$knt oktober der zürcher - neue zürcher zeitung · i edith piaf am 11. oktober tat in paris, wie...

1
Samstag, 19. Oktober 1963 Der Zürcher Zeitung 184. Jahrgang Morgenausgabe Nr. 4231 J~^ $knt vY c*JvY% Abonnements- u. Inscratannahnic : Falkcnstraße 12 u. Bahnhof straße 70 und schweizerisches Handelsblatt Täglich drei Ausgaben Redaktion: Falkcnstraße 11, Zürich Verwaltung: Goethestraße 10 Druckerei: Goethestraße 10 Telephon 32 71 00 Hauptpostfach Postchcekkonto VIII 045 Annoncen: Die einspaltige Millimetorzeilo 45 Rp. Samstag-, Sonntag- und Montarmorgonausgabr, Morgenausgabe nach Duppolfcicrtagcn und nach Auffahrt 48 Rp. Reklamen, textsiialloiibreit 3 Fr. Briefadresse für die Annoncen-Abteilung: 1'ostfnch 215, Zürich Lord Home - der neue britische Premierminister / 21/. London, .1.8. Oktober Alexander Frederick Douglas-IIome, der 14. Eavl of Home, den die Königin heute er- sucht hat, die neue konservative Regierung zu bilden, entstammt altem schottischem Grenz- adel. Er ist der erst e britische Premierminister aus der Erbaristokratie , seit um die Jahr- hundertwende der Großvater des gegenwär- tigen Lord Salisbury die Staatsgeschäfte führte. Er wuchs in einer Atmosphäre auf, in der Wohlstand und Dienst für die Krone zur Tradition gehörten. In Eton und Oxford tat or sich als guter Crieketspieler, weniger durch intellektuelle Brillanz hervor, galt aber da- mals schon als schlagkräftiger Debatter. 1931 zog er für den «Familiensitz» von Lanark ins Unterhaus ein. Er hieß damals Lord Dunglass. 1936 machte ihn Chamberlain zu seinem Privatsekretär. An der Seite von Churchills Vorgänger trat er als Vertreter der München- Politik auf bis zu ihrem bitteren Ende. Als der Krieg ausbrach, wollte Home mit seinem Regiment an die Front; eine Rückgrat- tuberkulöse, die ihn zwei Jahre ans Kranken- bett fesselte, machte dies unmöglich. 1943 kehrte Home ins Unterhaus zurück, wo er dann, von Eden ermuntert, das Abkom- men von Jalia kritisierte, als dies noch viel Zivilcourage brauchte. Er verlor seinen Sitz im Erdrutsch von 1945, gewann ihn aber 1950 zurück, wobei die Wähler aus den Kohlen- gruben von Lanark in Massen für ihn ein- traten. Doch dann starb sein Vater, und er hatte ins Oberhaus hinüberzuwechseln. Im Frühling 1955 machte ihn Eden zum Com- monwcalfk-Minister. Bis zu Macmillans Rede über den «Wind des Wechsels» in Afrika zeigte Home mehr Verständnis für die Inter- essen der weißen Siedler als für die Anliege n schwarzen Emanzipationspolitiker, machte aber dann die Schwenkung an der Spitze mit. 1960 ernannte ihn Macmillan zum Außen- minister, wozu damals eine Zeitung bemerkte, es sei keine so merkwürdige Ernennung mehr erfolgt, seit Caligula sein Pferd zum Konsul gemacht habe. In Tat und Wahrheit verschaffte sich der adlige Außenminister, dessen Start im Foreign Office so umstritten war, rasch Respekt im In- und Ausland. Er scheute sich nicht, die Dinge beim Namen zu nennen und Verant- wortung zu delegieren. Er baute ein gutes persönliches Verhältnis mit den Amerikanern auf und zeigte sich den Sowjets gegenüber mehrmals widerborstiger als sein Chef. Was er in New York und Blackpool über die Ent- spannungspolitik sagte, hatte viel allzu viel mit dem britischen Wahlkampf zu tun. Wie souverän er als Premierminister sein wird, weiß noch niemand. Es gibt Leute, die der Meinung sind, Homes Urteil oder Auf- treten sei im Laufe seiner bisherigen Karriere allzu oft dem Vorgesetzten des Tages oder dem Dossier gefolgt, das ihm gute oder schlechte Berater unterbreiteten. Der Europapolitik Macmillans stand Ilomc, im Gegensatz zu den besten Köpfen im Foreign Office, innerlich kühl gegenüber, wenn er sie auch gegen außen mit der ihm eigenen Deutlichkeit vertrat. Es gehört zur melancholischen Folgerichtigkeit der Stunde, daß die Antwort auf de Gaulies Veto gegen den Beitritt Großbritanniens zur EWG ein altadeliger Vasall der britischen Reichskrone geworden ist, kein «Europäer», sondern ein Mann, über den auf dem rechten Flügel der Konservativen Partei mehr Freude herrschen wird als auf dem linken. Home, schlank und zart gebaut und mit verklemmtem Munde sprechend, ist als Er- scheinung eine Kombination aus drahtiger Dürre und witzigem Charme. Sein angeneh- mes, manchmal mit Selbstironie spielendes Wesen hat ihn davor verschont, sich Feinde zu machen. Sein Familien- und Besitzhinter- grund geben ihm eine stille Sicherheit. Sein Bruder ist William Douglas-Home, ein erfolg- reicher Verfasser leichter Theaterstücke, welche die Aristokratie parodieren. Für den neuen Premierminister, der sich noch an einer parlamentarischen Nachwahl in Sir Alexander Douglas-Home mit Sitz im Unterhaus wird zurückverwandeln müssen , brechen schwierige Tage und Monate an. Er hat bei der Regierungsbildung geschlagene Rivalen wie Butler, Lord Hailsham und Maudling vor sich, von denen der erste im Kabinett, der zweite in den Regionalparteien und der dritte im Unterhaus mehr Anhang besitzt als der Sieger. Er muß mit. einer Unterhausfraktion rechnen, in der starke Ele- mente es als eine Demütigung und einen wahl- taktischen Fehler betrachten, daß der neue Führer im Oberhaus geholt worden ist. Alle führenden Zeitungen hätten Butler oder einen Jüngeren aus seiner Schule vorgezogen. Harold Wilson und die andern Oppositions- politiker betrachten Lord Home als eine dank- bare Zielscheibe für Attacken im Parlament und im Wahlkampf, wobei sie seine Fähigkeit, zurückzuschlagen, allerdings unterschätzen könnten. Es sieht so aus, als habe der Zusammen- px%aU zwischen dem linken und dem rechten Pärieiflügel im Nachfolgekrieg Macmillan zur Empfehlung eines neuen Premierministers veranlaßt, der zwar die Tories einigermaßen zusammenhalten kann, für die Wahlen aber eher ein Handicap als eine Hilfe sein wird, da der sehwankende Wähler nicht eine Ver- körperung des alten, sondern des neuen Tory- tums sehen will. Zudem werden die Chronisten noch lange darüber streiten, ob Macmillan in seinem R-at an die Königin rein dem gefolgt ist, was die «Computer» über die Stimmung bei der Gefolgschaft meldeten, oder ob nicht auch noch persönliches Mißtrauen gegen But- ler mitwirkte, dem er oft hohe Aemter mit brüderlicher Güte zugehalten hat, um sich letzten Endes von ihm abzuwenden. Es geht da um die Frage, warum der scheidende Pre- mierminister sich, wenigstens dem Anschein nach, zu etwas verwenden ließ, was wie ein Schlag gegen das Bild einer jungen, nioder- Umfang 48 Seiten Inhaltsübersicht BLATT Lord Home der neue britische Premierminister BLATT Die Session des EWG-Parlaments Die Telephonaffäre in der Bundesrepublik BLATT 3 Besuch in Huddersfield B LATT Pekings Aggressionskrieg im Himalaja Offensive gegen Deutschland in den Vereinigten Nationen BLATT 5 und 6 Das Wochenende: Umbrische Städte Zum 150. Jahrestag der Völkerschlacht bei Leipzig B LATT Herr Zellweger und die Bodeninitiative Ein Tagesbefehl Bundesrat Chaudets BLATT Die Diskussion um den «Stellvertreter» in der Schweiz BLATT 9 - ,£l". Zürcher Lokalchronik BLATT 10 und 11 Handel: Die Kapitaltransaktion der Schweizerischen Kreditanstalt Schweizerischer Geldmarkt neu, den aufsteigenden Bevölkerungsschieh- ten zugewendeten Konservativen Partei wirkt. Vielleicht liegt die Erklärung darin, daß Mac- milliin und andere Verantwortliche eine kom- mende Wahlniederlage realistisch in ihre Be- rechnungen einbezogen und den Führer, der Gegenoffensive auf die übernächsten Wahlen hin, der dann aus dem Kreis der Maudling, Macleod und Ileath zu kommen hätte, nicht vor der Zeit «verbrauchen» wollten. Vermut- lich nur in diesem Sinne könnte die Ernen- nung Lord Homes eine konstruktive Ausweich- lösung sein. i Edith Piaf Am 11. Oktober tat in Paris, wie wir schon ge- meldet haben, die Chansonniere Edith Piaf im Alter von 47 Jahren gestorben. Wb. Das Kind ist am 19. Dezember 1915 zur Welt gekommen, morgens um fünf, in Paris, Rue de Belleville, im Hause Nummer 72. Nein, nicht im Hause, sondern vor dem Haus. Der Wagen für die Klinik war zu spät eingetroffen. Vor der Haustür hatte die Mutter nicht mehr weiter gekonnt. Zwei Polizisten, die grad in der Gegend auf Roiide waren, sahen die Frnu und begriffen, worum es ging, und halfen. «Ich kann also sagen, daß ich auf der Straße geboren worden bin», wird es spä- ter heißen. Der Vater des Kindes, Louis Gassion, war Akrobat; die Mutter, bekannt unter dem Namen Line Marsa, sang in Cafes. Die beiden gaben dem Mädchen die Namen Edith Giovanna und überließen es fürs erste den Großmüttern in der Provinz. Später, als Edith Giovanna sieben war, nahm sie der Vater mit auf Tournee. Er legte irgendwo am Ort seinen Tcppich aus und machte darauf seine Kunststücke ; darunter war eine Glicdcrverrenkungs-Nummer bemerkenswert. Nach den Vorführungen sammelte das Kind das Zu- sehauergeld ein. Und damit keiner wegschlich, kündigte der Akrobat gleich die allerletzte Num- mer an: um den freundlichen Spendern zu danken, werde das Kind den Salto mortale ausführen. Das Geld wurde .icwcilen eingesammelt; aber der Snlto mortale fand nie statt. Einmal gab es Protest unter den Zuschauern. Da trat der Akrobat vor und erklärte, man müsse verzichten, das Mädchen sei eben erst von einer Grippe aufgestanden und noch schwach. «Erwarten Sie denn, daß sich dieses arme Kind das Genick brechen soll, nur um Ihnen Spaß zu machen?» Aber man hat schließlich sein Ehrgefühl. Das Kind wird etwas singen. Aber was? Edith kennt die «Marseillaise», doch davon nur den Refrain. Den singt sie, und die Leute sind gerührt. Der Akrobat zwinkert dem Kinde zu, und es geht zum zweiten Mal unter die Leute und sammelt den Lohn. Später schlägt sich Edith allein durch. Sio kommt nach Paris. Da singt sie auf der Straße und auf Rummelplätzen ihre Lieder. Und da macht dns Leben eines seiner Märchen wahr: Ein Herr tritt auf das lottrig gekleidete Mädchen zu. «So machst du deine Stimme kaputt», sagte er. Und: «Mit einer solchen Stimme warum singst du nicht in einem Cabarct?» Der Herr heißt Louis Lcplee; er leitet das Cabarct «Ix; Gcrny's». Bei ihm wird Edith Giovanna Gassio n auftreten. Aber «Gassion» ! Das ist kein Name für eine Cabarct- Sängerin. Leplee sucht und erfindet «Piaf». Unter diesem Namen, Edith Piaf, tritt sie auf. Sie trägt eine billige Jupe; der Pullover, den sie sich noch stricken wollte, ist nicht fertig geworden es fehlt ein Acrmel. Lcplec läßt nicht nach: «Was soll's? Du verbirgst den Arm unter deiner Schärpe. Mach nur wenige Gesten, beweg dich so wenig wie möglich, gestikuliere nicht, und alles wird gut gehn.» Aber dann, auf der Bühne, nimmt dtis Lied sie mit; Edith Piaf hebt beide Arme, die Schärpe rutscht weg. Niemand lacht. Im Saat ist es still, lange; dann kommt riesiger Beifall. Der Ruhm ist da. Louis Lcplec hatte sie damals den vornehmen Leuten mit wahren und auch schlauen Worten vor- gestellt. «Vor ein paar Tagen», so sagte er, «ging ich durch die Rue Troyon. Auf dem Trottoir snng ein Mädchen, ein Mädchen mit bleichem, leidendem Gesicht. Seine Stimme hat mich ins Herz getroffen. Sie hat mich bewegt; sie hat mich überwältigt. Dieses Pariser Kind wollte ich Ihnen vorführen. Ei n Abendkleid hat sie nicht. Wenn sie weiß, wie man sich vor dem Publikum verneigt ja, ich habe es ihr gestern erst beigebracht. Sie wird nun vor Ihnen auftreten, ganz so, wie sio war, als ich sio dort auf der Straße traf: ohne Schminke, ohno Strümpfe, in einer billigen Jupe... Voici la möme Piaf.» In all den Jahren, da Edith Piaf an berühmten Orten in aller Welt auftrat, fast immer in dem einfachen schwarzen Kleid («meine Uniform» nannte sie es): da war insgeheim auch das Mädchen dabei, welches kein Abendkleid hat und nicht weiß, wie man sich verneigt. Ich sehe sie vor mir: schmal, mit einem Gesicht, welches vom Leben selten gestreichelt, oft ge- schlagen worden ist. Sie sang das zärtlichste Lie- ben, die Trauer, den Trotz mit einer Stimme so scharf und klirrend, als müßte dns Lied neben schepperndem Blech vor Männern mit rußigen Gesichtern, bestellen können. Die Welt und das Leben in ihr: es war zu streng, als daß man dar- über schön hätte singen dürfen. In nichts ist Edith Piaf dem Publikum entgegengekommen. Sie lächelte nicht nebenaus, fischte keine Blicke. Sie war mit ihren Liedern ganz allem ilir könnt's annehmen oder abweisen, sagte das Gesicht, in welchem die Augen nur wenig offen waren, so, als seien sie verweint. Es war eine wunderbar e Gabe Edith Piafs, auch beim Wiederholen so zu singen, als sänge sie zum erstenmal. Wenn sie aber sich selber plötzlich zuschaute und sah, was sie tat und wie sie es tat, dann gab sie das Lied auf. Ihr wildes zartes Herz ließ die Routine nicht zu. Als kleines Kind war sie erblindet. «Par pitie, rendez-moi la vue!» betete sie am Altar der heili- gen Therese in Lisieux. Zehn Tage darauf hatte sio ihr Augenlicht wieder. Dankbar lebte sie ihr Leben. «Ich bin ein gläubiger Mensch», sagte sie, «der Tod schreckt mich nicht.» (Die Lcbcnscrinncrungcn von Edith Piaf sind unter dem Titel «Au bal de tu chance» im Verlag Jchcbcr, Ports, erschienen.) Neue Zürcher Zeitung vom 19.10.1963

Upload: others

Post on 14-Jun-2020

1 views

Category:

Documents


0 download

TRANSCRIPT

Page 1: $knt Oktober Der Zürcher - Neue Zürcher Zeitung · i Edith Piaf Am 11. Oktober tat in Paris, wie wir schon ge-meldet haben, die Chansonniere Edith Piaf im Alter von 47 Jahren gestorben

Samstag, 19. Oktober 1963 Der Zürcher Zeitung 184. Jahrgang Morgenausgabe Nr. 4231J~^

$knt vY c*JvY%

Abonnements- u. Inscratannahnic : Falkcnstraße 12 u. Bahnhofstraße 70

und schweizerisches HandelsblattTäglich drei Ausgaben

Redaktion: Falkcnstraße 11, ZürichVerwaltung: Goethestraße 10 Druckerei: Goethestraße 10

Telephon 32 71 00 Hauptpostfach Postchcekkonto VIII 045

Annoncen:Die einspaltige Millimetorzeilo 45 Rp.Samstag-, Sonntag- und Montarmorgonausgabr,Morgenausgabe nach Duppolfcicrtagcn und nachAuffahrt 48 Rp.Reklamen, textsiialloiibreit 3 Fr.

Briefadresse für die Annoncen-Abteilung: 1'ostfnch 215, Zürich

Lord Home - der neue britische Premierminister/ 21/. London, .1.8. Oktober

Alexander Frederick Douglas-IIome, der14. Eavl of Home, den die Königin heute er-sucht hat, die neue konservative Regierung zubilden, entstammt altem schottischem Grenz-adel. Er ist der e r s te britische Premierministeraus der Erbaristokratie, seit um die Jahr-hundertwende der Großvater des gegenwär-tigen Lord Salisbury die Staatsgeschäfte

führte. Er wuchs in einer Atmosphäre auf, inder Wohlstand und Dienst für die Krone zurTradition gehörten. In Eton und Oxford tator sich als guter Crieketspieler, weniger durchintellektuelle Brillanz hervor, galt aber da-mals schon als schlagkräftiger Debatter. 1931zog er für den «Familiensitz» von Lanark insUnterhaus ein. Er hieß damals Lord Dunglass.

1936 machte ihn Chamberlain zu seinemPrivatsekretär. An der Seite von ChurchillsVorgänger trat er als Vertreter der München-Politik auf bis zu ihrem bitteren Ende. Alsder Krieg ausbrach, wollte Home mit seinemRegiment an die Front; eine Rückgrat-tuberkulöse, die ihn zwei Jahre ans Kranken-bett fesselte, machte dies unmöglich.

1943 kehrte Home ins Unterhaus zurück,wo er dann, von Eden ermuntert, das Abkom-men von Jalia kritisierte, als dies noch vielZivilcourage brauchte. Er verlor seinen Sitzim Erdrutsch von 1945, gewann ihn aber 1950zurück, wobei die Wähler aus den Kohlen-gruben von Lanark in Massen für ihn ein-traten. Doch dann starb sein Vater, und erhatte ins Oberhaus hinüberzuwechseln. ImFrühling 1955 machte ihn Eden zum Com-monwcalfk-Minister. Bis zu Macmillans Redeüber den «Wind des Wechsels» in Afrikazeigte Home mehr Verständnis für die Inter-essen der weißen Siedler als für die Anliegen

schwarzen Emanzipationspolitiker, machteaber dann die Schwenkung an der Spitze mit.1960 ernannte ihn Macmillan zum Außen-minister, wozu damals eine Zeitung bemerkte,es sei keine so merkwürdige Ernennung mehrerfolgt, seit Caligula sein Pferd zum Konsulgemacht habe.

In Tat und Wahrheit verschaffte sich deradlige Außenminister, dessen Start im ForeignOffice so umstritten war, rasch Respekt imIn- und Ausland. Er scheute sich nicht, dieDinge beim Namen zu nennen und Verant-wortung zu delegieren. Er baute ein gutespersönliches Verhältnis mit den Amerikanernauf und zeigte sich den Sowjets gegenüber

mehrmals widerborstiger als sein Chef. Waser in New York und Blackpool über die Ent-spannungspolitik sagte, hatte viel allzu viel

mit dem britischen Wahlkampf zu tun.

Wie souverän er als Premierminister seinwird, weiß noch niemand. Es gibt Leute, dieder Meinung sind, Homes Urteil oder Auf-treten sei im Laufe seiner bisherigen Karriereallzu oft dem Vorgesetzten des Tages oder demDossier gefolgt, das ihm gute oder schlechteBerater unterbreiteten.

Der Europapolitik Macmillans stand Ilomc,im Gegensatz zu den besten Köpfen im

Foreign Office, innerlich kühl gegenüber,wenn er sie auch gegen außen mit der ihmeigenen Deutlichkeit vertrat. Es gehört zurmelancholischen Folgerichtigkeit der Stunde,daß die Antwort auf de Gaulies Veto gegenden Beitritt Großbritanniens zur EWG einaltadeliger Vasall der britischen Reichskronegeworden ist, kein «Europäer», sondern ein

Mann, über den auf dem rechten Flügel derKonservativen Partei mehr Freude herrschenwird als auf dem linken.

Home, schlank und zart gebaut und mitverklemmtem Munde sprechend, ist als Er-scheinung eine Kombination aus drahtigerDürre und witzigem Charme. Sein angeneh-mes, manchmal mit Selbstironie spielendesWesen hat ihn davor verschont, sich Feindezu machen. Sein Familien- und Besitzhinter-grund geben ihm eine stille Sicherheit. SeinBruder ist William Douglas-Home, ein erfolg-reicher Verfasser leichter Theaterstücke,welche die Aristokratie parodieren.

Für den neuen Premierminister, der sichnoch an einer parlamentarischen Nachwahl inSir Alexander Douglas-Home mit Sitz imUnterhaus wird zurückverwandeln müssen,brechen schwierige Tage und Monate an. Erhat bei der Regierungsbildung geschlagene

Rivalen wie Butler, Lord Hailsham undMaudling vor sich, von denen der erste imKabinett, der zweite in den Regionalparteienund der dritte im Unterhaus mehr Anhangbesitzt als der Sieger. Er muß mit. einerUnterhausfraktion rechnen, in der starke Ele-mente es als eine Demütigung und einen wahl-taktischen Fehler betrachten, daß der neueFührer im Oberhaus geholt worden ist. Alleführenden Zeitungen hätten Butler oder einenJüngeren aus seiner Schule vorgezogen.Harold Wilson und die andern Oppositions-politiker betrachten Lord Home als eine dank-bare Zielscheibe für Attacken im Parlamentund im Wahlkampf, wobei sie seine Fähigkeit,zurückzuschlagen, allerdings unterschätzenkönnten.

Es sieht so aus, als habe der Zusammen-px%aU zwischen dem linken und dem rechtenPärieiflügel im Nachfolgekrieg Macmillan zurEmpfehlung eines neuen Premierministersveranlaßt, der zwar die Tories einigermaßen

zusammenhalten kann, für die Wahlen abereher ein Handicap als eine Hilfe sein wird,da der sehwankende Wähler nicht eine Ver-körperung des alten, sondern des neuen Tory-tums sehen will. Zudem werden die Chronistennoch lange darüber streiten, ob Macmillan inseinem R-at an die Königin rein dem gefolgtist, was die «Computer» über die Stimmungbei der Gefolgschaft meldeten, oder ob nichtauch noch persönliches Mißtrauen gegen But-ler mitwirkte, dem er oft hohe Aemter mitbrüderlicher Güte zugehalten hat, um sichletzten Endes von ihm abzuwenden. Es geht

da um die Frage, warum der scheidende Pre-mierminister sich, wenigstens dem Anscheinnach, zu etwas verwenden ließ, was wie einSchlag gegen das Bild einer jungen, nioder-

Umfang 48 Seiten

InhaltsübersichtBLATT

Lord Homeder neue britische Premierminister

BLATT

Die Session des EWG-ParlamentsDie Telephonaffäre in der Bundesrepublik

BLATT 3

Besuch in Huddersfield

B LATTPekings Aggressionskrieg im Himalaja

Offensive gegen Deutschlandin den Vereinigten Nationen

BLATT 5 und 6

Das Wochenende:Umbrische StädteZum 150. Jahrestagder Völkerschlacht bei Leipzig

B LATT

Herr Zellweger und die BodeninitiativeEin Tagesbefehl Bundesrat Chaudets

BLATT

Die Diskussion um den «Stellvertreter»in der Schweiz

BLATT 9 - ,£l".Zürcher Lokalchronik

BLATT 10 und 11

Handel:Die Kapitaltransaktionder Schweizerischen KreditanstaltSchweizerischer Geldmarkt

neu, den aufsteigenden Bevölkerungsschieh-ten zugewendeten Konservativen Partei wirkt.Vielleicht liegt die Erklärung darin, daß Mac-milliin und andere Verantwortliche eine kom-mende Wahlniederlage realistisch in ihre Be-rechnungen einbezogen und den Führer, derGegenoffensive auf die übernächsten Wahlenhin, der dann aus dem Kreis der Maudling,Macleod und Ileath zu kommen hätte, nichtvor der Zeit «verbrauchen» wollten. Vermut-lich nur in diesem Sinne könnte die Ernen-nung Lord Homes eine konstruktive Ausweich-lösung sein.

i Edith Piaf

Am 11. Oktober tat in Paris, wie wir schon ge-

meldet haben, die Chansonniere Edith Piaf im Altervon 47 Jahren gestorben.

Wb. Das Kind ist am 19. Dezember 1915 zurWelt gekommen, morgens um fünf, in Paris, Ruede Belleville, im Hause Nummer 72. Nein, nicht imHause, sondern vor dem Haus. Der Wagen für dieKlinik war zu spät eingetroffen. Vor der Haustür

hatte die Mutter nicht mehr weiter gekonnt. ZweiPolizisten, die grad in der Gegend auf Roiidewaren, sahen die Frnu und begriffen, worum esging, und halfen. «Ich kann also sagen, daß ichauf der Straße geboren worden bin», wird es spä-ter heißen. Der Vater des Kindes, Louis Gassion,war Akrobat; die Mutter, bekannt unter demNamen Line Marsa, sang in Cafes. Die beidengaben dem Mädchen die Namen Edith Giovannaund überließen es fürs erste den Großmüttern inder Provinz. Später, als Edith Giovanna siebenwar, nahm sie der Vater mit auf Tournee. Er legteirgendwo am Ort seinen Tcppich aus und machtedarauf seine Kunststücke; darunter war eineGlicdcrverrenkungs-Nummer bemerkenswert. Nachden Vorführungen sammelte das Kind das Zu-sehauergeld ein. Und damit keiner wegschlich,kündigte der Akrobat gleich die allerletzte Num-mer an: um den freundlichen Spendern zu danken,werde das Kind den Salto mortale ausführen. DasGeld wurde .icwcilen eingesammelt; aber der Snltomortale fand nie statt. Einmal gab es Protestunter den Zuschauern. Da trat der Akrobat vorund erklärte, man müsse verzichten, das Mädchensei eben erst von einer Grippe aufgestanden undnoch schwach. «Erwarten Sie denn, daß sich diesesarme Kind das Genick brechen soll, nur um IhnenSpaß zu machen?» Aber man hat schließlich seinEhrgefühl. Das Kind wird etwas singen. Aberwas? Edith kennt die «Marseillaise», doch davonnur den Refrain. Den singt sie, und die Leute sindgerührt. Der Akrobat zwinkert dem Kinde zu, undes geht zum zweiten Mal unter die Leute undsammelt den Lohn.

Später schlägt sich Edith allein durch. Siokommt nach Paris. Da singt sie auf der Straße

und auf Rummelplätzen ihre Lieder. Und damacht dns Leben eines seiner Märchen wahr: EinHerr tritt auf das lottrig gekleidete Mädchen zu.«So machst du deine Stimme kaputt», sagte er.Und: «Mit einer solchen Stimme warum singstdu nicht in einem Cabarct?» Der Herr heißt LouisLcplee; er leitet das Cabarct «Ix; Gcrny's». Beiihm wird Edith Giovanna Gassion auftreten. Aber«Gassion» ! Das ist kein Name für eine Cabarct-Sängerin. Leplee sucht und erfindet «Piaf». Unterdiesem Namen, Edith Piaf, tritt sie auf. Sie trägteine billige Jupe; der Pullover, den sie sich nochstricken wollte, ist nicht fertig geworden esfehlt ein Acrmel. Lcplec läßt nicht nach: «Wassoll's? Du verbirgst den Arm unter deinerSchärpe. Mach nur wenige Gesten, beweg dich sowenig wie möglich, gestikuliere nicht, und alleswird gut gehn.» Aber dann, auf der Bühne, nimmtdtis Lied sie mit; Edith Piaf hebt beide Arme, dieSchärpe rutscht weg. Niemand lacht. Im Saat istes still, lange; dann kommt riesiger Beifall. DerRuhm ist da.

Louis Lcplec hatte sie damals den vornehmenLeuten mit wahren und auch schlauen Worten vor-gestellt. «Vor ein paar Tagen», so sagte er, «gingich durch die Rue Troyon. Auf dem Trottoir snngein Mädchen, ein Mädchen mit bleichem, leidendemGesicht. Seine Stimme hat mich ins Herz getroffen.

Sie hat mich bewegt; sie hat mich überwältigt.Dieses Pariser Kind wollte ich Ihnen vorführen.E in Abendkleid hat sie nicht. Wenn sie weiß, wieman sich vor dem Publikum verneigt ja, ichhabe es ihr gestern erst beigebracht. Sie wird nunvor Ihnen auftreten, ganz so, wie sio war, als ichsio dort auf der Straße traf: ohne Schminke, ohnoStrümpfe, in einer billigen Jupe... Voici la

möme Piaf.» In all den Jahren, da Edith Piafan berühmten Orten in aller Welt auftrat, fastimmer in dem einfachen schwarzen Kleid («meineUniform» nannte sie es): da war insgeheim auchdas Mädchen dabei, welches kein Abendkleid hatund nicht weiß, wie man sich verneigt.

Ich sehe sie vor mir: schmal, mit einem Gesicht,welches vom Leben selten gestreichelt, oft ge-schlagen worden ist. Sie sang das zärtlichste Lie-ben, die Trauer, den Trotz mit einer Stimme soscharf und klirrend, als müßte dns Lied nebenschepperndem Blech vor Männern mit rußigenGesichtern, bestellen können. Die Welt und dasLeben in ihr: es war zu streng, als daß man dar-über schön hätte singen dürfen. In nichts ist EdithPiaf dem Publikum entgegengekommen. Sielächelte nicht nebenaus, fischte keine Blicke. Siewar mit ihren Liedern ganz allem ilir könnt'sannehmen oder abweisen, sagte das Gesicht, inwelchem die Augen nur wenig offen waren, so, alsseien sie verweint. Es war eine wunderbare GabeEdith Piafs, auch beim Wiederholen so zu singen,als sänge sie zum erstenmal. Wenn sie aber sichselber plötzlich zuschaute und sah, was sie tat undwie sie es tat, dann gab sie das Lied auf. Ihr wildeszartes Herz ließ die Routine nicht zu.

Als kleines Kind war sie erblindet. «Par pitie,rendez-moi la vue!» betete sie am Altar der heili-gen Therese in Lisieux. Zehn Tage darauf hattesio ihr Augenlicht wieder. Dankbar lebte sie ihrLeben. «Ich bin ein gläubiger Mensch», sagte sie,«der Tod schreckt mich nicht.»

(Die Lcbcnscrinncrungcn von Edith Piaf sindunter dem Titel «Au bal de tu chance» im VerlagJchcbcr, Ports, erschienen.)

Neue Zürcher Zeitung vom 19.10.1963