Gesellschaft wesenstypisch geworden ist. Damit
treten interagierende und demokratischere Lebens- und Wahrnehmungsweisen in
Konkurrenz zur Frontalsituation, wie sie das 19. Jahrhundert überdauert hat und
heute noch typischerweise das Klassenzimmer, den Konzertsaal oder den Fernseh-
platz charakterisiert. Eine relativ neue Möglichkeit stellt diesbezüglich die Internet-
Plattform RocketNetwork dar, auf der ortsunabhängig gemeinsam musiziert werden
kann.
In dem Maße, in dem die Möglichkeiten autodidaktischen Umgangs mit musikali-
schen Strukturen wachsen, werden sich auch die Anforderungen an die Ausbildung
von Musikpädagogen verändern. Von der Musiklehrerausbildung wird in Zukunft
vermehrt die Vermittlung von Medien- und Technologiekompetenz gefordert wer-
den, soll ein weiteres Auseinanderdriften von musikpädagogischem Anspruch und
gesellschaftlicher Wirklichkeit verhindert werden.
Diese Veränderungen müssen keinesfalls im Widerspruch stehen zu interpretieren-
dem Musizieren anhand klassischer Literatur, im Gegenteil: letztere Fähigkeit kann
fundierter erworben werden, wenn auch musikstrukturelle, auditive und eigenkrea-
tive Inhalte vermittelt werden, die, jenseits von Fragen elektrischer oder akustischer
Tonerzeugung, weit über die bislang praktizierten Unterrichtsinhalte hinausgehen.
180
4.6 Perspektiven für die Musikpädagogik
Wie in Abschnitt 2.4 dargelegt, birgt die traditionell bevorzugte visuelle Musikver-
mittlung, die durch Fortschritte auf dem Gebiet der Drucktechnologien seit min-
destens zweihundert Jahren überproportional Vorschub bekommen hat, für die Mu-
sikpädagogik Probleme. Bedingt durch einseitige Medienentwicklung entstand eine
Schieflage zu Gunsten visuell-linearer Lernformen mit der Konsequenz der Ab-
spaltung der Instrumentalausübung vom musikalischen Schaffensprozess, der Mu-
sikpädagogik von Teilen der gesellschaftlichen Wirklichkeit und des Selbstbilds
vieler Instrumentalisten von den eigenen musikalischen Fähigkeiten, was u.a. in der
Abwertung des Dilettantismus seinen sprachlichen Niederschlag fand.
Dass die Problematik der visuellen Vermittlung in der musikpädagogischen Litera-
tur bereits thematisiert, wenn auch noch nicht konsequent zu Ende verfolgt ist,
wurde ebenfalls ausgeführt. Ebenso wurde der Widerspruch formuliert zwischen
erkannten Problemen auf der einen Seite und einem Mangel an Lösungsansätzen
andererseits.
In Abschnitt 4.5 wurden die Möglichkeiten dargestellt, die neue Technologien für
den autonomen bzw. autodidaktischen Umgang mit Musik bieten. Anzeichen einer
radikalen, die etablierte Musikpädagogik konterkarierenden Entwicklung wurden
registriert. Dabei wurde deutlich, dass eine neue für jedermann zugängliche Musi-
zierweise im Entstehen begriffen ist, die erstmals ohne Umweg über das schriftliche
Medium komplexe Musik zu strukturieren, herzustellen und zu vermitteln vermag.
In der etablierten Musikpädagogik macht sich in Anbetracht dieser Umbruchsitua-
tion, zusätzlich belastet durch die schwierige wirtschaftliche Lage vieler Musik-
schulen und den damit in Verbindung stehenden Rationalisierungsdruck, vielfach
Ratlosigkeit breit. Immer weitere zeitliche Einschränkungen des Schüler-Lehrer-
Kontaktes durch vermehrten Einsatz schriftlicher Medien lassen einen erfolgreich
verlaufenden Instrumentalunterricht noch unwahrscheinlicher werden. Unter dieser
Prämisse veröffentlichte MARTIN GELLRICH in der Zeitschrift Üben & Musizieren
im Jahr 1996 den Aufsatz Instrumentalausbildung an Musikschulen – ein Haus ohne
solides Fundament, in dem er die folgende ernüchternde Bilanz zieht:
"So bleibt für Lehrerinnen und Lehrer nur der Ausweg übrig, den alten, inef-fektiven Weg des Erlernens des Spiels nach Noten mittels der Methode des mechanischen Greifens unter verschlechterten Bedingungen weiterzuführen." (GELLRICH 1996, 12)
181
Auch aus dieser Sicht scheint eine intensivere Beschäftigung mit der aktuellen Me-
dienentwicklung unumgänglich.
Das Verhältnis von visueller zu auditiver Wahrnehmung wird gegenwärtig vielfach
grundsätzlich diskutiert. Die Dominanz des Auges gegenüber dem Ohr in unserer
Kultur wird von gewissen Kreisen allgemein für technokratisches Denken und damit
für viele Schwierigkeiten der gegenwärtigen gesamtgesellschaftlichen Situation bis
hin zu ökologisch-ökonomischen Problemen verantwortlich gemacht. Als Konse-
quenz wird vielfach eine neue Hörkultur gefordert; in der Annahme, dass eine ad-
äquate Berücksichtigung des in unserer Gesellschaft als benachteiligt angesehenen
Ohres der postulierten Eindimensionalität des Denkens einen ganzheitlichen Ansatz
entgegenstellen könne. Als Vertreter dieser Richtung hat sich JOACHIM ERNST
BERENDT profiliert. In einer Vielzahl von Veröffentlichungen propagiert er eine
Hinwendung weg von der seiner Meinung nach "aggressiven Sehkultur", hin zu ei-
ner "sanften" Kultur des Hörens; so auch in seinem Buch Nada Brahma – die Welt
ist Klang:
"Der Neue Mensch wird ein hörender Mensch sein – oder er wird nicht sein. Er wird in einem Maße Klänge wahrnehmen, von dem wir uns heute noch keine Vorstellung machen können. [...] Die tiefere Veränderung unseres Bewußtseins (und das ist wohl unbestritten: wir brauchen ein neues Bewußtsein, eine andere Wahrnehmung von Welt) ... die tiefere Veränderung wird dadurch ausgelöst, daß wir uns endlich das Ohr und das Hören in dem Maße erschließen, in dem das Auge und das Sehen oh-nehin in unserer Kultur erschlossen sind." (BERENDT 1985, 16)
Auch wenn BERENDTs Thesen durchaus nicht unumstritten sind, verdeutlichen sie
eine gegenwärtig verbreitete Tendenz: die Suche nach einer Stärkung der in Konkur-
renz zum Sehen ins Hintertreffen geratenen Hörkultur. Auch MARSHALL MCLUHAN
polarisiert das grundsätzliche Verhältnis zwischen sehender und hörender Wahr-
nehmung. Er postuliert in seinem Buch Understanding media – die magischen Ka-
näle gar eine "Entscheidungsschlacht" zwischen Auge und Ohr:
"Wir erleben die Entscheidungsschlacht zwischen Sehen und Hören, zwischen der schriftlichen und mündlichen Form der Wahrnehmung." (MCLUHAN 1995, 34)
MCLUHAN vertritt die bemerkenswerte Überzeugung, dass sich im Zuge der Me-
dienentwicklung das Ohr in diesem Kampf durchsetzen wird, bzw., wie er im Fol-
182
genden betont, sich möglicherweise sogar bereits durchgesetzt hat. Daraus folgt für
ihn eine neue Kultur der Gleichzeitigkeit, der Abkehr vom linearen Denken:
"Wir leben in einer brandneuen Welt der Gleichzeitigkeit. Die 'Zeit' hat aufge-hört, der 'Raum' ist dahingeschwunden. Wir leben heute in einem globalen Dorf ... in einem gleichzeitigen Happening. Wir leben wieder im Hörraum. Wir haben wiederum damit begonnen, Urahnungen, Stammesgefühlen Gestalt zu geben, von denen uns einige Jahrhunderte des Alphabetismus getrennt hatten." (MCLUHAN 1984, 63)
Die autonomen Musizierformen, wie sie in Abschnitt 4.5.2 beschrieben wurden, sind
zwar zum großen Teil erst nach MCLUHANS Tod im Jahr 1980 entstanden, scheinen
aber seine Einschätzung, die von ihm nicht speziell auf musikalische Aspekte hin
formuliert wurde, gerade für die Musikkultur zu bestätigen. Auch die rhythmisch
geprägten Musikstile der Jugendkultur erinnern an Urahnungen und Stammesge-
fühle, die aus unserer Zivilisation verschwunden gewesen zu sein schienen und fü-
gen der europäischen Musikkultur das rhythmische Element als wesentliches Ge-
staltungsmittel hinzu. Der Widerspruch zwischen einerseits vielfachem Scheitern
visuell geprägter Musikpädagogik und andererseits massenhaftem Konsum von
Popmusik könnte ebenfalls als Indiz für den von MCLUHAN postulierten Sieg des
Ohrs gewertet werden.
Auch in der Musikerziehung ist diese Polarisierung zu beobachten. Hier wird der
"Kampf zwischen Auge und Ohr" vordergründig zwischen den Musikstilen ausge-
tragen. Vertreter der einen Seite, der klassischen Musikkultur, halten der Gegenseite
dabei häufig mangelnde geistige Durchdringung, mangelnde Sensibilität und Ober-
flächlichkeit, kurz: mangelnden künstlerischen Anspruch vor. Diese Richtung ver-
tritt beispielsweise der rheinische Klavierpädagoge PETER PAUL WERNER in seiner
Neuen Methodik und Didaktik am Klavier. WERNER polarisiert zwischen Klavier
und Keyboard, indem er dem Keyboard jegliche künstlerische Potenz abspricht und
gleichzeitig grundsätzlich bezweifelt, dass auf dem Keyboard erlernte Fähigkeiten
auf das Klavierspiel übertragen werden können:
"Da das Keyboard selbst keine Verbindung zum Kunstinstrument aufweist, kann es ebenso wenig zu ihm hinführen! Als mechanische Klopftastatur, die mit rhythmischer Bearbeitung schnell hör-bare Erfolge gewährleistet, deren statische Töne auf musikalische Forderungen mangels Tonmodifikation verzichten müssen, ist es nur zum rhythmischen Sound der Popmusik prädestiniert. Somit zur Oberflächlichkeit statt zur Medi-tation vorprogrammiert, ist es zur künstlerischen Aussage unfähig." (WERNER 1993, 23)
183
Umgekehrt kritisieren Vertreter von Improvisations- und Jazzpädagogik die klassi-
sche Musikerziehung, indem sie sich auf Kulturen berufen, wo ursprünglichere und
spontanere Musizierformen erhalten geblieben sind. VOLKER BIESENBENDER als
Vertreter dieser Richtung führt beispielsweise in seinem Buch Von der unerträgli-
chen Leichtigkeit des Instrumentalspiels den afrikanischen Musiker PAPA OYEAH
MAKENZIE als Zeugen an, um den Vorwurf eines seiner Meinung nach grundsätzlich
falschen Ansatzes in der klassischen Musikerziehung zu untermauern:
"Ich glaube, ihr lernt alle die Musik verkehrt herum – von den Fingern in die Ohren, statt von den Ohren in die Finger. Das ist, als ob man Tricks lernt, um das Leben zu imitieren." (BIESENBENDER 1992, 38)
JAMEY AEBERSOLD als Vertreter der US-amerikanischen Jazzpädagogik hält rein
reproduzierenden Instrumentalunterricht gar für eine Art Betrug an den Schülern. Er
verlangt von jedem Musikunterricht die Vermittlung von Fähigkeiten, eigene Musik
herzustellen und fordert deshalb in Form eines Appells an einen fiktiven Musikleh-
rer:
"Vor allem aber vergiß nicht, mir zu zeigen, wie ich meine eigene Musik ma-chen kann. Denn erst dann wird die Musik zu einem Teil meiner selbst. Es wird Zeit, daß die Pädagogen in der Musikerziehung die Notwendigkeit er-kennen, Phantasie und Kreativität in ihren Unterricht einfließen zu lassen. Das gilt sowohl für die Musikschulen als auch für den Privatunterricht. Wir haben die Musikschüler und -studenten lange genug über's Ohr gehauen." (AEBERSOLD 1996, 74)
Diese Frontenbildungen und gegenseitigen Ressentiments beruhen nicht unwesent-
lich auf diametral entgegengesetzten und bislang unvereinbaren Medienzugängen.
Während die klassische Musikerziehung aus gezeigten medienhistorischen Gründen
die visuelle Vermittlungsform über das Printmedium vertritt, vollzieht sich, wie
HEINER GEMBRIS unter Bezugnahme auf eine Arbeit von GÜNTHER KLEINEN be-
merkt, das Lernen in der "U-Musik" genau umgekehrt:
"Verläuft das Erarbeiten und Erlernen von Musik auf dem Gebiet der klassi-schen Kunstmusik 'in der Regel über die Noten und eher über intellektuelle Operationen', vollzieht sich musikalisches Lernen im Bereich der Popmusik 'in erster Linie über das Hören und im affektbetonten Zugriff'." (GEMBRIS 1987, 130)
184
Diese gegenseitigen Ressentiments sind aufgrund der bisherigen Inkompatibilität der
unterschiedlichen Zugangsweisen nur zu verständlich – führen doch Schwächen der
Popmusiker im Notenspiel einerseits und der "E-Musiker" bei spontanen und impro-
visatorischen Musizierformen andererseits häufig zu Berührungsängsten bis hin zu
Minderwertigkeitsgefühlen, die eine musikalische Kommunikation mit Vertretern
der jeweils anderen Seite erschweren oder gar unmöglich machen. Stichhaltige Ar-
gumente für eine Polarisierung oder Unvereinbarkeit der beiden Richtungen lassen
sich aber aus musikstruktureller Sicht kaum finden, denn klassische Musik und po-
puläre Stile der Gegenwart fußen musikstilistisch weitgehend auf identischen
Grundstrukturen und sind trotz aller Unterschiedlichkeit der Einflüsse, z.B. afroame-
rikanischer Rhythmik auf die Jazz- und Popmusik, in weiten Teilen eng verwandt
(vgl. WIEDEMANN 1992).40
Multimediale Verbindungen von visuellen und auditiven Medien versprechen in die-
sem Zusammenhang die Aussicht, einen vielschichtigen musikalischen Bildungs-
prozess zu ermöglichen, der auch diese Spaltung relativieren könnte. Gerade die in
Abschnitt 4.5.2 beschriebene neue mediale Durchlässigkeit zwischen verschiedenen
Komplexitätsgraden der Verarbeitung von Musik könnte künftig einen wichtigen
Beitrag zur Hebung des musikalischen Verständnisniveaus gegenüber verschieden-
sten, auch komplexen Arten von Musik leisten. Multimediale und interaktive Dar-
stellungsformen wären auch dazu geeignet, synästhetische Wahrnehmungen zu
schaffen, um den von RAINALD MERKERT beschriebenen Sinneskreis zwischen
Auge und Hand (vgl. S. 98) zu durchbrechen und für das Musiklernen geeignetere
Synästhesien anzubieten.
Allerdings sind bislang in der Praxis der Musikdidaktik realisierte Ergebnisse meist
ernüchternd. Ein Beispiel für eine Software, bei der multimediale Möglichkeiten des
Computers nicht wirksam genutzt werden, sei am Miracle Piano Teaching System
gezeigt. Dieses stellt ein typisches Beispiel für die unreflektierte Übertragung über-
kommener Denkstrukturen aus dem Umgang mit bereits länger bekannten Medien
dar: die traditionellen visuell geprägten Kriterien des Klavierlernens Noten richtig
lesen – Taste korrekt drücken finden sich bei diesem System unverändert wieder. Im
zugehörigen Handbuch wird auf den zwar modernen Ansatz des differenzierten
Fehlerfeedbacks hingewiesen. Betrachtet man aber die Liste der dabei möglichen
Fehler, so wird deutlich, dass die (an sich bereits unkünstlerischen) Kriterien richtig
– falsch genau nach solchen Gesichtspunkten geordnet werden, die sich im Laufe
der Entwicklung des Klavierspiels anhand der visuellen Vermittlung von Musik ge-
40 Auch die Tatsache, dass unablässig Themen klassischer Musikliteratur in Popstücken reanimiert
werden, zeugt von der Kompatibilität beider Stile.
185
bildet hatten und bis heute eine Bürde der klavierpädagogischen Tradition darstel-
len:
"Wenn ein Stück nicht richtig gespielt wird, sagt das Programm nicht nur la-konisch: 'Du hast da ein paarmal daneben gegriffen'. Ein intelligentes Lernsy-stem wie Miracle versucht vielmehr festzustellen, warum ein gewisser Fehler auftaucht, um dann entsprechende Lösungsvorschläge bieten zu können. Das Miracle stuft jeden Fehler in eine von 200 möglichen Fehlerkategorien ein. Diese 200 Standardfehler sind wiederum in 41 Haupt-Kategorien unter-teilt. Nachfolgend einige häufige Fehler: • Übersehen eines Vorzeichens • Zu langes Halten einer Note • Zu schnelles Spielen von Noten • Fehlerhafte Auslegung eines Vorzeichens • Übersehen einer Pause • Zu kurzes Halten einer punktierten Note • Falscher Finger • Treffen des Zwischenraums zwischen zwei Tasten" (The Miracle Piano Teaching System™ (Klavierlernsystem) Benutzerhand-buch © 1990, 1991 The Software Toolworks, Inc., S. 22)
Es scheint, als würden von einem solchen System, das sich auf tradierte visuelle
Kriterien stützt, die Möglichkeiten des neuen Mediums kaum genutzt – möglicher-
weise sogar schlechter als beim üblichen Keyboardunterricht, wo in Teilen zwar
weniger motorische Fertigkeiten, dafür aber musikalische Strukturen vermittelt wer-
den (vgl. Abschnitt 4.5.1). Die Dominanz der Tradition führt hier also dazu, dass
alte Denkmuster zunächst – ungeachtet seiner anders gearteten Möglichkeiten – auf
das neue Medium übertragen werden: ein Phänomen, das für die erste Phase der Er-
schließung einer neuen Medienrealität geradzu typisch ist (vgl. MERKERT 1992, 8f.).
Ein Grund für derart mangelhafte Verwertung neuer Technologien liegt auch an dem
relativ geringen Interesse aus Kreisen der Musikpädagogik an solchen Entwicklun-
gen. So bleiben Medienkonzeptionen vielfach fachfremden Software-Ingenieuren
überlassen – mit den entsprechenden Ergebnissen. Um diese Situation zu verbessern,
wäre es nach Meinung des Hannoveraner Musikwissenschaftlers REINHARD KOPIEZ
"[...] notwendig, daß in der Musikpädagogik und der Musikwissenschaft eine Diskussion beginnt, die existierende multimediale Vermittlungskonzepte auf-greift bzw. alternative Entwürfe erarbeitet. Momentan wird dieses Feld weit-gehend den Ingenieuren überlassen – entsprechend kompliziert und benut-zerunfreundlich sind die meisten Programme. Weitere Forderungen wären an die Ausbildung von Musikpädagogen und -wissenschaftlern zu stellen, sich
186
den neuen Medien zu öffnen, doch die Ausbildungssituation ist ernüchternd. (KOPIEZ 1996, 26)
Eine intensive Beschäftigung mit Phänomenen der Medienentwicklung wird aber
auch für Vertreter der Musikerziehung künftig unerlässlich sein, um den gebotenen
Möglichkeiten nutzbringende Lösungen abzugewinnen.
Endziel und anzustrebendes Ideal einer multimedialen und polyästhetischen Ausbil-
dung wäre die untrennbare Verbindung von visueller und auditiver Wahrneh-
mungssphäre, so dass musikalische Partituren, wie bei sprachlichen Texten inzwi-
schen selbstverständlich, stumm gelesen werden können. Dieses Ausbildungsideal
hat ROBERT SCHUMANN in seinen Haus- und Lebensregeln folgendermaßen formu-
liert:
"Du mußt es soweit bringen, dass du eine Musik auf dem Papier verstehst." (SCHUMANN 1984, 183)
ARNOLD SCHÖNBERG verlangt diese Fähigkeit auch von Tonmeistern, über deren
Ausbildung er sich wie folgt äußert:
"Der Student müßte fähig werden, sich im Kopf ein Bild davon zu machen, wie die Musik, vollendet gespielt, klingen soll. [...] Das bloße Lesen der Parti-tur muß genügen." (SCHÖNBERG 1958, 252)
Bis dato ist diese Fähigkeit zum Lesen von Musik aber noch die Ausnahme, wie
RAINALD MERKERT in seinem Aufsatz Zur Anthropologie des Hörens feststellt:
"Nicht von ungefähr jedoch gibt es im Bereich der Musik ungleich mehr An-alphabeten als in dem der Schrift, und nur wenige Menschen sind in der Lage, Notenschrift direkt bzw. 'leise' zu lesen, also ohne das Ohr zu Hilfe zu neh-men." (MERKERT 1988, 761)
Wie der Vergleich mit den kulturellen Folgen der Verschriftlichung von Sprache
nahelegt, erscheint es aber zumindest denkbar, dass die beschriebenen Merkmale
künftiger Medienentwicklung Hilfsmittel zur Verfügung stellen könnten, auch die
Verschriftlichung von Musik breiteren Bevölkerungskreisen nahezubringen. Auf
dem Gebiet sprachlicher Texte hat sich das Lesen dank der Verbreitung schriftlicher
Medien in den letzten Jahrhunderten von einer nur für Eingeweihte zugänglichen
Kunst zu einer Standardkulturtechnik entwickelt. Die Fähigkeit zum stummen Lesen
war dabei, wie RAINALD MERKERT erläutert, auch im Zusammenhang mit verbalem
187
Text keineswegs immer selbstverständlich. Die ursprünglich rein auditive Kommu-
nikationsform des Sprechens wurde nämlich durch ihre Verschriftlichung so ver-
fremdet, dass sie beim Lesen durch lautes Mitsprechen zunächst wieder in akusti-
sche Signale übersetzt werden musste, um vom Leser verstanden zu werden:
"In unserer Welt dominiert das Auge. Wir haben es sogar fertiggebracht, menschheitsgeschichtlich gesehen erst in allerjüngster Zeit, dem Ohr streitig zu machen, was seit Entstehung der Menschheit ihm zugeordnet war, nämlich die Sprache. Wir haben selbst die Sprache visualisiert, in Gestalt der Schrift, haben sie damit dem Auge zugänglich gemacht. Es ist dies gewissermaßen der Gipfel der Unnatur, oder positiv formuliert, es ist eine Spitzenleistung menschlicher Plastizität, als solche zugleich wesentliches Fundament von Überlieferung und Kultur. Im 6. Buch der Confessiones schreibt Augustinus über den Bischof Ambrosius: 'Wenn er aber las, so glitten die Augen über die Blätter, Stimme und Zunge aber ruhten.' Es war damals offenbar höchst ungewöhnlich, daß je-mand leise lesen konnte. Noch heute pflegen die Schulanfänger, wenn sie lesen lernen, zunächst laut zu lesen, sie geben also die visualisierte Sprache zunächst an das Ohr bzw. in den Sprech-Hör-Kreislauf zurück; nur so offenbar kann man überhaupt lesen lernen." (MERKERT 1988, 760)
Bezüglich der Visualisierung und des stummen Lesens von Musik befindet sich die
kulturelle Entwicklung gegenwärtig noch auf einer ähnlich archaischen Stufe wie
zur Zeit des AUGUSTINUS bezogen auf das Lesen von verbalem Text: Die
Verklanglichung ist in aller Regel noch erforderlich, um sich den Inhalt einer
Partitur zu vergegenwärtigen. Betrachtet man aber die von RAINALD MERKERT zu
Recht hervorgehobene "Spitzenleistung menschlicher Plastizität" bei der
Verschriftlichnung von Sprache, die in menschheitsgeschichtlich kürzester Zeit vom
Undenkbaren zum Allgemeingut geworden ist, so kann es nicht abwegig erscheinen,
von der aktuellen Medienentwicklung künftig weit reichende Auswirkungen auf die
Verbreitung des Umgangs mit Musik zu erwarten.
HEINRICH JACOBY bemüht ebenfalls den Vergleich mit der Alphabetisierung und
weist auf eine potentielle Verschiebung der Verhältnisse zwischen musikalisch "Be-
gabt" und "Unbegabt" als Resultat der Verwandlung einer nur wenigen zugänglichen
"Kunst" in eine verbreitete Kulturtechnik hin. Er vergleicht im folgenden die in un-
serer Gesellschaft verbreitete "Unmusikalität" (vgl. S. 140) mit der mittelalterlichen
Situation in Bezug auf das Lesen und Schreiben. Für JACOBY sind dabei die Grenzen
und Übergänge zwischen "begabt", "normal", "unbegabt" und "behindert" durchaus
veränderbar:
188
"In welchem Maße durch veränderte Fragestellung und Zielsetzung und dem sich daraus ergebenden anderen Weg sich das Verhältnis zwischen den schein-bar besonders Veranlagten und den Übrigen verschieben kann, in welchem Maße sich dann auch der gewohnte Zeitaufwand für das Erarbeiten der Aus-drucksmittel verringern kann, sei durch einen Hinweis auf das Schreiben ange-deutet [...]. Vor wenigen hundert Jahren galt es noch als eine große Kunst, de-ren Erlernung mancher ein halbes Leben widmete, und heute kann fließendes Schreiben [...] von jedem Kinde in wenigen Monaten erarbeitet werden." (JACOBY 1995, 13)
In der Gegenwart, in der Lesen und Schreiben Standardkulturtechniken geworden
sind, gilt ein dieser Fähigkeiten Unkundiger bereits als "behindert". – Dass auch auf
dem Gebiet der Musik vermeintliche "Begabungen" wesentlich von Medienkonstel-
lationen verursacht sein können, auf diesen Sachverhalt macht RENATE KLÖPPEL in
ihrem Buch Die Kunst des Musizierens aufmerksam:
"In diesem Zusammenhang muß auch die Bedeutung der Begabung relativiert werden: Je einseitiger der Unterricht oder ein Übeverhalten ist, um so stärker fallen fehlende oder bestehende Begabungen ins Gewicht: Eine spontan gefun-dene Übestrategie basiert zumeist auf den angelegten oder sehr früh erworbe-nen Fähigkeitsschwerpunkten, wodurch scheinbare oder tatsächliche Begabun-gen weiter ausgebaut und gefördert werden, während andere Bereiche ver-nachlässigt werden und schließlich als 'fehlende Begabungen' in Erscheinung treten. Augenfällig ist dies unter anderem bei der vorhandenen oder fehlenden 'Begabung' zum Vom-Blatt-Spiel beziehungsweise zum Spiel nach dem Gehör, deren Entwicklung sich oft bis zur bevorzugten Unterrichtsmethode des ersten Lehrers zurückverfolgen läßt." (KLÖPPEL 1993, 17)
In Anbetracht der Dominanz visueller Medien in der westlichen Instrumental-
pädagogik kann die Verbreitung von Unmusikalität, oder anders ausgedrückt, die
Unfähigkeit zum adäquaten Gebrauch des Gehörs beim Musizieren, nicht verwun-
dern. Multimediale und interaktive Medien bieten dagegen aufgrund totaler Flexibi-
lität alle Möglichkeiten, die u. a. von RENATE KLÖPPEL angesprochenen Einseitig-
keiten zu kompensieren.
Bereits seit mehreren Jahrzehnten verbreitet sich multimediales Lernen stetig – al-
lerdings fast ausschließlich außerhalb des Musikunterrichts. Der französische Film-
komponist ERIC SERRA beispielsweise hätte zur Zeit MOZARTS keine Chance
gehabt, den Beruf des Komponisten zu erlernen. In der zweiten Hälfte des 20.
Jahrhunderts war es ihm aber bereits möglich, sein eigenes "Multimediapaket" zum
Zweck autodidaktischen Lernens zusammenzustellen. Nachdem SERRA in einem
Interview der Zeitschrift Keyboards zunächst den Ausgangspunkt seiner
189
musikalischen Entwicklung geschildert hat, die ähnlich den in Abschnitt 4.3
erwähnten Musikerbiographien anhand von Schallplatten erfolgte, nennt er einen
multimedialen Mix aus gedrucktem Medium und Tonträger als sein persönliches
Rezept, sich die Fähigkeit des Komponierens anzueignen und die schriftliche
Codierung von Musik zu erlernen:
"Zwei, drei Jahre lang habe ich mir intensiv Orchestermusik angehört und dazu Partituren studiert." (Keyboards 3/1996, 90)
Das auditive Medium verschaffte ihm dabei gegenüber "tonträgerlosen" Generatio-
nen den entscheidenden Vorteil der beliebigen Wiederholbarkeit.
In welch hohem Ausmaß die unendlich vielfältigen Nuancen der in Abschnitt 4.5.2
erörterten Medienentwicklung künftig Einfluss auf die Musikkultur nehmen könn-
ten, lässt sich möglicherweise erahnen, wenn man sich die Auswirkungen der bereits
vollzogenen, im Vergleich mit künftigen Medienentwicklungen (im wahrsten Sinn
des Wortes) eindimensionalen Entwicklungsgeschichte von Tonband und Schall-
platte auf die Musikkultur vergegenwärtigt. Das musikalische Ausbildungsniveau ist
in den vergangenen Jahrzehnten kontinuierlich gestiegen (vgl. V. GUTZEIT 1996b, 5).
Vielleicht besteht bereits hier ein indirekter Zusammenhang mit der rasanten
Verbreitung und inzwischen nahezu ständigen Verfügbarkeit klanglicher Vorbilder
auf Tonträgern. In einer jener Disziplinen jedenfalls, in denen auditive Medien die
Hauptrolle in der Überlieferung übernommen haben, nämlich im Jazz, konnte sich
im Lauf des 20. Jahrhunderts eine eigene Tradition auf der Grundlage von Tonträ-
gern entwickeln, die deutliche Merkmale ursprünglicher Virtuosität trägt. Einige
Beispiele neuer Lernformen aus der Biographie von Musikern anhand dieser analo-
gen Tonträger wurden bereits auf S. 130 ff. erwähnt. Während auf klassischem Ge-
biet auf diese Weise lernende Schüler noch als Exoten gelten und sich im institutio-
nalisierten Ausbildungssystem schwer behaupten können (vgl. S. 133), hat diese
Lernmethode im Jazz die Führungsrolle übernommen. Vergleicht man die so ent-
standene Musikkultur mit alter Musizierpraxis des Barock, so fällt eine erstaunliche
Verwandtschaft auf. Bei diesem Vergleich drängt sich sogar der Eindruck auf, als
stelle die visuell-restriktive Vermittlungsform von Musik, wie sie sich in der
CZERNY-Nachfolge etabliert und im Klavierunterricht bis heute bewahrt hat, nur
eine sehr spezielle Episode kultureller Entwicklung dar, die gerade dabei sein
könnte, durch die Medienentwicklung überwunden zu werden:
190
Die Bedeutung der auditiven Nachahmung
Bestimmend für das Lernen sowohl in der Zeit vor etwa 1800 als auch in der heuti-
gen "U-Musik" ist der auditive, improvisatorisch-imitatorische Zugang. Dieses Prin-
zip wurde früher durch beinahe täglichen Unterricht gewährleistet und ist heute we-
sentlich von Tonträgern geprägt. Manche Jazzmusiker nutzten z.B. in Anwendung
dieser Tonträger eine bestimmte – allerdings im Gegensatz zu neuesten Möglich-
keiten der Beeinflussung akustischer Strukturen wiederum sehr eingeschränkte –
Funktion von Tonbandgeräten, die Wiedergabe zu manipulieren, indem sie die Ab-
spielgeschwindigkeit halbierten, um die für sie vorbildhafte Musik detaillierter
wahrnehmen zu können. Die Wiedergabe erfolgt mit Hilfe traditioneller analoger
Tonträger bei halber Wiedergabegeschwindigkeit zwangsläufig eine Oktave tiefer.
Der Schlagzeuger GÜNTER SOMMER berichtet von einem geradezu schlechten Ge-
wissen, das er bei einer solchen Manipulation des Mediums verspürte:
"Ich habe angefangen, Blakey auf dem Tonband abzuhören und in halber Ge-schwindigkeit zu analysieren und kam mir bald wie ein Dieb vor." (PILZ 1996, 29)
Wäre Günter Sommer aber Schüler von C. PH. E. BACH gewesen, so wäre ihm sein
schlechtes Gewissen möglicherweise erspart geblieben, denn BACH hielt eine solche
Art von krimineller Energie zu Gunsten imitatorischen Musiklernens geradezu für
notwendig. Er schreibt in der Vorrede zu seinem Versuch über die wahre Art das
Clavier zu spielen:
"Das Abhören, eine Art erlaubten Diebstahls, aber ist in der Musick desto nothwendiger, da [...] viele Sachen aufstossen, die man kaum weisen, ge-schweige schreiben kan, und die man also vom blossen Hören erlernen muß." (BACH 1753/1994, Vorrede)
191
Vortrag und Interpretation
Ähnlich wie in der Zeit der frühen Virtuosen steht beim Jazzvortrag nicht eine
werkzentrierte, sondern eine publikumsorientierte Perspektive im Vordergrund. Der
Musiker hat seine Spielweise durch ständige Veränderung an die aktuelle Situation
anzupassen, um das Interesse des Publikums zu wecken und zu erhalten. Die fol-
gende Bemerkung von JAMEY AEBERSOLD beschreibt nichts anderes als diese kom-
munikative Musikauffassung der Barockzeit (vgl. S. 23):
"Abwechslung ist vorrangig. Übertreiben Sie aber nicht. Wecken Sie das Inter-esse des Zuhörers." (AEBERSOLD 1996, 30)
Im Vordergrund steht dabei weniger die detailgetreue Umsetzung eines Notentextes
als vielmehr die künstlerische Ausgestaltung der aktuellen Situation. Die Verant-
wortung des Vortragenden gegenüber dem Publikum lässt dabei die von CHRISTIAN
KADEN postulierte Aufhebung der Arbeitsteilung zwischen Komponist und Interpret
(vgl. S. 76) nicht zu. Bei JAMEY AEBERSOLD findet sich ein Zitat des Jazzmusikers
JOE HENDERSON, die seine Auffassung vom Verhältnis zwischen Vortragendem und
Komponist beschreibt:
"Ich habe immer versucht, die Melodien besser wiederzugeben als die Kompo-nisten, die sie schrieben. Ich habe immer versucht, dabei etwas zu erfinden, was nicht einmal ihnen selbst eingefallen wäre. Für mich besteht die wahre Herausforderung darin, nicht die Absichten des Komponisten zu ändern, son-dern mit den Parametern des Komponisten kreativ, phantasie- und bedeutungs-voll umzugehen." (AEBERSOLD 1996, 60)
Auch diese Auffassung gleicht der von CARL PHILIPP EMANUEL BACH, wie er sie
noch in der ersten Auflage seines Versuchs über die wahre Art das Clavier zu spie-
len vertreten hatte. C. PH. E. BACH wurde diesbezüglich bereits zitiert, die entspre-
chende Passage soll hier zu Zwecken des direkten Vergleichs ausnahmsweise noch-
mals angeführt werden:
"Alle Veränderungen müssen dem Affeckt des Stückes gemäß seyn. Sie müs-sen allezeit, wo nicht besser, doch wenigstens eben so gut, als das Original seyn." (BACH 1753/1994, 132)
Die Absolutheit des schriftlich definierten Werks lässt einen solchen Umgang mit
Komposition heute in der Regel nicht mehr zu, und jedem Schüler würde es als An-
192
maßung und mangelnde Pietät (vgl. S. 59) ausgelegt, wagte er einen ähnlich selbst-
bewussten Einsatz seines eigenen Ohrs wie JORGE BOLET, über dessen Umgang mit
den Werken LISZTS der Pianist FRIEDRICH HÖRICKE berichtet:
"Er setzte die Sachen um, baute Akkorde um, schichtete die Sachen ganz an-ders und sagte dann: Denn so und so klingt das einfach nicht." (DÜRER 1999, 46)
Der musikalische Gedanke und seine Ausführung
Die kreative Verbindung des musikalischen Gedankens mit seiner Ausführung be-
dingte in der Zeit bis um 1800 eine Lern- und Übeweise, die von MARTIN GELLRICH
als "Passagen- und Sätzchen-Spiel" bezeichnet wurde (vgl. Abschnitt 2.1). Dabei
eignet sich der Schüler durch Variation bestehender Figuren und Entwicklung eige-
ner musikalischer Gedanken das erforderliche musiksprachliche Material an. Rein
motorisch motiviertes Musizieren ist auf diese Weise kaum möglich; das Spiel ist
untrennbar verbunden mit der Klangvorstellung des ausführenden Musikers. Die
folgende Äußerung von JAMEY AEBERSOLD beschreibt nichts anderes als diese alte
Lernmethode:
"Jazzmusiker haben die Musik zunächst im Kopf, dann arbeiten und üben sie, bis sie diese Ideen auf ihren Instrumenten spielen können. Grundlage dafür bildet das Beherrschen der Fingersätze und der Tonleitern und Akkorde (Ar-peggien) der jeweiligen Harmonien." (AEBERSOLD 1996, 4)
Auch der Begriff des musikalischen "Gedanckens", der in den Lehrwerken des 18.
Jahrhunderts noch eine zentrale Rolle spielte (vgl. z.B. S. 22: C. PH. E. BACH) und in
den letzten 150 Jahren im Zuge der Beschränkung auf die Reproduktion aus der
Musikdidaktik verschwunden ist (vgl. S. 49), gewinnt in der Jazzpädagogik wieder
an Bedeutung (vgl. AEBERSOLD 1996, 27).
Improvisation, Komposition und Begabung
Wenn eigene musikalische Gedanken realisiert werden, entsteht implizit auch die
Fähigkeit zu Improvisation und Komposition (vgl. Abschnitt 2.5). Diese Fähigkeiten
193
waren ursprünglich Ziel jeden Musikunterrichts und bedurften keiner besonderen
Begabung. CARL CZERNY äußerte sich folgendermaßen:
"Ich bin überzeugt, dass Jedermann, der im Spielen eine mehr als mittel-mässige Stufe erreicht hat, auch der Kunst des Improvisierens, wenigstens bis zu einem gewissen Grade, nicht unfähig ist. Aber hierzu gehört auch, dass man bey Zeiten sich darin zu üben anfange, (was leider die meisten Spieler versäu-men,) und dass man unverdrossen die sich stets vermehrende Erfahrung, wel-che man durch das Einstudieren zahlreicher fremder Compositionen gewinnt, auch auf das eigene Fantasieren anzuwenden lerne." (CZERNY 1988, 79)
Eine ähnliche Haltung vertritt JAMEY AEBERSOLD:
"Jeder kann improvisieren. Das war schon immer die natürlichste Art, Musik zu machen. Es ist eine Technik, die wir entweder vergessen haben oder für die wir uns nicht gut genug halten." (AEBERSOLD 1996, 6)
Gleiches gilt für die Komposition. Wenn improvisatorische Techniken vermittelt
werden, wird auch die folgende Forderung von HANS WERNER HENZE bezüglich
der Fähigkeit der Komposition nicht mehr so abwegig klingen, wie dies aus Sicht
der heutigen Musikpädagogik (vgl. S. 108) noch erscheinen mag:
"Jeder Mensch, der sich mit Musik beschäftigt, sollte eigentlich auch kompo-nieren können." (HENZE 1997)
Improvisations- und Kompositionsfähigkeiten sind untrennbare Bestandteile des
Musizierens sowohl für einen Musiker des Barockzeitalters als auch für einen mo-
dernen Jazzmusiker. Die Tatsache, dass in beiden Stilen nicht kategorisch zwischen
Komponisten und Interpreten unterschieden wird, zeugt von dieser Einheit. Auch die
Kunst des Präludierens (vgl. S. 27) findet sich in der Musizierpraxis des Jazz wieder.
Die Bedeutung schriftlicher Lehrwerke
Im multimedialen Kontext gewinnt das schriftliche Lehrwerk eine Bedeutung zu-
rück, die ihm bereits in der Zeit vor etwa 1800 zugemessen war. Vergleicht man
aktuelle Lehrwerke des Jazz mit Clavierschulen des 18. Jahrhunderts, zeigen sich
verblüffende Übereinstimmungen. In den Jazz-Klavierschulen lebt die alte Form von
Handwerkslehren wieder auf, wie sie als grundlegend verschieden von heutigen
klassischen Klavierschulen charakterisiert wurde (vgl. S. 23). Die Autoren der Jazz-
194
Schulen konzipieren, wie die Verfasser der Clavierschulen des Barock, das schriftli-
che Medium hauptsächlich als Harmonie- Melodie- und Rhythmuslehre; Notenbei-
spiele haben hier vorwiegend ergänzende und illustrierende Funktion. Dabei ist es
wie in den älteren Clavierschulen nicht vorgesehen, dass sich der Schüler auf die
abgedruckten Beispiele beschränkt, sondern diese als Ausgangspunkt für eigene
Weiterentwicklungen betrachtet. Zusätzlich stützen sich die modernen Lehrwerke
des Jazz inzwischen auf Tonträger. Das schriftliche Medium zieht sich auf eine
Rolle als Sekundärmedium zurück:
"Sie lernen Stücke vor allem, wenn Sie selber von Aufnahmen transkribieren. Mit zunehmender Fähigkeit sollte dies Ihre hauptsächliche Quelle werden." (LEVINE 1992, 8)
Diese Lehrwerke sind, ebenso wie die alten Clavierschulen, nicht nach motorischer,
sondern nach musikstruktureller Komplexität geordnet.
Die Bedeutung von Kurzschreibweisen
Die primäre Rolle auditiver Medien führt dazu, dass Kompositionen in der Regel
nicht mehr extrem detailliert schriftlich fixiert werden. Deshalb kommt die Notation
im Jazz meist mit einer Kurzschrift aus. Die "Leadsheets", die im Wesentlichen aus
der ausnotierten Melodie und darübergeschriebenen Harmoniesymbolen bestehen,
zeigen in der Angabe von Rhythmik, Harmonik und Melodie eine ähnliche Kurz-
schreibweise wie die Generalbassnotation. Dabei liegen Funktionen der Akkorde
zwar fest, aber die Gestaltung der Feinstruktur (das "Voicing") liegt in der Verant-
wortung des Ausführenden und wird von ihm an den Gesamtklang, das angetroffene
Instrument und die akustischen Umgebungsverhältnisse angepasst. Im Vorwort des
Real Book III wird ausdrücklich betont, dass die angegebenen Akkordsymbole nicht
buchstäblich, sondern unter der Voraussetzung guten Geschmacks sinngemäß zu
verstehen sind:
"It should be understood by the user that 7th chords may be enhanced harmo-nically by the addition of upper extensions. The only limit to this would be good taste. [...] You will also notice the absence of turn-around chords. It is as-sumed that you can figure out them yourself." (The Real Book III, Vorwort)
195
Das Spiel im Jazz-Ensemble lässt den Pianisten eine ähnliche Rolle einnehmen, die
der "Accompagnist" beim Generalbassspiel innehatte. CARL PHILIPP EMANUEL
BACH beschrieb sie folgendermaßen:
"Es ist ein Irrthum wenn man glaubt, daß sich die Regeln des guten Vortrags blos auf die Ausführung der Handsachen erstrecken. [...] Wir haben uns dar-über schon [...] erkläret, und von einem Accompagnisten gefordert, daß er je-dem Stücke, welches er begleitet, die ihm zukommende Harmonie mit dem rechten Vortrage in der gehörigen Stärke und Weite gleichsam anpassen soll." (BACH 1762/1994, 242)
Die Bedeutung der Übung
Die aus Sicht der heutigen klassischen Musikpädagogik befremdliche Tatsache, dass
die Virtuosen der alten Schule, wie etwa BEETHOVEN, CHOPIN (vgl. S. 27) oder
LISZT (vgl. S. 27) ihre vorzutragenden Werke nicht explizit übten, findet sich in der
Praxis des Jazz wieder. Für den Journalisten, der das folgende Interview mit LES
MCCANN führte, scheint die hier praktizierte Einheit von Üben und Ausüben so un-
verständlich, dass er den Befragten durch sein wiederholtes Fragen nach seinem
Übegeheimnis zu einer ungehaltenen Reaktion und zur Umkehrung der Inter-
viewsituation provozierte:
"[...] viele können nur eins und ich kann eben sehr gut hören. So übten Sie nicht jahrelang jeden Tag mehrere Stunden oder so? Oh nein, ich spielte jeden Tag, das war meine Übung... ...auch mit speziellen Lektionen etc.? Ja manchmal, aber alles was ich entwickelte, war ich selbst. Keine klassische Ausbildung? Nein. So begannen Sie mit Gospel oder etwa direkt mit dem Jazz?
196
Ich fing mit einer Note an und eines Tages waren es zwei Noten und wieder an einem anderen Tag waren es drei Noten. Es ist alles Entfaltung und Entwick-lung. Wie haben Sie schreiben gelernt? In der Schule. Ja, aber wie haben Sie es gelernt? Durch versuchen. Ja, das ist dasselbe. Kein Unterschied in allem. Ich hasse diese Art von Fra-gen." (EBERT 1998, 31)
Insgesamt lassen sich nach der Gegenüberstellung der Lernmethoden von frühem
Virtuosentum und Jazz frappierende Ähnlichkeiten feststellen. Die angeführten Bei-
spiele belegen bereits heute gewichtige Auswirkungen der analogen elektroakusti-
schen Tonaufzeichnung auf die Kultur des Musizierens. Damit verdankt eine in
weitaus vielfältigeren Freiheitsgraden sich vollziehende und damit (im ursprüngli-
chen Sinn) "virtuosere" Praxis als die der traditionellen, klassisch ausgerichteten
Instrumentalpädagogik ihre Entstehung nicht unwesentlich der Medienentwicklung.
Von künftigen digitalen, im Vergleich zur Geschichte von Schallplatte und Tonband
um Größenordnungen vielschichtigeren medialen Entwicklungen könnten entspre-
chend noch einschneidendere Auswirkungen auf die Musikkultur in dieser Richtung
erwartet werden.
Damit deutet sich nichts anderes an als eine Revolution: Eine Laien- oder Subkultur
bekommt mit Medienhilfe alle Handhabe zu Virtuosität und Professionalität, wäh-
rend klassisch ausgerichtete institutionalisierte Musikausbildung ihr auf der Kennt-
nis von schriftlicher Codierung sich gründendes Monopol zu Musikerziehung ver-
liert (vgl. Kap. 4.5). Durch die Relativierung des Werkbegriffs, der sich gegenwärtig
insbesondere in der Diskussion um das Sampling artikuliert und mit der allgemeinen
Verfüg- und Manipulierbarkeit klanglicher Strukturen einhergeht, scheint sich Mu-
sik in einer Klangkunst zu verflüssigen. Zusätzlich Vorschub erhält diese Tendenz
durch neue Online-Technologien, insbesondere das Internet. Damit verschmelzen
nicht nur Musikübermittlung und Musikspeicherung. Auch Klangerzeugung, die
traditionelle Aufgabe von Musikinstrumenten, kann vom Digitalrechner übernom-
men werden. Dabei nähern sich auch die Disziplinen Komposition und Arrangement
und damit die Sphären von Musikerfindung, Musikausführung und Musikproduktion
an. Allerdings wächst damit beim genaueren Hinsehen nur zusammen, was zusam-
mengehört. Auch die Aufführungspraxis ist davon nicht zu trennen.
197
Musikpädagogik und Musikwissenschaft werden sich der veränderten Mediensitua-
tion stellen müssen. In den Mittelpunkt von Musizieren rückt zunehmend die audi-
tive Information. Musikunterricht wird sich in Anbetracht veränderter Bedingungen
künftig nicht mehr auf die Interpretation beschränken, sondern zunehmend auf die
Vermittlung eigenkreativer musikalischer Fertigkeiten unter Einbeziehung aller me-
dialen und sozialen Möglichkeiten ausdehnen.
Ob sie es zugibt oder nicht: die Musikpädagogik registriert – wenn auch vielleicht
noch unterschwellig – diese Veränderungen, die ihr Tätigkeitsfeld bereits heute er-
heblich tangieren. Das scheinbar paradoxe Phänomen, dass sich die Aufarbeitung
der Medienentwicklung gerade in den Musikdisziplinen und damit auf den Gebieten,
die sich originär mit akustischen Erscheinungen befassen und dadurch besonders
von neuen Medien und Multimedialität profitieren könnten, gegenüber anderen Fä-
chern im Rückstand befindet, resultiert nicht zuletzt aus der begründeten Furcht der
Zunft vor dem Verlust ihrer marktbeherrschenden Stellung, der in ihrem jetzigen,
auf Umgebungsbedingungen des 19. Jahrhunderts beruhenden Zustand mit der
Überwindung der Schriftlichkeit in der Musikvermittlung zwangsläufig verbunden
wäre.
Die von Musikwissenschaftlern und Musiklehrern meist defensiv geführte Diskus-
sion um die Rolle neuer Medien zeigt eine tiefgreifende Verunsicherung. Häufig
geäußerte Befürchtungen, die Maschine löse eines Tages den Menschen als mu-
sikausübendes Wesen ab, sind vielleicht auch Ausdruck der unterschwelligen
Ahnung, dass durch die technologische Entwicklung jede Form von Dilettantismus
obsolet werden könnte. Diese Angst davor, ob der musizierende Mensch nicht doch
irgendwann durch die Maschine ersetzt werden könnte, zeugt damit auch von
unbegründeten Zweifeln an einer der Grundbedingungen von Musik überhaupt: der
Funktion von Musik als menschlicher Kommunikationsform. Diese Zweifel werden
allerdings genährt durch stereotype Tendenzen insbesondere des solistischen
Unterrichts- und Wettbewerbswesens in der Praxis heutigen Instrumentalspiels.41
Indem Musikautomaten die menschliche Kreativität herausfordern, helfen sie aber
letztendlich, den Blick zu schärfen für das kommunikative Moment des Musizierens
als genuin menschliche Äußerungsform. Es erscheint unumgänglich, diese Heraus-
41 Ein Bild von derartigen Merkmalen zeichnet die folgende, in einem Bericht über das 4. Sympo-
sium des "Instituts für Begabungsforschung und Begabtenförderung in der Musik" zitierte Äuße-
rung eines unumstrittenen Fachmanns für Klavierwettbewerbe, Prof. Karl-Heinz Kämmerling:
"Karl-Heinz Kämmerling veranschaulichte [...], daß nicht nur [!] Tastenakrobatik und Muskel-
kraft bei der Interpretation gefragt sind, sondern daß eine neue 'Innerlichkeit und Innigkeit' in die
klassische Musik Einzug halten müsse [!]. Auch [!] damit könne [!] man bei international re-
nommierten Wettbewerben Erfolg haben." (KOCH 1998, 31)
198
forderung im Vertrauen auf die Unantastbarkeit des Subjekts und seiner ästhetischen
Empfindung anzunehmen, auch unter Einbeziehung neuer Medien. Ebenso wenig
wie die Verbreitung von Tonträgern den Konzertbetrieb überflüssig machen konnte,
wird ein theoretisch denkbarer synthetischer Interpret oder Komponist das Ende des
kreativen Musikertums besiegeln. Wo künstlerische Leistung allerdings wesentlich
in den Kategorien von Geschwindigkeit und Exaktheit von Bewegungen gemessen
wird, bestehen Befürchtungen und Ängste zu Recht: Auf diesem Gebiet der "Virtuo-
sität" in ihrer eingeschränkten Bedeutung (vgl. S. 154) muss sich der Mensch der
Maschine bereits heute geschlagen geben.
Als Folge der Medienentwicklung wird sich auch die fragwürdige Dichotomie zwi-
schen aktiver Musikausübung und passivem Musikkonsum auflösen oder zumindest
ihr diskriminierendes Moment verlieren. Statt dessen rückt wieder die gegenwärtig
vielfach unterrepräsentierte Fähigkeit zur Reaktion in den Mittelpunkt des Interes-
ses, die, wie MARSHALL MCLUHAN meint, im Zuge der Alphabetisierung weitge-
hend verlorengegangen ist. Für MCLUHAN ergibt sich diese Konsequenz aus einem
Wechsel der Medienperspektive. An seine bereits zitierte Bemerkung über die
Rückeroberung des Hörraumes
"Wir leben wieder im Hörraum. Wir haben wiederum damit begonnen, Urah-nungen, Stammesgefühlen Gestalt zu geben, von denen uns einige Jahrhun-derte des Alphabetismus getrennt hatten." (MCLUHAN 1984, 63)
schließt deshalb der Hinweis auf die Verlagerung des Schwerpunkts der Aufmerk-
samkeit von der Aktion zur Reaktion an:
"Wir sehen uns jetzt genötigt, unsere größte Aufmerksamkeit nicht mehr Ak-tionen, sondern Reaktionen zuzuwenden." (MCLUHAN 1984, 63)
Wie sehr das schriftliche Medium den Sinn für die für das Musizieren essentiellen
Parameter Reaktion und Interaktion beeinträchtigen kann, wird auch aus der Tatsa-
che ersichtlich, dass diese auch von einflussreichen Musikern erst allmählich wie-
derentdeckt werden müssen. Diese Reaktionsfähigkeit war selbst für SERGIU
CELIBIDACHE, einen bedeutenden Vertreter der Musikkultur des 20. Jahrhunderts, in
seiner musikalischen Ausbildung keineswegs eine Selbstverständlichkeit, erforderte
die Einsicht in die Notwendigkeit interaktiven Musizierens doch den Perspektiv-
wechsel vom Denken in absoluten Parametern, das die Partitur nahelegt, hin zur re-
aktiven Präferenz des Ohres:
199
"Also was habe ich von Furtwängler gelernt? Der eine Gedanke, der mir alle Türen für mein ganzes Leben und für meine Untersuchung geöffnet hat, dieser eine Satz, als der junge Celibidache ihn gefragt hat: 'Meister, wie geht dieser Übergang in dieser Bruckner-Symphonie von dem da, wie macht man das, wie schnell und was schlagen Sie da?' sagte er: 'Wieso, wie schnell? Je nachdem, wie es klingt! Klingt es weich und tief und überall gleich, werde ich breiter. Klingt es trocken und flüchtig, muss ich schneller werden.' Das heißt, er ist auf das Hören eingestellt, auf das, was tatsächlich rauskommt, was tatsächlich mitspielt. Nicht auf eine Theorie. [MM=] 92, was ist 92 in der Berliner Philharmonie, was ist 92 in der Münchner Philharmonie und was sind 92 im Musikverein in Wien? Eine Idiotie!" (Videoprotokoll)
Die Überwindung des Metronoms, die CELIBIDACHE hier andeutet, besitzt Sym-
bolcharakter für die Überwindung des Denkens in linear-absoluten Kategorien, das
die klassische Musikkultur seit ihrer Begründung in den Jahrzehnten nach 1800
(nicht zufällig gleichzeitig mit der Erfindung des Metronoms) auszeichnet. Die For-
derung nach Improvisation im Musikunterricht (vgl. Abschnitt 2.5) zielt in eine
ähnliche Richtung, war aber bislang in der Praxis der Musikerziehung mit traditio-
nellen Medien kaum realisierbar (vgl. S. 180). Ein Wechsel des Mediums musikali-
scher Ausbildung vom Notenblatt zu einer Art interaktivem "Werkzeug für das Ohr"
(vgl. FLENDER & HEUGER 1998, 446) jedoch stellt, indem das Ohr wieder in den
Mittelpunkt der Wahrnehmung rückt, einen wichtigen Zwischenschritt dar auf dem
Weg zur (Wieder-) Erlangung auch der Fähigkeit zu musiksprachlicher Kommuni-
kation.
Wenn interaktive Medien eines Tages nicht nur Grundregeln des Tonsatzes und an-
dere handwerkliche Grundlagen vermitteln, sondern grundsätzlich stärker zur musi-
kalischen Bildung genutzt werden, gewinnt die Handwerklichkeit in der Musik wie-
der an Gewicht, und die Sphäre der eigentlichen Kunstausübung verschiebt sich in-
nerhalb der Komposition auf dasjenige Gebiet, wo aussagekräftige ästhetische Mit-
teilungen gemacht werden. Die Grenze zwischen Handwerk und Kunst (und damit
zwischen "Normalität" und "Künstlichkeit") würde dann ungefähr dort zu liegen
kommen, wo von den handwerklichen Grundlagen des Tonsatzes zu authentischen
musikalischen Äußerungen übergegangen wird. Damit wäre, wie es sich in der Pra-
xis bereits abzeichnet (vgl. Abschnitt 4.5.2), der Zwang zur Kunstproduktion vom
Musik Ausübenden genommen und gleichzeitig zumindest ein Teil des "Schattens
der Vergangenheit" (THOMAS NIPPERDEY, vgl. S. 45), der seit der "Erfindung" der
Klassik (vgl. S. 44f.) die Musikausübung zu einer ziemlich "künstlichen" Sache wer-
den ließ, zu überwinden.
200
Der Gewinn kommunikativer Elemente unter Zurückdrängung der künstlerischen
Überhöhung musikalischen Tuns in Verbindung mit dem direkten medialen Zugriff
auf musikalische Strukturen könnte Auswirkungen haben, wie sie sich schon
HEINRICH JACOBY von einem alternativen Musikunterricht gewünscht hatte. Das
Phänomen der "Unmusikalität" würde nämlich seiner Meinung nach seine Existenz-
grundlage verlieren, wenn erst ein natürlicheres und damit weniger künstliches Ver-
hältnis zur Musik zurückgewonnen ist:
"Die praktische Erfahrung zeigt immer wieder, daß eine Entwicklung, die psy-chologisch und methodisch anders als im üblichen Musikunterricht eingeleitet wird, die Äußerungs- und 'Aufnahme'-Fähigkeiten der 'Unmusikalischen' ver-hältnismäßig leicht fördert, und zwar oft so weit, daß sie in manchem den nicht auf einem solchen Weg gebildeten 'Musikalischen' sogar überlegen werden. Wie wichtig diese überraschend gewonnene Möglichkeit der musikalischen Äußerung für die gesamte Entwicklung des einzelnen Menschen werden kann, was das Erwachen des Vertrauens zur eigenen Äußerungsfähigkeit und zu de-ren Entfaltungsmöglichkeit für die Entwicklung des Selbstvertrauens bedeutet, vermag der Unbeteiligte kaum zu ermessen. Eine Berechtigung für die bisher übliche Scheidung in 'Musikalische' und 'Unmusikalische' kann es nicht mehr geben, wenn der Beweis erbracht worden ist, daß die Hemmungen, die den Menschen unmusikalisch erscheinen lassen, überwunden werden können." (JACOBY 1995, 15f.)
Der autodidaktischen Betätigung mit Digitalmedien (vgl. Abschnitt 4.5.2) ist es be-
reits heute zu danken, dass Menschen zu professionellen Musikern (und damit im
allerursprünglichsten Sinne: "Virtuosen") wurden, die nach herkömmlichen Bewer-
tungsmaßstäben weder als "musikalisch" bezeichnet worden wären, noch einen her-
kömmlichen Instrumentalunterricht erfolgreich absolviert hätten. Auch die Integra-
tion aus Wiedergabemedium und Musikinstrument in Form des Samplers trägt dazu
bei, dass sich Wiedergabe, Improvisation und Komposition vermischen, ihre künst-
liche Aura verlieren und das praktische Musizieren sich in verschiedenste Facetten
aufgliedert, die je nach medialem Hilfsmittel und Niveau des Schaffenden von ein-
facherer Synthese mit Hilfe spezieller Software am Computer über das Sampling
und das Keyboardspiel bis hin zur traditionellen Schaffung von Notentexten für En-
sembles herkömmlicher Musikinstrumente reichen. Aus pädagogischer Sicht beson-
ders bedeutsam ist dabei die in Abschnitt 4.5.2 geschilderte Durchlässigkeit zwi-
schen unterschiedlichen musikalischen Komplexitätsgraden. Damit bekommt auch
eine Forderung Substanz, die von fortschrittlichen Musikpädagogen immer öfter
vorgebracht wird: dass die traditionelle Interpretationspädagogik dringend der Revi-
201
sion und vor allem Ergänzung bedarf. Der US-amerikanische Pianist SEYMOUR
BERNSTEIN formuliert diese Forderung folgendermaßen:
"Heutzutage wird einseitig reproduktive Fertigkeit gefördert und, sozusagen zum Ausgleich, das Wort 'schöpferisch' unkritisch auf die Interpretationskunst angewandt. Wir müssen Kreativität als wesentliches Element musikalischer Erziehung begreifen! Sie wissen, es war Bach, der in der Vorbemerkung zu seinen Inventionen sagte: Ich schreibe diese Stücke, um Grundlagen des Kom-ponierens zu vermitteln, ich gebe ein Beispiel. Wir sind von diesem Weg ab-gekommen." (WIDMAIER 2001, 42)
Musikalische Kreativität kann sich heute auf neue Technologien und Multimedialität
stützen, sowohl in Musikpraxis als auch Musikerziehung. Die Erforschung und
Anwendung neuer Technologien muss ein wesentlicher Bestandteil der vom
Deutschen Musikrat geforderten Revision der musikpädagogischen Berufe sein.
4.7 Zur Theorie des Klavierspiels
Aus den im Entstehen begriffenen multimedialen Möglichkeiten erwächst in Form
des interaktiven "Werkzeugs für das Ohr" eine neue, beliebig formbare Schnittstelle
zwischen Mensch und Musik. Solange Musikunterricht sich zwangsläufig vorwie-
gend auf den einseitigen Sinneskreis Auge-Hand stützen musste, wie ihn unter ande-
rem CARL ADOLPH MARTIENSSEN (vgl. S. 100) und RAINALD MERKERT (vgl. S. 98)
verdeutlicht haben, konnte von einem den Strukturen des Materials gemäßen, also
analogen Umgang mit Musik nicht die Rede sein.
In der elektrischen Digitalisierung wendet sich nun paradoxerweise eine Jahrhun-
derte, wenn nicht Jahrtausende währende Tendenz der geistigen Digitalisierung und
damit "Ent-Analogisierung" zurück in einen Prozess der Analogisierung des Ver-
hältnisses zwischen Musiker und Musikinstrument. Dieser Sachverhalt begründet
sich wie folgt:
Die Einteilung der Musik in Einzeltöne, die Verabsolutierung der Höhen dieser
Töne und ihre Repräsentation durch bestimmte Griffe auf Musikinstrumenten und
die Finger der Guidonischen Hand bis hin zur Notenschrift und die Mensurierung
der Einsatzzeiten dieser Töne können als eine Rasterung ursprünglich analoger
Kontinua musikalischen Rohmaterials und damit als Prozess der Digitalisierung
aufgefasst werden (vgl. FRICKE 1998). Bereits die sprachliche Herkunft des Begrif-
fes "digital" verweist auf den Wandel von "analogem" Musizieren unter Verwen-
202
dung der menschlichen Stimme und kontinuierlichen Klangparametern hin zu einem
Musizieren unter Zuhilfenahme der Finger (lat. digitus).
Die Selektion bestimmter Elemente musikalischen Materials aus einem unendlichen
Vorrat im Zuge dieser Digitalisierung in Verbindung mit der Schaffung von Nota-
tionstechniken machte eine dauerhafte Überlieferung in der vorelektrischen Zeit erst
möglich (vgl. KADEN 1993, 75), beeinflusste andererseits aber auch den Gehalt der
Musik, indem sie leichter notierbare Parameter bevorzugte und die Musiktradition
auf schriftlich fixierbare Strukturelemente wenn nicht reduzierte, so doch
konzentrierte.
Nur im Geist dieses "digitalen" Denkens aus der Perspektive der Finger bzw. der
Einzeltöne kann die folgende Verhaltensweise von LEOS JANACEK als vermeintlich
inkonsequent gedeutet werden. Der Pianist RUDOLF FIRKUSNY, der als Kind persön-
lich von JANACEK ausgebildet worden war, berichtet, wie JANACEK seine eigenen
Werke unterrichtete:
"Natürlich spielte ich mit ihm auch die meisten seiner Klavierwerke. Und hier war Janacek bezeichnenderweise inkonsequent: Oft änderte er – wohl aus sei-ner impulsiven Natur heraus – die gedruckte Vorlage ab." (FIRKUSNY 1997, 9)
Wechselt die Perspektive aber von der durch das gedruckte Medium suggerierten
Unabänderlichkeit des Geschaffenen in die Gegenwart und die Welt des Klangs, so
wirken sich vielfältige Variablen wie der Zustand des Klaviers und des Raumes,
aber auch der subjektiven Befindlichkeit des Ausführenden in Relation zum Audito-
rium auch auf die Feinstruktur des Werks aus. Dann wäre das Verhalten JANACEKS
keineswegs mehr als inkonsequent zu begreifen. Allerdings bleibt die Frage nach der
Gültigkeit der auf diese Weise wiederum schriftlich definierten Änderung: sie ist
natürlich genauso begrenzt wie der ursprüngliche Text.
Auch am Beispiel der authentischen Ausführung von Trillern soll das Phänomen der
"geistigen Digitalisierung" verdeutlicht werden. Die akademische Diskussion um die
exakte Ausführung barocker Manieren verstellt leicht den Blick für das Wesentliche,
den intendierten Klangeffekt, der möglicherweise auf modernen Instrumenten auf
abweichende Art zu erzielen wäre. So schreibt CARL PHILIPP EMANUEL BACH in
seinem Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen, dass Verzierungen am
Klavier häufig allein die Funktion haben, zu schnell abklingende Töne länger er-
scheinen zu lassen. Die Ausführung ist dadurch vom individuellen Klanggehalt des
jeweiligen Instrumentes und der Raumakustik nicht zu trennen:
"Es müssen aber alle diese Manieren rund und dergestalt vorgetragen werden, daß man glauben sollte, man höre blosse simple Noten. Es gehört hierzu eine
203
Freiheit, die alles sclavische und maschinenmäßige ausschliesset. Aus der Seele muß man spielen, und nicht wie ein abgerichteter Vogel." (BACH 1753/1994, 119)
In Musikpädagogik und Musikwissenschaft folgte aber der Geschichte der schriftli-
chen Überlieferung von Musik ein Prozess "mentaler Digitalisierung", der sich am
sinnfälligsten in dem Phänomen der diskriminierenden Dichotomie "entweder –
oder" bzw. "0" – "1" in Form der in der Musikpädagogik dominierenden Entschei-
dungskriterien "falsch" – "richtig" äußert.
Die Beschränkung auf die zwölf Töne der gleichschwebend temperierten Skala unter
Bezugnahme auf einen genormten Kammerton hat die Digitalisierung der abendlän-
dischen Musik auf die Spitze getrieben. Die Serielle Musik stellt in diesem Zusam-
menhang den Höhepunkt des selben Missverständnisses dar, das bereits die Er-
kenntnisse EUGEN TETZELS als vermeintlich abwegig erscheinen ließ: das aus der
Perspektive des "digitalen Denkens" entstandene Missverständnis, den Sinn musi-
kalischer Struktur in absoluten Tonparametern und nicht in der Relativität der Ton-
beziehungen zu suchen.
Nur wenige Jahrzehnte, nachdem also die Serielle Musik die geistig-strukturelle Di-
gitalisierung in der Musik ad absurdum geführt hat, schafft nun (paradoxerweise) die
elektrische Digitaltechnik die Möglichkeit, dass die Relativität in der Musik eine
Bedeutung zurückgewinnt, die im Verlauf des Übergangs von der Sanglichkeit zur
"Digitalisierung" der Musikausübung kontinuierlich ins Hintertreffen geraten war.
Die Re-Analogisierung durch elektrische Digitaltechnik ent-digitalisiert musikali-
sches Material, indem sie das Raster der beeinflussbaren Gestaltungsparameter un-
endlich verfeinert und dadurch die verlorengegangenen Zwischenräume bis zum
Klangkontinuum zurückerobert. Alle Klangbeeinflussungsmöglichkeiten, nicht nur,
aber auch die der menschlichen Stimme, werden damit erstmals der Instrumental-
musik zugänglich. Das elektronisch komponierte Werk scheint zwar zunächst noch
absoluter definiert als der Notentext. Dies gilt allerdings nur, solange die Interakti-
vität des Mediums ausgeklammert bleibt. Bescheidene Vorboten dieser Beeinflus-
sungsmöglichkeiten finden sich seit Jahrzehnten beispielsweise in Form von Equali-
zern an jeder heimischen Stereoanlage.
Die künftige Technikentwicklung wird zwar langfristig die Möglichkeiten differen-
zierter Klanggestaltung vervielfachen; eine etwaige Hoffnung auf eine Eroberung
neuer oder tieferer musikalischer Erlebnissphären durch diese Technologie scheint
aber illusorisch. Dies ergibt sich aus dem psychologischen Phänomen der "Un-
schärfe" menschlicher Wahrnehmung in Verbindung mit der aktivischen Rolle des
Perzeptiven, wodurch es überhaupt erst möglich wird, auf einem Instrument wie
204
dem Klavier Musik wiederzugeben, die vom menschlichen Hörer als ihm analoge
Musik verstanden werden kann. Denn das hochtechnisierte Klavier stellt, ähnlich
wie alle anderen (nicht elektronischen) Tasteninstrumente, deren Tonerzeugung auf
komplexen Mechaniken beruht, den Inbegriff eines grob rasternden und damit "di-
gitalen" Instrumentes dar, reduziert es doch tonliche Gestaltungsmöglichkeiten auf
ein Minimum: es bietet weder Beeinflussbarkeit der Tonhöhen, noch der Klangfarbe
getrennt von der Lautstärke, und (abgesehen vom nur pauschal und damit recht
undifferenziert einsetzbaren Pedal) keine Möglichkeit der Beeinflussung des
Tonverlaufs nach seiner Auslösung. Beim Hören von Klaviermusik bleibt es damit
der Aktivität des Rezipienten überlassen, die dargebotenen Einzeltöne bei gutem
Vortrag dennoch miteinander in Beziehung zu setzen und als dem Hörer analogen
Vorgang zu interpretieren, wobei das Ohr quasi die Rolle eines Digital-Analog-
Wandlers übernimmt. Ähnlich wie eine D-A-Wandlung in der Audiotechnik auf die
glättende Funktion eines Tiefpassfilters nicht verzichten kann, scheint die
menschliche Wahrnehmung nur zu funktionieren, weil sie in der Lage ist, "Kanten"
von Einzelereignissen zu glätten, indem sie diese in Beziehung setzt und dabei,
ähnlich der Betrachtung eines gerasterten Fotos oder pointillistisch erzeugten
Gemäldes, ein eigenes Bild von Welt erzeugt. Auch die physikalische Tatsache, dass
in der auf der gleichschwebend temperierten Stimmung beruhenden neueren
abendländischen Musikpraxis am mechanischen Tasteninstrument nur zwölf
unterschiedliche Tonhöhen pro Oktave existieren, wird durch die menschliche
Wahrnehmung transformiert und dabei subjektiv in eine für den Zusammenhang und
dessen Verständnis entscheidende Vielfalt enharmonisch unterschiedlich erlebbarer
Töne verwandelt (vgl. ENDERS 1981, 19f.).
Das nicht enden wollende Missverständnis um die Erkenntnisse EUGEN TETZELS
kann wie das Phänomen der Seriellen Musik als Resultat der Fixierung auf das Ein-
zelereignis im Zuge "mentaler Digitalisierung" und damit als Resultat des Verlustes
der Perspektive der Relativität zwischen musikalischen Ereignissen in der Ton-Ton-
Beziehung aufgefasst werden. Akzeptiert man aber, dass jeder Wahrnehmungspro-
zess einen aktiven Vorgang darstellt, der weder vom Subjekt noch vom Medium zu
trennen und auf eine gewisse Unschärfe geradezu angewiesen ist, lassen sich die
scheinbar unvereinbaren Sichtweisen von Kunst und Physik durchaus verbinden.
Wie schwer es aber noch heute zu sein scheint, zu akzeptieren, dass die menschliche
Wahrnehmung subjektiv und unabdingbar an die relativierende Struktur der
menschlichen Psyche gebunden ist, ja durch die Unschärfe der Wahrnehmung und
die dadurch notwendige Eigensynthese ein künstlerisches Erleben, insbesondere von
Klaviermusik, erst möglich wird, zeigen vor nicht allzu langer Zeit (1997) veröf-
fentlichte Ergebnisse von Forschungen an der Musikhochschule Trossingen unter
205
Leitung des Pianisten WOLFGANG WAGENHÄUSER mit dem Ziel der Widerlegung
EUGEN TETZELS. WAGENHÄUSER hält offenbar eine Diskrepanz zwischen physikali-
scher und künstlerischer Realität für unerträglich und bemüht sich deshalb, seine
berechtigte künstlerische Sichtweise mit ungeeigneten Mitteln der objektiven
Wissenschaft zu festigen. Zur Untermauerung seiner These von der Unrichtigkeit
der Erkenntnisse TETZELS führte er aus Forschungsmitteln des Landes Baden-
Württemberg finanzierte Untersuchungen mit dem fragwürdigen Ergebnis durch,
dass es doch möglich sei, Klangfarbenbeeinflussungen beim Klavier unabhängig
von der Lautstärke zu realisieren (vgl. WAGENHÄUSER & REUTER 1997). Hätte
WAGENHÄUSER gegenteilige Ergebnisse erzielt, wäre er möglicherweise seines
Seelenfriedens als Pianist verlustig gegangen, müsste er doch dann glauben, ein
Psychopath zu sein: jedenfalls interpretiert er Unterschiede zwischen subjektiver
und objektiver Weltsicht bereits in der Einleitung seiner Studie als pathologisches
Phänomen:
"Unter Kollegen findet man im Nu Konsens darüber, wie verblüffend unter-schiedlich dasselbe Instrument bei verschiedenen Spielern klingt. Und dennoch akzeptieren alle die Behauptung der Akustiker, daß ebendies nicht möglich sei. So war es mir zunächst schlichtweg ein Anliegen, nachzuprüfen, inwieweit Pianisten Psychopathen sind." (WAGENHÄUSER & REUTER 1997, 6)
Während sich die Naturwissenschaft mit Diskrepanzen zwischen Wahrnehmung und
Messung abgefunden hat und die Bedeutung von Relativitäten anerkennt, sollten
derartige Einsichten gerade in der Kunst ebenfalls nicht weiter bekämpft werden.
Das Phänomen, dass gerade auf dem Gebiet der Pianistik pädagogische Denkansätze
auf Simplifikationen beruhen und die spätestens seit EINSTEIN auch von der Natur-
wissenschaft anerkannte Bedeutung von Relativitäten negieren, untermauert die in
Abschnitt 4.1 diagnostizierten Orientierungsschwierigkeiten der Musikpädagogik.
Die ästhetische Bedeutung eines Signals lässt sich nie aus dem Signal selber be-
gründen, sondern wird vom Subjekt aktiv aus dem Zusammenhang erzeugt. Bei der
Wahrnehmung von Klaviermusik betrifft dieser Zusammenhang wesentlich die Re-
lationen der Einzellautstärken, aus deren Kombination der Hörer eine etwaige äs-
thetische Information zweifelsfrei rückschließen kann. Dieser Zusammenhang be-
stätigt sich auch bei informationstheoretischer Betrachtung. So äußert sich
JOHANNES PETERS in seinem 1967 erschienenen Grundlagenwerk zur Informa-
tionstheorie auch zu Fragen der Übermittlung ästhetischer Informationen:
"Man kann auch der Frage der Übertragung von künstlerischem Empfinden durch einen technischen Nachrichtenkanal nicht ausweichen. Auch wenn die
206
Fragen des Zusammenhanges zwischen dem künstlerischen Empfinden des Er-zeugers eines Kunstwerkes und der technischen Gestaltung sowie der Rück-übersetzung des Kunstwerkes in Empfinden beim Betrachter noch weit von ei-ner befriedigenden Antwort entfernt sind, gibt es keinen transphysikalischen Kanal für künstlerisches Empfinden. Eine technisch perfekte Reproduktion ei-nes Kunstwerkes löst beim subjektiv nicht beeinflußten Beobachter dasselbe Empfinden aus wie das Original, wenn diese Voraussetzung durch eine ent-sprechende Anlage des Versuches erfüllt ist." (PETERS 1967, 154f.)
Die hierbei unabdingbar aktive Rolle des Rezipienten betrifft eben auch stark "ver-
stümmelte" musikalische Informationen, wie sie beispielsweise beim Klavierspiel
vorliegen. Es ist bemerkenswert und liefert ein weiteres Indiz für das besondere
Spannungsverhältnis zwischen dem Phänomen des Klavierspiels und wissenschaftli-
chem Weltbild, dass JOHANNES PETERS in diesem mathematisch angelegten Werk
einen Exkurs einfügt, in dem er das Klavierspiel als Beispiel bemüht, um den Ge-
gensatz zwischen rationalem und künstlerischem Weltbild zu charakterisieren. Den
eben zitierten Ausschnitt begleitet nämlich die folgende Fußnote:
"Die entgegenstehenden Urteile von Künstlern beruhen stets auf subjektiven Behauptungen, nicht auf Schlußfolgerungen aus objektiv gesicherten Ver-suchsergebnissen. Statt der Überlegungen findet der Leser Appelle an das Emotionale in ihm vor, denen er leicht ohne inneren Widerspruch erliegt. Ein Beispiel für viele: BESELE, H. v.: Das Klavierspiel, 16. Kassel: Bärenreiter-Verlag 1965: »Physikalische Fragen können hier nicht behandelt werden, jedoch muß zu der Behauptung E. TETZELS, die Klangfärbung sei auf dem Klavier durch An-schlagsart nicht zu beeinflussen, es gäbe nur Unterschiede in der Tonstärke, Stellung genommen werden... Es gab immer große Künstler, unter deren Hän-den das Klavier zu singen vermochte... Und MIKULI berichtet über das Spiel seines Lehrers CHOPIN: ›Unter seinen Händen brauchte das Klavier weder die Violine um ihren Bogen, noch die Blasinstrumente um den lebendigen Atem zu beneiden. So wunderbar verschmolzen die Töne im schönsten Gesang.‹ Glücklicherweise gibt es in der Kunst Geheimnisse, die zu lüften kein Sterbli-cher vermag.«" (PETERS 1967, 155)
Der ästhetische Gehalt von Klaviermusik, dem hier in der Begeisterung über das
rational nur schwer begründbare "Verschmelzen der Töne" im Spiel FRÉDÉRIC
CHOPINS Ausdruck verliehen wird, muss sich unzweifelhaft aus den relativen Bezie-
hungen zwischen den Einzeltönen ergeben. Die Tatsache dass Klaviermusik über-
haupt funktioniert, spätestens aber die Existenz und Funktionsfähigkeit selbstspie-
lender Klaviere führt letztlich den Beweis für die Richtigkeit der Erkenntnisse
207
EUGEN TETZELS und die relativierende Unschärfe menschlicher Wahrnehmung. Es
kristallisiert sich am Phänomen des Klavierspiels als besonders interessantes
Merkmal der menschlichen Psyche heraus, dass diese die aufgenommenen Reize
transformiert. Damit löst sich der scheinbar unvereinbare Gegensatz zwischen
wissenschaftlich-objektiver und subjektiv-künstlerischer Sichtweise in einer Art
"psychologischer Relativitätstheorie" auf: Die menschliche Psyche erweist sich bei
der Wahrnehmung von Klavierspiel besonders eindrücklich als entscheidende
Vermittlerin zwischen den unterschiedlichen Realitäten.
So lange die Relativität der Realitäten nicht anerkannt ist, kann die Moderne (vgl. S.
83) nicht bewältigt sein. Bei dieser schwierigen Aufgabe bietet das Klavierspiel nun
eine erstaunliche und wohl einmalige Schnittstelle zwischen Kunst und
Wissenschaft, zwischen Mensch und Maschine, zwischen Geist und Welt, zwischen
Ratio und Intuition, zwischen Körper und Seele und zwischen Analytik und
Ganzheit, die interessante Fragestellungen aus unterschiedlichen Wissensgebieten
zuläßt. In Form des Computerflügels existiert diese Schnittstelle bereits.
Im Zuge der Bewältigung der Moderne wird sich unser Weltbild wohl von einem
idealen, technokratischen zu einem künstlerischen wandeln müssen. Naturwis-
senschaft und Kunst scheinen sich heute, im Zustand nahezu maximaler Inkompati-
bilität, die sich besonders eindrücklich auch am Phänomen des Klavierspiels mani-
festiert, jedenfalls wieder aufeinander zu zu bewegen. Die Naturwissenschaft hat
sich von Ansprüchen der absoluten Exaktheit verabschiedet. Der Chemie-Nobel-
preisträger ILYA PRIPOGINE vertritt die Meinung,
"[...] wir werden die Vorstellung von der Welt als einer Maschine verlassen müssen, um zurückzukehren zu dem alten griechischen Paradigma von der Welt als einem Kunstwerk." (DAUCHER 1994, 23)
An den Kunstwissenschaften ist es nun, "Digitalitäten" ebenfalls aufzugeben und
sich von überholten Absolutheitsansprüchen zu lösen. Die Bedeutung der musikali-
schen Kunstausübung, deren Kontakt zur Naturwissenschaft im 20. Jahrhundert völ-
lig zusammengebrochen ist und die sich im Dickicht zwischen virtuosen und trans-
zendenten Ansprüchen einerseits und linearem Denken andererseits verstrickt hat,
könnte davon profitieren.
Unter Berücksichtigung des bis heute unbewältigten Scheiterns des "musikpädago-
gischen Positivismus" (vgl. Abschnitt 2.3), der bereits gegen Ende des 19. Jahrhun-
derts hervortrat, aber noch heute weite Teile der Musikpädagogik beherrscht, erweist
sich das Musizieren als Musterbeispiel für die Notwendigkeit der Überwindung li-
nearen Denkens. Hier zeigt sich am deutlichsten, was auch in anderen Disziplinen
208
immer klarer zu Tage tritt: dass die von schriftlichen Kategorien dominierte Denk-
weise unserer Kultur nur eine von vielen und vor allem nicht die allenthalben geeig-
netste Weltsicht liefern kann.
Ein Bildungssystem, das sich vorwiegend auf eine bestimmte Medienart stützt, er-
zeugt aber zwangsläufig eine von diesen Medien geprägte Wahrnehmung. Die Aus-
wirkungen dieses Bildungssystems auf das Denken beschreibt HANS DAUCHER in
einem Aufsatz zur Tagung Naturwissenschaft und Kunst, Kunst und Naturwissen-
schaft folgendermaßen:
"Nun ist unser Bildungssystem nahezu ausschließlich verbal orientiert. Diese Einseitigkeit zeigt Folgen, die kaum reflektiert werden. Die Art zu denken, wie das Kind denkt, wird durch unser Schulsystem radikal verändert. Verändert wird dadurch unsere Welt, mit positiven und negativen Folgen." (DAUCHER 1994, 21)
Das Scheitern dieses Denkens in der Musik zwingt die Musikpädagogik zur Suche
nach Alternativen. Musizieren bzw. Musiklernen könnte damit einen Präzedenzfall
für die Pädagogik liefern, die auch Auswirkungen auf andere Bereiche des Bil-
dungssystems haben könnte. Die besondere Bedeutung der Musik im gegenwärtigen
kulturellen und pädagogischen Kontext liegt darin, dass sich hier vielleicht am deut-
lichsten die Unzulänglichkeit linearer Denktradition offenbart und gleichzeitig (z.B.
im Phänomen der Virtuosität) noch Einblicke in alternative Daseinsformen existie-
ren, die in anderen Disziplinen noch wesentlich stärker verschüttet sind.
Der Medizin-Nobelpreisträger ROGER SPERRY unterscheidet zwei grundsätzlich un-
terschiedliche Arten des Denkens. Die erste, lineare, linkshemisphärische (unter
Dominanz der linken Gehirnhälfte, vgl. MERKERT 1992, 21), die heute als derart
gängig angesehen wird, dass in der pädagogischen Psychologie die linke Gehirn-
hälfte häufig synonym als "dominante Gehirnhälfte" bezeichnet wird, und eine
zweite, deren Rolle in unserer Kultur in den Hintergrund getreten ist. HANS
DAUCHER fasst diese beiden von ROGER SPERRY beschriebenen Denkweisen wie
folgt zusammen:
"Roger Sperry, Nobelpreisträger von 1981, zeigte, daß wir im wesentlichen über zwei neuronal verschiedene Formen der Vergegenwärtigung von Welt verfügen, über begrifflich-abstraktes Denken, das uns durch die präzise Etiket-tierung von Erlebniseinheiten zu analytischem Denken befähigt, uns befähigt, lineare, logische, kausale Denkketten zu bilden, und über die Fähigkeit, in Bil-dern, in umfassenden, hochkomplexen Zusammenhängen zu denken. Roger Sperry war der erste, der vom Standort des Hirnforschers darauf hinwies, wie
209
einseitig sich unsere Erziehungssysteme gleichsam nur an die eine Hälfte unse-res Gehirns wenden. Die mittelalterliche Mnemotechnik, die lange Zeit wissenschaftlich unbeachtet blieb, befähigt mit Hilfe der großen Kapazität des Bildgedächtnisspeichers zu schier unglaublichen Leistungen. [...] Offenbar wird unsere neuronale Kapazi-tät dadurch besser genützt und befähigt, in hochkomplexen Ganzheiten zu den-ken." (DAUCHER 1994, 23)
Bezüglich der Problematik virtuosen und dilettantischen Musizierens in der erörter-
ten Terminologie könnte es sich erweisen, dass die von HANS DAUCHER zuerst ge-
nannte Denkweise auf dilettantisches und die letztere auf das im ganzheitlichen Sinn
virtuose Musizieren bezogen werden kann. Es deutet vieles darauf hin, dass virtuo-
ses Musizieren sich auf grundsätzlich andere psychische Vorgänge stützt als die
vom heutigen Bildungssystem geforderten und geförderten. Insbesondere im gängi-
gen Instrumentalunterricht provoziert monomediale Orientierung die Ausnahme von
"Musikalität". Eine im wahrsten Sinne des Wortes "ganzheitlichere" neuronale Ver-
arbeitung beim virtuosen Musizieren im Vergleich zu anderen Tätigkeiten kann in-
zwischen jedenfalls als physiologisch erwiesen gelten: Bei Messungen mit Hilfe
neuer Methoden der medizinischen Diagnostik erwies sich, dass bei hervorragenden
Musikern das Corpus Callosum ("CC"), jener Balken, der die beiden Gehirnhälften
verbindet, signifikant stärker ausgebildet ist als bei Vergleichspersonen. Ein inter-
nationales Forscherteam berichtet in der Zeitschrift Neuropsychologia über seine
Forschungsergebnisse, deren Tragweite für das Verständnis von Musizieren, aber
auch von neuroembryologischen Vorgängen noch nicht annähernd abgesehen wer-
den kann:
"Our analyses revealed that the anterior half of the CC was significantly larger in musicians. [...] Since anatomic studies have provided evidence for a positive correlation between midsagittal callosal size and the number of fibers crossing through the CC, these data indicate a difference in interhemispheric communi-cation [...]." (SCHLAUG et al. 1995, 1047)
Beim Versuch, in der Praxis des Musizierens ganzheitlicheren Ansprüchen gerecht
zu werden und vernachlässigte interaktive Fähigkeiten wiederzubeleben, darf die
Medienfrage nicht ausgeklammert werden. Nur durch Rückgewinnung einer ausge-
glichenen Symbiose aus Hören und Sehen im eigenschöpferischen Musizieren kann
auch die nach wie vor zu Recht zentrale musikalische Teildisziplin der Interpreta-
tion von Werken letztendlich den ihr zustehenden Stellenwert gewinnen, nämlich als
Ziel musikalischer Eigenkreativität. Und nur unter zentraler Berücksichtigung mu-
sikstruktureller und eigenschöpferischer Fähigkeiten kann Musizieren letztlich dem
210
Anspruch von JÜRGEN UHDE und RENATE WIELAND gerecht werden, die von jedem
guten Interpreten fordern, er müsse während des Spiels
"[...] das Stück gleichsam mitkomponieren." (UHDE & WIELAND 1989, 176)
Im Zuge der gegenwärtigen Entwicklung auf dem Gebiet der Medien- und
Musiktechnologie hat die Überwindung der Diskrepanz zwischen Produktion und
Reproduktion in der Musikkultur von selbst begonnen. Die Entwicklungen auf dem
Gebiet der populären elektrisch erzeugten Musik tragen Anzeichen der geforderten
Auflösung der Blockade musikalisch-struktureller Betätigung. Da es sich hierbei
aber um die erste Gelegenheit in der Geschichte handelt, ohrbezogen unter Mithilfe
von Medien mit komplexeren musikalischen Strukturen zu hantieren, beginnt die
Beschäftigung mit musikalischen Sprachelementen zwangsläufig auf niedriger
Stufe, was gelegentlich zu der irrigen Ansicht verleitet, in der Medienentwicklung
die Ursache für kulturellen Verfall zu sehen. Ursache und Wirkung dürfen aber nicht
verwechselt werden: In diesem scheinbaren Verfall manifestiert sich nur ein den
bisherigen medialen Möglichkeiten und den damit verbundenen
Wahrnehmungsstrategien entsprechendes archaisches musikalisches Ent-
wicklungsniveau der westlichen Gesellschaft, dessen Zustand bisher nur durch den
Spagat zwischen Transzendenz und Dilettantismus einigermaßen erfolgreich zu ver-
schleiern war.
Die Geschichte der europäischen Musik liefert schließlich ein eindrucksvolles Bei-
spiel für die von MARSHALL MCLUHAN geprägte und häufig kolportierte, aber selten
verstandene These The media is the message – Das Medium ist die Botschaft: Die
Botschaft des schriftlichen Mediums in der Musik(-erziehung) ist die Geschichte des
Dilettantismus, was zunächst nichts anderes meint als eine begrüßenswerte Ver-
breitung von Musik in der bürgerlichen Lebenswelt.
Doch die nächste Etappe wirft bereits ihre Schatten voraus: Die Botschaft des digi-
talen Mediums wird eine starke Verbreitung des Umgangs mit klanglichen Struktu-
ren sein.
Um nicht von der Wirklichkeit dieser Phänomene überrollt zu werden, wird es für
Musikpädagogik und Musikwissenschaft notwendig sein, sich den neuen Mög-
lichkeiten zu öffnen in Richtung einer Praxis, wie sie sich im autonomen Umgang
mit Musik unter selbstverständlicher und spielerischer Anwendung neuer Medien
bereits lebendig vollzieht.
211
5 Zusammenfassung
Die westliche Kunstmusik ist bis heute entscheidend geprägt von der schriftlichen
Überlieferung. Die einzig relevante Möglichkeit, Musik zu speichern, bot bis Ende
des 19. Jahrhunderts das schriftliche Medium. Noch heute stellen Notentext und
Partitur in Musikwissenschaft und Musikpädagogik die meistgenutzte Medienform
dar. In der Musikpraxis entstand auf dieser Grundlage in den letzten beiden Jahr-
hunderten eine ausgeprägte Interpretationskultur. An dieser orientiert sich eine Mu-
sikpädagogik, die sich seit etwa zweihundert Jahren eine stark verbesserte Druck-
technologie zu Nutze machte und sich damit von der weitgehend persönlichen und
mündlichen auf die rationellere schriftliche Vermittlung verlegen konnte. Nur dank
dieser intensiven Medienunterstützung war die vollzogene Verbreitung des Instru-
mentalspiels, also des heute so genannten aktiven Musizierens, möglich.
Wird aber persönlicher Kontakt im musikdidaktischen Kontext, wie hier geschehen,
in wesentlichem Umfang durch Medien ersetzt, sind damit auch Nebenwirkungen
verbunden. Eine sicherlich zunächst nicht beabsichtigte Folge der Nutzung schriftli-
cher Medien in der Ausbildung war die für die abendländische Musikerziehung bis
heute wesenstypische Vorherrschaft visueller und motorischer Kriterien beim Ler-
nen. Dadurch akzentuierte Distanzen zum ursprünglichen Motiv allen Musizierens,
nämlich dem Klangerlebnis, stellen bis heute ein Grundproblem für die Musik-
pädagogik dar.
Oberflächlich betrachtet scheint die immer weiter anwachsende Medienflut die Ten-
denz zum Konsum und Distanzen zum kreativen Umgang mit Musik zusätzlich zu
vergrößern. Multimediale Technologie bietet aber andererseits in ihrem neuen audi-
tiven, interaktiven und strukturierbaren Bestandteil auch dringend benötigte Mög-
lichkeiten, die bereits eingehend erörterte und allenthalben kritisierte Einseitigkeit
visuellen Musiklernens auszugleichen. Diese Möglichkeiten gilt es zu nutzen.
Im Zuge der elektrischen Digitalisierung wird das schriftliche Moment zum Be-
standteil des Gesamtmediums. Gleichzeitig verliert die Schriftlichkeit ihre exklusive
Bedeutung als entscheidende Voraussetzung zum anspruchsvollen Musizieren in
historischer Dimension. Die Integration auditiver und visueller Codierung im digi-
talen "Universalmedium", dem Rechner, wird die Bedingungen des Musizierens
grundlegend verändern. Diese Veränderungen betreffen alle Bereiche von Komposi-
tion über Musikproduktion, Interpretation, Improvisation bis zum Musikhören, so
dass die gegenwärtigen Bedeutungsgrenzen dieser Begriffe bald überholt sein
könnten.
Die Richtung dieser Veränderungen wird von folgenden Eckpunkten bestimmt:
212
Visuelle und auditve Musikcodierung werden kombinierbar, das Medium inter-
aktiv. Steuerdatencodierung verbindet Primär- und Sekundärmedium, klangliche
Information und Notentext.
Der direkte Zugriff auf akustische Strukturen erlaubt anspruchsvolles Musizieren
ohne die diskriminierende Zwischenstufe der Notenschrift. Dies ermöglicht eine
wachsende Bedeutung musikalisch-spielerischen Lernens. Grenzen zwischen
Musikkonsum und "aktivem" Musizieren verschwimmen.
Die Trennung in Komposition und Interpretation löst sich wieder auf,
Improvisation und Komposition nähern sich wieder an.
Das typische Merkmal aller Clavierinstrumente, die Auslösung von Klangereig-
nissen durch Triggerimpulse im Betätigen von Tasten, findet seine konsequente
Fortsetzung in der Musikelektronik. Die Technologie der steuerdatencodierenden
Digitaltechnik macht diese Art des Musizierens speicher- und reproduzierbar.
Der Sampler als Weiterentwicklung dieser Idee vereinigt Musikinstrument und
Wiedergabemedium. Die beiden Funktionen Tonerzeugung und Speicherung ver-
schmelzen.
Es handelt sich dabei um eine Konsequenz der anthropologischen Grundtendenz,
die menschliche Stimme als musikerzeugendes Organ durch technische Hilfsmit-
tel, Instrumente zu ergänzen und Musik ihrer Flüchtigkeit zu entreißen. Die Art
der Klangerzeugung ist theoretisch sekundär und wird dies eines Tages auch
praktisch, ohne einen Qualitätsverlust zu implizieren.
Grundsätzlich besteht keinerlei Widerspruch zwischen Medientechnologie und
musikalischer Aktivität, im Gegenteil: Es gibt keinen Grund mehr, aktives Musi-
zieren mit dem zu kurz greifenden Phänomen des klassischen Instrumentalspiels
zu identifizieren. In den Blickpunkt geraten statt dessen wieder die hierzu erfor-
derlichen geistigen Voraussetzungen, nämlich das Verständnis musikalischer
Strukturen.
Jede Art der Information steht an jedem Ort praktisch gleichzeitig zur Verfügung.
Damit werden traditionelle Möglichkeiten des Miteinander-Musizierens durch
neue Möglichkeiten ergänzt.
Die dem 19. Jahrhundert entstammende Rolle des Klaviers als häusliches Wie-
dergabemedium muss vor dem Hintergrund der Verbreitung elektronischer Wie-
dergabemedien endgültig revidiert werden. Statt dessen wird das "Clavier" (im
weitesten Sinn von Keyboard – die Computertastatur eingeschlossen) seine tradi-
tionell bedeutsame Funktion als Werkzeug des Musikschaffenden ausbauen bzw.
wiedergewinnen. Weitere Schnittstellen und Bedienungsoberflächen zwischen
Mensch und Musikinstrument werden entstehen.
213
Das reproduktive Instrumentalspiel, gegenwärtig anerkannteste und verbreitetste
Möglichkeit "aktiver" Musikausübung, wird ergänzt um andere Formen des
Musizierens. Bereits heute beginnen produktive, reproduktive und konsumierende
Sphären des Musizierens zu verschmelzen. Eine Herausforderung an die
Musikpädagogik stellt es dar, die entstehenden Zwischenformen zu integrieren.
Die eingangs zitierte Sorge des Deutschen Musikrats um die musikalische Bildung
ist unter dem Medienaspekt auch Spiegelbild von Kompatibilitätsproblemen zwi-
schen den im 20. Jahrhundert noch weitgehend unverknüpft nebeneinander beste-
henden Mediensphären Klang und Schrift, d. i. Tonträger und Printmedium. Die be-
sonderen Unsicherheiten von Musikwissenschaft und Musikpädagogik in der Re-
zeption neuer Medien sind heute auch Ausdruck der Tatsache, dass mit der Infrage-
stellung der Führungsrolle von Schriftlichkeit die genannten Disziplinen in ihren
Grundlagen angetastet scheinen – sind doch Musikwissenschaft und Musikpädago-
gik selbst unmittelbar aus der schriftlichen Tradition des 19. Jahrhunderts hervorge-
gangen. Diese Disziplinen der akustischen Kunst gewinnen aber durch audivisuelle
Medien neue Betätigungsfelder. Die Nutzung neuer Möglichkeiten, begünstigt durch
mediale Interaktivität, erscheint gerade für die Musikerziehung auch deshalb ange-
raten, da sich Hinweise verdichten, dass schriftliche Medien allein strukturell be-
dingt ungeeignet sein könnten, Fähigkeiten zum aktiven bzw. reaktiven, unter Um-
ständen sogar zum reproduzierenden Musizieren zu fördern. Sollte sich dieser Ver-
dacht auch nur teilweise bestätigen, müsste das typische "Begabungsproblem" der
abendländischen Musikerziehung als Medienproblem aufgefasst und entsprechend
auch aus der Medienperspektive angegangen werden. Die folgende Forderung
müsste dann eine Basis künftiger Musikerziehung bilden und der Revision musik-
pädagogischer Berufe zu Grunde gelegt werden:
Musiklernen bedarf grundsätzlich multimedialer Vermittlung ebenso essenziell, wie
der Vorgang des Musizierens selbst multisensural, komplex und ganzheitlich struk-
turiert ist. Dabei gebührt dem Gehör und damit dem auditiven Medienaspekt die
Priorität. Mediale Interaktivität und Multimedialität bieten hierzu die technischen
Voraussetzungen.
Unter der Maßgabe, dass auch die Fertigkeit des Instrumentalspiels von vielfältigen
und intensiven Klangerfahrungen entscheidend profitiert, könnte eine intensivierte
Musikerziehung auf der Grundlage neuer Medien- und Musiktechnologie auch für
die Instrumentalpädagogik künftig eine Grundlage bilden. Instrumentalpädagogik
und Schulmusikerziehung könnten dann vielleicht auf einem gemeinsamen Funda-
214
ment aufbauen und wären entsprechend grundständig eines Tages möglicherweise
nicht mehr zu trennen.
215
6 Anhang: Taxonomie auditiver Medien (zu Kap. 3.3)
Klangdatencodierende und steuerdatencodierende Medien sind im Folgenden
anhand von drei Parametern geordnet.
Die drei Parameter unterscheiden sich in der Art,
a) was gespeichert wird, Klangdaten (0) oder Steuerdaten (1),
b) (in der Art) der Klangerzeugung, also ob ein Instrument (0) oder ein Laut-
sprecher (1) die Luft in Schwingung versetzt und
c) wie gespeichert wird, analog (0) oder digital (1).
Diese drei Gruppen lassen sich beliebig kombinieren. Die erste Ziffer steht für den
Parameter a, die zweite für den Parameter b und die dritte für c.
Beispiel:
Die Kombination 010 bezeichnet ein Medium mit analoger Speicherung der
Klangdaten und Wiedergabe über Lautsprecher. In diese Kategorie fallen bei-
spielsweise traditionelle Plattenspieler oder Tonbandgeräte.
Die technische Realisierung der Aufzeichnung im Einzelnen (magnetische oder op-
tische Verfahren etc.) ist dabei sekundär und wird hier ausgeklammert, da prinzipiell
alle Möglichkeiten bestehen, diese aber keine entscheidenden Auswirkungen auf die
Anwendung haben.
Systematik:
000
Einziges Beispiel für ein Medium mit analoger Aufzeichnung der Klangdaten
und Wiedergabe über ein reales Instrument ist das von der Firma Schimmel pa-
tentierte Audioforte-System, wenn als Tonquelle ein analoges Medium, z.B. ein
Tonband zum Einsatz kommt. Hierbei wird über einen Elektromagneten bei Wie-
dergabe der Resonanzboden des Klaviers in Schwingung versetzt, also quasi als
Lautsprechermembran genutzt. Bislang hat sich das Audioforte-System nicht durch-
setzen können. Aufnahme ist mit diesem System bisher nicht möglich.
216
001
Digitale Aufzeichnung der Klangdaten bei Wiedergabe über ein Instrument
entspricht der Ziffer 000 (Audioforte-System) mit dem Unterschied, dass als Auf-
zeichnungsmedium ein digitales Gerät wie z.B. CD oder DAT (digitale Tonbandcas-
sette) verwendet wird. Das Audioforte-System an sich ist nicht an eine bestimmte
Speicherung (analog oder digital) gebunden.
010
Die analoge Aufzeichnung der Klangdaten bei Wiedergabe über Lautspre-
cher trifft auf alle traditionellen Analog-Medien zu. Dies wären z.B. Plattenspieler,
Grammophon, Wachswalze, Tonbandgerät und analoger Cassettenrecorder.
011
Hier werden die Klangdaten digital aufgezeichnet, die Wiedergabe erfolgt über
Lautsprecher. Dies gilt für CD, DAT, Harddiscrecording oder Mini-Disc.42 Wäh-
rend bei CD und DAT alle anfallenden Daten aufgezeichnet werden, was zu einem
Datenfluss von ca. 1 Mbit/s führt, wird bei Mini-Disc und teilweise bei Harddisc-
Recording versucht, durch psychoakustisch bedingte Datenreduktion den Datenfluss
etwa um eine Größenordnung zu reduzieren. Eine Veränderung der Wiedergabege-
schwindigkeit, die bei analoger Aufzeichnung zwangsläufig mit einer Tonhöhenver-
änderung einhergeht, ist beim Harddiscrecording durch aufwändige Rechenprozesse
in Grenzen auch bei gleichbleibender Tonhöhe möglich. Werden keine beweglichen
Teile zur Speicherung benutzt, sondern die Klangdaten aus flüchtigem Speicher
(RAM) wiedergegeben, spricht man traditionell von einem Sampler. In MP3-
Playern kommen ebenfalls flüchtige Speicher zum Einsatz.
100
Während die bisher beschriebenen Medien prinzipiell relativ unflexibel in der Wie-
dergabegeschwindigkeit sind, ist es für die folgenden problemlos möglich, eine Auf-
zeichnung ohne Veränderung der Tonhöhe in beliebiger Geschwindigkeit wiederzu-
geben. Anstatt wie oben die Wellenform, also die Summe des akustischen Ereignis-
ses, per Mikrofon aufzunehmen (vgl. Abschnitt 3.3.1), werden hier Steuerdaten auf-
gezeichnet (vgl. Abschnitt 3.3.2). Die Welle wird erst während der Wiedergabe neu
42 CD: Compact Disc, digitale Schallplatte, optisches Aufzeichnungsverfahren.
DAT: Digital Audio Tape, digitaler Cassettenrecorder, magnetisches Verfahren.
Harddisc-Recording: Aufnahme auf Computer-Festplatte, magnetisches Verfahren.
Mini-Disc: Aufnahme auf diskettenartigen Tonträger, magnetisches Verfahren mit Datenreduk-
tion.
217
erzeugt und muss während des Aufnahmevorgangs nicht gespeichert werden, da sie
im Wiedergabegerät für jeden einzelnen zu spielenden Ton enthalten ist, wie im Fall
eines akustischen Musikinstruments. Dabei ergibt sich bei Übertragung von Steuer-
daten die Notwendigkeit, Übereinkunft über die Beschaffenheit der zu erzeugenden
Welle, also über den Klang des erwünschten Instrumentes zu treffen.
Als Beispiel für die Kategorie 100, also analoge Aufzeichnung von Steuerda-
ten bei Wiedergabe über das Instrument kann das 1904 erstmals vorgestellte
Welte-Mignon-Reproduktions-Piano gelten. Zumindest kontinuierliche Dynamik-
veränderungen sind hier nicht digital codiert. Leider ist die Stanz- und damit Auf-
nahmetechnik von der Firma Welte so gut geheimgehalten worden, dass sie heute
als verloren gilt.
101
Die digitale Speicherung der Steuerdaten bei Wiedergabe über das Instru-
ment findet bei allen modernen selbstspielenden Klavieren Anwendung, wie zum
Beispiel Bösendorfer Computerflügel SE oder Yamaha Disclavier. Die Tasten und
Hämmer werden bei Wiedergabe elektromagnetisch in Bewegung gesetzt.
110
Eine Anwendungsmöglichkeit, bei der analog aufgezeichnete Steuerdaten über
Lautsprecher wiedergegeben werden, ist nicht bekannt.
111
Die letzte Kategorie beinhaltet die traditionelle Domäne der MIDI-Technik, nämlich
die digitale Speicherung der Steuerdaten bei elektroakustischer Wiedergabe
(über Lautsprecher) und synthetischer Klangerzeugung, wie sie insbesondere in
der Popmusikproduktion verbreitet Anwendung findet. Aus Sicht der Steuerung fällt
der Sampler, der bereits in die Kategorie 011 eingeordnet wurde, auch in diese Ka-
tegorie, denn er kann über MIDI-Befehle getriggert und damit angewiesen werden,
die gespeicherten Klangdaten wiederzugeben.
Der Sampler vereint die Eigenschaften klangdatencodierender und steuerdatenco-
dierender Technologien und verkörpert damit die Verschmelzung von Musikinstru-
ment und Aufzeichnungsmedium (siehe Abschnitt 3.3.3).
218
219
7 Literatur
Anonym: The Miracle Piano Teaching System™ (Klavierlernsystem), Benutzer-
handbuch © 1990, 1991 The Software Toolworks, Inc.
Anonym: The Real Book III.
Abel-Struth, Sigrid: Grundriß der Musikpädagogik, Mainz 1985.
Aebersold, Jamey: Ein neuer Weg zur Jazz Improvisation, Bd. 1, Buch und Tonträ-
ger, o.O. (= Rottenburg): Advance Music 61996.
Amster, Isabella: Klavierübung im Alltag des Musizierens; In: Musik und Gesell-
schaft, Heft 6/1930, S. 172-176.
Augustini, Folke: Die Klavieretüde im 19. Jahrhundert: Studien zu ihrer Entwick-
lung und Bedeutung, Duisburg 1986.
Bach, Carl Philipp Emanuel: Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen,
Berlin 1753 (Teil I), 1762 (Teil II), Reprint Kassel 1994.
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