lateinamerikachile und der mapuche-region arau-canía. „in der simulation werden die beziehungen...
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BlickpunktLateinamerika AUSGABE 3 · 2017
www.blickpunkt-lateinamerika.de
MONDLANDSCHAFT IM PARADIES Titel: Haiti ein Jahr nach dem Sturm
BEFREIUNG AUS SCHULDKNECHTSCHAFT Kaffee-Kooperative in Mexiko
Impressum
Herausgeber
Bischöfliche Aktion Adveniat e. V.
Abt. Öffentlichkeitsarbeit
Leiter: Christian Frevel
Redaktion Nicola van Bonn (verantw.)
Mitarbeit an dieser Ausgabe
Michael Gösele, Philipp Lichterbeck
Thomas Milz, Thomas Völkner
Sandra Weiss
Unbenannte Artikel und Fotos Adveniat
Namentlich gekennzeichnete Artikel geben nicht
unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.
Lektorat Jörg Dietzel, Christina Jacobs
Dokumentation Michael Huhn
Layout und Grafik unikat GmbH, Wuppertal
Druck und Versand Ortmeier Medien
Dieses Heft wurde auf
100 % Recyclingpapier gedruckt.
Erscheinungsweise vierteljährlich
ISSN 1433 – 7568
Anschrift der Redaktion
Bischöfliche Aktion Adveniat e. V.
Redaktion Blickpunkt Lateinamerika
Gildehofstraße 2, 45127 Essen
Tel.: 0201 1756-0; Fax: 0201 1756-111
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Spenden bitte auf unser Konto bei der Bank im
Bistum Essen, IBAN: DE03 3606 0295 0000 0173 45
BIC: GENODED1BBE
impressum
herausgeber
Bischöfl iche Aktion Adveniat
Abt. Öff entlichkeitsarbeit/
Bildung;
Leiter: Christian Frevel
redaktion
Nicola van Bonn (verantw.)
Carolin Kronenburg
mitarbeit an dieser ausgabe
Gaby Herzog, Christian Frevel,
Mareille Landau, Thomas Milz,
Roberto Malvezzi, Michael
Huhn
titelbild: die schüler von »radio santa MarÍa«
treffen sich einMal in der woche, uM das
erlernte zu vertiefen. foto: achiM Pohl
rückseite: Markt in santo doMingo.
foto: achiM Pohl
rechte seite: auf grossleinwänden wurde
der besuch des PaPstes aM strand von rio
übertragen. foto: Mareille landau
unbenannte artikel und
fotos Adveniat
Namentlich gekennzeichnete
Artikel geben nicht unbedingt
die Meinung der Redaktion
wieder.
lektorat Christina Jacobs
Dokumentation Michael Huhn
layout und grafi k
unikat GmbH, Wuppertal
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Dieses Heft wurde auf
100 % Recyclingpapier
gedruckt.
erscheinungsweise
vierteljährlich
issN 1433 – 7568
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Bischöfl iche Aktion Adveniat
Redaktion Blickpunkt
Lateinamerika
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Fax: 0201 1756-222
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Bank im Bistum Essen
(BLZ 360 602 95)
Liebe Leserinnen und Leser!
Der 40-jährige José Luis Mejia verkauft an
einem kleinen Straßenstand in der Stadt La
Vega Getränke. Seitdem er über »Radio Santa
María« lesen, schreiben und rechnen gelernt
hat, ist das Leben für ihn leichter gewor-
den. Der katholische Radiosender überträgt
Lernstoff in Tausende Wohnzimmer der
Dominikanischen Republik. Dass Menschen
Zugang zu Bildung haben, ist dort keineswegs
selbstverständlich. Elf Prozent der Bevölkerung sind Analphabeten. Journalistin
Gaby Herzog hat sich mit José Luis und seiner Familie zum Büff eln an den Wohn-
zimmertisch gesetzt (Seite 6 bis 13).
In Lateinamerika und der Karibik gibt es zahlreiche kirchliche Initiativen, die zum
Ziel haben, möglichst vielen Menschen eine möglichst breite Bildung zukommen
zu lassen. Davon konnten sich auch die fünf Gewinnerinnen unseres Wettbewerbs
»Jüngerschafft« bei ihrer Reise zum Weltjugendtag nach Rio de Janeiro überzeugen.
Im Vorfeld des Jugendtreff ens hatten sie Projekte von Adveniat besucht, die auf un-
terschiedliche Weise versuchen, dem Hunger der Menschen nach Bildung Nahrung
zu geben. »Das, was ich hier gesehen habe, wird meine Arbeit mit den Jugendlichen
in Deutschland verändern«, berichtete mir Eva Schockmann (Seite 16 und 17).
Die Möglichkeit, Neues zu lernen, lässt Mädchen und Jungen, Frauen und Männer
auf der ganzen Welt wachsen. Setzen Sie sich gemeinsam mit Adveniat dafür ein,
dass die Menschen in Lateinamerika und der Karibik groß werden und ihren Blick
weiten können.
Ich wünsche Ihnen viel Freude beim Lesen!
Ihr
Prälat Bernd Klaschka
Adveniat-Geschäftsführer
4 Nachrichten aus Lateinamerika
Titel
6 schule für alle
Bildung per Radio in der
Dominikanischen Republik
Reportage
14 »Die landfrage ist das
größte Problem«
Adveniat-Bischof Franz-Josef
Overbeck zu Besuch in Paraguay
Weltjugendtag
16 »geht, ohne furcht,
um zu dienen«
Jüngerschafft-Gewinnerinnen
besuchen Adveniat-Projekte
Reportage
18 Nach der sintfl ut
Der Kampf um den Neuanfang nach
dem Erdbeben in Südchile
Reportage
20 revolte mit ansage
Kultur
21 recherchen auf heißem Pfl aster
22 Adveniat aktuellIhr
2 auf ein wort inhalt
Ortmeier Medien GmbH
Liebe Leserinnen und Leser!
Fast ein Jahr ist es her, dass Wirbelsturm Matthew
Anfang Oktober 2016 über die Karibik hinweg-
gefegt ist und vor allem im bitterarmen Haiti ver-
heerende Verwüstungen angerichtet hat. Immer
wieder trifft es diesen kleinen Inselstaat – kaum,
dass er sich von einer Katastrophe erholt hat.
Die Menschen müssen doch angesichts der Not
verzweifeln, dachte ich. Aber das tun sie nicht.
Auf meiner ersten Reise nach Haiti hat mich das
am meisten beeindruckt: Obwohl vielerorts die Lage aussichtslos erscheint,
geben die Menschen nicht auf. Sie glauben an eine Zukunft, wie der vierfache
Familienvater Florent in Jérémie, der den Wirbelsturm überlebt hat. Oder wie
Stephan Destin, der als Ingenieur aus den USA in sein Heimatland zurück-
kehrte, um es nach dem Erdbeben 2010 wieder aufzubauen (S. 6 – 13).
Auch die indigenen Kleinbauern in Bachajón, im Süden Mexikos, beweisen
Widerstandsfähigkeit. Lange wurden sie als Tagelöhner ausgebeutet. Heute
haben sie sich zu einer Kooperative zusammengeschlossen und erzielen an-
gemessene Preise für Kaffee, Honig und Seife (S. 14 – 17). Arbeitsmigranten
wehren sich in Brasilien erfolgreich mit Hilfe der Kirche gegen die moderne
Sklaverei in der Textilproduktion (S. 18 – 19), und nach Kolumbien schaue ich
mit Respekt auf eine Gesellschaft, die sich der Aufgabe stellt, Gerechtigkeit
und Versöhnung nach mehr als 50 Jahren Krieg und Gewalt zu schaffen
(S. 20 – 21).
Der Überlebenswille und die Kraft dieser Menschen sind mir Vorbild.
In diesem Sinne viel Freude beim Lesen!
Pater Michael Heinz SVD
Hauptgeschäftsführer
Titel: Besucher der mobilen Krankenstation der Schwestern des Ordens Irmas do Imaculado Coraçao de Maria im Dorf Plingué.Rückseite: Schwester Mirca in der Krankenstation.Fotos: Martin Steffen
Nachrichten aus Lateinamerika 4
Titel
Mondlandschaft im Paradies 6
Haiti ein Jahr nach dem Sturm
Hintergrund
Befreiung aus der Schuldknechtschaft 14
Kaffee-Kooperative in Mexiko
Hintergrund
Auf der Suche nach der
verlorenen Würde 18
Migrantenpastoral CAMI in Brasilien
Zeugnis
„Wir Opfer sind alleine“ 20
Florenia, zwangsrekrutierte Farc-Kämpferin
Literatur
Reisen, davon erzählen und
wiederkommen 21
Ein Reisebericht aus Kolumbien
Adveniat aktuell 22
2 Auf ein Wort Inhalt
Hoffnungszeichen: Nachdem die Ernte durch Hurrikan Matthew ver-nichtet worden war, ziehen die Mit-glieder der Basisgemeinde gemein-sam Setzlinge, um sie später in ihren Gärten einzupflanzen.
Guter Gott,gib uns die Gnade, Kraft, Mut und Weisheit, uns um all das zu kümmern, was du geschaffen hast.
Wo viele Menschen egoistisch leben, lass uns wie Brüder und Schwestern leben.
Wo einige Menschen Hass sähen, lass uns Frieden pflanzen.
Wo die Menschen die Natur zerstören, sorge dich um das Leben.
Wo viele Menschen ihren Lebensraum verschmutzen, gib, dass wir es nicht ebenso machen.
Wo viele Menschen verschwenderisch leben, lass uns teilen lernen.
Wo es Tränen gibt, lass die Hoffnung des Lebens wachsen.
Ein Leben, das uns ermöglicht, eine neue Gesellschaft zu bauen.
Gib uns die Gnade, die Menschen nicht aufzugeben, sondern lehre uns, mit ihnen die Liebe zu teilen.
Amen, Halleluja!
Gebet der Basisgemeinden im Bistum Jérémie, Haiti
3Denkanstoß
CHILE
Die letzte GrenzeIn einem Computerspiel können Kinder und Erwachsene die Geschichte der chilenischen Ureinwohner spielerisch erfahren.
Der Richter Jaques de Queiros Ferrera gab der Ver-
teidigung der 22 Angeklagten Recht, dass die Beweise
der Staatsanwaltschaft unrechtmäßig seien, da sie
auf illegaler Abhörung basierten. Sollte sich diese
Annahme bestätigen, könnte das Verfahren gänzlich
eingestellt werden.
Im November 2015 war in einem Eisenerzbergwerk
ein Damm gebrochen. Daraufhin ergoss sich eine
Schlammlawine über Teile der Stadt Mariana und floss
in den Rio Dulce. 19 Menschen starben bei dem Un-
glück und rund 250 wurden verletzt. Der Dammbruch
gilt als eine der schlimmsten Naturkatastrophen
Brasiliens, denn der Schlamm enthielt hochgiftige
Substanzen aus dem Bergbau und verseuchte hundert-
tausende Hektar Land.
Ein knappes Jahr nach dem Unglück klagte die Staats-
anwaltschaft 22 Manager und Berater der Betreiber-
firma Samarco sowie deren Mutterunternehmen BHP
Billiton und Vale an. Sie mussten sich sowohl wegen
Mordes als auch ökologischer Verbrechen rechtfer-
tigen. Berichten zufolge sollen die Verantwortlichen
Hinweise auf die Instabilität des Dammes ignoriert
haben. Den Angeklagten drohten bis zu 54 Jahre Haft.
Darüber hinaus waren Entschädigungszahlungen in
Höhe von 1,2 Milliarden US-Dollar sowie die Verpflich-
tung zu Maßnahmen vorgesehen, die das ökologische
Gleichgewicht wiederherstellen. Seitens Samarco hieß
es, dass die Dämme aufgrund leichter Erdbeben gebro-
chen seien und die Firma keine Verantwortung für das
Unglück trüge. Das Unternehmen bestritt auch, dass
der Schlamm toxische Substanzen enthielt. (aj)
Die Lernsoftware mit dem Titel „Die
letzte Grenze, ein Geschichtsspiel“ ist
eine Gemeinschaftsproduktion des
„Nationalen Programms für die Ver-
breitung und Förderung von Wissen-
schaft und Technik“ (Conicyt) und der
chilenischen Universität Finis Terrae
sowie der Softwarefirma „Pitruf Games“.
Das berichtete das Onlineportal „El
Definido“. „Wir denken, dass dieses
Werkzeug den Spielern erlaubt, in
einem intelligenten Umfeld die Dyna-
miken und Interaktionen der Epoche
zu erfahren“, so Projektdirektor David
Caloguerea gegenüber dem Medium.
Die Zeit des Spiels ist die Epoche nach
der spanischen Eroberung des heutigen
Chile und der Mapuche-Region Arau-
canía. „In der Simulation werden die
Beziehungen zwischen Spaniern und
Mapuche dargestellt“, erklärt Calogue-
rea die Idee des Projekts. Der Spieler
kann als Mapuche- Indigener die Region
Araucanía besiedeln, die Führung eines
Mapuche-Dorfes übernehmen und ist
für das Wohlbefinden der Bewohner zu-
ständig. Als Eroberer muss er beispiels-
weise eine Armee der spanischen Krone
an der Grenze zum Mapuche-Gebiet
befehligen. Mit Anführern der Mapuche
verhandelt er über die Freilassung ge-
fangener Kolonisatoren.
Bei Aufständen entscheidet der Spieler
zwischen Gewaltanwendung oder
Verhandlungen mit den Mapuche. Der
Spieler kann auch in die Rolle eines
Kindes eines Mapuche-Anführers und
einer spanischen Mutter schlüpfen. In
einer Demokratie-Simulation muss der
Spieler sowohl Mapuche als auch Spa-
nier als Wählerschaft gewinnen. (bb)
Y www. laultimafrontera.online
Oben: Grafik der Software „la ultima frontera“.
Rechte Seite: Im Wald bei Canelos, Ecuador. Foto: Achim Pohl
BRASILIEN
Verfahren im Fall Mariana vorerst eingestellt
Nachrichten aus Lateinamerika4
Ein Gericht in Brasiliens Hauptstadt
Brasilia hat am 30. August 2017 die
umstrittene Bergbau-Genehmigung
der Regierung für das Renca-Gebiet im
Amazonaswald für ungültig erklärt. Da
Umweltschutzareale betroffen seien,
müsse der Kongress der Freigabe für die
Rohstoffförderung zustimmen, so das
Urteil. Eine Woche zuvor hatte Präsident
Michel Temer per Dekret die Ausbeutung
des 1984 eingerichteten Schutzgebiets
Renca erlaubt. Damit wäre es Unterneh-
men möglich gewesen, dort Rohstoffe
wie Gold, Kupfer, Eisenerz und Mangan
zu fördern. Das nördlich des Amazonas-
flusses in einem bisher nahezu un-
berührten Waldareal liegende Gebiet ist
mit rund vier Millionen Hektar größer
als Baden-Württemberg.
Die Entscheidung des Präsidenten löste
eine Protestwelle in Brasilien und im
Ausland aus. Renca ist kein Natur-
schutzgebiet, sondern wurde während
der Militärdiktatur eingerichtet, um
den Abbau von Rohstoffen durch aus-
ländische Unternehmen zu blockieren.
Allerdings wurden in dem Gebiet in
den Folgejahren Nationalparks und
indigene Territorien eingerichtet, die
heute rund 69 Prozent der Renca-Flä-
che ausmachen. Umweltschützer und
Vertreter indigener Völker fürchten
deshalb, dass der Rohstoffabbau auch
die Schutzgebiete in Mitleidenschaft
ziehen würde. Die Regierung kündigte
bereits an, Einspruch gegen das Urteil
einlegen zu wollen.
Teilerfolg vor Oberstem Gericht
Ein weiteres Gerichtsurteil zugunsten
indigener Völker ist am 16. August
gefallen. Brasiliens Oberstes Gericht
wies die Klage des Teilstaates Mato
Grosso gegen die Einrichtung indigener
Schutzgebiete durch die Zentralregie-
rung zurück. Mit 8 zu 0 Stimmen wurde
dem Teilstaat damit eine Entschädi-
gung verwehrt. Eine weitere angekün-
digte Entscheidung über das Recht auf
Land für indigene Völker wurde vertagt.
Mato Grosso hatte gegen die Einrich-
tung mehrerer Schutzgebiete geklagt.
Es handelt sich um den 1961 errichte-
ten Xingu-Park sowie Gebiete, die den
Völkern Nambikwara und Parecis 1968
zugesprochen wurden. Der Teilstaat
hatte angeführt, dass die Gebiete den
Indigenen zu Unrecht übertragen wor-
den seien, und deshalb eine Entschä-
digung von umgerechnet 535 Millionen
Euro gefordert. Die Richter stellten
jedoch klar, dass es sich um traditio-
nelle Siedlungsgebiete der Indigenen
handele. Rund 250 Indigene feierten die
Entscheidung auf einem Platz vor dem
Obersten Gericht.
Korrektur: In der letzten Aus-
gabe 2/2017 haben wir auf den
Seiten 14 bis 16 fälschlicherwei-
se das Wort „Flussumleitung“
benutzt. Korrekt muss es „Fluss-
ableitung“ heißen, weil nicht
der ganze Rio São Francisco
umgeleitet, sondern sein Was-
ser in Kanälen abgeleitet wird.
BRASILIEN
Gerichtserfolge für Indigene Zwei Gerichtsurteile in Brasilien stärken die Rechte der Indigenen und den Schutz des Amazonas-Urwaldes.
Weitere aktuelle Nachrichten und
Hintergrund berichte finden Sie
täglich auf unserer Homepage:
Y www.blickpunkt- lateinamerika.de
5
Nur notdürftig ist das Dach dieser Hütte in Bonbon mit Plastikplane ausgebessert. Hurrikan Matthew beschädigte 2016 80 Prozent der Häuser in der Diözese Jérémie.
6
Mondlandschaft im Paradies HAITI: EIN JAHR NACH DEM WIRBELSTURM TEXT: MICHAEL GÖSELE, FOTOS: MARTIN STEFFEN
Ein Jahr nach dem verheerenden Hurrikan Matthew, der auf Haiti weite Landstriche in Mondlandschaften
verwandelt hat, sind die Schäden noch deutlich zu sehen und die Folgen zu spüren: zerstörte Gebäude, karge
Felder und verletzte Seelen. Aber die Menschen geben nicht auf.
Die Sonne brennt erbarmungslos. In Chirak, einem
kleinen Bergdorf rund 15 Kilometer von Jérémie ent-
fernt, gibt es nicht mehr viel, was ein wenig Schatten
spenden könnte. Hurrikan Matthew, der Anfang
Oktober 2016 über den Westteil Haitis zog, hat hier
alles weggerissen: Bäume, Dächer, ganze Hütten – und
die Existenz Tausender Menschen.
Ein paar Planen wurden notdürftig über die Mauer-
reste gespannt, die der Wirbelsturm hier stehen ließ.
Schwester Mirca vom brasilianischen Orden Irmãs
do Imaculado Coração de Maria, der seit Jahrzehnten
schon mit Unterstützung von Adveniat in der Region
Hilfe leistet, besucht die Bewohner von Chirak, um
die schwierige Lage mit den Menschen gemeinsam zu
erörtern.
Die meisten schweigen. Das Reden überlassen sie
Florent. Der 47-jährige Vater von vier Kindern hält die
Gemeinschaft von Chirak zusammen. Er organisiert,
regelt und verhandelt mit Nachbarn, Verwandten –
und mit Schwester Mirca.
„Der Himmel war zwar schwarz und die Wolkentürme
schimmerten rötlich-violett, aber wir konnten damals
nicht ahnen, was da auf uns zurollte“, erklärt Florent.
Die äußeren Bänder von Hurrikan Matthew, die Vor-
läufer, brachten schon am 3. Oktober 2016 sintflutarti-
ge Regenfälle über den Nordwesten des Inselstaates,
aber die Bewohner von Chirak blieben ruhig. Warum
hätten sie sich auch übermäßig sorgen sollen, sind
die Regengüsse in der Region doch häufig von einer
enormen Wucht. „Wenn es mal regnet, dann gewaltig“,
sagt Florent, „und an diesem Tag regnete es noch
etwas mehr.“
Dass sich da ein tropischer Wirbelsturm mit Windge-
schwindigkeiten von bis zu 230 Stundenkilometern
auf die Region Grand’Anse und die Stadt Jérémie
zubewegte, war keinem der Bewohner klar. Die Früh-
warnsysteme funktionierten durchaus. In den USA
oder auch in Europa konnte man den Verlauf von
Hurrikan Matthew auf CNN verfolgen. Wetter-Apps
zeigten genau, dass er sich auf Haiti zubewegte. Nur
Florent, seine Familie, die Nachbarn in ihren einfa-
chen Hütten waren ahnungslos. Sie hatten kein Radio,
kein Fernsehen, kein Internet mit Facebook, Twitter
oder WhatsApp.
Florent und seine Familie in Chirak, einem kleinen Dorf in der Nähe von Jérémie.
7Titel
„Als es dann richtig losging, kauerten wir auf dem
Boden unserer Hütte“, erzählt Florent. „Wir klammer-
ten uns aneinander und warteten darauf, dass der
Sturm endlich abziehen würde.“ Aber das tat er nicht.
Der Hurrikan wütete vielmehr rund 12 Stunden über
dem Südwesten Haitis. „Die Katastrophe schien nicht
mehr aufzuhören“, sagt Florent. Er steht auf und führt
Schwester Mirca vor seine provisorische Hütte: „Hier
wurde alles weggerissen. Palmen knickten um, die
Tiere – Kühe, Ziegen, Esel und Hühner – wurden ein-
fach in die Luft gerissen und ins Meer geschleudert.“
Die Stimme stockt dem hageren Mann, wenn er sich
an diese furchtbaren Stunden erinnert. „Die Kinder
schrien, sie weinten. Und wir, die Alten, haben ver-
sucht, tapfer zu bleiben, dabei haben wir selbst nicht
mehr geglaubt, dass wir das überleben würden.“
Schwester Mirca hört sich die Geschichte von Florent
und seinen Nachbarn an. Sie hat die Erzählungen der
Menschen in der Region Grand’Anse schon oft gehört.
Auch hier, in Chirak. Einmal im Monat schaut die
36-jährige Ordensschwester seit dem Hurrikan in dem
Bergdorf vorbei, bringt den Menschen Bohnen, Reis,
Mehl und Medikamente.
Ein Besuch in Chirak ist mühsam. Der Geländewagen,
mit dem sie sich in der Region Grand’Anse fortbewegt,
schafft es nicht bis hierher. Nur Trampelpfade führen
den Berg hinauf in die kleine Siedlung. Vorher müssen
Schwester Mirca und ihre Helfer noch durch den Fluss
Guinaudée waten, denn eine Brücke gibt es nicht.
Jedes Reiskorn, jede Bohne und jede einzelne Tablette,
die die Bewohner von Chirak derzeit benötigen, muss
in Kisten und Säcken über die glitschigen Steine des
Flusses balanciert werden, bevor der 40-minütige Auf-
stieg zu dem Dorf beginnt.
ERNTEAUSFÄLLE EINES GANZEN JAHRES
Die Bewohner der Region haben durch den Hurrikan
vom Oktober 2016 Ernteausfälle von mindestens zwölf
Monaten zu ertragen, erklärt Mirca. Bei vielen Fami-
lien ginge es um das blanke Überleben. Nicht erst seit
„Matthew“ besucht Schwester Mirca das kleine Ört-
chen Chirak. „Wir waren regelmäßig hier“, erklärt die
Ordensfrau. „Die Menschen waren bis zu dem Sturm
auf einem guten Weg, wir haben vieles über die Jahre
gemeinsam aufgebaut.“
In Basisgemeinden, wie hier in Chirak, treffen sich
die Menschen, um sich gegenseitig zu helfen, zu
unterstützen, gemeinsam zu beten und zusammen-
zuarbeiten. Die Ordensfrauen begleiten die Arbeit
der Basisgemeinden. Sie leisten klassische Hilfe zur
Selbsthilfe, indem sie mit den Menschen vor Ort
Saatschulen anlegen, die Bewohner in landwirtschaft-
lichen Techniken, Handwerk und Hygiene fortbilden
sowie medizinisch versorgen. Aber jetzt, nachdem der
Wirbelsturm an Orten wie Chirak fast alles zerstört
hat, muss Schwester Mirca zuerst Nothilfe leisten.
„Unsere Esel wurden weggerissen, jetzt müssen wir
das Wasser in Kanistern vom Fluss unten hoch auf
den Berg schleppen“, erzählt Florent. Mirca hört ihm
geduldig zu, vermittelt Zuversicht, dabei weiß sie im
Moment auch nicht, wie sie und ihre Mitschwestern
die Betroffenen von Hurrikan Matthew wieder in ein
normales Leben zurückführen können. Im kargen
Schatten eines zerrupften Baumes liegt der letzte Esel,
der Florent und seinen Nachbarn geblieben ist – dürr,
ausgemergelt und müde.
SIE GEBEN NICHT AUF
Für die Anschaffung weiterer Tiere fehlt das Geld,
zumal die Menschen in Chirak zunächst einmal die
Dächer ihrer Hütten wieder reparieren müssen. Und
weil das Land nach der Naturkatastrophe kaum noch
etwas hergibt, müssen die Menschen zusätzlich Le-
bensmittel kaufen. Der Mangel allenthalben wirkt sich
auch auf die Ausbildung der Kinder aus, denn wenn
es – wie jetzt – tatsächlich an allem fehlt, bleibt auch
kein Geld für Schule und Bildung übrig.
„Den Menschen, die ohnehin noch nie viel hatten,
wurde mit dem Hurrikan einfach alles genommen“,
sagt Mirca, die trotz der Strapazen dieses Tages immer
wieder ein Lächeln bereithält. Was sie stärkt und
antreibt, ist ihr Wissen um die Menschen, die sie
betreut: „Florent und all die anderen hier rund um Jé-
rémie sind stark. Sie geben nicht auf, obwohl sie viele
Gründe hätten, irgendwann einfach zu resignieren.“
Seit fünf Uhr ist die Ordensschwester an diesem Tag
unterwegs. Zuerst hat sie einer Basisgemeinde in
Jérémie den Gebrauch von Wasserfiltern erklärt. Dann
hat sie auf dem Bergrücken an der gegenüberliegen-
den Seite des Flusses die Kirche Martin de Tours von
Grand Vincent besucht, von der nach dem Wirbel-
sturm nur noch Fragmente der Grundmauern übrig
geblieben sind. Sie hat um die Mittagszeit unweit der
Kirchenruine Saatgut verteilt – Bohnen, Kohl, Spinat
und Yams, ein in Haiti verbreitetes Wurzelgemüse.
Erst gegen 20.30 Uhr wird sie an diesem Tag zurück in
die einfache Unterkunft ihres Ordens kommen. Ein
ganz normaler Arbeitstag in ihrem Leben, sieben Tage
die Woche.
Rechts: Schwester Mirca bei einem Treffen der Basisgemein-de von Chirak.
8 Titel
9
Die Kirche der Pfarrei Grand Vincent ist nicht die ein-
zige, die der tropische Wirbelsturm im Oktober 2016
zerstört hat. Von 45 Kirchen haben nur sieben die
Katastrophe einigermaßen unbeschadet überstanden.
Von den 270 Kapellen in der Region Grand’Anse, an die
zumeist auch Schulen angegliedert sind, wurden rund
230 zerstört. Der anstehende Wiederaufbau wird Jahre
brauchen und unter anderem von Proche, der Wie-
deraufbauinitiative der katholischen Kirche in Haiti,
begleitet werden.
ERINNERUNG AN DAS GROSSE BEBEN
Proche steht für „Proximité Catholique avec Haïti et
son Église“ und heißt auf Deutsch so viel wie „Nähe
der Katholiken zu Haiti und seiner Kirche“. Das Projekt
wurde infolge des verheerenden Erdbebens vom 12.
Januar 2010 ins Leben gerufen, das die Hauptstadt
Port-au-Prince samt umliegenden Städten komplett
zerstörte.
Bei dem Beben der Stärke 7,0 auf der Richterskala ka-
men damals mehr als 220.000 Menschen ums Leben,
unzählige wurden verschüttet und schwer verletzt
geborgen. Etwa 1,5 Millionen Menschen verloren ihr
Obdach, und auch die katholische Kirche in Haiti, der
rund 70 Prozent der Bevölkerung angehören, musste
schlimme Zerstörungen verkraften. Priester, Ordens-
frauen und ehrenamtliche Mitarbeiter kamen ums
Leben, Kapellen, Kirchen, Schulen und Krankensta-
tionen wurden dem Erdboden gleichgemacht. Noch
heute sind in Haitis Hauptstadt Port-au-Prince und in
der Umgebung der Metropole die verheerenden Aus-
wirkungen des Erdbebens von 2010 zu sehen – mehr
als sieben Jahre später. Proche hat es sich zur Aufgabe
gemacht, hurrikan- und erdbebensicher zu bauen,
damit sich Ähnliches nicht mehr wiederholen kann.
Stephan Destin, Direktor von Proche, steht auf der
Baustelle der Christ-Roi-Kirche in Port-au-Prince.
Betonmischer, Schlagbohrer, Stimmengewirr. Die Au-
ßenmauern des Gotteshauses stehen, darüber prangt
eine kühne Dachkonstruktion aus schweren Metallträ-
gern. Dutzende von Arbeitern sind am Werk.
„Für viele Haitianer ist die Kirche insbesondere in
schweren Zeiten ein wichtiger Anlaufpunkt. Hier fin-
den die Menschen Trost und letztlich auch Zuflucht“,
erklärt der Haitianer Destin, der vor Jahren in den USA
ein Bauingenieurstudium absolviert hat. „Spätestens
nach dem Beben von 2010 ist den Menschen bewusst
geworden, dass wir unsere Gebäude sicherer bauen
müssen, da Haiti in einer Zone liegt, die stark von Erd-
beben gefährdet ist.“
10 Titel
Einen schnellen Wiederaufbau um jeden Preis hält
Destin für falsch. „Qualität, Sicherheit und Nachhal-
tigkeit stehen bei unseren Projekten an erster Stelle“,
sagt Proche-Direktor Destin. „Die neu errichteten Bau-
ten müssen nicht nur ihrer eigentlichen Bestimmung
dienen, sondern auch Schutz bieten – Schutz vor Erd-
beben und Hurrikans. Sie dürfen nicht zu Todesfallen
werden, weil man die Außendarstellung des Wieder-
aufbaus über dessen Qualität gestellt hat.“
IMPROVISIEREN STATT RESIGNIEREN
Durch die zerstörte Infrastruktur nach dem schweren
Beben im Jahr 2010 und nun auch nach dem verhee-
renden Hurrikan im Südwesten ist die seelsorgerische
Begleitung der Menschen an manchen Orten nur noch
eingeschränkt möglich. Das betrifft die Pfarreien und
Basisgemeinden ebenso wie die Schulen und Kranken-
stationen. Es wird improvisiert, aber nicht resigniert.
Kirchliche Basisgemeinden treffen sich regelmäßig,
um sich gegenseitig zu unterstützen. Schulunterricht
findet nicht selten unter dem Schutz von Zeltplanen
statt – Gottesdienste bisweilen unter freiem Him-
mel. Die Mitarbeiter von Proche, Ordensschwestern,
Priester und unzählige Helfer, Krankenschwestern,
Lehrer und landwirtschaftliche Fachkräfte setzen sich
mit ganzer Kraft ein. Die Arbeitszeiten richten sich
nicht nach Wochentag und Uhr, sondern nach den Be-
dürfnissen der Menschen, die unter den schwierigen
Lebensbedingungen leiden.
TROTZ ALLEM ZUVERSICHT
„Die Bevölkerung im Hurrikan-Gebiet rund um Jéré-
mie trägt ihr Schicksal zum Teil mit bewundernswer-
ter Kraft“, sagt Schwester Mirca. „Die Menschen geben
nicht auf, sie leisten Nachbarschaftshilfe und hoffen
auf eine bessere Zukunft. Das zeichnet uns Haitianer
aus – egal, wie schwer das Leben auch sein mag.“ Eine
beeindruckende Eigenschaft der Haitianer. Aber auch
eine bedrückende, zeigt sie doch, wie sehr sich große
Teile der Bevölkerung schon an Not und Elend haben
gewöhnen müssen.
Dabei ist die Karibikinsel ein Fleck Erde, den viele als
Paradies betrachten. Ein Paradies, in dem Hurrikan
Matthew mondähnliche Landschaften hinterlassen
hat. Die Haitianer glauben trotzdem an eine Zukunft.
Florent würde sein Stück Land auf dem Berg von
Chirak trotz der großen Not niemals verlassen: „Wir
gehören hierher. Und wir werden bleiben.“ Zum ersten
Mal lächelt der große, dürre Mann, ein wenig schüch-
tern zwar, aber zuversichtlich.
Die Kirche „Christ Roi“ in Port-au-Prince, war bei dem Erdbeben von 2010 ein-gestürzt und wird unter der Leitung des katholischen Wiederaufbau-werkes „Proche“ erdbeben-und hurrikansicher neu errichtet.
11
Links: Margit Wichelmann im Gespräch mit Stephan Destin, Direktor des katholischen Wiederaufbaubüros „Proche“, auf der Baustelle eines neuen Diözesanzentrums in Jacmel.
Rechts: Um die zerstörte Ernte zu ersetzen, ziehen die Mit-glieder der Basis gemeinde gemeinsam Setzlinge.
Wie ist aktuell die Situation in den
von Wirbelsturm Matthew betroffe-
nen Gebieten?
Direkt nach dem Sturm war ich dort und
jetzt wieder im Mai. Ich war überrascht,
wie viele Dächer zumindest notdürftig
repariert waren. Aber, wie die Haitianer
sagen: „Die Dächer können die Sonne
täuschen, nicht den Regen.“ Die Wohn-
hütten sind oft nur mit einigen neuen
Wellblechplatten geflickt worden, die
beim nächsten Sturm sofort wieder weg-
fliegen werden.
Zudem gibt es auf dem Land große Prob-
leme, da nach dem Sturm zunächst eine
große Trockenheit herrschte. Die Saat ging
nicht auf und wurde anschließend von
starken Regenfällen einfach weggespült.
Deshalb ist die Not eher noch schlimmer
als direkt nach dem Sturm, zumal die
unmittelbaren Nothilfeprogramme ausge-
laufen sind. Es droht eine Hungersnot und
die neue Hurrikansaison hat begonnen.
Frage: Was tut Adveniat, um den
Menschen zu helfen?
Adveniat fördert vor allem langfristig
Initiativen der Kirche. Infolge des Sturms
unterstützt Adveniat brasilianische Or-
densfrauen, die mit ihrer mobilen Klinik
abgelegene Dörfer in den Bergen be-
suchen, die von den Hilfskonvois nicht
erreicht werden. Adveniat hilft beim Wie-
deraufbau zerstörter Kirchen – natürlich
erdbeben- und hurrikansicher, damit die
Gebäude zukünftig auch als Schutzräume
dienen. Fahrzeuge sind ganz wichtig, bei-
spielsweise für Krankentransporte. Oft
erzählen mir Pfarrer, dass ohne das von
Adveniat finanzierte Auto ein Schwerkran-
ker kilometerweit zu Fuß zur nächsten
Krankenstation hätte getragen werden
müssen. Denn in ländlichen Gegenden ist
das Auto der Pfarrei oft das einzige vor
Ort. Langfristig helfen vor allem Bildungs-
programme, die der Bewusstseinsbildung
dienen und soziale Projekte anstoßen.
Welche Hoffnung setzen die Men-
schen in den Ende vergangenen
Jahres neu gewählten Präsidenten
Jovenel Moïse?
Die Bevölkerung hofft auf eine handlungs-
fähige Regierung. Es herrscht allerdings
viel Skepsis und nur wenig Vertrauen in
die Politik. Die meisten glauben, dass
auch diese Regierung, wie die vorher-
gehenden, ihre Versprechen nicht halten
wird. Da sowohl Präsident Jovenel Moïse
Mit einem Lächeln trotz Hunger und NotMargit Wichelmann, Länderreferentin für Haiti beim Lateinamerika-Hilfswerk Adveniat, hat die von Wirbelsturm Matthew
betroffenen Gebiete besucht. Im Interview mit Nicola van Bonn schildert sie ihre Eindrücke vom Stand des Wiederaufbaus
und gibt eine Einschätzung zur politischen Lage im Land – kurz vor dem für Oktober geplanten Abzug der UN-Mission
Minustah.
12 Titel
Hilfe für die Wirbelsturmopfer Die Region um Jérémie, eine Kleinstadt im schwer zugänglichen Südwesten Haitis,
wurde von Wirbelsturm Matthew im vergangenen Jahr besonders hart getroffen.
Viele Menschen haben alles verloren – geliebte Angehörige, das Dach über dem
Kopf, ihre Existenz. Der Sturm riss Menschen und Tiere mit sich, zerstörte die
Wohnhütten und überschwemmte die Felder. Die anschließende Trockenheit ließ
die neue Saat vertrocknen, so dass nun zusätzlich Hunger herrscht.
Hilfe leisten die Schwestern vom brasilianischen Orden Irmãs do Imaculado Co-
ração de Maria. Mit einem Geländewagen und auch zu Fuß besuchen sie abgelegene
Ortschaften, die von den Hilfskonvois nicht erreicht werden können. Im Gepäck
haben sie Medikamente, Nahrung und Kleidung. Sie versorgen Kranke, trösten und
leisten Beistand.
Schon seit Jahren sind die Ordensfrauen im Bistum Jérémie gut vernetzt. Sie haben
überall mit Unterstützung von Adveniat Basisgemeinden aufgebaut, die haupt-
sächlich von Ehrenamtlichen getragen werden. In kleinen Gruppen treffen sich die
Menschen, lesen die Bibel und versuchen danach zu leben. So sind viele Initiativen
entstanden, die den Menschen Lebensmut und Würde zurückgeben, wie Saatschu-
len und Handwerkskooperativen. Inzwischen gibt es im Bistum mehr als 400 Basis-
gemeinden mit rund 6.000 Mitgliedern.
Nach dem Wirbelsturm müssen die Menschen jedoch vielerorts von vorn anfangen
und alles neu aufbauen. Damit das gelingt, kümmern sich die Ordensfrauen vor
allem um die Menschen, die von allen anderen Hilfen abgeschnitten sind.
Wenn Sie die Arbeit der Schwestern un-
terstützen wollen, dann füllen Sie bitte
die Einzugsermächtigung auf der letz-
ten Heftseite aus (Stichwort: Schwes-
tern Jeremie, HAITI) oder überweisen
Sie Ihre Spende direkt auf das Adveniat-
Konto bei der Bank im Bistum Essen:
IBAN: DE03 3606 0295 0000 0173 45,
BIC: GENODED1BBE
Merci!
als auch sein Premierminister ursprüng-
lich nicht aus der Politik kommen, gelten
sie als wenig kompetent. Dazu kommt,
dass die Menschen die Erfahrung ge-
macht haben, dass die Opposition Projek-
te der Regierung blockiert. Ein Beispiel für
Versprechungen, denen die Bevölkerung
wenig Glauben schenkt, ist die Kampagne
„Karawane des Wandels“. Diese Initiative
zielt auf eine Wende in der Agrarpolitik.
Die Landwirtschaft soll exportorientierter
werden. Ob das gelingt und Armut redu-
ziert, muss sich erst zeigen.
Bis zum 15. Oktober dieses Jahres
sollen die Blauhelme aus Haiti abge-
zogen werden. Ist die Zeit reif dafür
oder hinterlässt die UN-Mission ein
unausgefülltes Vakuum?
Ich denke, dass es tatsächlich an der Zeit
ist, die Blauhelme abzuziehen, denn das
Machtvakuum in Haiti haben auch sie
nicht gefüllt. Es wäre auch nicht ihre Auf-
gabe. Die Mission hat viel Geld gekostet
und sie wurde von der Bevölkerung in
Haiti wohl nie akzeptiert. Dazu kommen
Skandale, wie Machtmissbrauch und se-
xuelle Übergriffe sowie die Einschleppung
der Cholera durch die Blauhelme. Jetzt
wird es im Anschluss einen Einsatz von
Blauhelm-Polizisten geben. Aber die Hai-
tianer sehen das mit Skepsis. Die auslän-
dischen Blauhelme werden als Besatzer
angesehen, die vorgefertigte Lösungen
mitbringen, die man nicht einfach auf die
Situation in Haiti übertragen kann.
Was hat Sie an Haiti und den Men-
schen am meisten beeindruckt?
Mich hat einmal mehr die positive und
starke Haltung der Menschen zutiefst be-
eindruckt. Wo wir vielleicht schon lange
aufgegeben hätten, bleiben sie standhaft
und begegnen dir trotz Hunger und Not
noch mit einem strahlenden Lächeln auf
dem Gesicht.
13
„Für die Maya war der Honig ein Elixier
Gottes“, sagt Iván Robledo mit leuch-
tenden Augen. Er deutet auf eine Reihe
goldgelb leuchtender Gläser. Der Honig
stammt aus den Kaffeeanbaugebieten
im Süden Mexikos und wurde von Bau-
ern der Kooperative „Chabtic“ eigen-
händig gesammelt und geschleudert.
Probiert man einen Löffel, glaubt man
dem Imker sofort. Doch beim edlen
Rohmaterial, das seine Bienen gesam-
melt haben, fängt es erst an. Honig mit
Ingwer, mit Kardamom, mit scharfem
Chili oder mit grünem Apfel – Robledo
reicht die von ihm erfundenen Kreatio-
nen auf winzigen Plastiklöffeln herum
und freut sich riesig über die „Mhhhs“
und „Ahhs“ seiner Besucher.
Aus dem Versuch indigener Kaffeebau-
ern, ihr Einkommen zu verbessern, ist
in kürzester Zeit ein Verkaufsschlager
geworden: „Innerhalb von drei Jahren
haben wir unseren Absatz verdreifacht“,
sagt Robledo. In Supermärkten der
Region und an katholischen Univer-
sitäten wird die Marke vertrieben. 13
Tonnen Honig verarbeitet die Koope-
rative, der derzeit 33 Imker angehören.
Geht es nach Robledo, werden es bald
noch mehr. Pollen, Bienenwachs und
Propolis, das als gesundheitsförderndes
Mittel bei Entzündungen und Verlet-
zungen eingesetzt wird, sind Produkte,
um die er die Palette erweitern will. „Früher verkauften wir den Ho-
nig an die Zwischenhändler, die uns über den Tisch gezogen haben.
Diese Zeiten sind nun zum Glück vorbei.“
Padre Arturo Estrada freut sich über den Eifer – muss aber auch
manchmal bremsen. Gut Ding will Weile haben, und die kollektiven
Entscheidungs- und Lernprozesse der indigenen Bauern brauchen
ihre Zeit, ebenso wie ordentliche Marktstudien. Davon ist der Leiter
der Jesuitenmission von Bachajón überzeugt, die bereits seit vielen
Jahren vom Lateinamerika-Hilfswerk Adveniat unterstützt wird. Ist
aber einmal ein Beschluss gemeinsam gefasst, ziehen alle an einem
Strang. Es sind Erfahrungen aus über 60 Jahren kirchlicher Arbeit
in dieser armen, abgelegenen Gegend im Süden Mexikos. In all den
Jahren haben die Jesuiten die Indigenen vom Volk der Tzeltal hier
begleitet – aus der Schuldknechtschaft und dem Tagelöhnerdasein
in eine florierende Kooperative. „Tic“ heißt „unser“ auf Tzeltal, und
das ist inzwischen zu einer anerkannten Marke geworden. Der Honig
ist nur ein kleiner Teil davon. „Angefangen hat es mit dem Kaffee“,
erzählt Estrada.
Befreiung aus derSchuldknechtschaftFAIRE ARBEIT. WÜRDE. HELFEN – ZUM MOTTO DER DIESJÄHRIGEN WEIHNACHTSAKTIONTEXT: SANDRA WEISS, FOTOS: JÜRGEN ESCHER
Als Tagelöhner auf den Plantagen der Kaffeebarone schuften – das war für Andrés Rodríguez vom Volk
der Tzeltal im Süden Mexikos noch bittere Wirklichkeit. Sein Sohn und seine Tochter arbeiten heute gut
ausgebildet in der Kooperative der Jesuitenmission Bachajón, die vom Lateinamerika-Hilfswerk Adveniat
gefördert wird.
Rechts: Andrés Rodríguez junior arbeitet in der Kaffee-Kooperative Capeltic. Er spricht fließend spanisch und studiert an der Fernuni. Sein Vater arbeitete noch für einen Groß-grundbesitzer in der Schuldknecht-schaft.
14 Hintergrund
Kaffee war das bestimmende Erzeugnis dieser Region – und gleich-
zeitig ein Symbol der Ausbeutung. Das Wissen um die Verarbeitung
blieb den Kaffeebaronen vorbehalten. Mitte des 19. Jahrhunderts
hatten sie sich in dieser Gegend niedergelassen, unter ihnen auch
deutsche Einwanderer wie die Familien Edelmann und Giesemann.
Die Tzeltales standen auf der untersten gesellschaftlichen Stufe: erst
als Tagelöhner, später – als sie im Zuge diverser Landreformen eige-
nen Grundbesitz bekamen – als Zulieferer billigen Rohmaterials an
die Zwischenhändler. „Sie hatten keinerlei Kontrolle über den Preis
und waren der Willkür ausgeliefert“, erklärt Estrada.
„Wir konnten davon gerade einmal so überleben“, sagt Andrés Rodrí-
guez. Der 20-Jährige arbeitet als Techniker in der Kaffeekooperative
„Capeltic“, die ihren starken Kaffee bis nach Japan exportiert. Gleich-
zeitig studiert Andrés in Abendkursen
Betriebswirtschaft. Sein Vater schuftete
noch in Schuldknechtschaft und war
Analphabet, bis er dank der Bibelkurse
der Jesuitenmission Lesen und Schrei-
ben lernte. Vater Andrés Rodríguez ge-
hörte vor 15 Jahren zu den Gründungs-
mitgliedern von „Capeltic“ und verkauft
noch immer den Ertrag seiner drei
Hektar an die Kooperative – ebenso wie
mehr als 300 weitere Bauern aus 50 Ge-
meinden. „Wir bekommen dafür etwas
mehr Geld als bei den Zwischenhänd-
lern, aber noch viel wichtiger sind die
Unten: Andrés Rodríguez senior kommt gerade vom Feld. Als Dia-kon lernte er lesen und schreiben. Heute gehört ihm die kleine Kaffee-finca. Sein Gesicht ist auf dem Plakat der diesjährigen Weihnachtsaktion abgebildet.
15
Padre Arturo Estrada SJ, Leiter der Jesuiten-mission von Ba-chajón im Süden Mexikos.
Kredite, die Schulungen und dass wir
wissen, was aus unseren Kaffeebohnen
gemacht wird“, sagt sein Sohn stolz. Be-
sonders viel Freude hat er derzeit an der
Arbeit in der hauseigenen Kaffeebar, wo
er den Kaffee als schaumigen Cappucci-
no oder cremigen Mokka zubereitet.
Die Kontrolle von der Ernte über
den Produktionsprozess bis hin zum
Endprodukt empfindet auch seine
Schwester Manuela als einen großen
Vorteil der Kooperative. Sie arbeitet
bei „Xapontic“, dem Zweig, der hand-
gefertigte Seifen herstellt. Die Seifen
und die Fertigung von traditionellen
Textilien und Kunsthandwerk sind
die Domänen der Frauen. Traditionell
standen sie im Schatten der Männer,
waren für Haus, Gemüsegarten und
Kinder zuständig. Dass Mädchen länger
als vier, fünf Jahre zur Schule gehen
oder gar einen eigenen Beruf ergreifen
und Geld verdienen, war bis vor einer
Generation noch undenkbar. Die Frauen
waren oft auf sich allein gestellt. Viele
Männer verdingten sich monatelang als
Tagelöhner oder wanderten ab in die
Fertigungsbetriebe im Norden Mexikos,
wo mehr Geld zu verdienen war. „Es
ist wichtig und eine Quelle des Selbst-
bewusstseins, wenn wir Frauen unser
eigenes Geld verdienen“, erzählt die 26-jährige Manuela. Als eine der
ersten Frauen der Kooperative hat sie Abitur gemacht und ist für Ver-
trieb und Qualitätskontrolle zuständig.
Ob in der Honigfabrik, der Kaffeerösterei, der Näherei oder bei der
Seifenherstellung – es herrscht eine ruhige, entspannte Atmosphäre,
fernab vom Diktat der Stechuhren und der Börsenkurse. „Ich schaffe
und verkaufe eigene Kreationen, das erfüllt mich mit Stolz“, sagt die
Näherin Eustachia Pérez, ohne von ihrer alten Nähmaschine aufzu-
blicken, um ja keinen falschen Stich zu setzen. „Natürlich verdiene
ich auch mehr Geld. Aber vor allem bin ich glücklich, dass man
schätzt, was ich bin und was ich kann.“ Es ist nicht die Gewinnma-
ximierung, der alles unterworfen ist, sondern die Suche nach einem
selbstbestimmten, würdigen Leben, in dem die Arbeit Sinn stiftet
und Freude macht. Und es geht um kollektive Lernprozesse, einen
Bruch mit dem Paternalismus, der die Region so lange prägte. „Das
ist für mich Nachhaltigkeit“, sagt Padre Arturo Estrada.
„Faire Arbeit. Würde. Helfen.“ Die Adveniat-Weihnachtsaktion 2017Unter dem Motto „Faire Arbeit. Würde. Helfen.“ stellt das Lateiname-
rika-Hilfswerk Adveniat das Recht auf menschenwürdige Arbeit in
den Mittelpunkt der diesjährigen Weihnachtsaktion. Eröffnet wird
diese am ersten Adventssonntag, 3. Dezember 2017, im Erzbistum
Paderborn. In den Monaten November und Dezember sind Adveniat-
Aktionspartner wie Padre Arturo Estrada aus Mexiko in den deut-
schen Bistümern unterwegs, um davon zu berichten, wie sie Men-
schen aus ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen befreien und ihnen
mit gerecht entlohnter Arbeit Perspektiven eröffnen. Mehr Infos
unter www.adveniat.de/weihnachtsaktion
Hintergrund16
Wo finden die Tzeltales hier in
Chiapas Arbeit?
Die meisten sind Kleinbauern und Selbst-
versorger. Die Frauen sind traditionell
für die Tiere und den Gemüsegarten zu-
ständig, die Männer für den Acker und
die Kaffeeplantage. Die Kinder lernen
die Landwirtschaft von den Eltern. Die
Gemeinschaft und Gemeinschaftsarbeit
sind sehr wichtig. Es geht darum, dass die
Gemeinschaft harmonisch wächst, nicht
um das individuelle Anhäufen von Reich-
tümern. Vielen jungen Leuten geht das zu
langsam und sie haben höhere materielle
Ansprüche. Sie suchen auswärts Arbeit,
vor allem auf dem Bau oder im Touris-
mus, zum Beispiel in Cancún. Andere
arbeiten bei der Gemeindeverwaltung
oder als Tagelöhner in den Monokulturen
in Nordmexiko.
Diese traditionellen Strukturen sind
in den Augen der Regierung und der
Unternehmer veraltet, rückständig,
vorkapitalistisch und ein Grund dafür,
dass der Bundesstaat Chiapas zu den
ärmsten in Mexiko gehört. Wie sehen
Sie das?
In der kapitalistischen Logik ist Chiapas
ein Lieferant für billige Energie, für Rind-
fleisch oder Palmöl. Doch die Agroindust-
rie schafft sklavenähnliche Strukturen, die
den Bauern keine eigenständige Entwick-
lung ermöglichen. Zum Beispiel mieten
die Konzerne in der Regel das Ackerland.
Im ersten Jahr zahlen sie ganz gut, und
dann senken sie kontinuierlich den Miet-
preis, denn sie wissen, dass die Bauern
nichts anderes mehr mit ihrem Land
machen können, wenn es einmal gerodet
ist und mit Düngern und Pestiziden für
Monokulturen verseucht wurde.
Welche Logik setzt die Jesuitenmis-
sion mit ihren Kooperativen dagegen?
Unser Ziel ist Autonomie. Das beginnt
damit, dass die Tzeltales 80 Prozent ihrer
benötigten Lebensmittel selber herstellen
und damit ihre Produktionsmittel und ihre
Gesundheit in der eigenen Hand haben.
Zum anderen stärken wir über die Koope-
rativen die interne Organisation. Wenn
wir ihnen dann noch helfen, moderne,
ökologisch verträgliche Anbaumethoden
zu beherrschen und sie international
vernetzen, sind sie ihr eigener Herr und
können selbst ihr Land gewinnbringend
nutzen. Unsere Schwerpunkte sind des-
halb die Bildung und die Stärkung der in-
digenen Kultur und Organisation.
Welche Rolle spielt der Glauben
dabei?
Der Glauben spiegelt sich im Alltag wider,
etwa in der Hoffnung, dass eine andere
Welt möglich ist. Oder in der Überzeu-
gung, dass Mutter Erde keine Handels-
ware ist. Wir wollen von einer Theologie
des Widerstands zu einer Theologie des
Guten Lebens gelangen, also ein Modell,
das wirtschaftliche und politische Alterna-
tiven bietet. Unser Ziel ist die Verschmel-
zung von Glauben und Gerechtigkeit.
Verzichten wir mit dieser Form des
Wirtschaftens und Lebens nicht auf
die Errungenschaften der industriel-
len Revolution und auf das, was wir
unter Moderne verstehen?
Ich halte linear aufsteigende Entwicklung
für einen westlichen Irrglauben. Es gibt
unterschiedliche Formen des Wissens
und der Entwicklung. Das ist aber keine
Einbahnstraße. Wir können von den in-
digenen Gemeinden lernen, aber auch
sie sollten sich unserem Wissen öffnen.
Zum Beispiel gibt es bei den Tzeltales kein
Bewusstsein für Umweltverschmutzung
durch Müll. Alles wird einfach weggewor-
fen. Das ging vor 100 Jahren gut, als fast
alles natürlichen Ursprungs war und von
selbst verrottete, aber mit dem Plastik
heutzutage ist das eine Katastrophe.
Was können wir in Deutschland von
den Kooperativen-Erfahrungen in
Chiapas lernen?
Zum Beispiel die Art, wie man eine Ge-
meinschaft bildet und den Individualis-
mus hinter sich lässt. Besuchern von
außen fällt immer die Freundlichkeit hier
auf, wie viel Zeit sich die Menschen für-
einander nehmen, wie sie sich namentlich
begrüßen und die Probleme der anderen
kennen. Zum Beispiel sind die Türen zu
jeder Uhrzeit für jeden offen, das ist ein
Zeichen der Freundschaft und nicht der
Respektlosigkeit.
Abgesehen von der Kooperative –
welche Erfolge hat die Mission seit
ihrem Bestehen erreicht?
Wir haben es geschafft, die Sprache, also
Tzeltal, aus der Familie herauszukatapul-
tieren in den öffentlichen Raum. Sobald
eine Sprache in der Schule und auf der
Arbeit Anwendung findet, ist sie nützlich
und hat eine Chance zu überleben. Das
ist deshalb so wichtig, weil die Sprache
Identität gibt. Das ist uns gelungen. Zum
anderen haben wir einen interkulturellen
Dialog mit der Weltwirtschaft etabliert.
Die Kaffeekooperative exportiert unter
anderem nach Japan.
Über Entwicklung und westlichen IrrglaubenIm Interview spricht Padre Arturo Estrada, Koordinator und Direktor der Jesuitenmission von Bachajón, über politische und
wirtschaftliche Alternativen zur kapitalistischen Logik. Er ist überzeugt davon, dass die unterschiedlichen Kulturen vonein-
ander lernen können. Sandra Weiss hat mit ihm gesprochen.
17
Das Leben von Nancy Salva und Sohn Rai sollte endlich
besser werden. In São Paulo könnte sie als Bürokraft
mehr verdienen als in Bolivien, sagte man ihr. Doch
dann war alles anders. Statt Büro waren 18 Stunden
Nähen angesagt. Geschlafen wurde in einem Kabuff
daneben. Für das Essen ihres Sohnes musste sie Extra-
schichten einlegen.
Geld sah sie nie. Stets schuldete sie ihrem Chef etwas,
für die Reise, für Unterkunft und Essen. Es hörte nie
auf, es wurde nie weniger. Sie dachte an Flucht, doch
die brasilianische Polizei würde sie sofort einsperren,
dann deportieren, sagte ihr Chef, der ihre Reisedoku-
mente einbehalten hatte.
Ein normales Schicksal im Ostteil São Paulos, sagt
Roque Patussi, Koordinator der Migrantenpastoral. „Sie
sind vor dem Leid von zu Hause geflohen, hier tragen
sie ein noch schwereres Kreuz.“ Die meisten Bolivia-
ner seien vollkommen hilflos, wüssten nicht, wo sie
sind, wie ihr Chef heißt oder was ihre Rechte sind. Wie
können sie da jemanden anzeigen? „Illegal zu sein be-
deutet, in die Hände von Ausbeutern zu fallen.“
AUSBEUTUNG HAT TRADITION
Dabei gibt es Menschen, die ihnen helfen könnten. Wie
Zacharias Saavedra Paucada, der vor zwölf Jahren aus
Bolivien kam und seit sechs Jahren Ehrenamtlicher
bei CAMI ist. Jeden Samstag trifft man ihn auf der Rua
Coimbra im Stadtteil Brás, auch „Klein La Paz“ genannt.
Es riecht nach „Chicharrón de Pollo“, nach „Aji de
Arroz“, dazu dringt indigene Musik aus den Anden aus
den Lautsprechern. Schilder locken Arbeitssuchende
an, „1,50 Reais pro Stück“ soll man angeblich bekom-
men. Das sind umgerechnet knapp 30 Cents.
Zacharias hört sich die Sorgen einer Frau an. Es sind
immer die gleichen Geschichten. Statt „1,50 Reais“ be-
kommen Näher oft nur 20 Centavos pro fertiges Klei-
dungsstück, und wenn man eines falsch näht, wird
einem der Ladenpreis, 30 Reais oder mehr, abgezogen.
Monatelang habe sie umsonst gearbeitet. Zacharias
verspricht, den Anwalt von CAMI zu verständigen.
Die Ausbeutung hat Tradition. Mitte der Sechziger-
jahre starteten südkoreanische Immigranten die mas-
senhafte Textilproduktion in São Paulo. Bald schon
gab es im Ostteil zahlreiche illegale Nähfabriken, in
denen Tausende Bolivianer und Peruaner arbeiteten.
Sie hätten besonderes Geschick, heißt es. Innerhalb
von einer Woche lernten sie, die Nähmaschine fehler-
frei zu bedienen. Brasilianer bräuchten dafür sechs
Monate. Zudem seien sie dankbar für die Chance,
Brasilianer nicht.
Seit einigen Jahren ziehen sich die Koreaner jetzt
aus der Produktion zurück. Zu viele Unfälle, zu viele
Probleme mit den Behörden. Stattdessen geben sie
Auf der Suche nach der verlorenen WürdeDIE ARBEIT DER MIGRANTENPASTORAL CAMI IN BRASILIENTEXT: THOMAS MILZ, FOTOS: FLORIAN KOPP
In der Wirtschaftsmetropole São Paulo arbeiten Zehntausende Bolivianer unter sklavenähnlichen
Bedingungen als Näher. Die Migrantenpastoral CAMI (Centro de Apoio e Pastoral do Migrante) versucht,
sie aus dem Teufelskreis zu befreien.
Rechts: Zacharias Saavedra Paucara, Sozialarbeiter von CAMI, spricht auf dem boliviani-schen Markt mit einer Näherin, die von ihrem Arbeitgeber um ihr Gehalt betrogen wurde.
18 Hintergrund
die Fabriken an Bolivianer weiter, mit der Auflage, für
Nachschub an Arbeitern aus der Heimat zu sorgen.
Etwa 200.000 Bolivianer leben in São Paulo, rund
60 Prozent davon illegal. Aber selbst wer legal ist, ist
nicht vor Ausbeutung sicher. Das Leben hier ist teurer
als der karge Verdienst in lokalen Unternehmen. Die
illegalen Nähfabriken bieten hingegen alles, was man
braucht: einen Schlafplatz, Essen und Arbeit. So gehen
viele freiwillig in die Ausbeutung.
„Viele Bolivianer hoffen, eines Tages selbst Besitzer
einer Nähfabrik zu werden“, sagt Patussi. Sobald man
Geld gespart hat, kauft man zwei Nähmaschinen und
wirbt Verwandte aus Bolivien an. „Und setzt die in den
gleichen Ausbeutungszyklus, den man selber durch-
laufen hat.“ Das lohnt sich. Jeder illegale Näher erwirt-
schaftet monatlich rund 2.800 Reais.
CAMI sei die Brücke zu den Ausgebeuteten, sagt Pa-
tussi, man knüpft Netzwerke für die Ankommenden,
unterrichtet sie in Portugiesisch und ihren Rechten.
Die Mitarbeiter von CAMI besuchen Bolivianer, die an
der Peripherie auf Müllhalden leben, in Bretterbuden,
in Häusern ohne Fenster und Türen. „Je weiter man
vom Zentrum weggeht, desto schlechter werden die
Arbeitsbedingungen“, so Patussi.
Doch dort gibt es auch Hoffnung. Zacharias ist bei den
Brüdern Coila zu Besuch. Vor 27 Jahren kamen sie aus
Bolivien. Richtig angekommen seien sie nie, sagen sie.
In einem Haus im äußersten Osten der Stadt nähen sie
bis zu 20 Stunden täglich Hemden, Hosen und Jacken.
Nachts um 2 Uhr macht sich Cesar dann mit Säcken
voll Kleidung auf in Richtung Zentrum. Dort verkauft
er auf einer bestimmten Stelle des Bürgersteigs bis
6 Uhr morgens. Dafür haben sie der Straßenmafia
Tausende Dollars bezahlt. Mit Sonnenaufgang kommt
die Polizei, und wer nicht schnell genug flieht, dem
nehmen sie alles ab. „Sie machen Jagd auf uns, es ist
erniedrigend“, sagt sein Bruder Carlos.
DIE WÜRDE ZURÜCKBEKOMMEN
Ein Verkaufszentrum nur für Migranten ist ihr Traum.
Dort könnten die Bolivianer ihre Waren direkt und un-
gestört anbieten. Es wäre Schluss mit den Mafias und
den prügelnden Polizisten. Das gäbe ihnen ihre Würde
zurück, sind die Brüder überzeugt.
Nancy Salva hat den Absprung aus der Ausbeutung der
Nähfabrik längst geschafft, dank der Unterstützung
von CAMI. Sie betreibt nun ihren eigenen Laden, im
Hinterzimmer lebt sie mit Sohn Rai. Heute wird sie
die letzte Rate für die eigene Nähmaschine bezahlen.
Oben: Nancy Salva, 41 Jahre, arbeitet heute in ihrer eigenen Schneiderwerk-statt.
19
Ich wuchs in der Stadt Granada im De-
partement Meta auf. Mein Vater verließ
meine Mutter, als ich sechs Jahre alt
war. Wir waren sehr arm, meine Mutter
ging um drei Uhr zur Arbeit und kehrte
um 22 Uhr zurück. Meine beiden Brüder
und ich lebten praktisch alleine.
Mit zwölf Jahren ging ich mit meinen
Brüdern in das Departement Vichada.
Wir arbeiteten auf einer Kokaplantage
in einer Roten Zone. Die Gegend wurde
von der Farc-Guerilla kontrolliert. In
der Region war auch Carlos Lehder
aktiv, der Drogenhändler. Er kooperierte
mit den Farc.
Eines Tages kamen bewaffnete Männer,
die mich zwangen, mit ihnen zu kom-
men. Im Camp wurde ich Carlos Lehder
präsentiert. Ich hatte noch keine Brüste,
aber er begann, mich zu berühren. Ich
sagte, dass ich das nicht wolle, und er
antwortete, dass ich zu tun hätte, was
man mir sage. Einer der Männer schlug
mich bewusstlos, und als ich wieder
aufwachte, war ich nackt. Lehder sagte:
„Hör auf zu weinen und geh dich wa-
schen.“
Ich blieb vier Jahre bei der Farc-Gueril-
la, ich war in der 16. Front. Ich lernte,
wie man mit Waffen umgeht, und trug
eine Uniform. Ich musste mitansehen,
wie sie eine schwangere Frau töteten.
Einmal sagten sie mir, dass ich zwei
Brüder und den Verwalter einer Finca
töten müsse, die Bekannte von mir
waren. Wenn ich es nicht täte, würden
sie mich töten. Als ich vor den Männern
stand, sah ich ihre flehenden Blicke. Ich
betete: „Ich will das nicht machen.“ Ein
Engel erschien für mich. Sie nannten
ihn El Loco, und er erschoss diese
Menschen mit einer Pistole. Eines Tages
bat ich Carlos Lehder, dass er mir helfen
solle. Ich wurde seine Haushaltshilfe,
ich musste die Joints für ihn rollen.
Mein Bruder Willian war auch von den
Farc rekrutiert worden. Eines Tages
trafen wir uns. Dafür bestraften sie
uns und schickten uns zur Arbeit auf
eine Finca. Ich fand heraus, dass dort
Geldverstecke von Carlos Lehder waren.
Aber von diesen Verstecken wussten
die Farc nichts. Nur zwei Arbeiter
auf der Finca. Zur Strafe schickten sie
uns in ein isoliertes Camp mitten im
Dschungel.
Ich bekam Hepatitis B und Malaria.
Mein Bruder baute ein Floß und wir
versuchten zu entkommen. Aber das
Floß kenterte und mein Bruder rettete
mich. Wir liefen zwei Tage durch den
Dschungel. Wir trafen Eingeborene, die
mich mit Kräutern heilten.
Schließlich kam ich zurück zu meiner
Mutter. Aber sie war verrückt gewor-
den. Auch meine Brüder desertierten,
aber die Farc töteten sie aus Rache.
Seit sechs Jahren bin ich in Villavicen-
cio. Ich habe einen 16-Jährigen Sohn,
weil vier Paramilitärs mich vergewaltig-
ten. Ich weiß nicht, von welchem mein
Sohn ist. Ich habe auch zwei Töchter.
Nun bedrohen die Paramilitärs mich,
weil ich in einer Opferorganisation
bin. Sie haben vor meinem Haus ge-
schossen. Sie sagen, dass wir still sein
sollten. Die Regierung hilft uns nicht.
Wir Opfer sind alleine.
Florenia Parradias (40),
Bürgerkriegsopfer
„Wir Opfer sind alleine“ ZEUGNIS EINER ZWANGSREKRUTIERTEN FARC-KÄMPFERIN IN KOLUMBIENÜBERSETZUNG: PHILIPP LICHTERBECK
Nach dem Friedensschluss zwischen der Guerilla-Gruppe Farc und der Regierung
in Kolumbien hat Papst Franziskus Anfang September erstmals das Land besucht.
Es war ihm vor allem ein Anliegen, die Menschen zur Versöhnung zu ermuti-
gen. Wie schwierig das mitunter für diejenigen ist, deren Leben jahrzehntelang
durch Hass und Gewalt geprägt war, wird deutlich in den Worten der ehemaligen
zwangsrekrutierten Farc-Kämpferin Florenia Parradias, deren Zeugnis Philipp
Lichterbeck wörtlich übersetzt hat. Hoffnungsvolle Momente und Begegnungen
dagegen schildert die Journalistin Alexandra Endres in ihrem Reisebericht über
Kolumbien. Sie erzählt von Menschen, die auch unter widrigen Lebensbedingun-
gen Widerstandsfähigkeit beweisen und sich mit Mut und Kreativität für eine
bessere Welt einsetzen.
20 Zeugnis
Kolumbien ist gerade angesagt. An
der Karibikküste entstehen Hotel-
burgen für das betuchte Publikum.
Die Partyhopper haben Medellín für
sich entdeckt. Und die Backpacker
wagen sich wieder in Landesteile vor,
die früher als No-go-Areas galten.
Die Journalistin Alexandra Endres hat
Kolumbien 2016 bereist – in jenen
Monaten, als die Vertreter von Regie-
rung und Farc das Friedensabkommen
verhandelten.
Endres’ umfangreicher Reisebericht
stellt spannende Orte vor, die für ein-
heimische wie ausländische Reisende
erreichbarer werden. Viel mehr jedoch
konzentriert sich die Autorin auf repor-
tageartige Beschreibungen der kolum-
bianischen Lebenswirklichkeit und auf
Portraits von Menschen, die das Zu-
sammenleben in dem vom Bürgerkrieg
geschundenen Land verbessern wollen.
Die Tour beginnt in der afrokolumbia-
nischen Metropole Cartagena, die sich
zurzeit stark wandelt: Die Eliten inves-
tieren in die Reiseindustrie, während
viele ärmere Bewohner an die Ränder
der Stadt gedrängt werden. Die soziale
Schere klafft weit auseinander, und die
beiden Enden finden kaum noch Gele-
genheit, sich über das gesellschaftliche
Miteinander zu verständigen: Was tun
gegen Bandenkriminalität, ausufern-
den Drogenkonsum und die horrend
hohe Zahl von Mädchenschwanger-
schaften – allesamt Phänomene, denen
die Autorin in Cartagena und auf
anderen Stationen begegnet. Wie gut,
dass es beispielsweise die Cantaoras
gibt, Frauen wie Cecilia, die durch die
Straßen ziehen und den Alltag kom-
mentierend besingen: „Ihre Gesänge
helfen den Menschen, nicht verrückt zu
werden, bei sich zu bleiben angesichts
der Gewalt und Diskriminierung, die
viele ertragen müssen.“ Überhaupt sind
es oftmals die Musiker und Künstler,
deren Beiträge zur Heilung vielfältiger
Traumata von der Autorin gewürdigt
werden.
Ähnliches gilt für kirchliche Akteure.
In Quibdó lernt sie Ursula Holzapfel
kennen, die sich um Frauen kümmert,
die vor der grassierenden Gewalt in die
Region Chocó mitten im Regenwald ge-
flüchtet sind. Ursula Holzapfels Arbeit
wird ebenso von Adveniat unterstützt
wie die Nationale Versöhnungskom-
mission, deren Koordinator Padre
Darío Echeverri ist. In der Basilika Voto
Nacional, in der Altstadt von Bogotá,
liest er die Messe und koordiniert von
dort zahlreiche soziale Aufgaben für
die Bewohner der umliegenden Barrios:
„Er predigte und sang im Kirchenschiff,
inmitten seiner Gemeinde, er umarmte
die Leute und schüttelte Hände, er stell-
te Fragen, statt zu belehren, er drohte
nicht mit Strafen, sondern feuerte seine
Zuhörer an, Gutes zu tun, und er sprach
in einer klaren, schlichten Sprache, die
jeder verstand.“
Nicht zuletzt beschäftigt sich die Auto-
rin mit der Lebens- und Glaubenswelt
der indigenen Gemeinschaften. Mit
einem mobilen Ärzteteam besucht sie
die Siedlungen der Wayúu, die sie als
recht misstrauisch beschreibt. Allzu
negativ seien frühere Erfahrungen mit
einzelnen Anthropologen, Medizi-
nern, Beamten und Klerikern gewesen,
so dass man den „weißen Einfluss“
mittlerweile ablehnt, weil man Angst
hat, die eigenen Traditionen könnten
korrumpiert werden. Mamo Camilo,
ein spiritueller Führer der Arhuaco,
sagt von den multinationalen Unter-
nehmen: „Sie glauben, das gehört alles
ihnen. Aber für uns sind es Körperzel-
len der Mutter Erde.“
Bei aller Anklage ist der Mamo freund-
lich und der Reisenden aus Deutsch-
land zugewandt. Sie solle alles in sich
aufnehmen und zuhause von Kolumbi-
en, dem Leben und den Schwierigkeiten
berichten. Und anschließend wieder-
kommen.
Reisen, davon erzählen und wiederkommen EIN REISEBERICHT AUS KOLUMBIEN TEXT: THOMAS VÖLKNER
Alexandra Endres:
Wer singt, erzählt. Wer tanzt, überlebtEine Reise durch Kolumbien
Ostfildern: DuMont Reiseverlag 2017
281 Seiten – 14,99 Euro
ISBN 978-3-7701-8284-8
21Literatur
Das Leben der indigenen Völker am Amazonas ist in Gefahr. Ihre
Lebenswelt wird durch den rücksichtslosen Abbau von Rohstoffen,
Abholzungen oder gigantische Staudammprojekte systematisch
zerstört – auch unter Beteiligung deutscher Unternehmen. Darauf
hat der Amazonas-Beauftragte der lateinamerikanischen Kirche, der
peruanische Bischof Pedro Barreto, im Juni 2017 vor Bundestagsabge-
ordneten gemeinsam mit dem Lateinamerika-Hilfswerk Adveniat
und Misereor hingewiesen.
„Die Weltgemeinschaft muss Antworten auf die Verletzungen der
Menschenwürde und Selbstbestimmung der indigenen Völker und
die Zerstörung der Biodiversität im Amazonas-Gebiet finden“, sagte
der peruanische Bischof Pedro Ricardo Barreto Jimeno von Huan-
cayo. Er erinnerte die deutschen Politiker daran, dass auch Papst
Franziskus mit seiner Sozial- und Umwelt-Enzyklika „Laudato si‘“
die Industrienationen eindringlich dazu aufgefordert hat.
„Wer die schleichende Ausrottung dieser Völker verhindern will,
muss die UN-Konvention ILO Nummer 169 ratifizieren“, sagte Tho-
mas Wieland, Leiter der Projektabteilung des Lateinamerika-Hilfs-
werks Adveniat. Das einzige verbindliche internationale Abkommen
zum Schutz indigener Völker garantiere zum Beispiel, dass diese
Völker angehört werden müssen, wenn auf ihrem Gebiet Rohstoffe
ausgebeutet werden. „Diese Bestimmungen werden vor Ort immer
wieder umgangen, auch weil international viel beach-
tete Länder wie Deutschland das Abkommen bis heute
nicht ratifiziert haben und auf die dortigen Regie-
rungen keinen Druck ausüben“, so Adveniat- Experte
Wieland.
Mit weiteren internationalen Organisationen, unter
ihnen das Lateinamerika-Hilfswerk Adveniat und
Misereor, setzt sich das panamazonische kirchliche
Netzwerk Repam (Red Eclesial PanAmazónica) gegen
die fortschreitende Umweltzerstörung und für das
Überleben der indigenen Völker ein.
Mit dem Kontrast zwischen Schönheit und Zerstörung
arbeitet die Künstlerin Barbara Grave, um auf den
menschengemachten Klimawandel und die Bedro-
hung der Schöpfung aufmerksam zu machen. Ihre
Ausstellung „Hommage Erde“, die vom 28. April bis
zum 21. Mai in der Games Factory Ruhr in Mülheim an
der Ruhr zu sehen war, besuchten rund 150 Interes-
sierte. In vielen Gesprächen informierte die Künst-
lerin über ihre Intention, Bewusstsein insbesondere
für die Zusammenhänge von persönlichem Lebensstil
und globalen Umweltproblemen zu schaffen. Ganz
konkret setzt sich die Künstlerin für Adveniat-Pro-
jekte zum Schutz der Amazonas-Region und der dort
lebenden indigenen Völker ein. Bei der Vernissage
versteigerte sie zugunsten Adveniats zwei ihrer Werke.
Der Erlös von 700 Euro kommt dem Schutz bedrohter
Völker in Lateinamerika zugute.
GEMÄLDEVERSTEIGERUNG ZUGUNSTEN VON ADVENIAT
Malen zum Schutz des Amazonas
AUFRUF DER HILFSWERKE
Schleichende Ausrottung der indigenen Völker
Rechts: Barbara Grave im Atelier.
Unten: Kinder vom Volk der Yanomami. Foto: Jürgen Escher
22 Adveniat aktuell
„Mit seinem Leben für Dialog und
Vermittlung bleibt Bischof Stehle auch
über seinen Tod hinaus ein Wegwei-
ser für den Frieden in Lateinamerika“,
würdigte Adveniat-Bischof Franz-Josef
Overbeck das Leben und Wirken von Bi-
schof Emil Lorenz Stehle. „Seinem un-
ermüdlichen Einsatz für die Menschen,
insbesondere die indigenen Völker,
fühlen wir uns bei Adveniat weiterhin
verpflichtet.“ Der ehemalige Geschäfts-
führer des Lateinamerika-Hilfswerks
Adveniat verstarb am 16. Mai 2017 in
Konstanz im Alter von 90 Jahren.
„Don Emilio“ aus Südbaden
Am 3. September 1926 wurde Emil
Stehle in Herdwangen-Mühlhausen
(Südbaden) als achtes Kind von neun
Geschwistern einer Bauernfamilie ge-
boren. 1951 in der Erzdiözese Freiburg
zum Priester geweiht, stellte Stehle
sich nach sechs Kaplansjahren dem
Katholischen Auslandssekretariat zur
Verfügung, um in der kolumbianischen
Hauptstadt Bogotá eine Gemeinde für
deutschsprachige Katholiken aufzubau-
en. Bischof Dr. Franz Hengsbach, der
damalige Vorsitzende der Bischöflichen
Aktion Adveniat, ernannte ihn 1969 zu-
nächst zum Berater Adveniats mit Sitz
in Bogotá. Von dort aus sollte Stehle die
Kontakte zum Lateinamerikanischen
Bischofsrat Celam aufbauen und sämt-
liche lateinamerikanischen Bischofs-
konferenzen besuchen, um mit ihnen
die Schwerpunkte der Adveniat-Hilfe zu
beraten. Im Oktober 1972 holte Bischof
Hengsbach Emil Stehle als Zweiten
Geschäftsführer in die Geschäftsstelle
nach Essen. Von 1977 bis 1988 war er
Geschäftsführer des Lateinamerika-
Hilfswerks.
Als „Don Emilio“, wie er in Lateiname-
rika liebevoll genannt wurde, 1983 in
Rom zum Bischof geweiht und dem
Erzbischof von Quito in Ecuador als
Weihbischof zur Seite gestellt wurde,
entwickelte er sich mehr denn je zum
Wanderer zwischen zwei Welten. 1987
schließlich wurde das Bischofsvika-
riat Santo Domingo de los Colorados
zur Prälatur erhoben, so dass Bischof
Stehle sich entschied, seinen Lebens-
mittelpunkt nach Ecuador zu verlegen.
Für seinen großen Einsatz, besonders
bei den Friedensbemühungen in Zen-
tralamerika, die Befreiung von sieben
Entwicklungshelfern in Nicaragua und
die Pionierarbeit in Santo Domingo
de los Colorados in Ecuador wurde
Bischof Stehle mehrfach ausgezeichnet:
mit drei Ehrendoktor-Titeln und dem
Großen Verdienstkreuz der Bundesre-
publik Deutschland. 2002 kehrte er in
seine Heimatdiözese Freiburg zurück
und lebte seitdem in Konstanz am
Bodensee.
ADVENIAT WÜRDIGT DEN VERSTORBENEN BISCHOF EMIL LORENZ STEHLE
„Ein Wegweiser für Frieden in Lateinamerika“
Bischof Emil Lorenz Stehle am 31. August 2000 in der Prälatur Santo Domingo de los Colorados in Ecuador. Foto: Rolf Bauerdick
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Bischöfliche Aktion Adveniat e.V., Postfach 10 01 52, 45001 Essen
PVSt, Deutsche Post AG, Entgelt bezahlt, K 52635
„Die Menschen hier rund um Jérémie sind stark. Sie geben nicht auf, obwohl sie viele Gründe hätten, irgendwann einfach zu resignieren.“
Ordensschwester Mirca, Haiti