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1 Privatdozent Dr. phil. Stefan Koslowski Zweibrückener-Str. 70 30559 Hannover Hegel als Theoretiker der bürgerlichen Gesellschaft und des modernen Staates

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Privatdozent Dr. phil. Stefan Koslowski Zweibrückener-Str. 70 30559 Hannover Hegel als Theoretiker der bürgerlichen Gesellschaft und des modernen Staates

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0. Einleitung.

„Was vernunftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig. In dieser Überzeugung steht jedes unbefangene Bewusstsein wie die Philosophie, und hiervon geht diese ebenso in Betrachtung des geistigen Universums aus als des natürlichen.“1 Diese Sätze aus der „Vorrede“ zu Hegels Rechtsphilosophie begründeten seinen Ruf als Urheber totalitärer Staatstheorien. Folgerichtig konnte 120 Jahre nach Hegels Tod Karl Popper mit der Person und dem Werk Hegels schnell fertig werden: „Hegelianism is the renaissance of tribalism“.2 Im Gegensatz zu Poppers Vorurteil betont Hegel an mehreren Stellen der Rechts- und Geschichtsphilosophie, dass die Menschen in der Moderne „...eine eigene Ansicht <fordern>, ein eigenes Wollen und Gewissen... Der Mensch in der modernen Welt <will> in seiner Innerlichkeit geehrt sein... Der Staat ist die alleinige Bedingung der Erreichung des besonderen Zwecks und Wohls“.3 Diese Äußerung allein reicht allerdings nicht aus, das Befremden zu beseitigen, das sich bei Sätzen wie diesem einstellt: „Man muß den Staat wie ein irdisch-Göttliches verehren und einsehen, dass, wenn es schwer ist, die Natur zu begreifen, es noch unendlich herber ist, den Staat zu fassen.“4 Kurz: Nicht nur der Inhalt, auch Hegels Sprache haben dazu beigetragen, dass Hegels „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ bereits bei ihrem Erscheinen umstritten waren. Daran hat sich bis heute wenig geändert. Der harschen Ablehnung Poppers stehen nicht minder große Bewunderer gegenüber, Joachim Ritter und Shlomo Avineri sehen in der Hegelschen Rechtsphilosophie den ersten großen Versuch, den Prinzipien des modernen Rechtsstaats: die Rechtsgleichheit und der Schutz des Privateigentums, wie den Strukturproblemen der bürgerlichen Gesellschaft, der Pauperismus und die Proletarisierung, gleichermaßen gerecht zu werden. Sah Popper in Hegel sozusagen den „Sündenfall“ des Deutschen Idealismus, wollen Ritter und Avineri in ihm eine Art Vorläufer der modernen Geschichts- und Sozialwissenschaften erkennen. Kurz: Die Sache ist komplex, und es muß etwas in der Hegelschen Philosophie liegen, was im zu recht den schlechten Ruf eingetragen hat: 1. Grundlagen der Hegelschen Sozialphilosophie. Hegel war ähnlich wie seine unmittelbaren Vorgänger Reinhold und Fichte, davon überzeugt, auf der Kantischen Philosophie aufbauen zu müssen, d. h. vom Subjekt auszugehen. Im Gegensatz zu Fichte sah er aber die vielfältigen Grenzen und objektiven Voraussetzungen der individuellen Freiheit. Da er – ähnlich wie Fichte – zudem ein philosophisches System schaffen wolllte, stellte er die Rechtsphilosophie quasi als dessen „objektiven Teil “, d. h. als Teil eines allumfassenden Ganzen dar. Was heißt das? In seiner „Wissenschaft der Logik“ gibt Hegel eine Grundlage seines Systems, seiner Philosophie; Rechts- und Geschichtsphilosophie haben folglich die Aufgabe, deren weitere Ausarbeitung in der Welt des „endlichen Geistes“, das sind wir Menschen, zu übernehmen. In seiner Rechtsphilosophie setzt Hegel „...die traditionelle metaphysische Theorie unmittelbar als diese mit der Erkenntnis der Zeit und der Gegenwart gleich. Die Philosophie als

1 Hegel, G. W. F.: „Grundlinien der Philosophie des Rechts“, in: Werke in zwanzig Bänden, hrsg. Moldenhauer, Eva und Michel, Karl Markus, Bd. 7, Frankfurt a. M. 1970, S. 24f. 2 Popper, Karl: „The open society and ist enemies, vol. 2, 5. ed., 1968, p. 30. 3 Hegel, G. W. F.: „Rechtsphilosophie“, § 261 Zusatz ( S. 410). 4 Ebd., § 272 Zusatz ( S.

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Erkenntnis des Seins ist zugleich ihre Zeit in Gedanken erfasst“.5 Nichts anderes geschieht in der Philosophie der Geschichte und in der Geschichte der Philosophie. In der „Rechtsphilosophie“ versucht Hegel die subjektive Freiheit mit der substantiellen Sittlichkeit der in Gesellschaft und Staat dem einzelnen entgegentretenden Gemeinschaft zu vermitteln. Die Philosophie der Geschichte zeigt dagegen den „Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit – ein Fortschritt den wir in seiner Notwendigkeit zu erkennen haben“,6 wozu sich die Geschichte der Philosophie komplementär verhält: „So ist die Philosophie System in der Entwicklung, so ist es auch die Geschichte der Philosophie“.7 Doch trotz des „Fortschritts im Bewusstsein der Freiheit“, so Hegel, ist „...die Weltgeschichte ...nicht der Boden des Glücks. Die Perioden des Glücks sind leere Blätter in ihr“.8 Weder kann – wie wir ja bereits gehört haben - die Philosophie die Geschichte, noch die Geschichte die Philosophie jemals zu einem definitiven Abschluss bringen. So erscheint „Der Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit“ zunächst als Leerformel, als ein Selbstbetrug des Philosophen, wenn „...wir die Geschichte als diese Schlachtbank betrachten, auf welcher das Glück der Völker, die Weisheit der Staaten und die Tugend der Individuen zum Opfer gebracht worden,...“.9 „... Jede Zeit hat so eigentümliche Umstände, ist ein so individueller Zustand, dass in ihm aus ihm selbst entschieden werden muß und allein entschieden werden kann“.10 Gerade die letztere Bemerkung zwingt zu zwei Einsichten im Umgang mit Hegels Philosophie:

1. Man muß sich damit abfinden, dass „Fortschritt“ im Hegelschen Sinne niemals eine inhaltliche Vorgabe in Richtung auf einen wie auch immer gearteten material Endzustandes bedeutet.

2. Der Vorwurf, Hegels System zwinge den Menschen in ein Entwicklungsgesetz und opfere dem Wohl einer unbekannten Zukunft die Freiheit des Einzelnen, liegt neben der Sache, denn Hegel sieht ja, dass „...im Gedränge der Weltbegebenheiten...nicht ein allgemeiner Grundsatz <hilft>, nicht das Erinnern an ähnliche Verhältnisse, denn so etwas wie eine fahle Erinnerung hat keine Kraft gegen die Lebendigkeit und Freiheit der Gegenwart“.11

Trotz dieser Einsicht betrieb Hegel praktische Philosophie und verstand sich wie nahezu alle Zeitgenossen als ein Aufklärer, der den Stab da aufnahm, wo Kant ihn liegen gelassen hatte: nämlich in Frankreich bei den Problemen der seit 1789 herrschenden egalitären Erwerbsgesellschaft, in Deutschland bei der aus dem immer noch herrschenden Feudalrecht resultierenden Entmündigung des Bürgertums. Die Dinge waren – wie gesagt – komplex. Es ist deshalb nicht abwegig, Hegels Reflexionen zur Geschichtsschreibung zu berücksichtigen; verdanken wir ihnen doch methodische Einsichten, die noch im Werk Max Webers nachklingen:

5 Ritter, Joachim: „Hegel und die französische Revolution“, in: ders.:“Metaphysik und Politik“, Frankfurt a. M. 1977, S. (189). 6 Hegel, G. W. F.: „Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte“, (Geschichtsphilosophie) in: ders.: Werke, a. a. O., Bd. 12, S. 32. 7 Hegel, G. W. F. : „Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I“, (Philosophiegeschichte) in: ders.: Werke, a. a. O., Bd. 18, S.47. 8 Hegel, G. W. F.: Geschichtsphilosophie, a. a. O., S. 42. 9 Ebd., S. 35. 10 Ebd., S. 17. 11 Ebd.

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2. Vernunft – Idee – Idealtypus?

„Die Natur ist darunter gebunden, die Vernunft nur mit Notwendigkeit zu vollbringen; aber das Reich des Geistes ist das Reich der Freiheit, - alles, was das menschliche Leben zusammenhält, was Wert hat und gilt, ist geistiger Natur; und dies Reich des Geistes existiert allein durch das Bewusstsein von Wahrheit und Recht, durch das Erfassen der Idee“.12 Die Vernunft beinhaltet für Hegel viel mehr als Kant ihr zusprach: Sie ist kein Vermögen, sie ist „...der Geist, der allem Bewusstsein zuruft: seid für euch selbst, was ihr alle an euch selbst seid, - vernünftig“.13 Das heißt, sie umfasst eine ganze Welt, nämlich, wie es dann Lorenz von Stein formulieren wird: „...eine zweite, nicht minder große Schöpfung in dem Daseienden..., als die erste gewesen sein mag. Denn die Feder mit der ich schreibe, ist mindestens ebenso wunderbar wie die Eisenatome, aus denen sie besteht; wir finden das Eisen in allen Sternen des Himmels, und doch ist die Gesammtheit aller dieser Sterne nicht fähig eine Feder zu erzeugen! So erfasst der geistige Faktor den natürlichen...,... er unterwirft ihn in seiner Gestalt und Kraft seiner eigenen Selbstbestimmung.“14 Der Geist ist es, dank dem der Mensch sich selbst Zwecke setzen kann, die nicht naturbedingt sind, sondern allein seiner Vernunft entspringen. Stein, der von den revolutionären Theorien im Vormärz geprägt ist, spricht dann von dem persönlichen, freien und dem natürlichen, unfreien Element, aus deren Aufeinandertreffen und Zusammenspiel die vielfältigen Spannungen in Gesellschaft und Staat hervorgehen. Er gehört schon zu einer Epoche, die für Hegel noch „hinter dem Horizont“ lag. Hegel reflektiert und lebt den Kampf des Bildungsbürgertums gegen den Feudalstaat und sein Privilegienrecht. Ein Rechtssystem, das für das Bürgertum die Teilhabe an der politischen Macht und damit auch gestalterische Aufgaben in Recht und Politik ausschloß. Heute, sagt Hegel, weiß sich „...das Gewissen ...selbst als das Denken, und dass dieses mein Denken das allein für mich Verpflichtende ist“.15 Doch auf dieses Sich-Autonom-Setzen des Individuums erkennt Hegel, kann man keine Gesellschaft, geschweige denn einen Staat bauen. „Man kann von der Pflicht sehr erhaben sprechen, und dieses Reden stellt den Menschen höher und macht sein Herz weit; aber wenn es zu keiner Bestimmung fortgeht, wird es zuletzt langweilig: der Geist fordert seine Besonderheit, zu der er berechtigt ist“.16 Das Denken, wissen wir aus der Phänomenologie des Geistes, bleibt nicht im unverbindlich-allgemeinen stehen, es muss sich im Konkreten entfalten, soll die Freiheit real werden. Die selbst bestimmten Zwecksetzungen bleiben allesamt im „Reich des Geistes“, der Vernunft, weil sie nie in den Dingen selbst liegen, sondern allein von uns gedacht werden. Nicht mehr die Dinge bestimmen das Denken sondern das Denken bestimmt die Dinge. Treten neue Erscheinungen in unseren Bewusstseinshorizont, werden sie aufgrund eines bestimmten Vorverständnisses unter bestimmte Kategorien subsumiert,, mit dem Bekannten verglichen, und auf den Begriff gebracht. Erst wenn das vormals Unbestimmte zu „meiner Sache“, Bestandteil meines Denkens geworden ist, gewinnt es Wirklichkeit für mich. Ich kann es dann selbstgewählten Zwecken zuordnen und stehe dem zuvor Unbekannten nicht mehr hilflos gegenüber.17 12 Hegel, G. W. F.: „Antrittsvorlesung in Berlin vom 22. 10. 1818, in: G. W. F. Hegel: „Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse“ (1830) III, Anhang, in: Werke, a. a. O., Bd. 10, S. 404. 13 Hegel, G. W. F.: „Die Phänomenologie des Geistes“ (Phänomenologie), in: Werke, a. a. O., Bd. 3, S. 398. 14 Stein, Lorenz v.: „Die Verwaltungslehre, Theil 5:Das Bildungswesen. Erster Theil. Das System und die Geschichte des Bildungswesens der alten Welt (Bildungswesen I), 2. Aufl., Stuttgart 1883 (Scientia Aalen 1975), S. 17. 15 Hegel, G. W. F.: „Rechtsphilosophie“, a. a. O., § 136 Zusatz (S. 254). 16 Ebd. 17Vgl. Hegel, G. W. F.: „Rechtsphilosophie“, a. a. O., §187 (S. 344); „Der Vernunftzweck ist deswegen..., dass die Natureinfalt, d. i. teils die passive Selbstlosigkeit, teils die Roheit des Wissens und Willens,..., weggearbeitet werde und die Vernünftigkeit, der sie fähig ist, erhalte, nämlich die Form der Allgemeinheit, die Verständigkeit.

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Wie Kant und Fichte hält Hegel an einem Bildungsideal fest, das den Menschen aus der Abhängigkeit von seiner Umwelt und der Tradition ständischer Zwänge befreien soll. „Die Bildung ist daher in ihrer absoluten Bestimmung die Befreiung und die Arbeit der höheren Befreiung, nämlich der absolute Durchgangspunkt zu der nicht mehr unmittelbaren, natürlichen, sondern geistigen, ebenso zur Gestalt der Allgemeinheit erhobenen unendlich subjektiven Substantialität der Sittlichkeit“.18 Die unendlich subjektive Substantialität der Sittlichkeit äußert sich darin, dass die selbst geschaffene Realität an das eigene Denken zurückgebunden bleibt, - eben als Produkt der an und für sich freien Subjektivität dieser nichts anhaben kann. Demnach besteht der Inhalt der Freiheit für den Einzelnen in seiner Fähigkeit zu abstrahieren, d. h. die ihn umgebende Welt auf bestimmte selbst gesetzte, nicht in den einzelnen Erscheinungen liegende abstrakt-allgemeine Prinzipien zurückzuführen. Deshalb, so Hegel, ist die „...Befreiung im Subjekt die harte Arbeit gegen die bloße natürliche Subjektivität des Benehmens, gegen die Unmittelbarkeit der Begierde sowie gegen die subjektive Eitelkeit der Empfindung und die Willkür des Beliebens. (...) . Bildung also ist Glättung der Besonderheit, dass sie sich nach der Natur der Sache benimmt“.19 „Die Natur der Sache“ besteht in ihrer Definition durch das abstrahierende Denken. Das Verständnis von Freiheit als Bindung an selbst gewählte Zwecke führt Hegel wie Hobbes, Kant und Fichte dazu, den Naturzustand als einen „...Zustand absoluten und durchgängigen Unrechts...“20 zu geißeln, weil in ihm nur Willkür und Begierden herrschten. Von Kant, Fichte und Hegel zieht sich über Lorenz von Stein bis zu Wilhelm Dilthey und Max Weber die Einsicht in den unmittelbaren Zusammenhang von Arbeit, Bildung und einer rationalen, regelgeleiteten Lebensführung. Frei ist der Mensch nur, insofern er vernünftig ist. „Spezifische Unberechenbarkeiten,“ schreibt Max Weber, „...gleichgroß – aber nicht größer – wie diejenige <blinder Naturgewalten> ist das Privileg des – Verrückten. Mit dem höchsten Grad empirischen ‚Freiheitsgefühls’ dagegen begleiten wir umgekehrt gerade diejenigen Handlungen, welche wir rational, d. h. unter Abwesenheit physischen und psychischen ‚Zwanges’, leidenschaftlicher ‚Affekte’ und ‚zufälliger’ Trübungen der Klarheit des Urteils vollzogen zu haben uns bewusst sind, in denen wir einen klar bewussten ‚Zweck’ durch seine, nach Maßgabe unserer Kenntnis, d.h. nach Erfahrungsregeln , adäquaten ‚Mittel’ verfolgen“.21 Ob der rationale Kalkül des Wirtschaftswissenschaftlers oder das Verstehen des Historikers und Kulturwissenschaftlers: Beider Logik baut auf ein Vorverständnis auf, das sie letztlich Hegels Historismus22 verdanken: Hegel stand wie jeder Historiker am jeweiligen Endpunkt der Geschichte, als er seine Vorlesungen über „Die Vernunft in der Geschichte“ hielt; das bedeutet, er war zu zweierlei gezwungen. Zum einen kann der „Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit“ nur als „ex post ante Analyse“ dargestellt werden: Aus dem bekannten Ergebnis des Geschichtsverlaufes werden der Vergangenheit Typisierungen unterlegt, deren begriffliche Konstruktionen genau das bereits bekannte Ergebnis erklären können. Zum anderen musste Hegel, weil er offensichtlich klug genug war, „...um in seiner Umgebung vieles zu sehen, was in der Tat

Auf diese Weise nur ist der Geist in dieser Äußerlichkeit <d. i. die Entfaltung des Denkens in der Welt> als solcher einheimisch und bei sich“. 18 Ebd., S. 344f. 19 Hegel, G, W. F.: „Rechtsphilosophie“, a. a. O., § 187 (S. 345). Hegel fährt ebd. Fort: „Daß sie diese harte Arbeit ist, macht einen Teil der Ungunst aus, der auf sie fällt. Durch diese Arbeit der Bildung ist es aber, dass der subjektive Wille selbst in sich die Objektivität gewinnt, in der er seinerseits allein würdig und fähig ist, die Wirklichkeit der Idee zu sein. – Ebenso macht zugleich diese Form der Allgemeinheit, zu der sich die Besonderheit verarbeitet und heraufgebildet hat, die Verständigkeit, dass die Besonderheit zum wahrhaften Fürsichsein der Einzelheit wird und, indem sie der Allgemeinheit den erfüllenden Inhalt und ihre unendliche Selbstbestimmung gibt, selbst in der Sittlichkeit als unendlich fürsichseiende, freie Subjektivität ist. Dies ist der Standpunkt, der die Bildung als immanentes Moment des Absoluten und ihren unendlichen Wert erweist“. 20 Hegel, G. W. F.: „Geschichtsphilosophie“, a. a. O., S. 129 21 Weber, Max: „Kritische Studien auf dem Gebiet der kulturwissenschaftlichen Logik“, in: Weber, Max: „Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre“ (WL.), hrsg. Von Winckelmann, Johannes, 4. Aufl., Tübingen 1973, S. 215-290 (226). 22 Vgl. Scholtz, G.: 2Historismus2, in: „Historisches Wörterbuch der Philosophie“, Hrsg.: Ritter, Joachim und Gründer, Karlfried, Bd. 3, Basel/Stuttgart 1974, Sp. 1141 – 1147 (Sp. 1141f).

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nicht so ist, wie es sein soll...“23 den Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit als Entfaltung der Idee aufzeigen. – Einer Idee, die es nur mit einer Wirklichkeit zu tun hat, „...welche nicht so ohnmächtig ist, um nur zu sollen und nicht wirklich zu sein, und damit mit einer Wirklichkeit, an welcher jene Gegenstände, Einrichtungen, Zustände usf. nur die oberflächliche Außenseite sind“.24 Der Fortschritt erscheint im Spiegel der Idee bedeutet, dass die Willkürherrschaft früherer Zeiten vom modernen Verfassungsstaat mit seinen allgemeinen und allgemein geltenden Gesetzen abgelöst wird. „...die Überzeugung ist allgemein geworden...“, schreibt Hegel in der Schrift Beurteilung der Verhandlungen in der Versammlung der Landstände des Königreiches Württemberg im Jahre 1815 und 1816 (Ständeschrift)25, “...dass aus Zufälligkeiten weder die Sache noch die Charaktere in ihrer Gediegenheit hervorgehen und zu erkennen sind“;26 und weiter: „...bei Einrichtungen des Staates,..., darf nicht auf das Zufällige gerechnet werden, sondern es kann allein die Frage danach sein, was die Natur der Sache,..., mit sich bringt“.27 Aus dem Vorausgehenden ist ersichtlich, dass Hegel den Inhalt der Vernunft von den konkreten Erscheinungen trennt, ihm also nur im Denken Realität zuschreibt. Dies so, dass man sein Leben dem einmal erfassten Vernunftzweck unterordnet und regelgeleitet handelt. „Die Autorität der sittlichen Gesetze ist unendlich höher (als die Naturnotwendigkeit), weil die Naturdinge nur auf die ganz äußerliche und vereinzelte Weise die Vernünftigkeit darstellen und sie unter der Gestalt der Zufälligkeit verbergen“.28 Der Fortschritt in der Geschichte besteht somit in einer „rationalen“ Durchdringung der Lebensführung, d. h. in der Fähigkeit, das eigene Leben einem allgemeinen Grundsatz zu unterwerfen.29 Die Zweckrationalität erscheint als Vision, nicht als Problem. „Diese Anwendung des Prinzips auf die Weltlichkeit, die Durchbildung und Durchdringung des weltlichen Zustandes durch dasselbe ist der lange Verlauf, welcher die Geschichte selbst ausmacht“.30 Wird die Wirklichkeit als Konstrukt des Denkens, als ausgerichtet an allgemeinen Regeln gefasst, kann man sie auch mit abstrakten Begriffen erkennen und ihnen konkrete Erscheinungen zuordnen: „Social phenomena are not viewed empirically as going entities, but selectively, through logical, i. e. dialectical distinctions, ... . This spezial sense of methodology as ideal typification should be cept in mind when examining Hegel“.31 Hegel steht – wie gesagt – am Beginn einer „sozialwissenschaftlichen Wende“ der Philosophie: Unabhängig von den Implikationen seines Systems registriert der wache Zeitzeuge den sich überstürzenden Wechsel politischer und gesellschaftlicher Ordnungen. Das Mittel den damit verbundenen vielfältigen Veränderungen gerecht zu werden, ist sein „Universalinstrument“, die Vernunft in ihrer höchsten Vollendung, dem Begriff. Hegel verstand seine Typisierungen nicht nur als heuristisches Hilfsmittel, sondern als Explikationen des „wahren und wirklichen“ Seins. Er hat seine Begriffe zwar nicht als ewig unvergängliche Kategorien gefasst, sondern ihrerseits als vermittelnde Glieder zwischen dem bei sich bleibenden Absoluten und seinen vergänglichen Erscheinungen konzipiert, aber das verdeckt nur eines der Hauptprobleme im Umgang mit seiner Philosophie: Wie kann eine Theorie, die nur abstrakte Strukturen als wahrhaft Seiendes gelten lässt, gegenüber den wirklichen Erscheinungen abgegrenzt werden, wenn diese normativ

23 Hegel, G. W. F.: „Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften I, in: Wewrke, a. a. O., Bd. 8, § 6 (S. 49). 24 Ebd. 25 Hegel, G. W. F.: Beurteilung der Verhandlungen in der Versammlung der Landstände des Königreiches Württemberg im Jahre 1815 und 1816, in: Nürnberger und Heidelberger Schriften, in: Werke, a. a. O., Bd. 4, S. 462-597 (463). 26 Ebd., S. 463. 27 Ebd., S. 475. 28 Hegel, G. W. F. : „Rechtsphilosophie“, a. a. O., § 146 (S. 295). 29 Vgl. zum Rationalitätsbegriff: Weber, Max: „Wirtschaft und Gesellschaft, 5. Aufl. (Studienausgabe), Tübingen 1980, Teil I Kap. 1 § 2 (S. 12f). 30 Hegel, G. W. F.: „Geschichtsphilosophie“, a. a. O., S.32. 31 Horowitz, I. L.: „The Hegelian Concept of political Freedom“, in: „Journal of Politics“, Vol. 26, Jacksonville, Florida 1966, p. 3; vgl. Weil, Eric. Et alt.: „Hegel et la Philosophie du droit“, Paris 1979, p. 6.

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vorherbestimmt sind und zugleich empirisch überprüfbar sein sollen? Auf den ersten Blick scheint es zwischen Hegel und Weber keinerlei Übereinstimmung zu geben. Hegel wollte, dass die Idee die Wirklichkeit regiert, und Max Weber blieb zeitlebens davon überzeugt, „...dass es niemals Aufgabe einer Erfahrungswissenschaft sein kann, bindende Normen und Ideale zu ermitteln, um daraus für die Praxis Rezepte ableiten zu können“.32 Aber zwischen 1903 und 1906, in der Auseinandersetzung mit Roscher und Knies, steht Hegels Geist unverkennbar im Hintergrund von Webers methodologischen Überlegungen: „...Roscher...“, heißt es hier, „... bildet zu Hegel weniger einen Gegensatz als eine Rückbildung. Die Hegelsche Metaphysik und die Herrschaft der Spekulation über die Geschichte ist bei ihm verschwunden, ihre glänzenden metaphysischen Konstruktionen sind ersetzt durch eine ziemlich primitive Form schlichter religiöser Gläubigkeit... Wenn es Roscher nicht gelang, seinen Weg von Hegel fort bis zu Ende zu verfolgen, so ist daran im Wesentlichen der Umstand schuld, dass er das logische Problem der Beziehungen zwischen Begriff und Begriffenem nicht so in seiner methodischen Tragweite erkannt hatte wie Hegel“.33 Für den Nationalökonomen Max Weber ist die idealistische Philosophie Teil einer Vergangenheit, die ihm zwar nicht gänzlich fremd geworden ist, die er aber als naiv, wirklichkeitsfremd wahrnimmt. Statt die logischen Probleme der Nationalökonomie wissenschaftlich anzugehen, hätten Roscher und Knies, neben Bruno Hildebrandt die Hauptvertreter der „älteren“ Historischen Schule der Nationalökonomie, die Volkswirtschaftslehre mit Hegels „Panlogismus“ infiziert und von der rechtwen Bahn abgebracht“.34 Hinter Webers Kritik steht unverkennbar das Bemühen, gegenüber seinem Heidelberger Lehrer, eben Carl Knies, eine eigene Position zu gewinnen: „Allein der metaphysische oder logisch ausgedrückt: der emanatistische Charakter der Kniesschen Voraussetzungen: die Auffassung der ‚Einheit’ des Individuums als einer real, soztusagen biologisch wirkenden ‚Kraft’, führte...jene rationalistischen Konsequenzen wieder in die Erörterung hinein, welche dem Epigonentum des Hegelschen Panlogismus als Erbe...anhaften blieben. Dahin gehört vor allem die der emanatistischen Logik in ihrem Dekadenzstadium so charakteristische Ineinanderschiebung von realem Kollektivum und Gattungsbegriff ... Dazu tritt noch ein weiteres: die Identifikation von ‚Kausalität’ und ‚Gesetzlichkeit’, welche gleichfalls ein legitimes Kind der panlogistischen Entwicklungsdialektik und nur auf ihrem Boden konsequent durchführbar ist: Zur Erklärung dient eben der Umstand, dass hier unter ‚Gesetzlichkeit’ nur das durchgängige Beherrschtsein der realen Entwicklung der Menschengeschichte durch jene einheitliche, hinter ihr stehende ‚Triebkraft’ zu verstehen ist, aus welcher alles einzelne als ihre Aeußerungsform emaniert“.35 Wie sie sehen, beeinflusste der lange Arm Hegels auch noch die methodologischen Auseinandersetzungen der Nationalökonomen zu Beginn des 20. Jahrhunderts, in Sonderheit die zwischen der „Österreichischen“ und der „jüngeren „Historischen Schule der Nationalökonomie“, bzw. Max Webers Position im sog. „Werturteilsstreit“. Das Problem der Objektivität und Allgemeingültigkeit sozialwissenschaftlicher Erkenntnis mündet bei Weber ähnlich wie bei Hegel, jedoch befreit von dessen metaphysischen Implikationen, in die Erkenntnis, dass nicht die Dinge, sondern die Fragen der Menschen den Forschungsgegenstand erzeugen. Beide stimmen darin überein, dass wir „...zum Zweck der kausalen Zurechnung empirischer Vorgänge...eben rationaler,... logischer Konstruktionen bedürfen, welche auf die Frage antworten: wie bei absoluter rationaler, empirischer und logischer Richtigkeit und Widerspruchslosigkeit ein Sachverhalt,..., aussehen würde“.36 32 Weber, Max, „Zur ‚Objektivität’ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Ewrkenntnis“, in: WL, a. a. O.,S. 146-214 (149). 33 Weber, Max: „Roscher und Knies und die logischen Probleme der historischen Nationalökonomie“, in: WL., S. 1-145 (41f), 34 Nach Hennis, Wilhelm: „Max Webers Wissenschaft vom Menschen“, Tübingen 1996, S. 119 hat Weber ähnlich wie Carl Menger die Gefahr gesehen, „...dass die Historische Schule mit ihrer kritiklosen Sammlung von Fakten scharfem, kritisch-distanziertem Denken eher im Wege stehen könnte. Dass es auf den Bahnen der Historischen Schule jemals zur Gewinnung von ‚Gesetzen’ Der Ökonomie kommen könne, hielt er für eine Schimäre, für ein wissenschaftlich ganz abwegiges Erkenntnisziel. Im Interesse klaren Denkens und einer klaren Positionsnahme im Strom der Zeit waren solche Vorstellungen entschieden zu bekämpfen“. 35 Weber, Max: „Roscher und Knies...“, a. a. O., S. 144f. 36 Weber, Max: „Der Sinn der ‚Wertfreiheit’ der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften“, in: WL., a. a. O., S. 489-540 (534f.).

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Nach diesem Ausflug in den philosophischen Grenzbereich der ökonomischen Theorie und in die Vorgeschichte des „Methodenstreits“ komme ich jetzt zu Hegels Staats- und Gesellschaftstheorie im engeren Sinne: 3. Staat und Gesellschaft in Hegels Rechtsphilosophie. 3. 1. Hegel und die Französische Revolution. Die „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ bechäftigen sich mit einer Wirklichkeit, in der vieles, was Kant noch forderte, bereits Realität geworden ist. Die feudale Welt mit ihren persönlichen Herrschaftsverhältnissen, den Eigentums- und Erwerbsschranken, sowie der dadurch bedingten Willkür – im Absolutismus bereits innerlich zersetzt – war für Hegel mit der Französischen Revolution endgültig zusammengebrochen. Noch in der Einleitung seiner rechtsphilosophischen Vorlesung aus dem WS 1819/20 folgerte Hegel aus der Tatsache, dass mit und durch die Französische Revolution die Vernunft begonnen habe, die Welt zu regieren: „Was an der Zeit ist im innern Geiste, das geschieht gewiß und notwendig. Verfassung ist die Sache der Einrichtung dies innern Geistes. Er ist der Boden; keine Macht im Himmel und auf Erden gegen das Recht des Geistes,,, Was vernünftig ist, wird wirklich, und das Wirkliche wird vernünftig“.37 Aus diesen Zeilen spricht ein anderer Hegel: Nicht der preußische Staatsphilosoph par excellance, sondern der Bewunderer Voltaires und Diderots kommt hier zu Wort; ein Bewunderer, für den die Revolution das welthistorische Ereignis schlechthin war und bleibt. Sie war es, weil seitdem ein neues Menschenbild der Politik zugrunde liegt. Jetzt sei „...die Forderung der Freiheit,..., dass das Subjekt sich darin wisse und das seinige dabei tue, denn sein ist das Interesse, dass die Sache werde“.38 Doch bei aller Bewunderung verschloss Hegel nicht die Augen vor den Gräueln einer Revolution, die ungeachtet ihrer großen Verdienste eine meist „...fürchterliche Wirklichkeit...“39 hervorgebracht habe. In der „Phänomenologie des Geistes“ hat Hegel den Verlauf und Umschlag der Revolution in die Schreckensherrschaft Robespierres unter der Überschrift „Die absolute Freiheit und der Schrecken“40 idealtypisch zusammengefasst. In der Revolution habe sich zuerst dasn absolutes Freiheitsbewusstsein durchgesetzt; d. h. es realisierte sich ein Selbstbewusstsein, das alles als seinen Willen, seinen Gedanken begreift und nichts gelten ließ, außer der eigenen Vorstellung von der Realität. Diese von aller Wirklichkeit gelöste absolute Freiheit „...erhebt sich auf den Thron der Welt, ohne das irgendeine Macht ihr Widerstand zu leisten vermöchte. Denn... ihr ganzes System <ist> zusammengefallen, nachdem das einzelne Bewusstsein den Gegenstand so erfasst, dass

37 Hegel, G. W. F.: „Philosophie des Rechts. Die Vorlesung von 1819/20 in einer Nachschrift“, Hrsg.: Henrich, Dieter, Frankfurt a. M. 1983, S. 50f 38 Hegel, G. W. F.: „Geschichtsphilosophie“, a. a. O., S. 529. Wenn man diese Zeilen sieht, wird H. Heines Bekenntnis zum „revolutionären“ Hegel verständlich: „Wir haben jetzt Mönche des Atheismus, die Herrn von Voltaire lebendig braten würden, weil er ein versteckter Deist sei. Ich muß gestehen, diese Musik gefällt mir nicht, aber sie erschreckt mich auch nicht, denn ich habe hinter dem Maestro gestanden, als er sie komponierte, freilich in sehr undeutlichen und verschnörkelten Zeichen, damit nicht jeder sie entziffere – ich sah manchmal, wie er sich ängstlich umschaute, aus Furcht, man verstünde ihn. Er liebte mich sehr, denn er war sicher, dass ich ihn nicht v erriet, ich hielt ihn damals sogar für servil. Als ich einst unmutig war über das Wort: ‚Alles, was ist, ist vernünftig’, lächelte er sonderbar und bemerkte, ‚Es könnte auch heißen: Alles, was vernünftig ist, muß sein’. Er sah hastig um sich, beruhigte sich aber bald... Später erst verstand ich solche Redensarten. So verstand ich auch erst spät, warum er in der Philosophie der Geschichte behauptet hatte, das Christentum sei schon deshalb ein Fortschritt, weil es einen Gott lehre, der gestorben, während die heidnischen Götter von keinem Tode etwas wussten. Welch ein Fortschritt ist es also, wenn der Gott gar nicht existiert hat!“ (Heine, H.: „Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland (1834)“, in: Sämtliche Werke, Bd. 7, Leipzig o. Jg., S. 116f), 39 Hegel, G. W. F.: „Ständeschrift“, a. a. O., S. 465, vgl. ders.: „Geschichtsphilosophie“, S. 534. 40 Hegel, G. W. F.: „Die Phänomenologie des Geistes, a. a. O., S. 431-441.

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er kein anderes Wesen habe als das Selbstbewusstsein selbst,... In dieser absoluten Freiheit sind also alle Stände,..., getilgt; das einzelne Bewusstsein,..., hat seine Schranke aufgehoben; sein Zweck ist der allgemeine Zweck, seine Sprache das allgemeine Gesetz, sein Werk das allgemeine Werk“.41 Kurz: Dank der Revolution sei der Mensch sich seiner selbst als Urheber der Geschichte bewusst geworden. Die Menschen hätten die soziale Welt als ihre Schöpfung erkannt. Doch gerade das unmittelbare Sich-Autonom-Setzen der Individuen, erkennt Hegel, ist der Grund des Scheiterns der Revolution und das Motiv zur Fortbildung der Rechtsphilosophie: Der sich autonom setzende Einzelne ist nicht fähig zur Vergemeinschaftung. In ihm sei nur „...die Bewegung des allgemeinen Selbstbewusstseins in sich selbst vorhanden. ... Das ...einzelne Bewusstsein ist sich seiner... als allgemeinen Willens bewusst;...; in Tätigkeit übergehend und Gegenständlichkeit erschaffend, macht es also nichts Einzelnes, sondern nur Gesetzhe und Staatsaktionen. ... Es folgt daraus, dass es zu keinem positiven... Werke kommen kann“.42 Der sich allgemein setzende einzelne kann keine Institutionen schaffen, weil diese stets nur in Form eines Besonderen wirklich sind. Dies zwingt die Einzelnen dazu, von ihrem persönlichen Interesse zu abstrahieren und sich selbst ein Konkret-Allgemeinen gegenüber zu setzen. Das einzige Allgemeine, was die Einzelnen als Individuen hervorbringen können, ist ihr allgemein guter Wille. Ohne Institutionen sind daher weder die Gesellschaft noch der Staat denkbar. „...; denn der allgemeine Wille ist nur in einem Selbst, das eines ist, wirklicher Wille. Dadurch aber sind alle anderen Einzelnen von dem Ganzen dieser Tat ausgeschlossen und haben nur einen beschränkten Anteil an ihr, so dass die Tat nicht des wirklichen allgemeinen Selbstbewusstseins sein würde“.43 Eine bloß allgemeine Freiheit lässt sich nicht organisieren, weil jede Organisation eine Vereinzelung in bestimmte Bereiche bedingt. Hegel greift hier Kants Gedanken zur „ungeselligen Geselligkeit“ des Menschen und die damit verbundene Unterscheidung zwischen civitas und societas, zwischen der gesellschaftlichen und der politischen Vergemeinschaftung auf. Einer bloß allgemeinen Freiheit bleibe „...nur das negative Tun; sie ist nur die Furie des Verschwindens“.44 Die Unfähigkeit der absoluten Freiheit zur Wirklichkeit zu finden, zwinge sie zur ganz „...unvermittelte(n) reine(n) Negation des Besonderen und zwar <zur>...Negation des Einzelnen als Seienden in dem Allgemeinen. Das einzige Werk und Tat der allgemeinen Freiheit ist daher der Tod,..., ohne mehr Bedeutung als das Durchhauen eines Kohlhauptes oder eines Schluckes Wassers“.45 In der Philosophie der Geschichte zeigt Hegel deutlicher die Verbindung zwischen seinen Idealtypen und der Revolution. Die Revolution hatte das System der falschen Götter, der naturgegebenen Wahrheiten gestürzt, aber sie habe das wichtigste Problem nicht gelöst: „...eine Regierung ist immer vorhanden. Die Frage ist daher: wo ging sie hin? Sie ging an das Volk der Theorie nach, aber der Sache nach an den Nationalkonvent und dessen Komittees. Es herrschen nun die abstrakten Prinzipien der Freiheit und – wie sie im subjektiven Willen ist – der Tugend“.46 Weder die abstrakte Freiheit noch die Tugend können in Institutionen, Verfahrensregeln oder Rechtsstatuten konkret werden; denn sie können nur unterscheiden zwischen „...solche(n), die in der Gesinnung sind, und solche(n), die es nicht sind. Die Gesinnung aber kann nur von der Gesinnung erkannt und beurteilt werden. Es herrscht somit der Verdacht: die Tugend aber, sobald sie v erdächtig wird, ist schon verurteilt. ...Es herrschen jetzt die Tugend und der Schrecken; denn die subjektive Tugend, die bloß von der Gesinnung aus regiert, bringt die fürchterlichste Tyrannei mit sich. Sie übt ihre Macht ohne gerichtliche Formen, und ihre Strafe ist ebenso nur einfach – der Tod. Diese Tyrannei musste zugrunde gehen; denn ...die Vernünftigkeit selbst war gegen diese fürchterliche Tyrannei, die in ihrer Konzentration so fanatisch auftrat“.47

41 Ebd., S. 433. 42 Ebd., S. 434. 43 Ebd., S. 435. 44 Ebd., S. 436. 45 Ebd. 46 Hegel, G. W. F.: „Geschichtsphilosophie“, a. a. O., S. 532. 47 Ebd., S. 532f.

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3. 2. Von den Schrecken der Revolution über die bürgerliche Gesellschaft zu Hegels Staatstheorie. Neben der Erfahrung, dass die Französische Revolution bis zu Napoleons Staatsstreich keinen stabilen institutionellen Rahmen fand, steht bei Hegel die Einsicht, dass der gute Wille allein mitnichten genügt. „...Menschen...vollbringen ihr Interesse, aber es wird noch ein Ferneres damit zustande gebracht, das auch innerlich darin liegt, aber das nicht in ihrem Bewusstsein und in ihrer Absicht lag“.48 Hegels Bemerkungen zur Französischen Revolution und seine methodologischen Ausführungen in der Rechts- und Geschichtsphilosophie belegen, dass seine Philosophie, die angeblich „...unabhängig von der extramentalen Wirklichkeit konstruiert worden ist“,49 die Nebenwirkungen einer Handlung als ihren Ansatzpunkt nimmt. „So ist der objektive Geist im Sinne Hegels durchaus keine metaphysische Hypostasierung und Schematisierung. Hegel will gerade die Beweglichkeit der Erscheinungen zu ihrem Recht kommen lassen, er will die Mannigfaltigkeit des Empirischen nicht verneinen, aber er sucht nach Sinn und Gesetzmäßigkeit, die darin zum Ausdruck gelangen“.50 Die Gräuel der Französischen Revolution hatten gezeigt, dass die schrankenlose Freiheit des Subjekts zur absoluten Unfreiheit und Unsicherheit vieler Personen führt. Gerade um die Freiheit der vielen Einzelnen willen bedurfte das Vernunftideal der rationalistischen Aufklärung einer Ausarbeitung, die den Gegensatz zwischen der individuellen Freiheit und einer stabilen politischen Ordnung aufhebt, „Diese Kollision, dieser Knoten, dieses Problem ist es, an dem die Geschichte steht und den sie in künftigen Zeiten zu lösen hat“.51 Die traumatischen Ereignisse des revolutionären Zeitalters und die Herausforderungen der aufkommenden Industriegesellschaft bilden den Hintergrund, vor dem Hegels Rechtsphilosophie entworfen wird: Ihr Zweck ist „...nichts anderes...als der Versuch, den Staat als ein in sich Vernünftiges zu begreifen und darzustellen“.52 Das Vernünftige sei das Prinzip der Freiheit als Recht.53 Dies ist der Ausgangspunkt der Rechtsphilosophie und daraus ergibt sich auch deren Einteilung. Idealistisch wie Kant und Fichte, sieht Hegel im Prinzip der subjektiven Freiheit den Ursprung des Staats. Dessen erste Verwirklichung besteht darin, „...dass ich als freier Wille mir im Besitze gegenständlich und hiermit auch erst wirklicher Wille bin, macht das... Rechtliche darin, die Bestimmung des Eigentums aus“.54 Erst dank des Eigentums wird aus der zunächst bloß möglichen Freiheit eine wirkliche, gegenständliche. Hegel sah im freien Erwerb und Gebrauch von Eigentum ein Grundprinzip der bürgerlichen Gesellschaft. Die Basis des Rechts liegt nicht mehr in den Dingen oder der Herkunft, sondern im Bewusstsein, dem Willen der Menschen. Damit ist die Abstraktion als Grundlage des Geschäftslebens erkannt: „...der Begriffspleonasmus <Privateigentum>, den Hegel in die philosophische Diskussion eingeführt hat, zeigt eine neue Nuance der Eigentumsrechte. Eigentum wird privatisiert, die Verfügungsrechte ausgedehnt, sociale Restriktionen von Eigentumsrechten abgebaut“.55 Die mit der Privatisierung des Eigentums neu gewonnene Freiheit entwickelt ebenso neue Gegensätze: Das persönliche Eigentum erlaubt der einzelnen Person unabhängig von jedwedem Dritten selbst gesetzte Zwecke zu verwirklichen.“Die konkrete Person als ein ganzes von Bedürfnissen und eine Vermischung von Naturnotwendigkeit und Willkür ist das

48 Ebd., S. 42f. 49 Schmölz, Fritz Martin: „Zerstörung und Rekonstruktion der politischen Ethik“, München 1963. 50 Moog, Wily: Hegel und die Hegelsche Schule, München 1930, S. 311. 51 Hegel, G. W. F.: „Geschichtsphilosophie, a. a. O., S. 535. 52 Hegel, G. W. F.: „Rechtsphilosophie“, a. a. O., Vorrede, S. 26. 53 Vgl. ebd., § 29 (S. 80): „Dies, dass ein Dasein überhaupt Dasein des freien Willens ist, ist das Recht. – Es ist somit überhaupt die Freiheit als Idee“. 54 Ebd., § 45 (S. 107). 55 Koslowski, Peter: „Ethik des Kapitalismus“, 3. Aufl., Tübingen 1986, S. 18.

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eine Prinzip der bürgerlichen Gesellschaft,“56 das andere Prinzip, das der Allgemeinheit, besteht in der über den Markt ermittelten allgemeinen Nachfrage. Die Gesellschaft definiert sich nicht mehr als Glaubensgemeinschaft, ihr Zweck wird auf den allgemeinen Rechtsschutz reduziert, um einen friedlichen Tauschverkehr zu sichern. „In der bürgerlichen Gesellschaft ist jeder sich Zweck, alles andere ist ihm nichts. Aber ohne Beziehung auf andere kann er den Umfang seiner Zwecke nicht erreichen; diese anderen sind daher Mittel zum Zweck des Besonderen“.57 Hegel bezeichnet das aus der wechselseitigen Interaktion hervorgehende Verhältnis allseitiger Abhängigkeit, in dem das Wohl des Einzelnen „...in die Subsistenz, das Wohl und Recht aller verflochten, darauf gegründet und nur in diesem Zusammenhang wirklich und gesichert ist...“58 als den „äußeren Staat, - Not- und Verstandesstaat“,59 weil die Beschränkung der iWillkür des Einzelnen durch den Marktdurch den Markt das alleinige Maß ist, an dem die Gesellschaft sich misst. Der Traum der Vernunft und die empirische Beobachtung der Ereignisse in der Erwerbsgesellschaft fließen zusammen: Maßlosigkeit sei die Folge einer von allen Bindungen befreiten Gesellschaft: „Der Mensch erweitert durch seine Vorstellungen und Reflexionen seine Begierdenm..., und führt sie in das schlecht Unendliche. Ebenso ist aber auf der anderen Seite die Entbehrung und Not ein Maßloses, und die Verworrenheit dieses Zustandes kann zu seiner Harmonie nur durch den ihn gewältigenden Staat kommen“.60 Hegel sieht die Widersprüche der bürgerlichen Welt, die Grenzen einer Gesellschaft, in der die rechtliche Gleichstellung aller in die soziale Ungleichheit und Abhängigkeit führt. So kritisiert er an dem „Frühliberalismus Kants, dass dessen Rechtsdefinition bloß formal-allgemein sei, und nach ihr „...der Wille...als besonderes Individuum, als Wille des Einzelnen in seiner eigentümlichen Willkür, die substantielle Grundlage und das Erste sein soll. Nach diesem einmal angenommenen Prinzip kann das Vernünftige freilich nur als beschränkend für diese Freiheit herauskommen“.61 Kant und die französische Revolution hätten gemein, dass bei ihnen nur gelte, was dem einzelnen Verstand einleuchte. Beide forderten nur, was dem Verstand einleuchte und behaupteten, dass dieser nichts enthalte „...als diese Wahrheit und Forderung, sich selbst zu finden und in dieser Form stehen bleibt“62. Sie hätten zwar das Prinzip richtig erfasst, auf dem allein der Staat zu bauen sei, jedoch seien beide, die Revolution wie Immanuel Kant, bei einer Form verharrt, mit der man keine Gesellschaft, geschweige denn einen Staat gestalten könne. Ihre Ansichten seien deshalb „...ebenso ohne allen spekulativen Gedanken und von dem philosophischen Begriffe verworfen, als sie in den Köpfen und in der Wirklichkeit Erscheinungen hervorgebracht <haben>, deren Fürchterlichkeit nur an der Seichtigkeit der Gedanken, auf die sie sich gründeten, eine Parallele hat“.63 Beiden hält Hegel vor, dass sie nur die Einheit, bzw. die Einzelnheit bedacht hätten und nicht die Einheit in der Differenz, eben das Spekulative. Der „Notstaat“ der bürgerlichen Gesellschaft bleibe ein fortlaufender Widerspruch; er könne keine Allgemeinheit begründen, weil er nur formal-allgemeine Freiheiten garantiere, die die in der bürgerlichen Gesellschaft aufkommenden Gegensätze nicht korrigierten. Hegel untermauert seine Kritik mit einer Analyse des „Systems der Bedürfnisse“64, einfacher ausgedrückt: der Volkswirtschaft:

56 Hegel, G. W. F.: „“Rechtsphilosophie“, a. a. O., § 182 (S. 339). 57 Ebd. Zusatz (S. 339f). 58 Ebd., § 183 (S. S. 340). 59 Ebd. 60 Ebd., § 185 Zusatz (S.343). 61 Ebd., § 29 (S. 80f). 62 Ebd. , § 190 (S. 63 Ebd. 64 Ebd., §§ 189ff (S. 346ff).

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Die bürgerliche Gesellschaft überlässt die Bedürfnisse und deren Befriedigung der Willkür jedes Einzelnen. Bedenken Sie, dass Hegel den Begriff der Zweckrationalität und die daraus hervorgehenden Gesellschaftsstrukturen sehr ernst nimmt: Der Verstand als das im Individuum Allgemeine „...bringt Vervielfältigung in diese Bedürfnisse, und indem Geschmack und Nützlichkeit Kriterien der Beurteilung werden, sind auch die Bedürfnisse selbst davon ergriffen. Es ist zuletzt nicht mehr der Bedarf, sondern die Meinung, die befriedigt werden muß, und es gehört eben zur Bildung, das Konkrete in seine Besonderheiten zu zerlegen“.65 „Es wird ein Bedürfnis daher nicht sowohl von denen, welche es auf unmittelbare Weise haben, als vielmehr durch solche hervorgebracht, welche durch sein Entstehen einen Gewinn suchen“.66 Dies sei die unabweisbare Folge davon, dass das Wirtschaften der Willkür des Einzelnen überlassen bleibt und von politisch-religiösen Bindungen befreit ist. Die Anarchie des Marktes trete an die Stelle der Willkür ständischer Zwänge. Hegel verweist das Allgemeininteresse in der bürgerlichen Gesellschaft an den nunmehr von der Gesellschaft getrennten Bereich des Politischen. Das neue Reich des Gedankens, dessen Morgenrot Hegel in der französischen Revolution bewundert hatte, beinhalte weitere Differenzierungen: Es werden nicht nur die Gesellschaft und der Staat voneinander getrennt, innerhalb der Gesellschaft unterscheide man ab jetzt grundsätzlich zwischen dem wirtschaftlichen und dem privaten Bereich. In der „schlechten Unendlichkeit“ subjektiver Präferenzen werden diese von einander geschiedenen Sphären weiter ausdifferenziert. „Die Abstraktion, die eine Qualität der Bedürfnisse und der Mittel wird..., wird auch eine Bestimmung der gegenseitigen Beziehung der Individuen aufeinander;...“.67 Alle sind über den Markt vermittelt von allen abhängig. „Alles Partikuläre wird insofern ein Gesellschaftliches; in der Art der Kleidung, in der Art des Essens liegt eine gewisse Konvenienz, die man annehmen muß, weil es in diesen Dingen nicht der Mühe wert ist, seine Einsicht zeigen zu wollen, sondern es am klügsten ist, darin wie andere zu verfahren“.68 Das Paradox der bürgerlichen Gesellschaft besteht darin, dass eine Gesellschaft, die auf dem Prinzip der individuellen Freiheit und dem Primat des Individuums aufbaut, gerade keine „welthistorischen Figuren“ hervorbringt, sondern zu einer Vereinheitlichung der Lebensführung und der Lebensstile führt, Wo nicht mehr die Norm herrscht, wird das Gewohnte zur Regel. Die subjektive Freiheit braucht sich nicht mehr im Gegenständlichen zu beweisen, sie macht sich selbst gegenständlich. Darin liege das Moment der Befreiung in der bürgerlichen Gesellschaft, „...dass der Mensch sich zu seiner und zwar allgemeinen Meinung und einer nur selbstgemachten Notwendigkeit, statt nur zu äußerlicher, zu innerer Zufälligkeit und Willkür sich verhält“.69 Doch Zufälligkeit und Willkür – auch die des Selbstbewusstseins – können keine Freiheit für alle garantieren. Die Befreiung zur bürgerlichen Gesellschaft bleibt nur formal, weil die Abstraktionen der vergesellschafteten Menschen, der Bürger lediglich „...auf die unbestimmte Vervielfältigung und Spezifizierung der Bedürfnisse, Mittel und Genüsse, welche,..., keine Grenze hat,...“70 geht. Oder, wie es Immanuel Hermann Fichte, der Sohn Johann Gottlieb Fichtes ausdrückte: „Es ist das Gesetz der Menschheitsentwicklung, Alles, was in ihm in irgend einer Richtung als Anlage verb orgen ist, an den Tag des Bewusstseins zu befördern; sie individualisiert sich fortschreitend immer reicher und tiefer; und diese Befreiung der Individualität nach allen Seiten ist der eigentliche Inhalt der Geschichte. Aber je mannigfaltiger und eigener die Individuen nebeneinander stehen, desto weniger entscheidet dasd einzelne; und fortan werden nur ganze Epochen, gesamte Grundrichtungen zählen und handeln, und auch nur dem umfassenden, nicht mehr durch eigene Beschränktheit oder parteiliche Willkür beengten Blick wird es möglich sein, die Zeit und sich in ihr zu verstehen“.71

65 Ebd., § 190 Zusatz (S.348). 66 Ebd., § 191 Zusatz (S. 349). 67 Ebd., § 192 (S. 349). 68 Ebd., § 192 Zusatz ( S. 349). 69 Ebd., § 194 (S. 350). 70 Ebd., § 195 (S. 350f). 71 Fichte, I. H.: „Über Gegensatzh, Wendepunkt und Ziel heutiger Philosophie“, Heidelberg 1832, S. VII.

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An die Stelle der natürlichen Ungleichheit tritt die des Geistes, will sagen, dass in der bürgerlichen Gesellschaft die gesellschaftliche Stellung nicht mehr ausschließlich von der Geburt abhängt. das Privileg der Geburt wird vom Leistungswettbewerb verdrängt. Die Position des Einzelnen hängt vom Glück, der Geschicklichkeit, dem Vermögen sowie der intellektuellen und moralischen Bildung ab, „...so dass der ganze Zusammenhang sich zu besonderen Systemen der Bedürfnisse,..., zu einem Unterschied der Stände (gemeint sind Gesellschaftsklassen S. K.) ausbildet. Die Art und Weise der Teilnahme am allgemeinen Vermögen ist jeder Besonderheit der Individuen überlassen, aber die allgemeine Verschiedenheit der Besonderung der bürgerlichen Gesellschaft ist ein Notwendiges. ... . Hier ist also die Wurzel, durch die die Selbstsucht sich an das Allgemeine, an den Staat knüpft, dessen Sorge es sein muß, dass dieser Zusammenhang ein gediegener und fester sei“.72 Im Hegelschen Konzept der politischen Freiheit hebt der Staat nicht die bürgerliche Gesellschaft auf, sondern diese soll sich zum Staat aufheben. Mit anderen Worten: Die bürgerliche Gesellschaft muss, will sie nicht an den in ihr aufkommenden sozialen Gegensätzen zerbrechen,73 sich ein Konkret-Allgemeines gegenüberstellen, dessen Besonderheit darin besteht, allgemeine Zwecke zu realisieren. Dies kann nach Hegel nur der Staat, weil Almosen und Überproduktion - die nicht-staatlichen Lösungsmöglichkeiten insgesamt – gegen das Strukturprinzip des Marktes verstoßen: „Wird der reicheren Klasse die direkte Last aufgelegt, oder es wären in anderem öffentlichen Eigentum (reichen Hospitälern, Stiftungen, Klöstern) die direkten Mittel vorhanden, die der Armut zugehende Masse auf dem Stande ihrer ordentlichen Lebensweise zu erhalten, so würde die Subsistenz der Bedürftigen gesichert, ohne durch die Arbeit vermittelt zu sein, was gegen das Prinzip der bürgerlichen Gesellschaft und des Gefühls ihrer Individuen von ihrer Selbständigkeit und Ehre wäre; oder sie würde durch Arbeit vermittelt, so würde die Menge der Produktionen vermehrt, in deren Überfluß und dem Mangel der verhältnismäßigen selbst produktiven Konsumenten gerade das Übel besteht, das auf beiden Weisen sich nur vergrößert. Es kommt hierin zum Vorschein, dass bei dem Übermaße des Reichtums die bürgerliche Gesellschaft nicht reich genug ist, d. h. an dem ihr eigentümlichen Vermögen nicht genug besitzt, dem Übermaße der Armut und der Erzeugung des Pöbels zu steuern“.74 Die bürgerliche Gesellschaft ist außerstande, die aus ihr hervorgehenden Gegensätze zu bewältigen. Zeitgleich mit der Verelendung des preußischen Handwerks75 und der Proletarisierung in England versucht Hegel diese Phänomene in seiner Staatstheorie zu verarbeiten. Nicht die spekulative Philosophie, sondern die bedrückende Empirie steht in den der bürgerlichen Gesellschaft und ihren Grenzen gewidmeten Passagen der Hegelschen Rechtsphilosophie im Hintergrund.Die Partikularisierung der Arbeit könne nur mit der Bildung von Genossenschaften, Korporationen beantwortet werden, um die daraus resultierende Atomisierung des „Arbeiterstandes“ zu vermeiden. Der allgemeine Zweck der Korporation sei „...damit ganz konkret...und <hat> keinen weiteren Umfang, als der im Gewerbe, dem eigentümlichen Geschäfte und Interesse, liegt“.76 Die Korporation wirkt dessen ungeachtet über das rein Wirtschaftliche hinaus. Sie gebe dem Einzelnen seine „Standesehre“; dank ihre werde die partikularisierte Arbeit und ihre Versorgung etwas „Stehendes“: „In der Korporation verliert die Hilfe, welche die Armut empfängt, ihr Zufälliges sowie ihr mit Unrecht Demütigendes und der Reichtum in seiner Pflicht gegen die Genossenschaft den Hochmut und den Neid, den er in den anderen erregen kann; die Rechtschaffenheit erhält ihre wahrhafte Anerkennung und Ehre“.77

72 Hegel, G. W. F.: „Rechtsphilosophie“, a. a. O., §201 und ebd. Zusatz (S. 354f). 73 Hegel bezeichnet ebd., § 244 Zusatz (S. 389f) „...die Frage, wie der Armut abzuhelfen sei, ...“ als die drängendste Frage seiner Zeit, 74 Ebd., § 245 (S. 390). 75 Vgl. Twesten, Karl: „Der preußische Beamtenstaat“, Darmstadt 1979 (ursprgl. PreußJbb 18 <1866>, S. 1-39, 109-148), S. 63ff. 76 Hegel, G. W. F.: „Rechtsphilosophie“, a. a. O., § 251 (S. 394). 77 Ebd., § 253 (S. 396).

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Hegels Korporation sei „...keine geschlossene Zunft: Sie ist vielmehr die Versittlichung des einzelnstehenden Gewerbes und sein Hinaufnehmen in einen Kreis, in dem es Stärke und Ehre gewinnt“.78 In der bürgerlichen Gesellschaft stoßen denoch auch die Genossenschaften, man sollte heutzutage eher von den Verbänden und Gewerkschaften sprechen, an ihre Grenzen. Da ihre Zwecke stets auf das begrenzte Interesse des von ihnen vertretenen Gewerbes beschränkt ist, realisieren sie nur dies – wenn auch vielen gemeinsame – partikulare Interesse. Bevor ein wirklich allgemeiner Zweck zum Inhalt ihres Interesses werden kann, müsse die Korporation sich zum Staat wandeln; zu einer Vereinigung im Dienste des „allgemeinen Zwecks“, d. h. des Gemeinwohls. Der Staat stelle sich dann als solcher selbständig den Einzelnen, der Korporation und der Gesellschaft gegenüber. Hier angelangt, ist Hegels Verständnis von Moralität und Sittlichkeit kurz zu würdigen: Die Moralität bleibt in den Widersprüchen der bürgerlichen Gesellschaft befangen, weil der Einzelne auf dieser Ebene der Vergemeinschaftung ständig in der Spannung zwischen seinen privaten Zwecken und dem an und für sich allgemeinen Guten lebe. Im Erwerbsleben kann der wirtschaftende Mensch stets in den Gegensatz zu seinen moralischen Prinzipien geraten. Für Hegel scheidet wie für Kant die utilitaristische Lösung des moralischen Problems aus. Nicht das größte Glück der größten Zahl, sondern die Selbstbestimmung und das Wohl des Einzelnen stehen auch bei ihm im Zentrum der Ethik. Doch die Zeiten des Frühliberalismus und der Aufklärung waren schon zu Hegels Zeit vorbei: In einer Welt, in der die Fernwirkungen individuellen Handelns zu einem Rückschlag führen können, der den Einzelnen zertrümmert, braucht die Individualethik und Moral des Einzelnen eine Ergänzung durch die gesellschaftliche Ethik und Sittlichkeit des Staats. Es kommt zu einer Umkehrung des Verhältnisses von Moralität, Recht und Sittlichkeit und damit auch der Bedeutung des Begriffes der Sittlichkeit: Die Moralität verharrt Hegel zufolge im Bereich der Willkür, weil innerhalb ihrer Sphäre die subjektiven Wünsche mit dem allgemein Gutem kollidieren können. Demgegenüber sei die Sittlichkeit erst erreicht, wenn die subjektiven Zwecke notwendig mit dem allgemein Guten zusammenfielen. Auf der Stufe der objektiv gewordenen Sittlichkeit verfolge der Einzelne seine eigenen Ziele und verwirkliche zugleich „nolens volens“ allgemeine Zwecke. Das Allgemeine ist hier zum Bestandteil des besonderen Zwecks Einzelner geworden. Dies führt Hegel in den Staat, und zwar in einen Beamtenstaat, dessen Beamte alle für sich selbst arbeiten und notwendig dem Gemeinwohl dienen. Durch ihre Bildung und sichere Stellung, so Hegel, machen „...die Mitglieder der Regierung und die Staatsbeamten... den Hauptteil des Mittelstandes aus, in welchen die gebildete Intelligenz und das rechtliche Bewusstsein der Masse eines Volkes fällt. <...> . Der Staat, in dem kein Mittelstand vorhanden ist, steht deswegen noch auf keiner hohen Stufe“.79 Die staatlichen Institutionen bilden das Konkret-Allgemeine; ihre Besonderheit besteht darin, die allgemeinen Bedürfnisse, wie Rechtsschutz, Sicherheit und Infrastruktur zu befriedigen. Deshalb ist der Staat für Hegel „...die Wirklichkeit der sittlichen Idee... An der Sitte hat er seine unmittelbare und an dem Selbstbewusstsein des Einzelnen, dem Wissen und Tätigkeit desselben, seine vermittelte Existenz, so wie dieses durch die Gesinnung in ihm, als seinem Wesen, Zweck und Produkte seiner Tätigkeit, seine substantielle Freiheit hat“.80 Hegels Ansatz ist hier neben aller Dialektik pragmatisch: Mit ihren Korporationen allein kann die bürgerliche Gesellschaft „...die Erzeugung des Pöbels..., die hinwiederum zugleich die größere Leichtigkeit, unverhältnismäßige Reichtümer in wenige Hände zu konzentrieren, mit sich führt“81, nicht verhindern. Auch die Korporation findet nicht aus dem Zwiespalt, mit ihren Zielen das Allgemeininteresse zu verletzen. Deshalb ist eine prinzipielle Unterscheidung

78 Ebd., § 255 Zusatz (S. 397). 79 Ebd., § 297 und Zusatz 464f).(S. 80 Ebd., § 257 (S.398). 81 Ebd., §244 (S. 389).

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zwischen der Gesellschaft und dem Staat nötig.Der Staat sei das „...an und für sich Vernünftige...“,82 denn sein besonderer Zweck ist das Gemeinwohl. „Wenn der Staat mit der bürgerlichen Gesellschafdt verwechselt und seine Bestimmung in die Sicherheit und den Schutz des Eigentums und der persönlichen Freiheit gesetzt wird, so ist das Interesse des Einzelnen als solcher der letzte Zweck, zu welchem sie vereinigt sind und es folgt hieraus ebenso, dass es etwas Beliebiges ist, Mitglied des Staates zu sein“.83 Staat und Gesellschaft seien in den Vertragstheorien nicht klar genug von einander unterschieden. Der Gesellschaftsvertrag verkenne aus zweierlei Gründen das Wesen des Staats: Zum einen sind alle Verträge, auch der Gesellschaftsvertrag an die Willkür der Kontrahierenden gebunden. Es werde folglich keine Allgemeinheit sondern eine über den Vertrag vermittelte Besonderheit geschaffen. Die könne sich nicht als das Allgemeine über die Gesellschaft erheben. Zum anderen ist ein Kennzeichen des Staats, dass die meisten Staatsangehörigen - ähnlich wie in der Familie – in den Staatsverband hinein geboren werden. Hegels Vorbehalte sind weniger spekulativ als empirisch. Zwar begreift Hegel den Staat als eine konkrete, in sich dirimierte Allgemeinheit; dagegen baue die Gesellschaft auf dem über den Markt vermittelten Interesse des Einzelnen auf. Der Staat erscheint als eine selbständige Verkörperung des Allgemeininteresses, weil die Individualisierung so weit fortgeschritten ist, dass der Einzelne und die Gesellschaft nicht mehr in einem monistischen System eingebunden werden können. Die Gesellschaft kann und darf den Einzelnen nicht mehr ihre ethischen, religiösen und poilitischen Überzeugungen vorschreiben. In einem rationalen politischen System übernimmt der Staat die Aufgabe, das abstrakte Gemeinwohl mit der subjektiven Freiheit zu verbinden. Die Vernünftigkeit des Staats besteht daher, so Hegel, „...abstrakt betrachtet, überhaupt in der sich durchdringenden Einheit der Allgemeinheit und der Einzelheit... und deswegen der Form nach in einem nach gedachten, d. h. allgemeinen Gesetzen und Grundsätzen sich bestimmenden Handeln“.84 Die französische Revolution hat, das erkennt Hegel in seiner vollen Tragweite, die Welt auf den Kopf gestellt und damit ein neues Prinzip zur Grundlage des Staats gemacht: Der moderne Staat hat „...seine Legitimation...nicht in seiner geschichtlichen Herkunft oder göttlichen Stiftung, nicht im Dienst an der Wahrheit, sondern in der Bezogenheit auf die freie selbstbestimmte Einzelpersönlichkeit, das Individuum. Seine Basis ist der Mensch als Mensch“.85 Folgerichtig schreibt Hegel, es sei das Wesen moderner Staaten „...dass das Allgemeine verbunden sei mit der vollen Freiheit der Besonderheit und dem Wohlergehen der Individuen, dass also das Interesse der Familie und bürgerlichen Gesellschaft sich zum Staate zusammennehmen muß, dass aber die Allgemeinheit des Zwecks nicht ohne das eigene Wissen und Wollen der Besonderheit, die ihr Recht behalten muß, fortschreiten kann... Nur dadurch, dass beide Momente in ihrer Stärke bestehen, ist der Staat als ein gegliederter und wahrhaft organisierter anzusehen“.86 Der Hegelsche Staat verwirklicht sich dadurch, „...dass das Interesse des Ganzen sich in die besonderen Zwecke realisiert...“;87 das bedeutet ähnlich wie in der „Phänomenologie des Geistes“ und der „Wissenschaft der Logik“, dass die staatliche Einheit als in sich strukturierte und ausgefaltete Einheit von bürgerlicher Gesellschaft und politischem System, als der Prozeß ihrer wechselseitigen Durchdringung zu erkennen sei. Der Staat im Allgemeinen sei von dem politischen Staat zu trennen: Der „allgemeine Staat“ ist nach Hegel die auf der Verfassung aufbauende und von der Verfassung begrenzte verfassungsmäßige Ordnung des Gemeinwesens. Als Konkretisierung des allgemeinen Staats beschränkt sich das politische System, in Hegels Terminologie der

82 Ebd., § 258 (S. 399). 83 Ebd. 84 Ebd. 85 Böckenförde, E.-W.: „Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation“, in: ders.: „Staat – Gesellschaft – Freiheit“, Frankfurt a. M., 1976, S. 42-64 (56). 86 Hegel: „Rechtsphilosophie“, a. a. O., § 260 Zusatz (S. 407). 87 Ebd., § 270 Zusatz (S. 428).

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„politische Staat“ auf die Organisation des Politischen, die die allgemeine Sicherheit und Wohlfahrt. Hegel folgt zunächst der Theorie von „...der notwendigen Teilung der Gewalten des Staats..., einer höchst wichtigen Bestimmung, welche mit Recht, wenn sie nämlich in ihrem wahren Sinne genommen worden wäre, als die Garantie der öffentlichen Freiheit betrachtet werden konnte,...“.88 Angesichts der Schreckensherrschaft in Frankreich und Napoleons Cäsarismus vor Augen folgt Hegel aber nicht blindlings Montesquieus „Geist der Gesetze“. Die wechselseitige Kontrolle der staatlichen Gewalten bezwecke nicht die Teilung der Macht, sondern die Entfaltung des allgemeinen Interesses, indem die verschiedenen Gewalten „...als Momente des Begriffs unterschieden sein sollen“.89 „Der konkrete Staat ist das in seine besonderen Kreise gegliederte Ganze“.90 Begreife man die verschiedenen Staatsgewalten als autonome Machtzentren, würde man die angestrebte staatliche Einheit zerstören. Stattdessen trete an deren Stelle die permanente Revolution und Zerrüttung oder – wie das Beispiel Napoleons es gezeigt hatte - die Diktatur einer für sich partikularen Staatsgewalt. „Das Volk, so Hegel, muß zu seiner Verfassung das Gefühl seines Rechts und seines Zustandes haben, sonst kann sie zwar äußerlich vorhanden sein, aber sie hat keine Bedeutung und keinen Wert“.91 Die Ausdifferenzierung des „politischem Staats“ entspricht sowohl dem heutigen Prinzip der „Einheit der Verfassung“ wie der sogenannten Legitimationskette in der Politik, das heißt der Ableitung aller politischer Herrschaft vom allgemeinen Volkswillen, bzw. dem Votum der Wähler. Hier angelangt unterläuft Hegel eine Inkonsequenz, die weniger mit seinem spekulativen System als mit dem preußischen Staat zusammenhängt: Statt die Interdependenzen zwischen den verschiedenen Staatsgewalten und der Verwaltung darzustellen, wird das monarchische Prinzip eingeführt: Die fürstliche Gewalt verkörpere die das staatliche Ganze als Person. Zwar hat der konstitutionelle König Hegels nur formal die Entscheidungskompetenz, „...und man braucht zu einem Monarchen nur einen Menschen, der <Ja> sagt und den Punkt auf das I setzt; denn die Spitze soll so sein, das die Besonderheit des Charakters nicht das Bedeutende ist“;92 doch kann Hegel keineswegs „aus dem Begriff“ ableiten, weshalb ein Monarch an der Spitze des Staats stehen muss. Immerhin – und das ehrt Hegel – findet der Philosoph angesichts des Herrschaftspersonals seiner Zeit deutliche Worte: Hegel spricht von der „Idee“, beschreibt aber nicht mehr als die gegebene Realität: Das Recht des Monarchen sei „...als gefühltes Bedürfnis und als Bedürfnis der Sache an und für sich vorhanden. Die Monarchen zeichnen sich nicht gerade durch körperliche Kräfte oder durch Geist aus und doch lassen sich Millionen von ihnen beherrschen“.93 Zugleich beinhaltet Hegels Staat – und hier schließt sich der Kreis weniger zum einzelnen Staatsbürger als zur Phänomenologie des Geistes – mehr als rechtliche Kompetenzen und soziale Funktionen: er ist die sich selbst gegenständlich machende Objektivität, der objektive Geist. „Nur als im Bewusstsein vorhanden, sich selbst als existierender Gegenstand wissend, ist er der Staat. ...es ist der Gang Gottes in der Welt, dass der Staat ist, sein Grund ist die Gewalt der als Wille sich verwirklichenden Vernunft“.94 Der Staat ist, so Hegel, eine Objektivation der als Geist sich ins Werk setzenden Vernunft, die sich dank der Subjektivität aller, d. i. der „endlichen Vernunft“ zu einer realen Macht entwickelt habe.

88 Ebd., § 272 (S. 433). 89 Ebd. Zusatz (S. 435) 90 Ebd., § 308 (S. 477). 91 Ebd., § 274 Zusatz (S. 440). 92 Ebd., § 280 Zusatz (S. 451). 93 Ebd., § 281 Zusatz ( S.453). 94 Ebd., Zusatz (S.S. 403).

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4. Vom Weltgeist zum revolutionären Subjekt. So weit, so gut? Wenn man die dialektische Entfaltung des „objektiven Geistes“, den „Gang Gottes in der Welt“95 von der Idee der Freiheit zurückverfolgt zu seinem Ursprung, springt zweierlei in die Augen: Zum einen steht bei Hegel die empirische Beobachtung des revolutionären Zeitalters im allgemeinen, wie die der Anfänge der industriellen Revolution und der Reformen des preußischen Staats in Deutschland recht abrupt neben ihrer „Entwicklung aus dem Begriff“. Ungeachtet Hegels wachem Ohr für die Missstände seiner Zeit und seines Bekenntnisses zu den Idealen von 1789 „explizieren“ die „Phänomenologie des Geistes“, die „Geschichtsphilosophie“ und die „Rechtsphilosophie“ die „Einheit des Begriffs“96. Dem entsprechend verwahrt sich Hegel dagegen, in seiner Rechtsphilosophie den Staat „empirisch“ dargestellt zu haben: „Nur als im Bewusstsein vorhanden, sich selbst als existierender Gegenstand wissend, ist er der Staat. Bei der Freiheit muß man nicht von der Einzelheit, vom einzelnen Selbstbewusstsein ausgehen, sondern nur vom Wesen des Selbstbewusstseins, denn der Mensch mag es wissen oder nicht, dies Wesen realisiert sich als selbständige Gewalt, in der die einzelnen Individuen n ur Momente sind: es ist der Gang Gottes in der Welt, dass der Staat ist, sein Grund ist die Gewalt der sich als Wille verwirklichenden Vernunft“.97 Allen Differenzierungen zum trotz zwingt der Monismus des Systems dazu, die Besonderheit und Einzelheit als vergänglichen Schein in der Einheit des Ganzen aufgehen zu lassen, oder – wie Lorenz von Stein es formulierte: In der Hegelschen Philosophie liegt etwas, „...was Jahrzehnte hindurch von ihren Anhängern übersehen wurde, was aber zwischen ihr und dem wirklichen Leben und seinem ‚Werden’ eine unausfüllbare Lücke ließ. War dies Gesetz des Werdens einer höheren Bestimmung absolut, wo blieb dann eigentlich... der Unterschied zwischen der Natur und der Persönlichkeit, die sich ...nur noch als ‚Momente’ zu jenem Werden verhielten, während das, ‚warum’ sie Momente waren, jene höchste Bestimmung selbst logisch wieder selber in ihr gleichberechtigtes ‚Gegenteil umschlagen’ musste, die ungöttliche Bestimmung des Werdens, die Gesammtheit aller Unfertigkeit, alles Unsinns und aller Untaten des wirklichen Leben“98 Die „Modernität“ der Darstellung des Zusammenspiels von Individuum, Gesellschaft und Staat kann weder über einige Lücken hinwegtäuschen, noch den Zwang zur Einheit des Systems verleugnen. Eine hat Hegel in den Vorlesungen zur Rechtsphilosophie aus dem WS 1819/20 selbst benannt: “Wir stellen das Recht in seiner Totalität dar, dies zu entwickeln ist unser Fortgang. Die Anwendung für das Besondere gehört nicht in unsere philosophische Rechtswissenschaft. Vollständig entwickelt würde sie denselben Umfang wie die positive Rechtswissenschaft gewinnen. Aber Anwendung ist nur Sache des Verstandes, der das Einzelne unter das Allgemeine ordnet, nicht philosophische Untersuchung“.99 Ich habe versucht, nachzuweisen, dass und wie im Hegels „Rechtsphilosophie der philosophische Idealismus und der staatswissenschaftliche Realismus ineinander übergehen und scheitern. Der holistische Anspruch des Hegelschen Systems beseitigt in letzter Konsequenz die Grenzen zwischen Idealität und Realität, Normativität und Faktizität; Die Enzyklopädie der Philosophischen Wissenschaften und die darin enthaltene Staatstheorie

95 Ebd., § 258 Zusatz (S. 403). 96 Vgl. ebd., § 272 (S. 433f): „Nur die Selbstbestimmung des Begriffs in sich, nicht irgend andere Zwecke und Nützlichkeiten, ist es, welche den absoluten Ursprung der unterschiedenen Gewalten enthält und um derentwillen allein die Staatsorganisation als das in sich Vernünftige und das Abbild der ewigen Vernunft ist. – Wie der Begriff und dann in konkreter Weise die Idee sich an ihnen selbst bestimmen und damit ihre Momente abstrakt der Allgemeinheit, Besonderheit und Einzelheit setzen, ist aus der Logik – freilich nicht der sonst gang und gäben – zu erkennen“. 97 Ebd. § 258 Zusatz (S. 403). 98 Stein, Lorenz v.: „Lehrbuch der Nationalöonomie, 3. Aufl., Wien 1887, S. 43. 99 Hegel, G. W. F.: „Rechtsphilosophie, Die Vorlesung aus dem WS 1819/20, a. a. O., S.54.

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100wandeln sich zu einer szientistischen Mythologie. „Die Philosophie wird dadurch selbst dichtend und täuscht sich zugleich über ihr dichtend und mythologisch Werden dadurch hinweg, dass sie sich als das absolute Wissen und als Wissenschaft definiert“101 . Für Hegel entsprach die Einheit der philosophischen Wissenschaften durchaus den Herausforderungen der Zeit; denn das Preußen der Stein-Hardenbergschen Reformen nahm das Verlangen des Bürgertums nach politischer Mitsprache auf und schien bis 1830 Hegels Vorstellung vom Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit organologisch einzulösen. Als jedoch die Verhältnisse in Deutschland hinter den Erwartungen der Akteure zurückblieben und das neu entstandene geistige Proletariat sich die Philosophie Hegels zu eigen machte, nahm der Begriff den Kampf mit der schlechten Wirklichkeit auf. Nicht so sehr die idealistische Philosophie als vielmehr deren utopisches Potential durchdrang die sozialen Auseinandersetzungen. Wie von der List der Vernunft ungewollt beschrieben, kehrt sich der objektive Idealismus um zu einem Grundmotiv der sozialen Ideologien: Hatte Hegels Rechtsphilosophie noch die Prinzipien der Freiheit und Gleichheit bis auf ihren metaphysischen Ursprung in der Gerechtigkeit des Weltgeistes zurückgeführt, ändern sich mit dem Entstehen des Industrieproletariats die Verhältnisse so radikal, dass die Hoffnung auf innerweltliche Erlösung nicht nur zum Bedürfnisse breiter Massen wird, sondern auch die ethische Ausgleichskausalität (Max Weber) der religiösen Hinterwelt von Grund auf ins Wanken bringt102. Die neuen Sozialutopien konfrontieren die nicht mehr nur überständige, sondern auch zutiefst verwerfliche Geschichte mit einem revolutionären Subjekt, das - wie Friedrich Engels es ausdrückte - keineswegs nach Reichtum des "...einzelnen lumpigen Individuums..."103 strebt, sondern das Urteil der Geschichte vollstreckt. Vor diesem Hintergrund erscheint Hegels „Weltgeist“, die Vernunft in der Geschichte, in einem diffusen Licht: Die Ableitung der individuellen Freiheit aus der Idee schlägt um in die Negation der wirklichen Person als vergänglichen Schein: „Indem solches Geschäft in der Wirklichkeit als Handlung und damit als ein Werk Einzelner erscheint, so sind diese in Rücksicht auf den substantiellen Inhalt ihrer Arbeit Werkzeug, und ihre Subjektivität. die ihr Eigentümliches ist, ist die leere Form der Tätigkeit. Was sie daher durch den individuellen Anteil, den sie an dem substantiellen, von ihnen unabhängig bereiteten und bestimmten Geschäfte genommen, für sich erlangt haben, ist eine formelle Allgemeinheit subjektiver Vorstellung, - der Ruhm, der ihre Belohnung ist“.104 Weil er alles bedachte, ist Hegel gewissermaßen auch zur Wiege des dialektischen Materialismus geworden: "...Die große Bedeutung Hegels...“, schrieb Lorenz von Stein, „... liegt darin, das allgemeine Leben der Welt und der Persönlichkeiten als Ganzes zu begreifen, das sich in seinen Momenten organisch entfaltet, und in welchem daher das Einzelne nichts für sich, alles nur als Glied an diesem Ganzen ist. Demzufolge ist in jenem absoluten Communismus die Menschheit selbst die einzige wahre

100 Vgl. Hegel, G. W. F.: „Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften III, in: „Werke“, a. a. O., Bd. 10, §§ 535-548 (S. 330-347) 101 KOSLOWSKI, P. (2001), S.831. Vgl. ebd., In dem Moment ihrer Geschichte, in dem die Philosophie mit Hegels System alle Grenzen der literarischen Gattungen sprengt und sich als die Meistererzählung und Totalität der Wissenschaft begreift, die zugleich den Mythos, die Religion, das poetische Epos und die metaphysische Onto-Logik umfasst, wird eben durch diese totale und universelle Synthese der Wissenschaftscharakter der Philosophie und ihre Unterscheidbarkeit von der Dichtung undeutlich. Indem die Philosophie szientistisch wird und das absolute Wissen zu sein beansprucht, wird sie dichtend, und ihr vermeintlicher Szientismus zu jenem Schein, der ihre gnostischen Elemente verdeckt“. 102 Vgl STEIN, L.V.: „Blicke auf den Socialismus und Communismus in Deutschland und seine Zukunft“, in: „Deutsche Vierteljahresschrift,1844, S. 1 - 61 (41). "Proletarier ist der Arme, der von der Idee seiner Persönlichkeit aus Anspruch auf eine höhere Stellung und damit auf ihre Bedingung, den Besitz, macht.- Das Proletariat ist daher kein Begriff in der Wissenschaft, sondern ein Zustand in der Geschichte... Es ist schon hieraus klar, wie der eigentliche Communismus als Ausdruck jenes Widerspruchs nur einen Punkt in einer weit tiefer gehenden Geschichte bildet, einer Geschichte, die durchaus noch ihrer vollständigen Bearbeitung entbehrt". 103ENGELS, FR.: Über den Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats, 4. Aufl., Stuttgart 1892, S. 186. 104 Hegel, G. W. F.: „Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften III“, a. a. O., § 551 (S. 353):

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Persönlichkeit, an der das Einzelne... ein verschwindendes Glied, und daher alle Einzelnen wesentlich dadurch gleich sind, dass sie,..., als Individuen gleich wenig bedeuten".105 Für Karl Marx war die Hegelsche Philosophie Höhepunkt und Umschlag einer fortlaufenden Entfremdung des Menschen. Hegel habe in der Rechtsphilosophie zwar den der eigenen Gesellschaft "entfremdeten" preußischen Staatsapparat überhöht, philosophisch sanktioniert und (schein-)legitimiert, mit seiner Dialektik jedoch den Schlüssel zum wahren Verständnis des historischen Prozesses hinterlassen. Er stellt der sich in der bürgerlichen Rechtswissenschaft, Nationalökonomie und Philosophie spiegelnden, von ihrem eigentlichen Wesen entfremdeten Existenz des Menschen den dialektischen Materialismus entgegen. Der falsche Schein von Hegels "Überbaudialektik" muss Marx zufolge lediglich seiner Mystizismen entkleidet werden, bevor die Produktivität des wahren Widerspruchs anfängt zu wirken. "Ich bekannte mich daher offen als Schüler jenes großen Denkers... Die Mystifikation, welche die Dialektik in Hegels Händen erleidet, verhindert in keiner Weise, daß er ihre allgemeinen Bewegungsformen zuerst in umfassender und bewußter Weise dargestellt hat. Sie steht bei ihm auf dem Kopf. Man muß sie umstülpen, um den rationellen Kern in der mystischen Hülle zu entdecken.... In ihrer rationellen Gestalt ist sie dem Bürgertum... ein Ärgernis und ein Greuel, weil sie in dem positiven Verständnis des Bestehenden zugleich auch das Verständnis seiner Negation, seines notwendigen Untergangs einschließt, jede gewordene Form im Flusse der Bewegung also auch nach ihrer vergänglichen Seite auffaßt, sich durch nichts imponieren läßt, ihrem Wesen nach kritisch und revolutionär ist"106. Die abstrakten Allgemeinbegriffe Hegels, so Marx, müssen dem Leben der sich selbst schaffenden Menschheit weichen und werden von den wirklichen Bestimmungsfaktoren ihrer Geschichte und Gesellschaft abgelöst. Der wahre Mensch und die wirklichen Determinanten seines Daseins sind weder "intelligible Wesen", noch erfasst der ideelle "Überbau", kurz die Ideologie des Bürgertums die gesellschaftliche Basis, d. h. die in seinem Kapital beschriebenen Bewegungsgesetze der kapitalistischen Produktion. Die Interessen und Ziele des "wahren Menschen" gehören der höheren Stufe der menschlichen Entwicklung an. Dort wird der Mensch ebenso zum wahren Schöpfer seiner selbst, wie er sich als Teil der Gesellschaft verwirklichen wird. Die Gattung Mensch und das Einzelich fallen zusammen. Hegels sittliche Idee wird von wirklichen Subjekten verdrängt, die wiederum aufgehen in der Einheit der wahren Gesellschaft; erst danach werden sie zum wahren Subjekt ihrer Geschichte werden, womit die wirkliche Geschichte ihrer wahren Freiheit begonnen haben wird. Das Konditional und der Konjunktiv verdrängen den Indikativ, der Traum der Identitätsphilosophie wird hyperrealistisch weitergeträumt: Nicht mehr die Menschen gestalten die Geschichte, sondern Die Geschichte schafft den neuen Menschen als sein wahres Selbst.107 So wenig, wie die Trennung von Individuum, Gesellschaft und Staat bei Hegel konsequent bestehen bleibt, kennt der dialektische Materialismus einen Freiraum der einzelnen inmitten der gesellschaftlichen Mächte. Die Differenz zwischen Gesellschaft und Staat wird so verworfen, wie der Unterschied zwischen der wirklichen Person und der menschlichen Gattung. Der Staat, so Friedrich Engels,

105 STEIN, L.: Der Begriff der Arbeit und die Principien des Arbeitslohnes in ihrem Verhältnisse zum Socialismus und Communismus, in: Zeitschrift für die gesammte Staatswissenschaft, Bd.3 (1846), S. 233ff (239). 106 MARX, K.: Das Kapital, Bd.I, Nachwort zur zweiten Auflage, a.a.O., S. 27f. 107Vgl. SERVIER, J.: „Der traum von der großen Harmonie. Eine Geschichte der Utopie, München 1971 (ursprgl. Paris 1966), S. 266: "Der Staat wird dann verschwinden und durch spezialisierte Verwaltungsorgane ersetzt werden. Er wird sich, wie es schon Saint-Simon wollte, damit begnügen, Sachen zu verwalten, anstatt über Menschen zu herrschen, und wird überflüssig werden, wenn die Menschen kein anderes Ziel mehr kennen als die kollektive Arbeit und das Glück der Menschheit,....: die Herrschaft der Armen auf Erden, das Reich der freien Menschen, die bereit sind, ihre Freiheit im Namen der neuen Gesellschaft zu opfern"

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"... ist vielmehr ein Produkt der Gesellschaft auf bestimmter Entwicklungsstufe; er ist das Eingeständnis, daß diese Gesellschaft... sich in unversöhnliche Gegensätze gespalten hat, die zu bannen sie ohnmächtig ist"108. Die Gesellschaft erscheint entweder als Schauplatz und Produkt des seine Formen wechselnden, aber den Klassenantagonismus als solchen beibehaltenden Klassenkampfes, oder sie wird mit der kommunistischen Endzeitgesellschaft in Eins gesetzt.109. Kant hatte mit der Verlagerung des Sittengesetzes in transzendente Räume den Grund dafür bereitet, die Freiheitsvorstellung von konkreten Erscheinungen zu lösen und als unbedingte Forderung der Vernunft zu begreifen. Hegels objektiver Idealismus deutete das Sittengesetz gleichermaßen als Besitz wirklicher Individuen wie Selbstrealisation des Absoluten in der Zeit. Marx ergriff Schwert und Scheide; er verband Kant und Hegel, indem er einerseits die Kluft zwischen der phänomenalen Welt und Kants noumenalem Reich der Vernunft leugnet und als Eigentum des wahren Menschen bestimmt, andererseits dessen Reich der Freiheit mit dem Untergang der kapitalistischen Welt und dem Sieg des Sozialismus beginnen lässt: Kants Vernunftgesetz wird als der gefallene Logos erkannt und am Ende der Zeit vom Proletariat aus seiner Knechtschaft unter der Materie erlöst110. Sieht man diese Tiefenstruktur im dialektischen Materialismus, wird dessen Abhängigkeit von der Hegelschen Philosophie wie seine Sprengkraft verständlich.

108 ENGELS, FR. „Über den Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats, 4. Aufl. (1892), S. 177. 109 Vgl. ebd., S. 182: "Die Gesellschaft, die die Produktion auf Grundlage freier und gleicher Assoziation der Produzenten neu organisiert, versetzt die ganze Staatsmaschine... in's Museum für Altertümer, neben das Spinnrad und die bronzene Axt" 110Vgl. KOSLOWSKI, P. (2001), S. 838f.: "Zur Moderne und ihrem Gedanken der Versöhnung der Widersprüche im Fortschritt der Zeit gehört neben dem Progressismus notwendig der Gedanke der Utopie. Die Utopie ist die Erwartung einer inner-weltlichen Aufhebung aller Widersprüche in der nahen Zukunft... Zur Moderne gehört die geschichtsphilosophische Naherwartung in der szientistischen Variante der Aufhebung der Widersprüche durch vollständiges positives Wissen von der Welt im Positivismus, in der dialektischen Variante Hegels durch die Aufhebung der Widersprüche im absoluten Geist und in ihrer politisch-ökonomischen Variante von Marx durch Aufhebung der Widersprüche in der Vergesellschaftung der Produktionsmittel. Alle drei Formen der innerweltlichen Naherwartung stehen im Gegensatz zum mystischen Gedanken eines Ertragens, Verwindens und Ausgleichens der Widersprüche im Hier und Jetzt, im mystischen Augenblick, und im Gegensatz zur Idee der Philosophie der Offenbarung, dass Versöhnung ein Geschehenes ist, das noch geschieht". Steins "aufgeklärter Personalismus" fügt sich in die christliche Überlieferung, ohne deren mystischen Gehalt zu erliegen.