lefebvre die stadt

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Die Stadt im marxistischen Denken (La pensée marxiste et la ville, 1972) von Henri Lefèbvre Vorwort 7 Die Lage der arbeitenden Klasse in England 9 Die Stadt und die Arbeitsteilung 22 Die Kritik der politischen Ökonomie 54 Das Kapital und der Grundbesitz 83 Allgemeine Schlußfolgerungen 112 Vorwort In den Werken Marx' und Engels' finden sich zahlreiche vereinzelte Angaben über die Stadt und die städtischen Probleme. Die Gründer des wissenschaftlichen Sozialismus haben diese Angaben nicht systematisch geordnet. Sie bilden folglich keine doktrinäre Einheit, die von irgendeiner Methodologie oder einer bestimmten Fachdisziplin wie der Philosophie, der politischen Ökonomie, der Ökologie oder der Soziologie abgeleitet wäre. Die von uns berücksichtigten Fragmente werden im allgemeinen, wie man sehen wird, im Zusammenhang mit größeren Themen aufgegriffen: der Arbeitsteilung, den Produktivkräften und den Produktionsverhältnissen, dem historischen Materialismus. Es handelt sich zunächst darum, die vereinzelten Texte beim Wiederlesen des Gesamtwerkes von Marx und Engels zu sammeln. Dieses Wiederlesen ist an sich nichts Besonderes. Man kann nicht von einem "wortgetreuen" Wiederlesen sprechen, weil sein Ziel das Sammeln von Fragmenten und die Hervorhebung der Begriffe und Kategorien des diesen Texten eigenen theoretischen Denkens ist. Man kann es ebensowenig "symptomatisch" nennen, denn es handelt sich nicht darum, in dem Denken Marx' und Engels' einen latenten Inhalt, etwas Nicht-Gesagtes, nachzuweisen, das zu entdecken dem Leser überlassen bliebe. Es ist also eine thematische Lektüre oder Wieder-Lektüre. Unser Thema ist die Stadt und somit die städtische Problematik im theoretischen Rahmen des historischen Materialismus. Beschränken wir uns hierauf? Nein, denn eine solche Vertiefung in die Texte hätte wenig Sinn; sie würde den offiziellen Dogmatismus und die herrschende Scholastik nähren, wenn sie nicht eine Frage aufwerfen und der Antwort eine Richtung geben würde. Umfassen diese Angaben, diese Begriffe die heutigen Probleme der städtischen Wirklichkeit in ihrem ganzen Umfang? Gibt es auf diesem Gebiet etwas Neues seit einem Jahrhundert ? So erhält die thematische Lektüre einen Sinn und eine Reichweite, die "ausgewählte Stücke" nicht hätten. Die Lage der arbeitenden Klasse in England Wir schreiben das Jahr 1845. Die Elemente und Anzeichen einer neuen Wirklichkeit, der Industrialisierung, mehren sich. Seit Jahren interessiert sich Friedrich Engels (1845 tritt er in sein fünfundzwanzigstes Lebensjahr) für wirtschaftliche und soziale Fragen, die für ihn die philosophischen, denen er sich zunächst gewidmet hatte, an Bedeutung übertreffen. Mit Karl Marx hatte er bis dahin nur eine ziemlich flüchtige Begegnung von einigen Tagen im Jahre 1844 in Paris gehabt. Engels arbeitet zu diesem Zeitpunkt noch nicht mit Marx zusammen an dem Aufbau des "Marxismus". Vielmehr geht er seinem künftigen Freund auf dem Weg, den sie von eben diesem Jahre 1845 an zusammen einschlagen werden, voran. Dieses Werk Die Lage der arbeitenden Klasse in England (1) bereitet Friedrich Engels seit langem vor. Engels veröffentlichte 1842 wichtige Artikel (2) über England und seine Umwandlung in eine Industriemacht, über die dramatischen (negativen) Seiten dieser Entwicklung. Er hebt darin die Originalität Englands gegenüber Frankreich und Deutschland zu derselben Epoche hervor. In England bildet und festigt sich die neue Gesellschaft mit ihren charakteristischen Zügen, unter denen die Vorherrschaft des

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n seinem Buch Le droit à la ville entwarf Lefebvre das Recht auf Stadt als Recht auf ein transformiertes, erneuertes urbanes Leben.[1] Damit reagierte er auf die sozialen Probleme, die durch die rasche Urbanisierung der Nachkriegszeit, insbesondere durch den Massenwohnungsbau entstanden sind. Lefebvre beklagte die zahlreichen Qualitätseinbußen, die mit dem Urbanisierungsprozess einhergingen, indem die einstige Stadt als Ort der kreativen Schöpfung, als Oeuvre zunehmend dem Tauschwert und der industriellen Verwertungslogik unterworfen werde und für ihre Bewohnerinnen und Bewohner schließlich in den Zwang münde „sich in Schachteln, Käfigen oder ,Wohnmaschinen‘ einschließen zu lassen“.[2] Zugleich identifizierte er in der Urbanisierung aber auch ein enormes positives Potenzial, das im Rahmen einer urbanen Revolution zur Herausbildung einer emanzipierten urbanen Gesellschaft führen könne.[3] Somit steht das Recht auf Stadt für ein gesamtgesellschaftliches Anrecht auf diese im Urbanisierungsprozess angelegten urbanen Qualitäten, die für Lefebvre in der Begegnung, im Austausch, im Fest und in einem kollektiv gestalteten und genutzten städtischen Raum liegen.Die Stadtforscher Dirk Gebhardt und Andrej Holm fassen diese facettenreiche Idee zusammen als ein „Recht auf Zentralität, als den Zugang zu den Orten des gesellschaftlichen Reichtums, der städtischen Infrastruktur und des Wissens; und das Recht auf Differenz, das für eine Stadt als Ort des Zusammentreffens, des Sich-Erkennens und Anerkennens und der Auseinandersetzung steht [...] Es beschränkt sich nicht auf die konkrete Benutzung städtischer Räume, sondern umfasst ebenso den Zugang zu den politischen und strategischen Debatten über die künftigen Entwicklungspfade. Das Recht auf die Stadt orientiert sich an den utopischen Versprechungen des Städtischen und reklamiert ein Recht auf die schöpferischen Überschüsse des Urbanen“.[4]Viele der bruchstückhaften Ideen, die Lefebvre in Le droit à la ville zunächst vorlegte, hat er in seinen nachfolgenden Publikationen zum Thema Stadt und Raum weiterentwickelt, so etwa in Du rural à l’urbain (1970), La révolution urbaine (1970), La pensée marxiste à la ville (1972), Espace et politique (1972) und La production de l’espace (1974).

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Die Stadt im marxistischen Denken (La pensée marxiste et la ville, 1972) von Henri Lefèbvre Vorwort 7 Die Lage der arbeitenden Klasse in England 9 Die Stadt und die Arbeitsteilung 22 Die Kritik der politischen Ökonomie 54 Das Kapital und der Grundbesitz 83 Allgemeine Schlußfolgerungen 112 Vorwort In den Werken Marx' und Engels' finden sich zahlreiche vereinzelte Angaben über die Stadt und die städtischen Probleme. Die Gründer des wissenschaftlichen Sozialismus haben diese Angaben nicht systematisch geordnet. Sie bilden folglich keine doktrinäre Einheit, die von irgendeiner Methodologie oder einer bestimmten Fachdisziplin wie der Philosophie, der politischen Ökonomie, der Ökologie oder der Soziologie abgeleitet wäre. Die von uns berücksichtigten Fragmente werden im allgemeinen, wie man sehen wird, im Zusammenhang mit größeren Themen aufgegriffen: der Arbeitsteilung, den Produktivkräften und den Produktionsverhältnissen, dem historischen Materialismus. Es handelt sich zunächst darum, die vereinzelten Texte beim Wiederlesen des Gesamtwerkes von Marx und Engels zu sammeln. Dieses Wiederlesen ist an sich nichts Besonderes. Man kann nicht von einem "wortgetreuen" Wiederlesen sprechen, weil sein Ziel das Sammeln von Fragmenten und die Hervorhebung der Begriffe und Kategorien des diesen Texten eigenen theoretischen Denkens ist. Man kann es ebensowenig "symptomatisch" nennen, denn es handelt sich nicht darum, in dem Denken Marx' und Engels' einen latenten Inhalt, etwas Nicht-Gesagtes, nachzuweisen, das zu entdecken dem Leser überlassen bliebe. Es ist also eine thematische Lektüre oder Wieder-Lektüre. Unser Thema ist die Stadt und somit die städtische Problematik im theoretischen Rahmen des historischen Materialismus. Beschränken wir uns hierauf? Nein, denn eine solche Vertiefung in die Texte hätte wenig Sinn; sie würde den offiziellen Dogmatismus und die herrschende Scholastik nähren, wenn sie nicht eine Frage aufwerfen und der Antwort eine Richtung geben würde. Umfassen diese Angaben, diese Begriffe die heutigen Probleme der städtischen Wirklichkeit in ihrem ganzen Umfang? Gibt es auf diesem Gebiet etwas Neues seit einem Jahrhundert ? So erhält die thematische Lektüre einen Sinn und eine Reichweite, die "ausgewählte Stücke" nicht hätten.

Die Lage der arbeitenden Klasse in England Wir schreiben das Jahr 1845. Die Elemente und Anzeichen einer neuen Wirklichkeit, der Industrialisierung, mehren sich. Seit Jahren interessiert sich Friedrich Engels (1845 tritt er in sein fünfundzwanzigstes Lebensjahr) für wirtschaftliche und soziale Fragen, die für ihn die philosophischen, denen er sich zunächst gewidmet hatte, an Bedeutung übertreffen. Mit Karl Marx hatte er bis dahin nur eine ziemlich flüchtige Begegnung von einigen Tagen im Jahre 1844 in Paris gehabt. Engels arbeitet zu diesem Zeitpunkt noch nicht mit Marx zusammen an dem Aufbau des "Marxismus". Vielmehr geht er seinem künftigen Freund auf dem Weg, den sie von eben diesem Jahre 1845 an zusammen einschlagen werden, voran. Dieses Werk Die Lage der arbeitenden Klasse in England (1) bereitet Friedrich Engels seit langem vor. Engels veröffentlichte 1842 wichtige Artikel (2) über England und seine Umwandlung in eine Industriemacht, über die dramatischen (negativen) Seiten dieser Entwicklung. Er hebt darin die Originalität Englands gegenüber Frankreich und Deutschland zu derselben Epoche hervor. In England bildet und festigt sich die neue Gesellschaft mit ihren charakteristischen Zügen, unter denen die Vorherrschaft des

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Ökonomischen der erste und wichtigste ist. In Frankreich und Deutschland wird eine doppelte theoretische und politische Revolution fortgesetzt, die nicht von der "industriellen Revolution" in England getrennt werden kann, die sie auf der Ebene des Gedankens und der Tat "ausdrückt", sich aber von ihr in dem Maße unterscheidet, wie das Spiel der geschichtlichen Umstände die Theorie von der Praxis getrennt hat; der politischen und der sozialen (wirtschaftlichen) Praxis. Die "Einleitung" Engels zu seinem Buch beginnt in sehr bemerkenswerter Weise mit einer Idee, die in der Folge weiterentwickelt und präzisiert wird: "Die Geschichte der arbeitenden Klasse in England beginnt mit der letzten (1) Marx-Engels, Gesamtausgabe, Erste Abteilung, Band 4, Verlag Detlev Auvermann KG, Glashütten im Taunus, 1970 (2) Rheinische Zeitung, Dezember 1842, "Die Krisen", siehe auch "Skizze einer Kritik der politischen Ökonomie", in Deutsch-Französische Annalen, 1844 und "die Lage Englands" in "Annalen" sowie in "Vorwärts", September-Oktober 1844. 9 Hälfte des vorigen Jahrhunderts, mit der Erfindung der Dampfmaschine und der Maschinen zur Verarbeitung der Baumwolle. Diese Erfindungen gaben bekanntlich den Anstoß zu einer industriellen Revolution . . .". Dieser Ausdruck, der viel später berühmt wurde, erscheint also vielleicht zum ersten Mal bei Engels im Jahre 1845. Er kümmere sich nicht, so fügt er hinzu, um die Geschichte dieser Revolution, um ihre Bedeutung in der Welt, um ihre Zukunft. Er beschränkt sich in diesem Werk vorläufig und absichtlich auf die Lage der englischen Proletarier. Die Einführung des Maschinismus veränderte das Leben der Weber, zerstörte diese Familien, die rechtschaffen und fleißig auf dem Lande in der Nähe, jedoch abgeschlossen von den Städten, lebten. Diese starken, wohlgebauten Leute konnten selten lesen und noch viel weniger schreiben, gingen in die Kirche, "politisierten nicht, konspirierten nicht, dachten nicht, ergötzten sich an körperlichen Übungen, hörten die Bibel ... vorlesen . . .". Sie erschienen sehr menschlich und waren es in gewissem Sinne auch. Und doch: waren sie nicht schon bloße Maschinen im Dienste der Aristokratie ? Die industrielle Revolution degradierte die Arbeiter vollends zu Maschinen, da sie ihnen "den letzten Rest selbständiger Tätigkeit unter den Händen wegnahm . . . , aber sie trieb sie dadurch gleich zeitig "zur Forderung einer menschlichen Stellung". Wie in Frankreich die Politik, so war es in England die Industrie, die die in Apathie versunkenen Klassen in den Strudel der Geschichte hineinriß. Die Gründe für die revolutionäre Veränderung waren die neuen Techniken (zuerst die Jenny" und die "Mule" zu Ausgang des XVIII. Jahrhunderts, dann deren Vervollkommnungen und natürlich die Dampfmaschine). So entstanden die großen Fabrik- und Handelsstätte des britischen Reiches (S. 23). Diese Umwälzung führt Engels auf technologische Ursachen zurück. In diesem umfangreichen Werk Die Lage der arbeitenden Klasse in England beschreibt, analysiert, erklärt Engels zum ersten Mal, was Kapitalismus für ein großes Land bedeutet. Die Bedeutung, die er den städtischen Phänomenen beimißt, ist überraschend. Sie erscheinen, abgesehen von den Kapiteln, die ihnen ausdrücklich gewidmet sind (u.a. das sehr lange 2. Kapitel), gleich zu Beginn des Werkes. Engels hebt eine doppelt zentralisierende Tendenz des Kapitalismus hervor. Die Zentralisierung der Bevölkerung paart sich mit der des Kapitals (Kapitel 1, "Das industrielle Proletariat", S. 26-27). Um eine mittlere Fabrik bildet sich ein Dorf; dieses bringt eine solche Einwohnerzahl hervor, daß sich unumgänglich weitere Fabrikanten niederlassen, um diese Arbeitskräfte zu nutzen. Aus dem Dorf wird eine kleine Stadt, aus der kleinen Stadt eine große. Je größer die Stadt, desto größer die Vorteile der Ansiedlung"; alle Grundlagen der Industrie kommen hier zusammen: Arbeiter, Verbindungswege (Kanäle, Eisenbahn, Landstraßen), Rohstofftransporte, Maschinen und Techniken, Markt, Börse. Dies erklärt den erstaunlich schnellen Aufschwung der großen Industriestädte. Obwohl die Löhne in den länd- 10 lichen Gegenden niedriger bleiben und es so einen Konkurrenzkampf zwischen Stadt und Land gibt, ist der Vorteil aufseiten der Stadt. Die zentralisierende Tendenz trägt den Sieg davon, und jede auf dem Land angelegte Fabrik trägt den Keim zu einer Fabrikstadt in sich. Potentiell ist jeder industrielle Bezirk in England eine einzige Stadt; er wird es werden, wenn dies "tolle Treiben" noch ein Jahrhundert andauert! "Da in diesen großen Städten die Industrie und der Handel am vollständigsten zu ihrer Entwicklung kommen, so treten also auch hier ihre Konsequenzen in Bezug auf das Proletariat am deutlichsten und offensten hervor. Hier ist die Zentralisation des Besitzes auf den höchsten Punkt gekommen; hier sind die Sitten und Verhältnisse der guten alten Zeit am gründlichsten vernichtet; " . . . (s. S. 28). Halten wir einen Augenblick inne, um über diese ersten Texte und ihren Zusammenhang nachzudenken! Wir befinden uns also im Jahre 1845, einem Jahr intensiver theoretischer Gärung. Im Februar erscheint in Frankfurt Die heilige Familie, in der Marx und Engels die Träger der Abstraktionen und des historischen Idealismus, die Philosophen, widerlegen, nach deren Auffassung die menschlichen Massen in dem Prozeß der Schaffung des Sozialwesens durch den Menschen" passiv sind. Im Januar 1845 läßt sich Marx, aus Paris ausgewiesen, in Brüssel nieder. Engels trifft dort im April mit ihm zusammen. Den Sommer über bereisen sie zusammen England; Engels

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zeigt Marx, was er in seinem Buch, das inzwischen in Leipzig erscheint, beschrieben und analysiert hat. Gegen Ende des Jahres beginnen sie mit der Arbeit an Die Deutsche Ideologie, das die früheren Untersuchungen sammeln, die Kritiken der "Ideologien" (der Philosophie, der politischen Ökonomie, der idealisierten Geschichte) zusammenfassen und eine neue Auffassung des menschlichen Wesens, das sich selbst durch seine Arbeit produziert, vorschlagen wird: den historischen Materialismus. Wie wir später feststellen können, werden die die Stadt betreffenden Fragen in der Formulierung des historischen Materialismus stark hervorgehoben. Auf den ersten Seiten der Deutschen Ideologie, gleich nach den berühmten noch philosophischen Formulierungen (obwohl sie schon über die klassische Philosophie hinausgehen und sie verwerfen: Man kann die Menschen durch das Bewußtsein, durch die Religion, durch was man sonst will, von den Tieren unterscheiden. Sie selbst fangen an, sich von den Tieren zu unterscheiden, sobald sie anfangen, ihre Lebensmittel zu produzieren . . . "), gleich danach beginnen die Betrachtungen über die Stadt (S. 16-17) (3). Diese Betrachtungen sind vorwiegend rückblickend, was der Methode entspricht, die Marx später erläutert: die Vergangenheit anhand der Gegenwart erhellen. Mithin handelt es sich fast nur um die Beziehungen zwischen Stadt und Land in der Antike und später im Mittel (3) Karl Marx: Frühe Schriften, herausg. von Hans-Joachim Lieber und Peter Furth, Cotta-Verlag, Stuttgart 1971. 11 alter. Wir werden sehen, daß es ein wesentlicher Beitrag und eine Errungenschaft des historischen Materialismus ist, diese konfliktgeladene Beziehung in das Zentrum der Überlegungen über die Vergangenheit gestellt zu haben. Niemals jedoch erreichen die Fragen zum Problem der modernen Stadt im Denken Marx' das Ausmaß, das sie in dem ersten Werk Engels' haben. Gibt es nicht mehrere Zugänge zu dem marxistischen Denken ? Warum soll es nur einen Weg, nur einen, immer gleichen Pflichtparcours geben, von denselben Zitaten zu den immer gleichen Referenzen, von dieser oder jener Autorität vorgezeichnet, dem man notwendigerweise gehorsam folgen muß? Man schmälert dieses Denken nicht, wenn man behauptet, daß Engels seinen Teil zu der Bildung des sogenannten marxistischen Denkens beitrug, wenn man sein Andenken verteidigt, indem man beweist, daß er nicht die zweite Geige spielte, sondern ein origineller Denker war (und als solcher sogar mit am Beginn des "marxistischen" Denkens stand). Wäre es nicht im Gegenteil ein Kampf gegen dogmatische und scholastische Verwässerung? In dem "Die großen Städte" betitelten Teil seines Werkes, deckt Friedrich Engels die städtische Wirklichkeit in ihrer ganzen Abscheulichkeit auf, Und doch ist diese Wirklichkeit bei ihm nie gleichbedeutend mit einfacher Unordnung, noch weniger mit dem Bösen, mit einer Krankheit der Gesellschaft, wie in vielen literarischen und wissenschaftlichen Texten bis in unsere Zeit. London, Manchester und andere englische Ansiedlungen faßt Engels als die Wirkungen von Ursachen und Gründen auf, die man kennen und meistern muß (zunächst durch die Erkenntnis, später durch die revolutionäre Tat). Die Bourgeoisie besitzt das Kapital, das heißt die Produktionsmittel. Es nutzt sie aus; es bestimmt die Bedingungen ihrer produktiven Anwendung. Ohne abwertende Voreingenommenheit erhellt Engels die starken Kontraste der städtischen Wirklichkeit, das Nebeneinander von Reichtum und Armut, von Glanz und Häßlichkeit (wobei die Häßlichkeit und die Armut durch diese Nachbarschaft eine intensive und pathetische Färbung annehmen). Er beginnt voller Begeisterung-. "Ich kenne nichts Imposanteres als den Anblick, den die Themse darbeitet, wenn man von der See nach London-Bridge hinauffährt . . . das alles ist so großartig, so massenhaft, daß man gar nicht zur Besinnung kommt, und daß man vor der Größe Englands staunt, noch ehe man englischen Boden betritt." Die Zentralisierung verhundertfachte die Macht von tausenden von Menschen; sie vervielfachte die Wirkungskraft ihrer Mittel. Auf der Kehrseite dieses ungeheuren sozialen Reichtums, der unter der wirtschaftlichen und politischen Schirmherrschaft der englischen Bourgeoisie verwirklicht wurde, stehen die Opfer. Diese Londoner, "die das beste Teil ihrer Menschheit aufopfern mußten, um alle die Wunder der Zivilisation zu vollbringen, von denen ihre Stadt wimmelt" (s. S. 29). Kräfte, die in ihnen schlummerten, wurden unter. drückt, damit "einige wenige sich voller entwickeln" und sich durch die Ver- 12 einigung mit den Kräften anderer multiplizierten. "Schon das Straßengewühl hat etwas Widerliches . . .". Sind diese Leute aller Stände und Klassen nicht alle Menschen mit denselben Fähigkeiten, dem gleichen Interesse glücklich zu werden? "Und haben sie nicht alle ihr Glück am Ende doch durch ein und dieselben Mittel und Wege zu erstreben? Und doch rennen sie aneinander vorüber, als ob sie gar nichts gemein, gar nichts miteinander zu tun hätten . . . " Diese brutale Gleichgültigkeit, diese gefühllose Isolierung, diese bornierte Selbstsucht zeigt sich nirgendwo mit solcher Schamlosigkeit. Die Atomisierung ist hier aufs Äußerste getrieben. So führt Engels sofort das Thema der "einsamen Masse" und der Atomisierung, die Problematik der Straße ein. Niemals stellt sich für ihn das Thema der Entfremdung abstrakt (gesondert) dar. Er nimmt die Entfremdung konkret wahr und greift sie konkret auf. In diesen

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Texten Engels, deren unmittelbare Ausdrucksweise nur in den Augen der Fetischisten der Wissenschaftlichkeit, jenen, die in der Erkenntnis nichts "Erlebtes" dulden, dem wissenschaftlichen Charakter schadet, wird die Entfremdung selbst nicht erwähnt. Sie tritt nicht als philosophischer Begriff hervor. Daß Engels ihn kannte, verbürgen seine philosophischen Studien. Er zeigt die Entfremdung lebensnah, greift sie in der sozialen Praxis auf. Verbindet er sie mit der Arbeit? Stillschweigend: ja. Ausdrücklich: nein. Alles verläuft so, als ob der Ökonom Engels von Beginn seiner Laufbahn an gewußt hätte, daß die unbestreitbar notwendige produktive Arbeit sich selbst nicht genügt. Sie erzeugt eine Gesellschaft. Die Produktionsverhältnisse prägen dieser Gesellschaft zwar ihr Siegel auf, ihre Herrschaft, die Macht einer herrschenden Klasse. Die Gesellschaft, die sie hervorbringen, ist ihnen nicht fremd. London ist der Handel, der Weltmarkt, der verallgemeinerte Verkehr mit seinen Folgen. Es ist die Macht, die den Schwachen niederdrückt und der Reichtum, der die Armut erzeugt; aber es ist auch die Zivilisation und ihre Wunder. Niemals dachte Engels, man müsse das Kind mit dem Bade ausschütten. Mit desto größerer geistiger Freiheit zeigt er, bis in die kleinsten und doch aufschlußreichen Einzelheiten gehend, die Ergebnisse der modernen Großstadt, dieser ungeheuren Ansammlung von Macht und Reichtum, für die Arbeiter. Es ist übrigens nicht nur die Arbeiterklasse, die als Klasse erkrankt ist, sondern die ganze Gesellschaft, einschließlich der Beherrschenden, jenen, die den erzeugten Reichtum ausnützen, weil sie die Anwendung der Produktionsmittel und der Arbeitskraft steuern. Es vollzieht sich eine Art Rückwirkung. "Daher kommt es denn auch, daß der soziale Krieg, der Krieg aller gegen alle, hier offen erklärt ist." Die Leute sehen einander nur für brauchbare Subjekte an; jeder beutet den anderen aus. Die stärksten, die Kapitalisten, reißen alles an sich (S. 30). In diesem allgemeinen Krieg ist das 13 Kapital, der direkte oder indirekte Besitz der Lebensmittel und der Produktionsmittel die Kampfwaffe. Um denjenigen, der weder Kapital noch Geld besitzt, kümmert sich niemand. Wenn er keine Arbeit findet, kann er stehlen oder verhungern, "und die Polizei wird auch hierbei Sorge tragen, daß er auf eine stille, die Bourgeoisie nicht verletzende Weise verhungert". So ist der städtische Raum mit seinen Unterschieden, seinen Freiheiten und seinen Fatalitäten ein repressiver Raum: der Raum des "sozialen Mordes", von dem die englischen Arbeiter glauben, daß ihre Gesellschaft ihn fortwährend begeht (S. 31). Nachdem er das Elend der Armenviertel Londons beschrieben hat, jenes Elend, das sein Freund Marx wenig später teilen wird, geht Friedrich Engels zu anderen Städten der drei Königreiche über. Nehmen wir Dublin, "eine Stadt, deren Einfahrt von der See aus ebenso reizend, wie die von London imposant ist." Die Stadt besitzt große Schönheiten, erklärt Engels, aber die Armenviertel zählen zu den abstoßendsten überhaupt. Hierbei spielt vielleicht der irische Volkscharakter eine Rolle, aber das Elend Dublins hat nichts Spezifisches; es gleicht dem Elend aller Großstädte der Welt. Ebenso in Edinburg, "eine Stadt, deren prächtige Lage, ihr den Namen des modernen Athen verschafft hat . . .", wo aber der prunkvolle aristokratische Charakter der Neustadt in schroffem Gegensatz zu dem stinkenden Elend der Altstadt steht (S. 39). Liverpool behandelt trotz seines Handels, seines Glanzes und seines Reichtums seine Arbeiter mit derselben Barbarei (S. 41). Desgleichen Sheffield, Birmingham, Glasgow usw. Bei Manchester als besonderem Fall hält sich Engels aus verschiedenen Gründen theoretischer und persönlicher Art lange auf. Hier liegt der Ausgangspunkt und das Zentrum der Industrie des britischen Reiches; die Börse von Manchester ist sein wirtschaftliches Barometer. Die modernen Techniken haben in der Baumwollindustrie Lancashires Vollkommenheit erreicht: Benutzung der Elementarkräfte, Verdrängung der Handarbeit durch Maschinen, Arbeitsteilung wenn wir in diesen drei Elementen das Charakteristische der modernen Industrie erkannten, so müssen wir gestehen, daß auch in ihnen die Baumwollverarbeitung allen Übrigen Industriezweigen von Anfang an bis jetzt voraus geblieben ist." Hier müssen sich die Folgen der Industrialisierung entwickeln und das industrielle Proletariat in seiner vollsten Klassizität in Erscheinung treten. "Deshalb also, weil Manchester der klassische Typus der modernen Industriestadt ist, und dann auch, weil ich es so genau wie meine eigne Vaterstadt - genauer als die meisten Einwohner kenne, werden wir uns hier etwas länger aufzuhalten haben," erklärt Engels (S.47). Das frühere städtische Zentrum hat sich wesentlich ausgeweitet. Die Stadt hat sich um Ansiedlungen vermehrt, die noch industrialisierter sind als das ursprüngliche Zentrum; sie überlassen Manchester die Führung der Geschäfte 14 und werden nur von Arbeitern und untergeordneten Fabrikanten und Krämern bewohnt. Daraus ergibt sich ein riesiger Komplex, in dem die Arbeiterviertel bis zu hunderttausend Einwohner haben. Dazwischen liegen Fabriken, aber auch Gärten und Villen, meist im elisabethanischen Stil, der für die Gotik dasselbe bedeutet, wie die anglikanische Religion für katholische (S. 47). Die kapitalistische Ordnung erzeugt das städtische Chaos. Eine wichtige Anmerkung: Engels analysiert die Lage der historischen Städte des Kontinents, Italiens, Flanderns, Frankreichs, Deutschlands nicht. Diese Städte sind dem industriellen Kapitalismus in ihrer Eigenschaft als politische

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(Verwaltungs- und Militärstädte) oder als mit dem Handelskapital verbundene Städte vorausgegangen; sie haben den Ansturm einer Industrie und eines Kapitalismus erlitten, die außerhalb ihrer Tore und oft gegen sie gerichtet, geschaffen wurden. Der Fall Manchesters, verglichen mit der allgemeinen Lage Englands und dessen bevorzugter Lage auf dem Weltmarkt (im XIX. Jahrhundert) liegt ganz anders. Handel und Industrie sind gleichzeitig in der Stadt und um sie herum gewachsen. Die charakteristischen Züge, die Engels hier hervorhebt, haben jedoch allgemeine Gültigkeit: die Trennung der Klassen, die Auflösung des Zentrums. Die spontane, vielleicht "unbewußte" Klassentrennung ist nichtsdestoweniger streng. Sie prägt gleichzeitig die wirkliche Stadt und das Bild der Stadt, "Die Stadt selbst ist eigentümlich gebaut, so daß man jahrelang in ihr wohnen und täglich hinein- und herausgehen kann, ohne je in ein Arbeiterviertel oder nur mit Arbeitern in Berührung zu kommen ... (s. S. 50). Dem Bürgertum dieses imperial-demokratischen Englands ist das Meisterstück gelungen, sich selbst den Anblick eines Elends zu verbergen, das es schockieren würde. Man verschleiert zugleich die Ausbeutung und deren Ergebnis. pas kommt aber hauptsächlich daher, daß durch unbewußte, stillschweigende Übereinkunft, wie durch bewußte, ausgesprochene Absicht, die Arbeiterbezirke von den der Mittelklasse überlassenen Stadtteilen aufs schärfste getrennt ... werden." Zugleich beherbergt Manchester in seinem Zentrum einen ausgedehnten kommerziellen Bezirk, der bei Nacht einsam und öde ist. "Nur wachthabende Polizeidiener streichen mit ihren Blendlaternen durch die engen, dunklen Gassen." Muß man hinzufügen, daß heute, in der zweiten Hälfte des XX. Jahrhunderts, jahrzehntelange Untersuchungen (wirtschaftliche, soziale, historische, anthropologische usw.) zum Stadtproblem die Ansichten Engels weitgehend bestätigt haben? (Man könnte sagen seine "Visionen", wenn es nicht üblich wäre, diesen Ausdruck der wissenschaftlichen "Theorie" gegenüberzustellen). Gewiß, vieles hat sich seither geändert. Das britische Reich bricht zusammen. Auf dem ungeheuer angewachsenen Weltmarkt sind andere Akteure mit einer Industrie, die mehr oder weniger mit einer Demokratie verbunden ist, aufgetreten. Der weltweite Prozeß (Industrialisierung und Verstädterung) hat nichts 15 destoweniger das verallgemeinert, was Engels wahrzunehmen und zu konzipieren verstand, indem er von einer Art Modellfall ausging: Manchester Klassentrennung und Auflösung. Er zeigt in meisterhafter Weise, welch seltsame Mischung von Ordnung und Chaos dem städtischen Raum zugrunde liegt und wie dieser Raum das Wesen selbst der Gesellschaft darstellt; eine exakte Beschreibung, Straße für Straße, Viertel für Viertel, von der Börse ausgehend. "Auf diese Weise kann man wohl, wenn man Manchester kennt, von den Hauptstraßen aus auf die anschließenden Bezirke schließen", während man von diesen Straßen aus die wirklichen (von Engels unterstrichen, S. 51) Arbeiterviertel selten sehen kann. Alles in allem verbarg die Gesellschaft vor dem industriellen Zeitalter ihre schändlichen Seiten, ihre Schwächen und ihre Laster: den Wahnsinn, die Prostitution, die Krankheiten; sie verwies sie an verruchte Orte. Die bürgerliche Gesellschaft verbirgt dagegen das, wovon sie lebt, ihren aktiven und produktiven Teil. Diese heuchlerische Einrichtung ist allen Großstädten mehr oder weniger eigen, "aber ich habe zugleich eine so systematische Absperrung der Arbeiterklasse von den Hauptstraßen, eine so zartfühlende Verhüllung dessen, was das Auge und die Nerven der Bourgeoisie beleidigen könnte, nirgends gefunden als in Manchester." Ein vorsätzlicher Plan ? Der Bau Manchesters berücksichtigt gerade keinen genauen Plan. "mehr durch den Zufall gebaut als irgend eine andre Stadt . . .". Dennoch fragt sich Engels, wenn er an die Mittelklasse denkt, die eifrig beteuert, daß es den Arbeitern ausgezeichnet gehe, ob die "liberalen Fabrikanten" an dieser schamhaften Bauart völlig unschuldig sind. Eine spezifische Ordnung, die von der Bourgeoisie geleitete industrielle Produktion (im Rahmen der kapitalistischen Produktionsverhältnisse, wie Marx sie später ausdrücklich nennen wird) erzeugt, laut Engels, eine spezifische Unordnung, die städtische Unordnung. Kann nicht der Augenblick kommen, in dem diese Ordnung aufhört das Chaos, das sie erzeugt, zu beherrschen, wo die Unordnung die Ordnung überflügelt? Friedrich Engels vermutet es: er deutet es an, wenn er den Plan Manchesters und seiner Umgebung genau studiert (und sogar eine Zeichnung davon wiedergibt). In diesem Zusammenhang führt er den Begriff des Städtebaus ein. "Von der unordentlichen, aller vernünftigen Baukunst hohnsprechenden Zusammenwürfelung der Häuser, von der Gedrängtheit, mit der sie hier förmlich aneinander gepackt sind, kann man sich keine Vorstellung machen." Die Verwirrung hat ihren Höhepunkt erreicht; wo immer der Städtebau der vorangegangenen Epoche einen freien Raum gelassen hatte, wurde gebaut und angeflickt "bis endlich zwischen den Häusern kein Zoll breit Platz blieb. . . ". Von dieser Anhäufung kommt die Verschmutzung der Luft, des Wassers, des ganzen Raumes (s. S. 52, 53 ff.). "Alles, was unsren Abscheu und unsre Indignation hier am heftigsten 16 erregt, ist neueren Ursprungs, gehört der industriellen Epoche an". Die früheren Bewohner haben das alte Manchester verlassen: die Industrie hat die alten Häuser mit Scharen von Arbeitern vollgepropft; sie läßt jedes

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Fleckchen bebauen, um die Menschenmassen zu beherbergen, die sie aus Ackerbaugegenden und aus Irland kommen läßt. "Nur die Industrie gestattet es den Besitzern dieser Viehställe, sie an Menschen für hohe Miete zur Wohnung zu überlassen". Die Industrie behandelte den von der Leibeigenschaft befreiten Arbeiter wie einen Gegenstand. Sie sperrt ihn in baufällige Mauern, deren Erwerb er teuer bezahlen muß. Auch das kleinste Winkelchen wurde genutzt. "Der Grundwert stieg mit dem Aufblühen der Industrie, und je mehr er stieg, desto toller wurde darauf los gebaut" (S. 58). Nach diesen Feststellungen über die Altstadt, untersucht Engels die Neustadt. "Hier hört alles städtische Aussehen auf" (S. 58). Einzelne Häuserreihen, einzeln bebaute Flecken schließen sich aneinander, und man gerät in eine endlose Flucht von Gassen, Sackgassen, Hintergassen und Höfen. Während in der sich auflösenden Altstadt der Zufall die Gruppierung der Häuser bestimmt und jedes Haus ohne Rücksicht auf die anderen errichtet wird, hat man hier manchmal den Eindruck einer gewissen Ordnung. Um einen Stadtkern herum ? Nein, sagt Engels, um Höfe herum, die die Anordnung der Straßen, der verdeckten Gänge und Öffnungen bestimmen. Gewisse Liberale sehen in diesen Höfen ein Meisterstück der Städtebaukunst und behaupten, sie bieten Licht und Luft, weil sie eine große Anzahl kleiner, öffentlicher Plätze bilden (S. 59, Anmerkung von Engels). Tatsächlich jedoch werden diese Höfe zu Kloaken, Schuttabladeplätzen, denn die Bestimmungen, die für die Straßen gelten, kommen hier nicht zur Anwendung. Wenn die Unternehmer Arbeiterhäuschen um die inneren Straßen und Höfe herum bauen, besitzt nur eine geringe Anzahl davon ausreichende Ventilation (s. S. 60 mit dem Plan einer Arbeiterstraße). Die bestbezahlten Arbeiter lassen sich ausbeuten, indem sie zu hohem Preis die Häuschen in der besten Reihe mieten. Im übrigen führen die Unternehmer und Besitzer wenig oder gar keine Reparaturen durch. Sie wollen ihren Gewinn nicht verringern. Aufgrund der Unbeständigkeit der Arbeitskräfte (Krisen) bleiben oft ganze Straßen verödet. Die Wohnungen stehen leer. Die Mieter wechseln oft; diese Häuser können nicht mehr als vierzig Jahre überdauern. Sie sind für diese Zeitspanne vorgesehen. Während der letzten Jahre erreichen sie das Stadium der "Unbewohnbarkeit" (S. 62). Das bedeutet eine unsinnige Vergeudung des investierten Kapitals, die Zerstörung von Gütern und Menschen! Engels deckt die städtische Ordnung und Unordnung (der Stadt und der Wohnung) auf und nennt sie bezeichnend. Sie enthüllen die ganze Gesellschaft. "Die Befriedigung des Bedürfnisses für Obdach wird einen Maßstab abgeben für die Art, in welcher alle übrigen Bedürfnisse befriedigt werden" 17 (s. S. 69). Dieses Bedürfnis hat also den anderen etwas voraus: es ist ihr bevorzugter Zeuge. Wenn man die Nahrung und die Kleidung der Arbeiter näher betrachtet, findet man dieselben Merkmale; was für die Wohnung gilt, gilt auch für die Kleidung und die Ernährung. "In den großen Städten Englands kann man alles aufs beste haben, aber es kostet teures Geld". Gewisse, scheinbar unbedeutende Einzelheiten, verschlimmern die Lage der Arbeiter. Da sie am Samstagabend ausgezahlt werden, kommen sie erst auf die Märkte, wenn die wohlhabenden Klassen schon das Beste und Billigste gewählt haben. Durch spitzfindige Verfahrensweisen kommt zu der direkten Ausbeutung noch eine indirekte hinzu und breitet sich von dem Unternehmen (der Fabrik, dem Werk) auf das gesamte tägliche Leben im städtischen Rahmen aus. Am Ende dieses langen Kapitels faßt Engels seine Gedanken zusammen, oder vielmehr, er glaubt und behauptet es zu tun; sie werden jedoch auf eine ebenso überraschende wie eklatante Weise wieder auflodern. Die großen Städte, erklärt er, werden hauptsächlich von Arbeitern bewohnt (diese Behauptung würde heute mehr als einen Einwand hervorrufen), die nichts besitzen; sie leben von ihrem Arbeitslohn, aus der Hand in den Mund; die Gesellschaft, wie sie beschaffen ist, überläßt es ihnen, für ihre eigenen und für die Bedürfnisse ihrer Familie zu sorgen; sie gibt ihnen nicht die Mittel, dies auf wirksame und dauerhafte Weise zu tun (S. 76). Daraus resultiert die Unbeständigkeit des Arbeiterstandes; die Arbeiterklasse der großen Städte "bietet uns so eine Stufenleiter verschiedener Lebenslagen dar" von der trotz der harten Arbeit vorübergehend erträglichen Existenz bis hin zum grenzenlosen Elend, das sich bis zum Hungertode steigern kann. Der Durchschnitt, sagt Engels, liegt dem schlimmsten Falle näher als dem besten. Es gibt keine fixen Klassen. Die Lage der Arbeiter ist so, daß ein jeder alle Stufen dieser Leiter vom relativen Wohlstand bis zum grenzenlosen Elend durchmacht. Die Wohnungen der Arbeiter sind durchgehend schlecht gruppiert, schlecht gebaut, schlecht unterhalten, schlecht belüftet, feucht und ungesund. "Die Einwohner sind auf den kleinsten Raum beschränkt", in den meisten Fällen schläft eine ganze Familie in einem Raum. Die Inneneinrichtung ist ärmlich und im schlimmsten Fall fehlen selbst die notwendigsten Möbelstücke. Unter den Gründen für diese Lage hebt Engels einerseits die Konkurrenz unter den Arbeitern hervor (Individuen, Alter, Gruppen, da die Iren eine Menschenmasse liefern, die die schlimmsten Bedingungen annimmt) und andererseits die ökonomische und soziale Struktur des Kapitalismus. Dieser braucht, außer in Zeiten des Wohlstandes und des wirtschaftlichen Aufschwungs, eine Reserve von arbeitslosen Werktätigen. Diese "Arbeitslosen-Reserve" (wie man heute in der Sprache der Wirtschaftler sagt) ist in doppelter Hinsicht notwendig: um ständig Druck auf die Löhne auszuüben und 18

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um der saisonbedingten Zufälligkeit der Nachfrage und des Marktes zu begegnen. In Krisenzeiten wächst diese Masse ungeheuer an, und die besten Arbeiter können zu Fall kommen. Die Industriestädte beherbergen also die "unbeschäftigte Reserve von Arbeitern" (S. 85). Dieses gleichzeitig gelegentliche (für die Individuen) und ständige (für die Klasse) Elend trägt zu der "malerischen" Unordnung und dem regen Treiben der Industriestädte bei. Die überzählige Bevölkerung übt alle möglichen Tätigkeiten aus, kleine Arbeiten, Herumhökern, aber auch Betteln und Diebstahl. Das Betteln nimmt einen eigentümlichen Charakter an. Die Leute irren, bittende Lieder singend, durch die Straßen oder appellieren mit einem kleinen Vortrag an die Mildtätigkeit. Die Bettler der Arbeiterviertel leben nur dank den Gaben anderer Arbeiter. Manchmal "stellt sich (die Familie) schweigend an eine belebte Straße . . ." (S. 87), eine bewegende, wenngleich stumme Bitte. Namentlich am Samstagabend enthüllen die Arbeiterbezirke ihre "Geheimnisse", ziehen sich die anderen Klassen von ihnen zurück. Wenn einer dieser "Überflüssigen" genug Mut und Leidenschaft hat, um in offenen Konflikt mit der Gesellschaft zu treten, "und auf den versteckten Krieg, den die Bourgeoisie gegen ihn führt, mit dem offenen Krieg gegen die Bourgeoisie zu antworten", was tut er dann ? Er geht hin, stiehlt, raubt und mordet. Tatsächlich wütet die Konkurrenz, Ausdruck des Krieges Aller gegen Alle, in der modernen bürgerlichen Gesellschaft: ein Krieg um das Leben, um die Existenz, um alles (S. 77), bis zum Kampf auf Leben und Tod, ein Krieg, in dem sich die Klassen und die Mitglieder dieser Klassen einander gegenüberstehen ... Hundertzwanzig Jahre später wundert sich der heutige Leser hierüber. Engels beschreibt auf diesen Seiten auf spontane, aus dem Leben gegriffene Weise die Geburt der modernen Stadt. Hat sich diese "Ambiance", dieses ..Klima" so sehr geändert? Man braucht nur einige Zeit in einer amerikanischen Stadt zu verbringen, um darauf zu antworten, auch wenn in den europäischen Städten die Strategie der herrschenden Klasse die Arbeiter in Vorstädten verbannt hat, wo sie isoliert in einem repressiven Frieden dahinleben. In Europa, das weiß jeder, haben die Werktätigen (Arbeiter oder Angestellte) ihre Parkplätze und ihre Autos. Auf die riesigen Städte Amerikas trifft die von Engels hinterlassene dramatische Darstellung mehr zu denn je zuvor. Es herrscht die Gewalt, "jeder ist dem andern im Wege"; dem schwarzen Proletariat, den Portoricanern, mangelt es an allem, aber die Mitglieder dieser Gruppen und Klassen machen sich gegenseitig noch mehr Konkurrenz als die Bourgeoisie. Für Engels ist die industrielle Großstadt tatsächlich eine Quelle der Demoralisation und eine Schule des Verbrechens, aber die Moralisten, die den Bann aussprechen, lenken die Aufmerksamkeit von den wahren Gründen dieser Lage ab. "Sagten sie, die Armut, die Unsicherheit der Stellung, die Überar- 19 beitung und Zwangsarbeit sei die Hauptursache - so würde jeder, so würden sie sich selbst antworten müssen: also geben wir den Armen Eigentum, garantieren wir ihnen ihre Existenz . . .". Es ist viel einfacher, die Stadt oder die allgemeine Unmoral oder die Macht des Bösen zu beschuldigen, als den Angriff auf seiner wirklichen Ebene auszutragen: der politischen (s. S. 121). Friedrich Engels verwirft Moralismus und Predigen. Für ihn ist es natürlich und unvermeidlich, daß die von einer Klasse, der Bourgeoisie, (vielleicht "unbewußt", aber das ist nebensächlich in dem Augenblick, wo sie daraus Nutzen zieht) geschaffene Lage die Trunksucht, die Prostitution, das Verbrechen erzeugt. So äußert sich die Nichtachtung der sozialen Ordnung am deutlichsten in ihrem extremsten Ausdruck: im Verbrechen. "Wirken die Ursachen, die den Arbeiter demoralisieren, stärker, konzentrierter als gewöhnlich, so wird er ... Verbrecher" (S. 127). Wo hätte das "Familienleben", das die Moralisten empfehlen, seinen Platz? Der Arbeiter kann der Familie nicht entrinnen; er muß in der Familie leben; er kann das Familienleben nicht auflösen, aber er lebt es mit Nachlässigkeit und Verachtung. Die Zeitungen offenbaren diese Lage; die vermischten Nachrichten sind aufschlußreich (S. 129). Ist es ein Übel? Ist es etwas Gutes? Diese Fragen sind müßig. In einem solchen Land ist der soziale Krieg ausgebrochen. Jeder sieht im andern einen Feind. "Die Feindschaft teilt sich allmählich in zwei große Lager, die gegeneinander streiten; die Bourgeoisie hier und das Proletariat dort" (S. 130). Der Klassenkampf im städtischen Rahmen kann für Engels nicht von der allgemeinen Gewalttätigkeit, von dem Krieg Aller gegen Alle getrennt werden. Dieser Krieg, fügt er hinzu, ist nicht erstaunlich, da er nur die Anwendung des Prinzips der Konkurrenz ist. "Aber wohl darf es uns wundern, daß die Bourgeoisie, gegen die sich tagtäglich neue und drohende Gewitterwolken zusammenziehen, bei alledem so ruhig und gelassen bleibt, wie sie diese Sachen täglich in den Zeitungen lesen kann . . Die Klassenvorurteile schlagen eine ganze Menschenklasse mit Blindheit: die Bourgeoisie. Eines schönen Morgens wird die besitzende Klasse eine Überraschung erleben, "von der sich ihre Weisheit nichts träumen läßt," (s. S. 130) und das, obwohl die Polizei in dem von Engels gezeichneten Bild eine hervorragende Rolle spielt. Die Kriminalität in den Städten rechtfertigt ihre Anwesenheit; in Wirklichkeit überwacht sie die soziale Ordnung, zu der die Unordnung gehört; aber eines Tages, glaubt Engels, wird die Unordnung die Ordnung, deren Ausdruck sie ist hinwegfegen, um eine andere Ordnung zu schaffen. Das wird die große Überraschung sein . . .

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Hundertfünfundzwanzig Jahre später wissen Wir, daß die Bourgeoisie diese Überraschung mehrmals erlebt hat, zum erstenmal im Jahre 1871. Wir wissen, daß die Überraschungen sie aus ihrem Traum gerissen und politisch erzogen haben. Wir wissen, daß die politische Erziehung auf lange Sicht, 20 innerhalb einer langen Zeitspanne erfolgt, und daß die herrschende Klasse, die auch im Besitz der "Kultur", der Wissenschaft, der Ideologie ist, noch lange ihren Vorsprung behalten kann. Was uns heute in Staunen versetzt ist, daß Friedrich Engels sich in der Neuheit des revolutionären Denkens und Fühlens, das "Erlebte" ausdrückend ohne durch die harte Schule der theoretischen Begriffe und politischen Niederlagen gegangen zu sein, spontan jenseits von Gut und Böse stellt. Manche Leute entdecken in seinen Schriften eine Moral; sie unterstellen ihnen ihre eigene; bei ihm selbst verwischen sich die Spuren eines Moralismus von Seite zu Seite mehr. Seine Art, den kriminellen Arbeiter heraufzubeschwören, erinnert an Stendhals Heraufbeschwörung der italienischen Renaissance, an Nietzsche, der jedwede Entfaltung von Energie der Stagnation vorzog. Der Moralismus des Bürgertums und der Arbeiterbürokratie war noch nicht so weit vorgedrungen. Später stumpft diese lebendige Ausdrucksweise ab; das revolutionäre Denken wird vorsichtig, taktisch behutsam; es verliert dadurch. Umsomehr, als sein Mittelpunkt sich verschiebt, sich auf die Arbeits- und Produktionsstätten lokalisiert. 1845 ist das noch nicht geschehen, nicht vorgesehen, nicht einmal vorauszusehen. Sollte es die Wirkung einer späteren, im XX. Jahrhundert erfolgten, Vereinfachung des revolutionären und marxistischen Denkens sein ? Hier finden wir es also in seinem stärksten Ausdruck aus der Feder Friedrich Engels im Jahre 1845, als Marx noch dabei ist, Hegel und Feuerbach zu konfrontieren, (was durchaus nicht unwichtig ist, aber viel weiter entfernt von der sozialen und politischen Praxis). "Die Arbeiter fangen an, sich als Klasse in ihrer Gesamtheit ZU fühlen, sie werden gewahr, daß sie, obwohl einzeln schwach, doch zusammen eine Macht sind; die Trennung von der Bourgeoisie, die Ausbildung den Arbeitern und ihrer Lebensstellung eigentümlichen Anschauungen und Ideen wird befördert, das Bewußtsein, unterdrückt zu werden, stellt sich ein, und die Arbeiter bekommen soziale und politische Bedeutung. Die großen Städte sind der Herd der Arbeiterbewegung, in ihnen haben die Arbeiter zuerst angefangen, über ihre Lage nachzudenken und gegen sie anzukämpfen, in ihnen kam der Gegensatz zwischen Proletariat und Bourgeoisie zuerst zur Erscheinung." (s. S. 120). 21

Die Stadt und die Arbeitsteilung Es wäre nicht uninteressant, die Schriften von Marx und Engels über dasselbe Thema innerhalb des gleichen Problemkreises miteinander zu vergleichen, um alle Unterschiede aufzudecken. Zum Beispiel die Kritik der politischen Ökonomie. Man nimmt allgemein an, daß der Anfang 1844 erschienene Artikel Engels: Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie die gewöhnlich ,Marxismus" genannte Gedankenreihe eröffnete. Die namhaften Unterschiede würden vielleicht etwas offenbaren, das in den Texten enthalten, aber nicht ausgesprochen worden ist. In der Tat haben die Kommentatoren fast alle die Übereinstimmungen hervorgehoben, nicht aber die Unterschiede. Wer "Unterschied" sagt, meint damit nicht Abweichen, Zwiespalt oder gar Konflikt. Im allgemeinen haben die Exegesen die Homogenität betont. Die Gedanken der Urheber wurden gefiltert, entrahmt, pasteurisiert; man beseitigte auch den kleinsten Keim von Unvorhergesehenem, das Beste mit dem Schlechtesten; man verfuhr mit ihnen wie die Milchwirtschaft mit der natürlichen Milch und behielt nur sterile, hygienische, sorgfältig homogenisierte, leicht aufnehmbare Produkte ohne Saft und Kraft zurück. Engels konfrontiert die Wirklichkeit mit der Theorie, das Denken der Ökonomen mit der wirtschaftlichen Praxis. Er stellt das "Erlebte" (im Handel, in der Industrie und im Arbeiterdasein, das der Vorherrschaft des Kapitals entspricht) neben die Ausdrucksform dieser Wirklichkeit in der politischen Ökonomie. Er kritisiert also das "Erlebte" ohne Denken und das Denken außerhalb des Lebens, das heißt außerhalb der Praxis, das eine anhand des anderen. Marx hingegen konfrontiert auf höchster, abstrakter Ebene die großen theoretischen Standpunkte Hegels, Feuerbachs, aber auch Smith', Ricardos', ihre Begriffe und Auffassungen. Sobald Marx mit Engels zusammenarbeitet, verschwindet die spekulative Naivität, taucht der Humor mit einer Prise Immoralismus auf. Kommen wir auf die Heilige Familie (1844) zurück, deren Niederschrift nach dem ersten Zusammentreffen zwischen Marx und Engels erfolgt, wenngleich nur wenige Seiten von jenem verfaßt wurden. Der Ton ist oft heiter, ironisch. Während das berühmte Fragment über die Beziehung zwischen den wirklichen Ergeb- 22

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nissen und die theoretische Vorstellung von denselben dem großen theoretischen Wissen entspricht, das Marx schon erworben hat, tragen andere Stellen die Spuren der äußerst konkreten Informationen Engels über das wirkliche Leben, die wirkliche Gesellschaft. Zum Beispiel die Polemik, welche ebenso berühmt ist wie jene gegen den philosophischen Idealismus, die gegen Szeliga und seine Interpretation der Mystères de Paris gerichtet ist. Wenn Herr Szeliga die Archive der Pariser Polizei gekannt, wenn er die Memoiren Vidocqs gelesen hätte, wüßte er, daß sich die Polizisten nicht nur der Dienstboten bedienen, daß diese nur für grobe Aufgaben gebraucht werden, daß "die Polizei weder vor der Tür noch vor dem Schlafrock der Chefs haltmacht, sondern daß sie in der Verkleidung eines Freudenmädchens oder gar einer Ehegattin unter die Bettdecken kriecht. In dem Roman Eugen Sues ist der Polizeispitzel, der Händler Bras rouge, eine der wichtigsten Personen der Handlung." Nicht eine Spur von Naivität liegt in diesen Bemerkungen, welche die Naivität der spekulativen und kritischen Philosophen verdeutlichen. Nichtsdestoweniger ist die Stadt als solche, selbst im Zusammenhang mit den Mystères de Paris in dieser Kritik der Kritik nicht oder kaum vorhanden. Es handelt sich um einen Prozeß: für oder gegen den Menschen", für oder gegen das "Gewissen" und die Idee der Geschichte. Für oder gegen den Widerspruch von Spiritualismus und Materialismus. Für oder gegen den Dogmatismus und den alten germanisch-christlichen Geist. Für oder gegen den von Hegel konzipierten Staat, usw. In den Manuskripten von 1844 finden wir die schwerfällig und kraftvoll durchgeführte theoretische Gegenüberstellung Marx' von: a) Methaphysik (Ontologie) und Anthropologie, dem Wissen vom organischen und natürlichen Wesen; b) Philosophie (Philosophie der Geschichte und Geschichte der Philosophie) und politischer Ökonomie, der Wissenschaft der sozialen Praxis und der zeitgenössischen Gesellschaft; c) Politischer Kritik französischen Ursprungs (revolutionäre, jakobinische) und in England eingeführter wissenschaftlicher Untersuchungen über den Reichtum, und schließlich der Begriffsfähigkeit des deutschen Denkens (die er selbst, Karl Marx, weiterführt, von der er jedoch glaubt, daß die Arbeiterklasse ihr Erbe übernimmt); d) Hegel'scher Theorie des Menschen", der sich selbst im Laufe seiner Geschichte durch Arbeit und Kämpfe produziert und Feuerbach'scher Theorie des Menschen" als empfindsamem und empfindendem Naturwesen, einem Wesen, das durch seine Bedürfnisse und das Genießen gekennzeichnet wird. Diese verallgemeinerte Gegenüberstellung spielt sich in den Manuskripten von 1844 auf rein intellektueller Ebene ab. Es ist noch der Kampf der Riesen, Drachen und Zyklopen; der Streit der Götter und Göttinnen, der 23 Ideen und Begriffe. Die Berufung auf das "Erlebte" erfolgt in den Anmerkungen und Abschweifungen. Von Zeit zu Zeit veranschaulicht Marx seine Gedanken, indem er sagt, was in der Wirklichkeit vorgeht. Ohne diese Veranschaulichungen wüßte der Lehrer dieser Entwürfe nicht immer, wovon der Autor spricht, worauf das Geschriebene abzielt. Daher kommt der rätselhafte und deshalb anregende Charakter dieser Manuskripte. Jeder Leser entnimmt ihnen, was ihm gefällt und was ihn bereichert. Hieraus ergibt sich eine eigenartige Konsequenz. Die zahlreichen, von Marx geäußerten Betrachtungen haben nur Sinn und Tragweite in einem sozialen Zusammenhang: der städtischen Wirklichkeit. Marx erwähnt diese aber nicht. Nur ein- oder zweimal, jedoch auf entscheidende Art, bezieht er die Verknüpfung der Begriffe auf diesen Kontext, der gleichwohl ständig impliziert ist. Das Feudaleigentum schließt eine Beziehung zwischen Erde und Menschen ein. Der Herr trägt den Namen der Erde, und mit ihm wird sie zu etwas Persönlichem. Der Leibeigene ist das Akzidens der Erde, aber auch der Erbe (der älteste Sohn des Herrn) gehört der Erde an, dieser engen lokalen Heimat, die die herrschaftliche Familie, das Herrschaftshaus, die Stammlinie, die Lehnbarkeit und ihre Geschichte beherbergt. Das Lehen einerseits und diejenigen, die von ihm abhängig sind, sind durchsichtig und klar. Es gibt keine dunklen Vermittler wie das Geld. Die politische Lage hat also eine sentimentale Kehrseite. Das adlige Verhältnis des Grundbesitzes verleiht dem Herrn einen romantischen Glorienschein. Dieser Schein, erklärt Marx (l. Manuskript, S. 506) (4) muß jedoch aufgehoben werden. Warum diese historische oder theoretische Notwendigkeit? Marx erklärt sich nur wenig über diesen Punkt. Es ist notwendig, "daß dieser Schein aufgehoben wird, daß das Grundeigentum, die Wurzel des Privateigentums, ganz in die Bewegung des Privateigentums hereingerissen und zur Ware wird." Das persönliche Verhältnis des Eigentümers zu seinem Besitz muß also aufhören, "daß an die Stelle der Ehrenehe mit der Erde die Ehe des Interesses tritt und die Erde ebenso zum Schacherwert herabsinkt wie der Mensch." (s. S. 506-507). Der Zynismus des Eigentums muß voll ans Tageslicht gebracht werden, "Es ist notwendig, daß das ruhende Monopol in das bewegte und beunruhigte Monopol, die Konkurrenz, der nichtstuende Genuß des fremden Blutschweißes in den des geschäftigen Handels mit demselben umschlägt" (s. S. 507). Was muß noch geschehen ? Das Feudalwesen muß verschwinden, an die Stelle des geflügelten Wortes nulle terre sans seigneur muß das Sprichwort treten: l'argent n'a pas de maitre (Französisch im Original, S. 506). (4) Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844, Karl Marx, Friedrich Engels Werke, Ergänzungsband 1. Teil, Dietz Verlag Berlin, 1968.

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24 Wenn die Industrie große Macht erlangt (wie in England, fügt Marx hinzu), entreißt sie dem Großgrundbesitz sein Monopol und treibt ihn in die Konkurrenz mit dem Grundbesitz des Auslandes auf den Weltmarkt (Getreideweltmarkt). So hat der Großgrundbesitz in England schon insoweit seinen individuellen Charakter verloren, als auch er Geld machen will (s. S. 509). Ist es nicht offensichtlich, daß die Stadt gleichzeitig Ort, Werkzeug und dramatischer Schauplatz dieser ungeheuren Umwandlung ist? Wo findet diese Veränderung statt, sobald man sie nicht nur in der abstrakten Beziehung der Kategorien: "Eigentum", "Austausch", "Geld" auffaßt? Das ist so offensichtlich, daß Marx nicht daran denkt, es auszusprechen. Nicht einmal dann, wenn er von den Ausläufern des Grundbesitzes im städtischen Raum, das heißt von "das wachsende Verhältnis der Miete mit dem Elend" (s. S. 502) spricht, "denn mit der Miete wächst die Grundrente, der Zins des Bodens, auf dem das Haus steht" (S. 503). Dasselbe geschieht, wenn Marx die reale Erniedrigung des "Menschen" im allgemeinen auf eine Produktions- und Konsumationsmaschine (S. 503), die Reduzierung der Geschichte auf Wirtschaftsgesetze, die Reduzierung des Arbeiters auf eine abstrakte Tätigkeit und einen Bauch (S. 474) brandmarkt. Je weiter der grundlegende Angriff gegen das zur "geschichtlichen Weltmacht" gewordene Privateigentum vorschreitet, je weiter sich die Kritik entwickelt und der Prozeß vertieft, desto offensichtlicher wird der Zusammenhang mit der Stadt. Die Entfremdung zeigt sich, erklärt Marx, teils in einer Verfeinerung der Bedürfnisse und ihrer Mittel, teils in einer Rückkehr in viehische Verwilderung. "Selbst das Bedürfnis der freien Luft hört bei dem Arbeiter auf, ein Bedürfnis zu sein, der Mensch kehrt in die Höhlenwohnung zurück, die aber nun von dem mephytischen Pesthauch der Zivilisation verpestet ist und die er nur mehr prekär, als eine fremde Macht, die sich ihm täglich entziehn, aus der er täglich, wenn er nicht zahlt, herausgeworfen werden kann, bewohnt. Dies Totenhaus muß er bezahlen." (S. 548) Wo ist die Lichtwohnung, von der Prometheus bei Äschylos spricht? Der Gossenablauf der Zivilisation wird für den Arbeiter zum Lebenselement. Der Irländer kennt nur noch ein Bedürfnis: Essen, und was noch schlimmer ist, Lumpenkartoffeln essen. Nun haben aber England und Frankreich in jeder Industriestadt schon ein kleines Irland (S. 548). Fast zufällig kommt Marx auf den Hintergrund des Bildes zu sprechen, der für ihn nur ein düsteres Dekor ist. Wenn er zeigt, daß die mit den Sinnen des "Menschen" wahrgenommene Welt nichts anderes ist, als das Werk dieses "Menschen" selbst, daß der Mensch die Natur dadurch wiedererschafft, daß er sie sich aneignet, daß die Welt, welche scheinbar "objektiv" oder das vermeintliche Werk Gottes ist, aus der Arbeit hervorgeht, erwähnt er weder die Stadt noch die Landschaft. Tatsächlich enthält nur ein ebenso dunkles wie entscheidendes Fragment einen Hinweis. "Der Unterschied von Kapital und Erde, von Gewinn und Grund- 25 rente, wie beider vom Arbeitslohn, von der Industrie, von der Agrikultur, (von) dem unbeweglichen und beweglichen Privateigentum ist ein noch historischer, nicht im Wesen der Sache begründeter Unterschied . . ." (s. S. 525, IL Manuskript). Ein entscheidendes Fragment, weil Marx' ganze spätere Arbeit, einschließlich Das Kapital, darin besteht, diese historische Lage zu kommentieren und zu zeigen, wie sie sich verändert. Die Antwort erfolgt erst am Ende des großen (unvollendeten) Werkes von Marx. Die Elemente der kapitalistischen Gesellschaft kommen, einander fremd, in die Geschichte: der Boden, der Besitzer, die Natur - die Arbeit, die von den Produktionsmitteln losgelösten Arbeiter - das Kapital, das Geld auf der Suche nach Profit, der Kapitalist, die Bourgeoisie. Die Arbeiter? Sie waren zuerst Landstreicher. Das Geld ? Es kommt aus dem Handel. Der Besitzer? Er war der Herr. Die (bürgerliche) Gesellschaft faßt diese Elemente, die sie einzeln aufnimmt zusammen; sie entwickelt sie, braut sie zusammen, verbindet sie zu einer Einheit: der erweiterten Produktion, der globalen Mehrarbeit, dem Mehrwert im Rahmen der ganzen Gesellschaft (und nicht im Rahmen des einzelnen Unternehmens, Kapitalisten oder Eigentümers). Aber die früheren Unterschiede tauchen wieder auf; sie werden teilweise scheinbar, teilweise real. Die Bevölkerungskategorien, Klassen und Klassenteile wissen nicht, daß sie an der Produktion des Mehrwerts, seiner Verwirklichung, seiner Verteilung teilhaben; sie betrachten sich noch als davon getrennt, weil der Arbeiter den Preis für seine Arbeit (den Arbeitslohn) erhält, der Eigentümer den Pachtzins für seinen Boden erhebt und der Kapitalist den Ertrag (Profit) aus seinem produktiven Kapital einstreicht. Dabei handelt es sich nur um eine Verteilung des (globalen) Mehrwerts! So verwandeln sich die von der Geschichte empfangenen Eigenheiten in Unterschiede innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise (-systems) mit einem unbestimmbaren Teil von Scheinbarkeit und Wirklichkeit. Die Trennung der Klassen ist gleichzeitig scheinbar und äußerst wirklich. Scheinbar, weil sie in der selben Gesellschaft auftreten, in demselben "Ganzen", das sich systematisiert; im übrigen gibt es nur eine Quelle sozialen Reichtums. Wirklich, weil sie sozial und praktisch in einer Trennung leben, die als solche aufrechterhalten wird und die bis zum Konflikt geht. Wo vollzieht sich diese kapitale Umwandlung (genau gesagt, schafft sie das Kapital und den Kapitalismus) ? In der Industrie und im Stadtleben (S. 525), die sich gegenüber dem Landbesitz

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bilden, nicht ohne lange Zeit dessen Spuren und Zeichen zu tragen. In der Stadt also, in und durch das Stadtleben, gegenüber der Natur, dem ländlichen Leben, dem schon von der bäuerlichen Arbeit geformten Land, entspringt und verläuft ein Konflikt mit ungeheuren Folgen. Das Eigentum erreicht sein abstraktes (d.h. privates), von der abstrakten (d.h. sozialen) Arbeit untrennbares Wesen nur, indem es an dem unmittelbaren, ursprünglichen Eigentum, dem Grundeigentum nagt, 26 bis dieses verschwindet. So löst der bewegliche Reichtum (an Geld, Kapital) den natürlichen Reichtum an Land und Bodenerträgen ab. Dieses natürliche Eigentum verlieh seinem Besitzer ein fast magisches Prestige. Man konnte es ihm nicht rauben; der Aristokrat trug einen romantischen Glorienschein; er war von einem Charisma gezeichnet, wie ein Soziologe des XX. Jahrhunderts sagen würde. Der Eigentümer von Geld, Kapital, Aktien und Banknoten hat dieses Prestige verloren. Er hat dem Eigentum jeden mystischen Wert genommen. Wo? In welchem Rahmen? In dem Stadtleben, dem Medium (Milieu, Mittel, Vermittler, Unterhändler) der Veränderung. Und hier wird endlich das Ungeheuer beim Namen genannt, der Ort der Verwandlungen und Begegnungen, der dramatische Raum, der das Scheinbare und das Wirkliche vermischt, der die Aneignung vortäuscht (wo die als Entfremdung erscheinende Aneignung die "Einbürgerung" bildet, s. S. 522) - wo schließlich das siegreiche Kapital die menschliche Arbeit als Quelle des Reichtums entdeckt zu haben scheint ... Kommen wir mit den Manuskripten von 1844 zuende, deren Bedeutung heute weder über- noch unterschätzt werden darf. Als Merkpfähle auf einem Weg zeigen diese Texte eine Richtung an. Sie orientieren. Was ihnen fehlt und gerade dadurch offenbar wird, ist ebenso wichtig, wie der Beitrag des Ausgesprochenen. Durch das (dialektische) Aufeinanderprallen der Kategorien, aus den begrifflichen Wolken und Gewittern, zucken Blitze auf, erscheint Morgenröte. Wir setzen unseren Weg fort, die anderen Fragen, die man dem Marx von 1844 stellen könnte, beiseite lassend, und kommen zu Die Deutsche Ideologie (18451846) (5). Ist es der direkte Einfluß Engels oder der Kontakt mit den Tatsachen ? Die Landschaft ändert sich. Die städtische Wirklichkeit geht, noch begrenzt, in den Vordergrund über. Um diesen Eintritt der Stadt in das marxistische Denken ins rechte Licht zu rücken, um seine Bedeutung und seine Grenzen zu begreifen, muß man die Arbeitsteilung und die Ideologie in ihrer unauflösbaren Unterscheidung und Verbindung recht verstehen. Die Konfrontation zwischen Ontologie und Anthropologie (zwischen der alten, auf die Metaphysik gerichtete Philosophie und der "physischen" Haltung des menschlichen Wesens als Naturwesen), hat den grundlegenden Konflikt zwischen diesen beiden Vorstellungen zutage gebracht. Es ist unmöglich, sich mit einem Eklektismus, einer verschwommenen Synthese zufrieden zu geben. Von Marx bis zum Ende mit unvergleichlicher theoretischer Kraft durchgeführt, erlaubt sie nur einen Ausweg: den Konflikt zu lösen, indem man ihn überwindet, indem man die Ausdrücke des Wider- (5) Karl Marx: Frühe Schriften 2. Band, herausgegeben von Hans-Joachim Lieber und Peter Furth, 1971, Cotta-Verlag, Stuttgart 27 spruchs durch eine "theoretische Revolution" (der Ausdruck, der Hegel und Feuerbach zugeschrieben wird, steht am Anfang der Manuskripte von 1844, S. 468) vernichtet. Marx und Engels konzipieren ein Verfahren unter zwei Gesichtspunkten: Geschichte und Praxis. Die Geschichte faßt die Produktion des menschlichen Wesens durch sich selbst zusammen. Das Wort "Produktion" versteht sich in einem viel weiteren Sinn als bei den Ökonomen; es bezieht den Sinn der ganzen Philosophie mit ein: Produktion von Sachen (Produkten) und Werken, von Ideen und Ideologien, von Bewußtsein und Wissen, von Illusionen und Wahrheiten. Die Geschichte reicht also von der fernen (ursprünglichen) Vergangenheit bis zur Zukunft, wobei der Historiker diesen Weg in umgekehrter Folge wiederholt, um zu verstehen, wie diese Vergangenheit die Gegenwart erzeugen konnte. Andererseits bereitet die auf diese Bewegung gegründete Praxis, gestützt auf die Gegenwart und sie bildend, die Zukunft vor, faßt das Mögliche, das heißt im äußersten Falle die totale Umwandlung der wirklichen Welt durch die totale Revolution, ins Auge. Die soziale Praxis wird analysiert als: Produktion in begrenztem Sinne und soziale Produktivität, politische Praxis, revolutionäre Praxis usw. Die doppelte Bestimmung des Prozesses, d.h. Geschichtlichkeit und Praxis, wird laut Marx nur vom materialistischen und dialektischen Denken erfaßt, weil es die Vielfalt, die Unterschiede, Konflikte und Widersprüche erfaßt. Das alles bildet den historischen Materialismus. Aber sogleich erhebt sich ein Problem. Wenn es stimmt, daß Geschichte und Praxis die Grundlage der Erkenntnis sind, warum haben dann die in Gesellschaft lebenden Menschen so lange gebraucht, um es zu bemerken? Wie ist es möglich, daß ihre Beziehungen Illusionen, Lügen hervorbringen, wenn die Wahrheit so offensichtlich ist? Woher kommt der Irrtum ? Wie soll man die unglaubliche Mischung von Delirium und Vernunft im Kopf der Leute erklären ? Die Gründer der neuen Doktrine machen sich über die "philosophischen Helden" lustig, aber sie müssen sich davor hüten, selbst als solche zu

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erscheinen. Worin besteht die philosophische Illusion ? Zunächst darin, daß sich für den Philosophen alles auf der Ebene des reinen Denkens, außerhalb der profanen Welt abspielt. Dann darin, daß der Philosoph eine abstrakte Kategorie wählt, den Menschen, das Bewußtsein, die Substanz, das Einzige, der er eine bevorzugte, ausschließliche Bedeutung beimißt; er erhebt sie zum Absolutum. Wenn er "kritisch" sein will und zu sein glaubt, greift er seine Kollegen an, die von den anderen Philosophen angenommenen ..falschen Ideen", die allgemein anerkannte Religion. Der sich für revolutionär haltende Philosoph glaubt die Welt zu verändern, während er davon träumt, ein paar Dogmen zu beseitigen, die den seinen ähnlich sind. Niemals taucht in seinem Denken die wesentliche Frage auf: welches sind die Voraussetzun- 28 gen, die Existenzbedingungen dieses Denkens? Was ist das Bindeglied zwischen der Philosophie und der deutschen Wirklichkeit? Diese Fragen stellt sich der Philosoph nicht. Marx und Engels formulieren die Frage, indem sie die Antwort darauf geben. Sie gehen nicht von Dogmen, von willkürlichen Grundlagen aus, sondern von realen: den Individuen, ihren empirisch feststellbaren Existenzbedingungen. Es muß hier festgestellt werden, daß die Verfasser der Deutschen Ideologie nach dieser Behauptung einen kühnen Sprung von der Gegenwart zu den Anfängen tun. Was ist ursprünglich an diesen Tätigkeiten, durch die "die Menschen" direkt oder indirekt durch Verändern der Natur ihre Lebensmittel produzieren ? Wer "Produktion" sagt, sagt auch gleichermaßen physische und soziale "Reproduktion": Reproduktion der Lebensweise. "Wie die Individuen ihr Leben äußern, so sind sie. Was sie sind, fällt also zusammen mit ihrer Produktion, sowohl damit, was sie produzieren, als auch damit, wie sie produzieren." (Die Deutsche Ideologie, S. 17). Hier erfolgt erneut ein Sprung, diesmal von der Vergangenheit in die Gegenwart. Man springt von den "menschlichen Wesen", (die sich von den Tieren dadurch unterscheiden, daß sie durch die Arbeit mit von ihnen erfundenen Werkzeugen, die von ihrem Körper unabhängig sind, produzieren) zu den nationalen Unterschieden. Das kritische Wiederlesen dieser berühmten Texte schmälert in keiner Weise ihre Bedeutung, erlaubt es aber nicht mehr, die Locken in der Argumentation zu übersehen. Nur dieses Vorgehen ermöglicht es, die starken und die schwachen Seiten zu erkennen. Die kraftvollen Behauptungen, jene, die im Gedächtnis haften und die die berühmten Zitate hergeben, sind nicht immer identisch mit den starken Seiten der theoretischen Ausarbeitung. Es ist nur zu einfach, die übertriebenen Behauptungen herauszustellen und zu unterstreichen, die eine gleichermaßen übermäßige Überschätzung und Herabsetzung erfahren haben, (wie hier z.B. die allzu berühmte These, die das Denken und das Bewußtsein zum einfachen "Abglanz" der äußeren Wirklichkeit herabmindert). Ist nicht die Gesamtheit der Behauptungen über die Stadt der erste wirklich handfeste Punkt, der weder mit einem willkürlichen überfliegen der Zeit, noch mit einem Zurückgreifen auf das Ursprüngliche operiert? Die Arbeitsteilung "innerhalb einer Nation", (eine unklare Angabe: woher kommen diese "Nationen"? Von der Arbeitsteilung, das wäre fast Tautologie) bringt die Trennung von industrieller und kommerzieller Arbeit einerseits und der landwirtschaftlichen Arbeit andererseits mit sich. Diese Tatsache führt "die Trennung von Stadt und Land und den Gegensatz der Interessen leider herbei" (s. S. 17), woraus allgemein zahlreiche besondere Teilungen und Trennungen der gesellschaftlichen Tätigkeiten erfolgen. Es gibt eine Verbindung zwischen der Entwicklung der Arbeitsteilung, den Unterschieden zwischen Arbeit und Austausch, den verschiedenen Formen des Eigentums: 29 zuerst Gemeinschafts- (Stamm-)eigentum mit progressiver Vorherrschaft der Familie und fast naturwüchsiger Arbeitsteilung in der Familie - dann Gemeindeeigentum, das aus der Vereinigung mehrerer Stämme (durch Vertrag oder Eroberung) zu einer Stadt zustandekommt. Neben diesem Gemeindeeigentum bildet und entwickelt sich das Privateigentum, zunächst jedoch als eine abnorme Form des Gemeindeeigentums und vor allem als Sklaven-Eigentum. Hier entdeckt man den Gegensatz zwischen Handel und Industrie innerhalb der Stadt. Die Argumentation wird überaus bemerkenswert durch ihre Überzeugungskraft und Neuartigkeit. Die Unklarheiten in der Formulierung (was ist die genaue Bedeutung des Wortes "Form" in dem Ausdruck "Formen des Eigentums"?) verschwinden. Die Verfasser setzen ein Zeichen, dessen Bedeutung in der Geschichtlichkeit die Geschichte der Historiker nach ihnen nicht immer zu würdigen verstand. Dabei handelt es sich um eine entscheidende Aussage, um einen Meilenstein in der geschichtlichen Zeit . . . Die Antike ging von der Stadt aus, während das Mittelalter (darunter ist das europäische, westliche Mittelalter zu verstehen) von dem Lande ausging (s. S. 19). In der Antike organisierte, beherrschte, beschützte, exploitierte die politische Stadt ein Gebiet mit Bauern, Dorfbewohnern, Hirten usw. In einigen Fällen, wie in Athen und Rom, gelang es dieser politischen Stadt durch Krieg ebenso wie durch Austausch (Tauschhandel und Handel), ein Gebiet zu beherrschen, das unvergleichlich größer war als seine unmittelbare Umgebung. Innerhalb dieses städtischen Wachstums gab es keinen anderen größeren Konflikt als den zwischen Sklaven und Einwohnern, keine anderen Klassenverhältnisse. Im Mittelalter sind diese Verhältnisse umgekehrt. Der Herr stützt sich auf das

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Land; er beherrscht ein kleines Gebiet, das er vergrößern möchte. Der Feudalgrundbesitz entstand durch einen doppelten Prozeß- die Auflösung des römischen Weltreichs (das nichtsdestoweniger eine Ausbreitung der Landwirtschaft und weite, schon durch geschäftliche und politische Verbindungen vereinte Räume hinterläßt) - den Einbruch der Barbaren, die eine Gemeinschaft, die bäuerliche, wiederherstellen. Die hierarchische Struktur der mittelalterlichen Gesellschaft hat folgende Grundlage: Lehnsherrschaft und militärische Oberhoheit auf von unterjochten Gemeinschaften besetztem Boden. Die Wiederherstellung der Gemeinschaft durch die Barbaren stellte das antike Gemeindeeigentum nicht wieder her, es sei denn, sie unterordnete es der Feudalstruktur. Gegen wen richtet sich diese? Gleichzeitig gegen die beherrschte produzierende Klasse (der Bauern) und gegen die Städte (gegen deren Bewohner, die "Bourgeois", die Handel und Austausch treiben). Ein doppelter Klassenkampf bahnt sich an und vor allem ein erbittertes Ringen zwischen Bourgeois und Herren. Daher die städtische Revolution des Mittelalters und das Auftauchen der Königreiche. 30 Woher kam nun aber die wirtschaftliche, soziale, politische Stagnation, die die antike Gesellschaft und ihre Reiche ins Verderben führte ? Es gab viele Ursachen und Gründe. Vom Sklaventum, das das Wachstum begrenzte (geringe Produktivität und mangelnde Erfindungskraft der Sklaven) und daher, daß es keine anderen großen Klassenkämpfe gab, als das nutzlose Ringen der Sklaven gegen ihre Herren. Im Mittelalter dagegen erobert in Europa die zunächst der Feudalstruktur unterworfene Stadt die Herrschaft. Die Stadt zerstört gleichzeitig die Feudalstruktur und verleiht sie sich ein, jedoch nicht ohne sie umzuwandeln. Dem Feudalgrundbesitz (Grundbesitz: bäuerliche, von der Hierarchie der Herren beherrschte Gemeinschaft) "entsprach in den Städten das korporative Eigentum". Die Gemeinschaft der Handwerker trug die Hierarchie der verschiedenen Meister: Zunftmeister, städtische Ständegliederung, reichgewordene, die Stadt politisch beherrschende Leute. Die Vereinigung der Produzenten bekämpfte den Raubadel, plante die Märkte (gedeckte Hallen), nahm die entlaufenen Leibeigenen auf, sicherte den Schutz und das Anwachsen der vorhandenen kleinen (Handels-)Kapitalien. Die Struktur dieser beiden Formen (Grundeigentum, korporatives Eigentum in den Städten) war von begrenzten Produktionsverhältnissen und Produktivkräften abhängig: noch elementarer Landwirtschaft, noch handwerklicher Industrie, noch geringem Austausch und wenig fortgeschrittener Arbeitsteilung. Daher der "Besitz nach Ständegliederung", Adel, Geistlichkeit, dritter Stand, oder auch Fürsten, Bauern, Handwerksmeister. Diese Struktur änderte sich als die Handelsstädte größer wurden, als die Städte miteinander in Beziehung traten, um Föderationen zu bilden oder um sich zu bekämpfen. Daraus resultierte die Trennung zwischen Handel und Industrie einerseits und die Vereinigung innerhalb des Staates zwischen dem Grundadel und den städtischen Ständegliederungen andererseits. Diese Ereignisse fanden erst nach dem Sieg der Städte über den Grundadel statt, (Revolution der Gemeinden und der städtischen Bourgeoisie), d.h. nach der Umkehrung der ursprünglichen Lage, der Vorherrschaft des Landes, des Grundbesitzes, der Feudalstruktur über noch schwache Städte. Man müßte an dem Denken Marx' und Engels' in diesen Texten nicht viel herumdeuten, um folgende Schlüsse daraus zu ziehen; es genügte, sie mit anderen (im allgemeinen früheren) Texten zusammenzustellen. Die antike Gesellschaft (die sklavische Produktionsweise) ist lange dahingesiecht, ohne eine andere Produktionsweise, eine andere Gesellschaft zu produzieren. Ihre Geschichte war vor allem die Geschichte ihres Niedergangs nach einer kurzen, zugegebenermaßen glänzenden Periode des Aufstiegs. Warum? Weil die antike Stadt ein geschlossenes System bildete. Die inneren Kämpfe konnten sie nur von innen heraus zerstören, ohne sie einer anderen praktischen Wirklichkeit zu öffnen. Die Aufstände der Sklaven waren von vorne herein 31 zum Scheitern verurteilt, obwohl sie durchaus gerechtfertigt waren. Warum? Weil die Vorherrschaft der politischen Stadt über das umliegende Land von Anfang an feststand, mit der Beziehung "Stadt-Land" verflochten war. Die Verwendung der Sklaven zu landwirtschaftlichen Arbeiten (auf den großen Besitztümern, den Latifundien) hing von der Stadt ab, die so ihre Produktionsmittel und die Voraussetzungen ihrer Macht nutzte. Der Gegensatz blieb innerhalb der Stadt. Diese Beziehung verurteilte die antike Stadt nicht nur in jeder Hinsicht zur Stagnation, sondern auch zum Erleiden des zerstörerischen Gegenschlags, des selbstzerstörerischen könnte man sagen, der Kämpfe, die sie unterstützte und in sich einschloß. Die Gegensätze der antiken Stadt waren mehr zerstörerisch als Überwindung schaffend. Dagegen wird im europäischen Mittelalter (unter sorgfältiger Beibehaltung der "asiatischen Produktionsweise") die Beziehung Stadt-Land konfliktgeladen. Nach dem massiven Eingriff der Barbaren, die das geschichtliche Urteil gegen die antike Stadt vollstreckten und sie wieder durch eine Stammes- und Gemeinschaftsgesellschaft ersetzten, mußten die Stadt und die mittelalterliche Bourgeoisie durch harte Kämpfe die

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politische Oberhoheit und die Fähigkeit, das Land wirtschaftlich auszubeuten erringen, indem sie sich selbst an die Stelle des Grundherrn setzten bei der Erhebung der Mehrarbeit (Grundrenten) und in dem Besitz selbst (durch Zerstörung des feudalen Grundbesitzes im Laufe eines schon flüchtig beschriebenen ungeheuren Prozesses). Das Stadtsystem konnte sich nicht in sich selbst verschließen, weil es den Bruch (die Öffnung) des Feudalsystems darstellte. Im Rahmen dieses Prozesses bringt die Stadt etwas anderes hervor, das mehr ist als sie selbst: auf wirtschaftlichem Gebiet die Industrie - auf sozialem Gebiet das bewegliche Eigentum (nicht ohne Kompromiß mit den feudalen Formen des Eigentums und der Organisation) - und schließlich auf politischem Gebiet den Staat. So sah das geschichtliche Ergebnis des ersten großen Kampfes der Klassen und Gesellschaftsformen in Europa aus: Stadt gegen Land, Bourgeoisie gegen Feudalherrschaft, bewegliches privates Eigentum gegen Gemeinschafts- und Grundeigentum. Der Leser wird an dieser Stelle bemerken, daß sich in der Deutschen Ideologie eine erste Ausarbeitung der Beziehungen von Stadt und Land zwischen die grundlegenden Thesen (philosophische Kritik der Philosophie) und eine neue, gut ineinandergreifende Folge von allgemeinen Sätzen, die den "historischen Materialismus" klar definieren, einschiebt. Wie soll man daraus nicht schließen, daß der von Engels und Marx vorgestellte historische Materialismus, obwohl gegen die Philosophen gerichtet, nicht aus philosophischen Verallgemeinerungen besteht, sondern sich auf eine bis dahin (und vielleicht bis heute) vernachlässigte Geschichte stützt: auf die Geschichte der Stadt ? .. Die Tatsache ist also die: (s. S. 21). Bestimmte Individuen gehen 32 bestimmte soziale und politische Verhältnisse (die sie in ihrer Praxis unterhalten, die sie "haben", die aber nicht von ihnen abhängen, die sie nicht gewählt haben) ein. Die Verbindung zwischen der gesellschaftlich-politischen Struktur und der Produktion kann man beobachten, sie ist sichtbar. "Die gesellschaftliche Gliederung und der Staat gehen beständig aus dem Lebensprozeß bestimmter Individuen hervor; aber dieser Individuen, nicht wie sie in der eigenen oder fremden Vorstellung erscheinen mögen, sondern wie sie wirklich sind, d.h. wie sie wirken, materiell produzieren . . ." (s. S. 22). Nun kommt die entscheidende Formulierung. Was ist Produktion? In einem weiteren Sinne, der ein Erbe Hegels ist, jedoch von der philosophischen Kritik im allgemeinen, dem Hegelianismus im besonderen und dem Beitrag der Anthropologie verwandelt wurde, beschränkt sich die Produktion nicht auf die Tätigkeit der Herstellung von Sachen zum Zweck des Austausches. Es gibt Werke und Produkte. Die Produkte in dieser erweiterten Bedeutung (Produktion des menschlichen Wesens durch sich selbst) beinhaltet und umfaßt die Produktion von Ideen, Vorstellungen, Sprache, unmittelbar verflochten in "die materielle Tätigkeit und den materiellen Verkehr der Menschen, Sprache des wirklichen Lebens. Die Menschen produzieren die Vorstellungen, die Ideen, aber es sind die "wirklichen, wirkenden Menschen". So besteht nichts außerhalb der Produktion, nichts Menschliches. Das Innerliche, der Intellekt, das, was als "Geistiges" gilt und von der Philosophie für ihr persönliches Reich gehalten wird, sind "Produkte" wie alles übrige. Es gibt die Produktion von Vorstellungen, Ideen, Wahrheiten, sowie von Illusionen und Irrtümern. Es gibt die Produktion des Bewußtseins selbst. Das wird durch ein bemerkenswertes Fragment bestätigt und verdeutlicht. ,Der "Geist" hat von vornherein den Fluch an sich, mit der Materie "behaftet" zu sein, die hier in der Form von bewegten Luftschichten, Tönen, kurz der Sprache auftritt. Die Sprache ist so alt wie das Bewußtsein die Sprache ist das praktische, auch für andere Menschen existierende, also auch für mich selbst erst existierende wirkliche Bewußtsein . . ." (S. 31). Für Marx und Engels gibt es kein Denken ohne Bewußtsein und kein Bewußtsein ohne Sprache, d.h. ohne Träger und Beziehungen. Das menschliche Wesen unterscheidet sich vom biologischen dadurch, daß es Beziehungen herstellt und folglich eine Sprache hat: seine Sprache, durch welche die Beziehungen als solche bestehen. Das Bewußtsein ist also ein gesellschaftliches Produkt. Was das "Selbstbewußtsein" anbelangt, das durch sich selbst als absolute Form des Bewußtseins, als Geist, als Gottheit besteht, so ist es eine Illusion der Philosophen. Eine Bemerkung im Vorübergehen: man könnte auch Marx' Texte über die Sprache thematisch zusammenstellen. Obwohl er seine Gedanken zu diesem Thema nicht entwickelt hat und ihm zweifellos die begrifflichen Werkzeuge fehlten, scheint er eine Entwicklung einzuleiten (z.B. in Hinsicht auf die Beziehungen von Sprache und Tauschwert). 33 Die Philosophie steigt vorn Himmel auf die Erde herab; das materialistische Denken steigt von der Erde zum Himmel empor. Es geht von den Menschen in ihrer wirklichen Tätigkeit aus. Nicht das Bewußtsein bestimmt das gesellschaftliche Leben, sondern das Leben bestimmt das Bewußtsein."... daß man überhaupt die Menschen nicht

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befreien kann, solange sie nicht im Stande sind, sich Essen und Trinken, Wohnung und Kleidung in vollständiger Qualität und Quantität zu verschaffen. Die "Befreiung" ist eine geschichtliche Tat, keine Gedankentat . . ." (vollständig S. 54). Es ist hier nicht unsere Aufgabe, die Bildung des historischen Materialismus zu verfolgen, sondern die theoretischen Fragmente und die Ideen Marx' und Engels' über die Stadt in diese Entwicklung einzureiben. Wir lassen also das mit "Geschichte" (S. 28 ff.) überschriebene Kapitel beiseite, jedoch nicht ohne einige Bemerkungen zu präzisieren. Engels und Marx spielen mit der doppelten Bedeutung des Wortes Produktion. a) Die weitere, von der Philosophie ererbte Bedeutung. Produktion bedeutet Schaffen und gilt für die Kunst, die Wissenschaft, die Institutionen, den Staat selbst, sowie für die allgemein "praktisch" genannten Tätigkeiten. Die Arbeitsteilung, welche die Produktion zerstückelt und bewirkt, daß der Vorgang dem Bewußtsein entgeht, ist selbst eine Produktion wie das Bewußtsein und die Sprache. Die veränderte Natur wurde produziert; die wahrnehmbare Welt, die gegeben zu sein scheint, wurde geschaffen. b) Die engere, genaue, obwohl vereinfachte und vereinfachende, von den Ökonomen (Adam, Smith, Ricardo) herkommende Bedeutung, die jedoch durch den Beitrag einer globalen Auffassung, der Geschichte, verändert wurde. Es gibt bei Engels und Marx eine Art doppeltes Spiel. Sie lassen die weitere, (philosophische oder beinahe philosophische) aber ungenaue Bedeutung des Begriffs "Produktion" aus dem genauen, empirischen, fast "positiven" Charakter seiner engeren Bedeutung Nutzen ziehen. Sie korrigieren den begrenzten (vereinfachten und vereinfachenden) Charakter dieser letzteren Bedeutung, indem sie die Weitläufigkeit und die umfassenden Perspektiven des anderen Sinnes in sie hineinlegen. In der weitläufigen Bedeutung liegt Produktion von Werken, Ideen, von scheinbarer "Geistigkeit", kurz, von allem, was eine Gesellschaft und eine Zivilisation ausmacht. In der engen Bedeutung liegt die Produktion von Gütern, Nahrungsmitteln, Kleidung, Wohnungen, Sachen. Diese letztere Bedeutung unterstützt die erste und bezeichnet ihre materielle "Grundlage". Marx und Engels gelingt es, den Leser davon zu überzeugen, daß die Geschichte diesen doppelten Prozeß, diese doppelte Bedeutung umfaßt und mit einschließt. Dennoch ist die Argumentation nicht frei von einer gewissen Unordnung, von Schwächen, die es vielleicht erklären, daß die Verfasser ihr Werk aufgaben, es nicht veröffentlichten. Nachdem man die 34 Frage nach den Ursprüngen für geklärt hielt, kommen sie wieder darauf zurück, um die "vier Momente der ursprünglichen geschichtlichen Verhältnisse" zu betrachten, nämlich: die Produktion der Mittel (Instrumente, Werkzeuge), welche die Befriedigung des ersten Bedürfnisses - die Produktion neuer Bedürfnisse - ermöglicht, die Reproduktion, d.h. die Familie die Verbindungen, welche die Arbeiter in der Produktion vereinigen. Vier gleichzeitig ursprüngliche und ständige, d.h. geschichtliche "Momente". Es ist klar, daß diese "Momente", da sie jeder Geschichte innewohnen, nichts darüber aussagen, was Geschichte war oder ist. Diese wird erst mit der Arbeitsteilung eingeführt, die erst in dem Augenblick zu einer solchen wird, als sich die Teilung der materiellen und der intellektuellen Arbeit vollzieht. "Von diesem Augenblicke an kann sich das Bewußtsein wirklich einbilden, etwas andres als das Bewußtsein der bestehenden Praxis zu sein, wirklich etwas vorzustellen, ohne etwas Wirkliches vorzustellen . . ." (s. S. 33). Daraufhin springen unsere Verfasser von der Analyse der "Momente" zu aktuellen Betrachtungen über das nationale Bewußtsein und die nationalen (deutschen) Ansprüche auf das universelle Bewußtsein aber. Ausgezeichnete kritische Betrachtungen, welche aber die Prämissen überschreiten, weil sie im Namen der Geschichte über die Geschichte hinwegspringen. In der Folge spürt man diesen allzu dialektischen Sprung, insbesondere in den Betrachtungen, die die philosophische Theorie der Entfremdung (S. 38) im Namen der Geschichte wiederaufnehmen, ohne zu präzisieren, ob es sich um eine Entfremdung oder um das Aufheben der Entfremdung durch die Geschichte handelt! ... Warum sollten die kritischen Bemerkungen das kritische Denken verschonen ? Tatsächlich wird der Text wieder zusammenhängend und umfassend, gewinnt er wieder an Interesse, wenn wir die Stadt wiederfinden (S. 61 ff.). Es ist, als ob die Stadt die beiden Bedeutungen des zentralen Begriffes der Produktion faktisch und konkret vereinigte. Dieser Text nimmt die früheren über die Stadt wieder auf (S. 20 ff.), jedoch auf einer höheren Ebene. Was liegt zwischen den beiden? Einblicke in die geschichtliche Entwicklung und ihren Reichtum, Einblicke, die selbst reich an anregenden Formulierungen sind, aber Ideen vermischen, die allen Epochen von den Ursprüngen bis zur totalen Revolution entstammen. Wie weit ist man, obwohl man hier und da auf ihn zurückkommt, von demjenigen entfernt, der als Vorwand dient und der Argumentation ihren Titel liefert: Feuerbach 1 Welch ungeheure Verworrenheit, in die Generationen von Exegeten Ordnung, Methode, Genauigkeit zu bringen versuchen, wobei sie sich übrigens damit begnügen, aus diesen Ablagerungen einige, immer die gleichen Zitate auszugraben ... Mit dem zweiten Fragment über die Stadt verdichtet sich das Denken wieder, wird es erneut präzise, gut belegt und eingereiht. Die Wiederaufnahme der

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35 früher geäußerten Thesen liefert diesen gleichzeitig neues Material und eine konzentrierte Form. Der heutige Leser hat zeitweilig den Eindruck, daß Marx und Engels die Antwort auf ihre Frage "Was ist das Subjekt der Geschichte?" wissen. Für sie ist es auf diesen Seiten die Stadt. Aber wir wollen keine voreilige endgültige Schlußfolgerung ziehen. Die Frage nach dem Subjekt stellt sich Marx erst später. Sie wird erst in den "Grundrissen" ausgesprochen. Das kollektive Subjekt, das der Geschichte, jenes, dem man das Ganze zuschreiben kann, die Praxis in ihrer Gesamtheit, ist nicht mehr der Hegel'sche Staat; Marx wies ihn in seiner Kritik des Hegelianismus (Philosophie der Geschichte und Geschichte der Philosophie, Theorie des Staates und des Rechts) zurück. Wer ist es also ? Marx zögert stets, eine endgültige Antwort darauf zu geben. Ist es die "Gesellschaft"? Die Produktionsweise? Die Klassen? Das Proletariat als bevorzugte Klasse, in negativem und positivem Sinn? Marx scheint auf eine Antwort verzichtet zu haben, weil er die Frage selbst vielleicht für theoretisch (philosophisch und nicht praktisch und/oder politisch) hielt. Obwohl er sie klar und deutlich gestellt hat. Hier ist das Subjekt der Geschichte unbestreitbar die Stadt. Sie zeigt mehrere präzise Eigenschaften. a) Das Land bedeutet im Gegensatz zur Stadt Vereinzelung und Isolierung. Die Stadt dagegen konzentriert nicht nur die Bevölkerung sondern auch die Produktionsinstrumente, das Kapital, die Bedürfnisse, die Genüsse. All das, was eine Gesellschaft ausmacht. "Mit der Stadt ist zugleich die Notwendigkeit der Administration, der Polizei, der Steuern usw., kurz, des Gemeindewesens und damit der Politik überhaupt gegeben." (s. S. 61). Das städtische Dasein verschmilzt mit dem politischen Dasein, wie das Wort es andeutet. Wenn die Stadt das konzentriert, was eine Gesellschaft ausmacht, so verteilt sie es auf verhältnismäßig vernünftige Weise auf Organisationen und Institutionen. b) Nichtsdestoweniger verstümmelt und blockiert die Trennung zwischen Stadt und Land die gesellschaftliche Gesamtheit; sie ist abhängig von der Teilung der materiellen und geistigen Arbeit, die sie verkörpert, die sie in die Realität umsetzt. Bei dieser Trennung fällt dem Land die geistlose materielle Arbeit zu; der Stadt gehört die durch den Verstand bereicherte und entwickelte Arbeit, wenn man hierzu die Verwaltungs- und Befehlstätigkeiten zählt. Der Gegensatz verschärft sich im Zuge eines ungeheueren sozialen Fortschritts: Übergang von der Barbarei zur Zivilisation, von dem Stammeswesen zum Staat, von Provinzialismus zur Nation. Als gleichzeitig anfängliches und ständiges Moment der Geschichte besteht sie fort "und zieht sich durch die ganze Geschichte der Zivilisation bis auf den heutigen Tag hindurch" (S. 61). Aber sie rückt auf der negativen, auf der schlechten Seite der Geschichte vor. Die Trennung bringt die Trennung der Bevölkerung in Klassen mit sich. "Der Gegensatz zwischen Stadt und Land kann nur 36 innerhalb des Privateigentums existieren" (S. 61), der Trennung von Boden und Geld, wobei jenes sich als beherrschende Macht an die Stelle des ersten setzt. Was ergibt sich daraus? Die allgemeine Entfremdung. Das von der Arbeitsteilung abhängige Individuum wird unter eine aufgezwungene Tätigkeit subsumiert. Seine "Vermenschlichung" (ein Wort, das jünger ist als das Denken Marx' und Engels', hier aber einen theoretischen Sinn erhält), wird dadurch aufgehalten. Er fällt auf prähistorisches Niveau zurück. Es gibt einerseits ein "Landtier" und andererseits ein "Stadttier", beide sind borniert. Denken Engels und Marx hier an eine bestimmte Fabel ? Eines der ebenfalls berühmten Fragmente aus der Phänomenologie Hegels zeigt abstrakte Tiere: die durch die Arbeitsteilung gleichzeitig in der Abstraktion und in der Reduzierung auf das Biologische verstümmelten "Spezialisten". Das eine schließt das andere nicht aus. Doppelte Begrenzung: des Lebens und des Bewußtseins, der praktischen Tätigkeit und der schöpferischen Fähigkeit. Der Vorteil der Stadt kehrt sich gegen sie selbst. Das Stadttier stellt seine Interessen denen des Landtieres entgegen. Ihr Haß und ihre Kämpfe wären sinnlos, wenn sie nicht eine andere Gesellschaft produzierten. c) Die Trennung von Stadt und Land kann und muß überwunden werden. Genauso wie die Arbeitsteilung selbst (später, vor allem in Grundrisse, zeigt Marx, daß diese Überwindung, deren Idee von der wenig geteilten landwirtschaftlichen Arbeit von Utopisten wie Fourier, der die Agrargemeinschaft theoretisiert, beeinflußt ist, durch die industrielle Arbeit und die Automatisierung einen höheren Sinn erhält). Die Aufhebung des Gegensatzes zwischen Stadt und Land "ist eine der ersten Bedingungen der Gemeinschaft" (S. 62), d.h.: der nach der geschichtlichen Entwicklung mit allen ihren Eroberungen in der sogenannten "kommunistischen" Gesellschaft wiederaufgenommenen Gemeinschaft. Diese Überwindung, die "wieder von einer Masse materieller Voraussetzungen abhängt und die der bloße Wille nicht erfüllen kann" (S. 62), besonders von einem Anwachsen der Produktivkräfte sowie von neuen Produktionsverhältnissen (und somit: von einer anderen Produktionsweise, einer anderen Gesellschaft). Die Überwindung erfolgt also nicht über einen Erlaß, eine bewußte Absicht. Es besteht eine Tendenz in dieser Richtung, die Richtung der geschichtlichen Tendenz, die Tendenz der ganzen Praxis und Gesellschaft äußert sich auf

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diese Weise. Mithin deckt die Stadt die doppelte Bedeutung des Wortes "produzieren". Selbst ein Werk, ist sie der Ort, wo verschiedene Werke produziert werden, einschließlich dem, was den Sinn der Produktion ausmacht: Bedürfnisse und Genüsse. Sie ist auch der Ort, wo Güter produziert und ausgetauscht, wo sie verbraucht werden. Sie versammelt diese direkten und indirekten Realitäten und Modalitäten des "Produzierens". Sie konkretisiert und datiert diese 37 Einheit, deren soziale Stütze, deren "Subjekt" sie ist, während sie vorher abstrakt und zeitlos war. In dieser Perspektive verleiht die Wiederaufnahme auf einer höheren Ebene der Thesen über die mittelalterliche Stadt (d.h. des ersten Textes S. 20 ff.) der Argumentation viel mehr Kraft. Die Städte haben die Bourgeoisie und die ersten Proletarier geschaffen. Um das besser zu verstehen, untersuchen wir die Arbeitsteilung. Worin besteht sie ? Die geteilten Arbeiten scheint es, ergänzen sich, ihre Ergebnisse greifen ineinander, weil sie einander brauchen. Wenn eine organisierte oder nichtorganisierte Gruppe Werkzeuge produziert, ist die Gruppe, die sich ihrer bedient für die Gesellschaft unentbehrlich. Es scheint also, als ersetze die Arbeitsteilung eine einfache Gesellschaft durch eine vollständigere, harmonischere, "organischere" würde Dürkheim sagen. Marx sagt nein. Die Ergebnisse, die "Produkte" ergänzen sich, aber die geteilten Tätigkeiten stehen einander gegenüber, bieten sich Trotz, erzeugen Ungleichheiten und Konflikte. Betrachten wir die geteilten - hauptsächlich nach Alter und Geschlecht geteilten Arbeiten - in der Großfamilie im ersten Stadium des Gemeinschaftslebens, der Stammes- oder Gemeinschaftsgesellschaft. Gewiß greifen sie inein-ander, setzen sie einander voraus, ergänzen sie sich. In einigen, wenigen Fällen überlassen sie den Frauen einen ehrenvollen Status, eine wichtige Rolle. In der großen Mehrheit der bekannten Fälle jedoch verschlechtert sich der Status der Frauen. Die Männer herrschen, setzen die weiblichen Tätigkeiten herab, oder weisen den Frauen gering geachtete Tätigkeiten zu. Die Ungleichheit der Aufgaben bringt den Kampf der Geschlechter mit sich, und diese Bedingungen tragen den Sieg davon, trotz aller Gründe und Ursachen, die die Einheit der Geschlechter im Rahmen einer Gesellschaft aufrechterhalten. Gefühle, Begierden, Religion, Moral, Riten usw. Die Ungleichheit der Geschlechter und ihr Kampf wohnen also der Familie inne. Die Gleichheit der Geschlechter ? Ohne die Abschaffung der Familie ist sie ein sinnloses Wort, eine selbst auf wirtschaftlichem Gebiet sinnlose Forderung. Gibt es soziale Einheiten, wo die Arbeiten sich genau ergänzen, miteinander verflochten sind durch eine rationelle Beziehung ? Ja, sagt Marx später, als er tiefer in die Frage eindringt. Ja: im Unternehmen und nur dort. Hier herrscht die technische Teilung der Arbeit. In dieser Arbeitsteilung sind es die Arbeitsinstrumente, die befehlen und eine Ordnung der gegenseitigen Abhängigkeit errichten. Die technische Arbeitsteilung unterscheidet sich wesentlich von der gesellschaftlichen Teilung. In dem Maße, in dem eine technische Teilung besteht, gibt es Einheit und Solidarität, Vielseitigkeit und Ergänzung. Die Trennung der Funktionen in Befehlsfunktionen und Funktionen des Produzierens ist eine gesellschaftliche Tatsache, nicht eine technische. in der kapitalistischen Produktionsweise wird die gesellschaftliche Arbeitsteilung auf dem Markt vollzogen, ausgehend von den Forderungen des Marktes und 38 den Zufällen, die er mit sich bringt. Sie hat nichts von der Vernunftmäßigkeit, die in dem Unternehmen ausgeübt werden kann. Auf dem Markt gibt es Konkurrenz, also die Möglichkeit von Konflikten, gefolgt von wirklichen Konflikten zwischen den Individuen, den Gruppen, den Klassen. innerhalb einer Produktionseinheit wie dem Unternehmen besteht eine Arbeitsteilung zwischen den Werkstätten und Teilen des Unternehmens einerseits und den produzierenden Individuen innerhalb der Werkstatt andererseits. Man kann sich in diesem Zusammenhang fragen, ob es nicht schon seit dem Mittelalter in den Städten eine technische Arbeitsteilung gab, die aus der Stadt eine Art riesiges Unternehmen oder Werkstatt machte gegenüber der Zersplitterung der Produktionseinheiten auf dem Lande. Man kann in den Zünften die Beziehung zwischen einer gewissen, sehr schwachen technischen Arbeitsteilung und einer sehr starken, schon im Hinblick auf den Markt geschaffenen gesellschaftlichen Teilung suchen. Man kann sich schließlich Fragen stellen über die Arbeitsteilung zwischen den Zünften und den Städten selbst. Das tun Marx und Engels in dem hier besprochenen Text, wobei sie jedoch den ergänzenden Charakter der Arbeiten stets dem konfliktgeladenen Charakter der Gesamtheit der Beziehungen unterordnen. Die Arbeitsteilung in Verbindung mit den Formen des Eigentums erzeugt nicht nur die soziale Einheit, sondern auch Rivalitäten und Konflikte in dieser Gesellschaft. Zu der bekannten Tatsache, daß die Gesamtheit als solche jenen entgeht, die einen festen Platz in dem Ganzen einnehmen und nur eine beschränkte Tätigkeit ausüben, kommt das Aufeinanderprallen der Funktionen.

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Ergänzten sich Stadt und Land? In einer Hinsicht schon; in anderer Hinsicht war der Krieg zwischen ihnen unvermeidlich; es gab ihn im Mittelalter ständig, aber er war furchtbar und vielgestaltig. Die Flucht der Leibeigenen, die von den Herren verfolgt wurden, ihre ununterbrochene Exode in die reichsunmittelbaren Städte, die sie zwar aufnahmen, sie aber ausbeuteten, war ein ökonomischer Aspekt des Konfliktes, dessen politischer Aspekt die städtische Militärmacht war. Gegenüber den Feudalherren und den Bauern, von denen sie sich ihre Lebensmittel und ihre Rohstoffe (Weizen, Wolle usw.) holten, schützten und organisierten sich die Städte sowohl wirtschaftlich als auch politisch: Zünfte, Bürgerwehr, Gemeinschaftsbauten usw. Diese gegen den Feind von außen gerichtete Organisation der Stadt hatte nicht nur eine der Stadt eigene Hierarchie zur Folge. Sie führte zu Modalitäten der Produktiven Arbeit, denen eine große Zukunft bestimmt war (natürlich ohne daß die unmittelbar betroffenen Leute etwas davon bemerkten!). Die durch ihren Eintritt in die städtische Gemeinschaft freigewordenen Leibeigenen konnten sich nicht verteidigen. Sie kamen einzeln. Sie waren also den Zunftmeistern und den Werkmeistern ausgeliefert. Meistens hatten die Leibeigenen keinen 39 Beruf. So entstand ein Pöbel von "Tagelöhnern", für welche die Arbeit schon nach der Zeit gemessen wurde (S. 63). Die Vereinigungen in diesen Städten auf der Grundlage der Zünfte (der Gemeinschaft, der Hierarchie) multiplizierten sich in doppelter Hinsicht: intern in den mittelalterlichen Städten - extern zwischen den Städten als politischen Einheiten. Diese Vereinigungen hatten vielerlei Ziele. das Eigentum und ihre Mitglieder zu schützen, die Produktionsmittel zu vermehren. Wirtschaftlich und politisch wirksam, vereinten sie diese beiden Gebiete eng miteinander. Sie richteten sich gleichzeitig gegen den Pöbel innerhalb der Stadt und die Gegner, die Herren und Fürsten, außerhalb, und nicht zu vergessen gegen die Bauern. In der Tat gediehen die "Erneuten" des Pöbels und seiner "Spießgesellen" gegen die städtische Ordnung selten bis zum Aufstand und blieben meist Empörungen innerhalb der Zünfte selbst. Die großen Aufstände des Mittelalters gingen alle vom Lande aus, blieben aber ebenfalls wegen der Zersplitterung und der daraus folgenden Rohheit der Bauern total erfolglos" (s.S.63). In diesen Städten gab es Geld, Waren und Märkte, also Kapital. Inwiefern und weshalb war das noch kein Kapitalismus? Wegen des noch unmittelbare und naturwüchsigen Charakters eines doch schon sehr vielgestaltigen Prozesses, antworten Marx und Engels. Der (dialektische) Konflikt zwischen Stadt und Land schließt eine gewisse Einheit nicht aus; er enthält sie sogar. Wie jeder dialektische Prozeß. Die Analyse stößt also auf eine Schwierigkeit: das genaue Verhältnis zwischen Einheit und Gegensatz zu erfassen, den Augenblick, in dem der Unterschied auftritt, in dem er dem Konflikt Raum gibt, in dem der Konflikt gelöst wird (sei es durch Schaffung neuer Unterschiede oder durch den Rückfall in die Gleichgültigkeit innerhalb eines mehr oder weniger langen Niedergangs). Die Ordnung der Städte, die ihren Zusammenhalt ausmachte, und die Ordnung in den Städten, diejenige der herrschenden "Bourgeoisie" und der Korporationen, erscheinen als Einheit gegenüber dem Landadel; ihre Lebensbedingungen (bewegliches Eigentum, Handwerksarbeit) hatten schon seit langem "latent existiert" (S. 79), bevor sie sich von dem Feudalverbande trennten; und selbst nachdem sie ihre Verschiedenheit behauptet hatten, nahmen sie deren Formen an. Diese Form ist eben gerade die Ordnung (im Gegensatz zur "Klasse"). Im Feudalwesen ist die Zugehörigkeit zu einer Klasse verdeckt, ebenso wie der Unterschied zwischen Person und Gruppe, zwischen dem Leben des Individuums und den Bedingungen, denen sein Leben untergeordnet ist, weder wahrgenommen, noch als solcher erlebt werden. Alles scheint Natur und natürlich. "Ein Adliger bleibt stets ein Adliger, ein Roturier stets ein Roturier, abgesehen von seinen sonstigen Verhältnissen . . ." (S. 79) und vor allem dem Geld, das er besitzt oder nicht besitzt. Diese Eigenschaften sind nicht von der 40 Individualität getrennt. Der Unterschied zwischen dem "persönlichen" Individuum und dem Klassenindividuum tritt erst viel später auf: mit der Konkurrenz und dem Kampf des Einzelnen in der bürgerlichen Gesellschaft. "In der Vorstellung sind daher die Individuen unter der Bourgeoisieherrschaft freier als früher, weil ihnen ihre Lebensbedingungen zufällig sind; in der Wirklichkeit sind sie natürlich unfreier, weil mehr unter sachliche Gewalt subsumiert" (s. S. 79), philosophisch ausgedrückt: viel entfremdeter. "Das Kapital in diesen Städten war ein naturwüchsiges Kapital" (S. 63). Es bestand in einem Erbe: Wohnung, Handwerkzeuge, Kundschaft. Es übertrug sich aufgrund des unentwickelten Verkehrs und der mangelnden Güterund Geldzirkulation vom Vater auf den Sohn. Wie soll man solche Güter in Geld oder Tauschwert umsetzen ? "Dies Kapital war nicht, wie das moderne, ein in Geld abzuschätzendes, bei dem es gleichgültig ist, ob es in dieser oder jener Sache steckt, sondern ein unmittelbares mit der bestimmten Arbeit des Besitzers zusammenhängendes, von ihm

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gar nicht zu trennendes, und insofern ständisches Kapital" (S. 64), und somit ein Kapital, das an einen "Stand" (gleichzeitig einen Beruf und eine Ordnung) gebunden war. Was die Arbeitsteilung anbelangt, so entstand sie nicht vereinzelt unter den Arbeitern. Eine Zunft hat nichts von einer Werkstatt. Die technische Arbeitsteilung tritt erst wirklich in der Fabrik ein. Innerhalb der Zünfte mußte jeder, der Meister werden wollte, seines ganzen Handwerks mächtig sein" (S. 64) und sogar all dessen, was mit den verfügbaren Handwerkszeugen gemacht werden konnte. In dem engen Rahmen der mittelalterlichen Stadt steigerte sich der Handwerker bis zu einem gewissen Kunstsinn, ging aber auch "jeder mittelalterliche Handwerker ganz in seiner Arbeit auf, hatte ein gemütliches Knechtschaftsverhältnis zu ihr und war viel mehr als der moderne Arbeiter, dem seine Arbeit gleichgültig ist, unter sie subsumiert" (S. 64). Diese Texte sind keineswegs romantisch. Im Gegenteil: sie zerstören die romantischen Illusionen über die mittelalterliche Vergangenheit. Man kann sich sogar fragen, ob sie nicht zu weit gehen. Ist der moderne Arbeiter der Arbeit, seiner Arbeit, gegenüber gleichgültig? Sieht er in ihr nur ein Erwerbsmittel? Falls diese Behauptung für einige zutrifft, bewahrheitet sie sich dann auch für alle 2 Und wenn sie richtig ist, warum bekräftigte man dann im »sozialistischen" Denken so oft und nachdrücklich die hervorragende Würde des Arbeiters und der Arbeit, seine Liebe zu ihr? In diesen und in vielen anderen Texten Marx' und Engels' gibt es keine Anspielung auf die Politischen Bedingungen und nicht einmal auf die Gesamtheit der "Gesellschaft", auf die Produktionsweise als Ganzes. Es handelt sich um das unmittelbare Verhältnis zwischen dem Arbeiter und der Arbeit. Das unmittelbare, gefühlsmäßige Verhältnis ist verschwunden und hat der Gleichgültigkeit 41 Platz gemacht. Und das aufgrund der Arbeitsteilung, die den Produktionsverhältnissen innewohnt ohne Berücksichtigung des Überbaus der Gesellschaft. Wie dem auch sei (aber wir finden diese Probleme später wieder), in der mittelalterlichen Stadt gibt es Kapital ohne Kapitalismus, Arbeiter, jedoch kein Proletariat (obwohl das "Volk" oder der Pöbel der Städte den Keim dazu enthalten). Warum ? Weil nicht auf der einen Seite das abstrakte Kapital steht, d.h. die im Rahmen einer spezifischen Produktionsweise verwirklichte Abstraktion, und auf der anderen die abstrakte Arbeit, die gleichzeitig allgemein und geteilt, dem Arbeiter gleichgültig ist. Man bleibt, wie gesagt, auf einer natürlichen Grundlage, mit direkten, persönlichen, unmittelbaren Beziehungen. Eine bestimmte Schwelle der gesellschaftlichen Abstraktion ist noch nicht überschritten. Ein Schritt auf diese Schwelle zu geschieht, als der Handel sich von der Produktion löst und eine besondere Klasse von Kaufleuten entsteht. Das bringt für jede Stadt erweiterte Verbindungen, die über den nächsten Umkreis hinausgehen und neue Bedürfnisse mit sich, "deren Ausführung ... von den durch die jedesmalige Kulturstufe bedingten roheren oder entwickelteren Bedürfnissen des dem Verkehr zugänglichen Gebietes abhing." Man beachte den Charakter dieser letzten Formulierung. Verwirrung? Ungewißheit? Es handelt sich nicht um die Stufe der Produktivkräfte, d.h. um die Produktion im weiten Sinne. Neue Bedürfnisse entstehen in dem "Verkehr zugänglichen" Gebieten; Beziehungen, Verbindungen und Verbindungsmittel sind die Folge. Woher kommen diese Bedürfnisse ? Wem soll man sie zuschreiben und warum? Alles in allem hat der vielgestaltige Kampf der Stadt gegen die Erde und ihre Besitzer, die bäuerlichen Gemeinschaften und die Herren, gegen die sie verbindenden unmittelbaren Beziehungen, die Nabelschnur nicht durchtrennt. Im Kampf der Vereinigung der Menschen gegen die Natur, einem Kampf, in dessen Verlauf diese Menschen das Werk der Natur durch stufenweise Bezwingung weiterführen, stellt die Stadt einen Knotenpunkt, einen bevorzugten Ort dar. Sie ist nicht mehr "Natur" und ist es doch noch. Die Entwicklung hin zur Abstraktion der Beziehungen, (Abstraktion, die praktisch durch die Macht des Geldes und die Kraft der Arbeitsteilung vollzogen wird) und zu eingebildeten Bedürfnissen geht ihren Lauf, aber diese Befreiung (die mehr als einen "negativen" Aspekt enthält) ist noch lange nicht beendet. Der Kapitalismus nähert sich mit großen Schritten, aber er ist noch nicht da. Mit der mittelalterlichen Stadt befinden wir uns in seinem Vorbereitungsstadium: dem Stadium der frühen Akkumulation, der Akkumulation von Reichtümern, Techniken, Arbeitskräften, Märkten, Orten und Gebieten, Verbindungen usw. Der Begriff der Akkumulation selbst ist von Marx noch 42 nicht genau herausgearbeitet. Auch er ist in greifbarer Nähe. Die Stadt ist der bevorzugte Ort der Akkumulation. Sie wird sogar erwähnt (S. 66). Marx und Engels stellen die sehr bemerkenswerte Fähigkeit zur Vereinigung der mittelalterlichen Städte heraus. Wir haben bisher hauptsächlich die Vereinigungen (auf der Grundlage der Zünfte) in der Stadt gesehen, die bald gegen den Pöbel, bald gegen die Bauern und die Grundherren, oft gegen alle diese Partner und Gegner zusammen gerichtet waren. Diese Fähigkeit dehnt sich aus nach außen, auf andere Städte,

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besonders nachdem die Kaufleute sich als "besondere Klasse" niedergelassen haben. Nun gehen die Städte aus ihrer Isolierung heraus, treten miteinander in Verbindung. Daraus ergibt sich ein Fortschritt in der Arbeitsteilung, denn diese wird zwischen den Städten eingeführt, "deren jede bald einen vorherrschenden Industriezweig exploitiert" (S. 65). Es handelt sich hier ganz deutlich um eine soziale Teilung der Arbeit, die von dem Markt und seiner Ausweitung beherrscht wird. Diese städtischen Vereinigungen zogen ungeheure Folgen nach sich. Mit dem Warenaustausch entlang den Straßen und Verbindungswegen werden Kenntnisse, Techniken, Erfindungen aller Art ausgetauscht. Ein Krieg oder eine Invasion können ein Land, das über Produktivkräfte und entwickelte Bedürfnisse verfügt, nicht mehr zum Untergang bringen. "Erst wenn der Verkehr zum Weltverkehr geworden ist ... ist die Dauer der gewonnenen Produktivkräfte gesichert" (s. S. 65-66), und die städtischen Vereinigungen im Mittelalter waren ein entscheidender Schritt auf diesem Weg. Erste Folge: die Geburt der Manufakturen, der erste Riß in dem Zunftwesen in der mittelalterlichen Stadt. Die Manufakturen erforderten eine Reihe von Voraussetzungen, zunächst in der Technik, in den Kenntnissen, auf dem erweiterten Markt, danach und vor allem in der Konzentration der Bevölkerung und des Kapitals. Wie und wo entstand die Manufaktur? Sie entstand nicht, wie man annehmen könnte, aus der bestehenden Stadt, wenn sie auch Voraussetzungen brauchte, wie sie durch die Stadt und in der Stadt verwirklicht waren. Nach Marx und Engels ging sie aus der Beziehung "Stadt-Land" hervor und nicht aus einer von diesen einzeln genommen. Der durch die Satzungen der Zünfte streng gebundene Handwerker in den Städten verfügte über eine große Anzahl von Werkzeugen: der Zimmermann, der Schreiner, der Schuster handhabten ihre Werkzeuge mit Geschicklichkeit, ebenso wie der Steinmetz oder der Schmied, der Waffen zu schmieden verstand. Keiner von ihnen verwendete eine Maschine. Die Bauern hingegen, die auf dem Lande Weberei betrieben, benutzten eine zwar einfache, aber technisch verwirklichte Maschine. Der im Entstehen begriffene Kapitalismus konnte sich dieser Technik bemächtigen und der Weberei einen Anstoß geben, der sie mit ihren Urhebern verband. Sie wurde und blieb lange Zeit aufgrund ausgedehnter Handelsverbindungen, 43 verstärkter Nachfrage, wachsender Akkumulation und Mobilisierung des ursprünglichen Kapitals die wichtigste Manufaktur. So bildete sich außerhalb der Städte neben den zum Selbstgebrauch webenden Bauern eine Klasse von Webern, deren Produktion auf den Märkten (in oder außerhalb der Stadt) verkauft wurde. In den Marktflecken, wo das Zunftwesen diese Ausdehnung der Produktivkräfte nicht lähmte, brachte die Weberei eine solche Bereicherung, daß viele von ihnen neue, überaus blühende Städte wurden. Die Manufaktur befreite sich auf diese Weise von der Zunft, vergrößerte die Menge des verfügbaren Kapitals. "Die Manufaktur wurde zugleiche eine Zuflucht, der Bauern gegen die sie ausschließenden oder schlecht bezahlenden Zünfte, wie früher die Zunftstädte den Bauern als Zuflucht gegen die Grundbesitzer gedient hatten" (S. 67). Daraus ergaben sich Veränderungen in der "Stadt-Land" Beziehung und in den Beziehungen "Arbeitgeber-Arbeiter", die auf dem Land und in den kleinen Städten patriarchalisch gefärbt blieben, in den Manufakturstädten aber zu Geld-Beziehungen wurden (s. S. 67). So zerbrach und überholte sich die mittelalterliche Stadt mit ihrem Zunftwesen. Die konfliktgeladene Beziehung "Stadt-Land" erzeugte etwas Neues. Was? Gleichzeitig oder fast gleichzeitig den Kapitalismus und den Weltmarkt, die Nation und den Staat, die Bourgeoisie und das Proletariat. Selbstverständlich bedurfte es für diesen ungeheuren Vorgang vieler anderer Elemente und Voraussetzungen außer der Bewegung, die der dialektischen Beziehung "Stadt-Land" innewohnt. Es bedurfte der Entdeckung Amerikas und des Seewegs nach Indien, der Ankunft des Goldes und der Kolonisierung, der Abenteuer der Konquistadoren und der Schutzmaßnahmen der Staaten zugunsten ihrer Manufakturen, der Konkurrenz und ihrer Beschränkungen. Unter diesen verwickelten Voraussetzungen wurden "die Handelsstädte, speziell die Seestädte, (wurden) einigermaßen zivilisiert und großbürgerlich, während in den Fabrikstädten die größte Kleinbürgerei bestehen blieb" (S. 71). Und das hauptsächlich im XVIII. Jahrhundert. Wir brauchen hier nicht diese theoretische Entstehungsgeschichte des Kapitalismus zu verfolgen, die einigermaßen überrascht (weil in diesem Werk immer die Rede von Feuerbach und der "kritischen" Philosophie in Deutschland ist!). Gewiß, es handelt sich um den historischen Materialismus als Zerstörer der Ideologien und somit ebenso um offizielle Philosophie wie politische Ökonomie. Stimmt jedoch die Genesis des Kapitalismus von Begriffen und Kategorien wie der Arbeitsteilung und der Beziehung Stadt-Land aus, stimmt diese theoretische Genesis mit der Geschichte überein ? Die unleugbar geschichtlichen Tatsachen, die dieser Genesis eingegliedert sind, machen den durch die Begriffe erzeugten abstrakten Stoff sozusagen fühlbar. Wobei das Auftauchen neuer Fragen nicht ausbleibt. Man muß voraussetzen, daß spätere Werke, einschließlich "Das Kapital", auf die Fragen antworten oder zu antworten versuchten. 44

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Was die Stadt anbelangt, so scheint es wohl, daß sie für Marx und Engels eine ausschlaggebende geschichtliche Rolle gespielt hat, jedoch in dem Maße, wie sie sich selbst überwand. Ihre Fähigkeit zu Vereinigungen, die in der Bewegung enthalten ist, die sie mit dem Lande verbindet (und sie ihm gegenüberstellt) schafft einen Prozeß, der bis zur Großindustrie führt. Diese verallgemeinert die Konkurrenz, verwandelt jedes Kapital in Industriekapital, beschleunigt die Zirkulation und die Zentralisation dieser Kapitalien. ,sie zwang durch die universelle Konkurrenz alle Individuen zur äußersten Anspannung ihrer Energie. Sie vernichtete möglichst die Ideologie, Religion, Moral etc., und wo sie dies nicht konnte, machte sie sie zur handgreiflichen Lage. Sie erzeugte insoweit erst die Weltgeschichte, als sie jede zivilisierte Nation und jedes Individuum darin in der Befriedigung seiner Bedürfnisse von der ganzen Welt abhängig machte und die bisherige naturwüchsige Ausschließlichkeit einzelner Nationen vernichtete" (s. S. 73). Mit anderen Worten, die Großindustrie läßt das Natürliche verschwinden; ihre Angriffsmacht ist ohne Grenzen, was neue Fragen aufwirft. Reißt die Nabelschnur, die die ursprünglich (widerstreitend) verbundenen "Menschen" zusammenhält schließlich? Die Großindustrie subsumierte die Wissenschaft und die Natur unter das Kapital "und nahm der Teilung der Arbeit den letzten Schein der Naturwüchsigkeit", es gelingt ihr, alle natürlichen Beziehungen aufzulösen, um Geldbeziehungen daraus zu machen. "Sie schuf an der Stelle der naturwüchsigen Städte die modernen großen Industriestädte, die über Nacht entstanden sind" (S. 73). Woher kam diese Fähigkeit zur Vereinigung der Stadt, die diesen Prozeß eingeleitet hat, durch den sie über sich selbst hinausgeht und ihre ursprüngliche Natürlichkeit zerstört ? Von den Produktionsverhältnissen. Weder von den Produktivkräften als solchen, noch von dem überbau (Religion, Ethik usw.) und der Ideologie, nicht einmal von der feudalen "Produktionsweise" als solcher. In der Tat erscheint diese Fähigkeit als ein zerstörerischer Gegensatz innerhalb der mittelalterlichen Gesellschaft; die "Produktionsweise impliziert in dem Maße, wie es ihr gelingt, sich mit ihren Funktionen und Strukturen auszubilden, in dem Maße, wie es dem theoretischen Denken gelingt, sie als ein Ganzes aufzufassen, eine Hierarchisierung, (die ebenso streng wie vielgestaltig ist: die Stände, der Adel, die Geistlichkeit) welche die konfliktgeladenen Beziehungen (zwischen Bauern und Herren, zwischen Herren und Bürgern, zwischen Fürsten und Königen, zwischen dem entstehenden Staat und den "Untertanen" usw.) nützt und sie dabei zerstört. Nun ist es so, daß die Beziehung "Stadt-Land" dieser Zerstörung widersteht und damit den Einsturz eines mächtigen sozial-politischen Gebäudes nach sich zieht. Der Vereinigungs-Charakter der Stadt greift schließlich auf das Land über, erzeugt neue Formen, die ihn überwinden. Er siegte, nicht ohne Kämpfe, sowohl über die Hierarchie 45 des Feudalismus, als auch über die ausweglosen Konflikte (u.a. der Bauern gegen die Herren). Die Produktionsweise als Ganzes enthielt einen wesentlichen oder hauptsächlichen Gegensatz, der zersetzend oder vielmehr zerstörend wirkte, jedoch auf dynamische Weise, weil er die anderen Konflikte konzentrierte und auflöste. Dieser Gegensatz war wirksamer als der zuerst ins Auge fallende zwischen Leibeigenen und Feudalherren, Bauern und Herren. Mit dem Auftreten der Großindustrie hört die Stadt (und ihre interne-externe Vereinigungs-Konzentrations- und Sammelfähigkeit) für Engels und Marx auf, als "Subjekt" eines geschichtlichen Vorgangs in Erscheinung zu treten. Der Übergang zum Kapitalismus, dessen soziale Stütze und Träger die Stadt ist, wird die Frage nach dem Subjekt auf andere Weise stellen (und vielleicht verschwinden lassen). Ist damit das Thema der Stadt beendet? Keineswegs. Im Gegenteil. In dem ökonomischen und sozialen Rahmen, der aus dem Prozeß hervorgeht, innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise, besteht die Stadt weiter: industrielle Großstädte, Handelsstädte, politische Städte. Sollte die Beziehung "Stadt-Land" auf Weltebene verschwunden sein? Gewiß nicht. Wie steht es also um die Stadt? Die Frage verweist auf die nachfolgenden Werke. Im Augenblick, in dem untersuchten Werk, d.h. der Deutschen Ideologie, begnügen sich Engels und Marx damit, Farbe zu bekennen. Ihre These ist weder unwichtig, noch uninteressant, selbst wenn ihr in diesem Werk etwas Schroffes anhaftet. Es handelt sich um nicht mehr und nicht weniger als um das Ende der Stadt. Unter anderen "Untergängen"! ... Die Großindustrie führt die getrennte Ökonomie ein. Die Vorherrschaft des Ökonomischen kennzeichnet den Kapitalismus; mit ihm werden die Arbeitsteilung, die Konkurrenz, die Forderungen des Marktes und der Produktivität unbedingt zwingend. Die Macht der Industrie lastet auf den Individuen, den Arbeitern, der ganzen Gesellschaft. Der Prozeß, der das Ökonomische vom Sozialen trennt und es dem Politischen ermöglicht, sich durch die Beibehaltung dieser Trennung zu konstituieren, reicht weit zurück. Was kann man heute tun, um die getrennte Wirtschaft zu beseitigen ? Gewiß, man muß das Privateigentum abschaffen, aber das ist nicht die einzige Voraussetzung. Man muß auch die Arbeitsteilung beseitigen und die politischen Einrichtungen abschaffen. Man muß eine "gemeinsame Wirtschaft" auf einer praktischen Grundlage der Vereinigung (und nicht nur auf einer ideologischen Grundlage wie in den religiösen Orden) bilden. Diese Revolution setzt jedoch einerseits die gleichzeitige Aufhebung von Stadt und Land voraus, - und andererseits die Verallgemeinerung dessen, was in der städtischen Ansiedlung vor sich geht, wo man

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Gemeinschaftsgebäude errichtet hat, einschließlich jenen, die einen ganz bestimmten Zweck erfüllten (Kasernen, Gefängnisse, usw., s. S. 76). 46 ist es nicht bemerkenswert und paradox, daß Engels und Marx 1845 in der Stadt zugleich das Hindernis für die von ihnen geplante neue Gesellschaft und das Vorbild für sie finden ? Und das in sehr konkreter Weise. Die Benutzung der Produktivkräfte im städtischen Raum, die Wasserleitungen, die Beleuchtung, die Dampfheizung, weisen den Weg zu einer gemeinschaftlichen Organisation. Diese hätte nichts mehr von einer Hauswirtschaft an sich. "Daß die Aufhebung der getrennten Wirtschaft von der Aufhebung der Familie nicht zu trennen ist, versteht sich von selbst." Bewundern wir, en passant, dieses "versteht sich von selbst"! Die konsequent durchgeführte Kritik der politischen Ökonomie trifft mit der radikalen Kritik des Staates, der Familie, der Religion, der Philosophie, der Ideologie usw. zusammen. Was die Rolle der Stadt anbelangt, so bleibt diese bis zum Schluß zweideutig und sogar widersprüchlich- Untergang der Stadt, aber vielleicht Aufrücken, Einführen oder Wiederherstellen des "Städtischen" auf Weltebene ... Seltsamerweise haben Marx und Engels die Stadt nicht in ihrer Eigenschaft als Geburtsort, sozialem Rahmen und Voraussetzung einer Reihe von Ideologien und Erkenntnissen erforscht: der Vernunft und der Vernunftmäßigkeit, der Wissenschaft und der Wissenschaftlichkeit, der Philosophie und der Spekulation. In einem Werk über die Ideologie begnügen sie sich in diesem wichtigen Punkt mit vereinzelten Andeutungen. Sollte die theoretische und ideologische Fähigkeit der Stadt soviel geringer gewesen sein als ihre Fähigkeit zur Vereinigung, als ihr Einfluß als Ort der Begegnung und der Konzentration ? Nicht weniger seltsam ist es, daß die mehreren hundert Seiten, die Stirner in der "Deutschen Ideologie" gewidmet sind, kaum eine Anspielung auf diesen Rahmen und diese sozialen Voraussetzungen enthalten. Wahrscheinlich weil der Autor des Der Einzige und sein Eigentum sich kaum darum kümmert. Der Einzige entfaltet sich im Absoluten, das sich im Guten und im Bösen nur mit einer Geschichte verknüpft: mit seiner Geschichte, die nichts mit derjenigen seiner "empirischen" Bedingungen gemein hat. Der Einzige - das Stirner'sche Individuum - hat keine städtischen Eigenschaften. Für Marx und Engels kann und muß die ungeheure repressive Kraft, die allgegenwärtig ist bis in das Bewußtsein, das glaubt sie zu überwinden - das Stirners' unter anderen - im Laufe eines geduldigen, langatmigen Wirkens, das die Kräfte der Unterjochung durch die Fähigkeiten der Freiheit ersetzt, zerstört werden. Wenn ein Sprung erfolgt, dann nicht in die Wirklichkeit der Gegenwart. Die Voraussetzungen dafür sind nicht verwirklicht, das "Alles oder Nichts,', das "Alles und sofort" Stirners sind schlimmste Absurdität. Die Arbeitsteilung abschaffen bedeutet, sie überwinden und nicht sie leugnen im Namen einer Rückkehr zum Archaischen, zum Ursprünglichen, das heißt, zu einer ihrer Bestimmung, ihrer Organisation, ihrer Institution und ihrer Struktur nach privaten Hausgemeinschaft, nämlich der Familie! Eine Familie 47 ohne Familie, ein Kommunismus ohne Gemeinschaft, eine Rückkehr zur vorstädtischen Gesellschaft, so legen sie den Stirner'schen Plan aus. Die sogenannte "marxistische" Theorie vollzieht mit Das Elend der Philosophie (1847) (6) einen großen Schritt nach vorne. Dieses Mal greift Marx Proudhon an, bei dem er eine Reihe von Mißverständnissen und Irrtümern hinsichtlich der Arbeitsteilung, aber auch der Dialektik aufdeckt. Proudhon, der sich als methodischen Dialektiker betrachtet, unterscheidet die "gute Seite" und die "schlechte Seite" der Dinge, der Leute. Von der zeitgenössischen Gesellschaft will er die gute Seite nehmen und die schlechte Seite verwerfen. Jedoch, "die schlechte Seite ist es, welche die Bewegung ins Leben ruft, welche die Geschichte macht, dadurch, daß sie den Kampf zeitigt" (s. S. 757). Hätte es zur Zeit der Herrschaft des Feudalismus Ökonomen gegeben, wären sie begeistert gewesen von den ritterlichen Tugenden, der Harmonie zwischen Rechten und Pflichten, von dem patriarchalischen Leben in den Städten, dem Blühen der Hausindustrie auf dem Lande, der Größe der in Korporationen, Zünften und Innungen organisierten städtischen Industrie. Sie hätten vorgeschlagen, alles auszumerzen, was einen Schatten auf dieses Bild warf: die Leibeigenschaft, die Privilegien (der Adligen und der Geistlichkeit, aber auch der entstehenden Bourgeoisie), die Anarchie. Wohin wären sie damit gekommen? "Man hätte alle Elemente vernichtet, welche den Kampf hervorriefen, man hätte die Entwicklung der Bourgeoisie im Keime erstickt" (S. 757). Ursprünglich, schreibt Marx, unterscheidet sich ein Lastträger weniger von einem Philosophen, als ein Kettenhund von einem Windhund. "Es ist die Arbeitsteilung, welche einen Abgrund zwischen beiden aufgetan hat" (S. 764). Proudhon sieht in der Arbeitsteilung eine gute und eine schlechte Seite. Er wirft den Ökonomen vor, ihre Vorteile unterstrichen zu haben; er zeigt ihre Nachteile. Aber er versteht nichts von der Arbeitsteilung. Er sieht sie nur in begrenztem Rahmen, auf der Stufe der Werkstatt oder des einzelnen Arbeiters oder ganz einfach in der wörtlichen Bedeutung des Ausdrucks "teilen". Der Gesamtaspekt entgeht ihm. Vor allem die

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Trennung von Stadt und Land. "Man vereinfacht in der Tat die Sachen gar zu sehr, wenn man sie auf die Kategorien des Herrn Proudhon zurückführt. Die Geschichte geht nicht so kategorisch vor. Es bedurfte in Deutschland ganzer drei Jahrhunderte, um die erste bedeutende Arbeitsteilung herzustellen nämlich die Trennung von Stadt und Land. In dem Maße, wie sich bloß dies Verhältnis der Stadt zum Land modifiziert, modifiziert sich die ganze Gesellschaft ... Die Ausdehnung des Marktes, seine Physiognomie gaben der Arbeitsteilung in den verschiedenen Epochen eine Physiognomie, (6) Das Elend der Philosophie, in: Karl Marx Frühe Schriften, 2. Band, herausgegeben von Hans-Joachim Lieber und Peter Furth, Cotta-Verlag, Stuttgart, 1971 48 einen Charakter, den man Mühe hätte, von dem bloßen Wort teilen, von der Idee, von der Kategorie der Teilung abzuleiten" (S. 763-764). Die Proudhon'sche Verwirrung besteht in einer abstrakten und tautologischen Identifizierung der technischen Teilung und der sozialen Teilung der Arbeit. Er hält die Maschine und die Werkstatt, die er zusammenwirft, für soziale Kategorien. Die Maschinen sind für ihn die logische Antithese der Arbeitsteilung; seine Dialektik verwandelt die Maschinen in Werksatten. "Nachdem er die moderne Werkstatt unterstellt hat, um aus der Arbeitsteilung das Elend hervorgehen zu lassen, setzt Herr Proudhon das durch die Arbeitsteilung geschaffene Elend voraus, um zur Fabrik gelangen und sie als die dialektische Negation dieses Elends hinstellen zu können" (S. 768). Eine schöne Dialektik, fährt Marx fort, die aus diesen Einwänden ein Mißtrauen gegenüber dieser Methode ableitet. Die Maschinen sind ebensowenig eine ökonomische Kategorie wie der Ochse, der den Pflug zieht, sie sind nur eine Produktivkraft. Die moderne Fabrik, die auf der Anwendung von Maschinen beruht, ist ein gesellschaftliches Produktionsverhältnis, eine ökonomische Kategorie." Aus dem Proudhon'schen Mißverständnis ergeben sich ernste Folgen. "Die Gesellschaft ab Ganzes hat das mit dem Innern einer Fabrik gemein, daß auch sie ihre Arbeitsteilung hat. Nimmt man die Arbeitsteilung in einer modernen Fabrik ah Beispiel, um sie auf eine ganze Gesellschaft anzuwenden, so wäre unzweifelhaft diejenige Gesellschaft am besten für die Produktion ihres Reichtums organisiert, welche nur einen einzigen Unternehmer als Führer hätte, der nach einer im voraus festgesetzten Ordnung die Funktionen unter die verschiedenen Mitglieder der Gemeinschaft verteilt. Aber dem ist keineswegs so. Während innerhalb der modernen Fabrik die Arbeitsteilung durch die Autorität des Unternehmers bis ins einzelste geregelt ist, kennt die moderne Gesellschaft keine andere Regel, keine andere Autorität für die Verteilung der Arbeit als die freie Konkurrenz" (S. 770-771). Ein sehr bemerkenswerter Abschnitt. Sehen wir einmal davon ab, daß die Kritik an Proudhon zum Teil auf Voreingenommenheit beruht: Marx wirft ihm gewisse Implikationen seiner Doktrine vor, die Proudhon mit größtem Abscheu zurückweisen würde. Es stimmt, daß für Marx die Absichten und die Subjektivität wenig bedeuteten im Verhältnis zu den Implikationen und Konsequenzen. Es stimmt ebenso, daß Proudhon diese Angriffe, die tödlich Sein sollten, überlebte. Heute ist Proudhon ebensowenig theoretisch tot wie Stirner. Lassen wir das. Wichtig ist, daß Marx den Entwurf entdeckte, der später im Laufe der Veränderungen der Konkurrenz aus der kapitalistischen Gesellschaft hervorging und gleichzeitig dein Sozialismus und dem Neo-Kapitalismus ein Modell lieferte. Die ganze Gesellschaft wie eine Werkstatt zu behandeln, die soziale und die technische Arbeitsteilung zu identifizieren, auf diese Weise die Produktion der Reichtümer zu organisieren, die Mitglieder 49 der Gesellschaft (sowohl die Klassen als auch die sozialen Gruppen) einer vorherbestimmten Regel zu unterwerfen, das war zunächst ein glänzender Einfall, dann ein durch eine "historische und beschreibende" Methodologie, wie Marx ironisch sagt, gerechtfertigtes Programm. Auf welche Hindernisse kann ein solcher Entwurf stoßen ? Auf die (doppelten: internen - externen) Widersprüche der Gesellschaft. Heute ebenso wie zu Marx' Zeiten, und das ist es, was Marx analysiert. Der Markt, vor allem der Weltmarkt mit seinen Forderungen und seinen Gesetzen, läßt sich nicht auf die Organisation des Unternehmens (der Werkstatt) reduzieren. Ebensowenig die Stadt und das Land, ihre Trennung und ihre Konflikte. Nur den Ideologen gelingt es, in dem Begriff der "Teilung" die technische und die soziale Teilung der Arbeit tautologisch zu identifizieren oder diese einfach durch die Ähnlichkeit mit jener zu begreifen. Während sie tatsächlich voneinander abweichen und Konflikte zwischen ihnen unvermeidlich sind, solange die Arbeitsteilung nicht überwunden ist. Durch diese Reduzierung wird jedoch die Arbeitsteilung nicht überwunden. Im Gegenteil: sie verstärkt sich. Proudhon dachte, die Werkstatt, in der die Maschinen zusammenkommen, beseitige die soziale Arbeitsteilung durch die Technik. Welch ein Irrtum! Die Maschine ist eine Vereinigung von Werkzeugen und keineswegs eine Kombination von Arbeiten für den Arbeiter. "Einfache Werkzeuge; Akkumulation von Werkzeugen; zusammengesetzte Werkzeuge; in Bewegung setzen eines

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zusammengesetzten Werkzeuges durch einen einzigen Handmotor, den Menschen; in Bewegung setzen dieser Instrumente durch die Naturkräfte; Maschinen; System von Maschinen, die nur einen Motor haben; System von Maschinen, die einen automatischen Motor haben - das ist die Entwicklung der Maschine", erklärt Marx, Babbage, einen Theoretiker des entwickelten Maschinismus zitierend. Der Sinn und der Zweck der Maschine ist die totale Automation. Sie ist nicht frei von Widersprüchen. Auf dem Weg zur Automation stehen die Leiden der Arbeiter und der Widerstand des Proletariats gegen die "entstehende Herrschaft der Kraftautomaten" (S. 776). Man nähert sich dem Ausgang, der Lösung, von der schlechten Seite her: der extremen Teilung, der zerstückelten Arbeit, die gleichzeitig von der Technik, dem Markt, der Konkurrenz und den Monopolen (S. 786) aufgezwungen wird. Wie soll man der unerträglich gewordenen Arbeitsteilung ein Ende bereiten? Durch das Ende der Arbeit. Durch die Nicht-Arbeit! Diese Hypothesen wiederaufnehmend und sie zuende, das heißt, bis zur Ausarbeitung eines theoretischen Begriffs führend, schreibt Marx später in Grundrisse, daß die Natur weder Maschinen noch automatische Systeme baut (übertriebene Formulierungen, gegen die man heute Einwände erheben müßte). Die automatischen Systeme sind Produkte des menschlichen Denkens und Willens, die sich an und in der Natur betätigen. Mehr noch: es sind "Organe des Gehirns", von Menschenhand, aus der "vergegenständlichten 50 Wissenskraft" geschaffen. Ihre Existenz zeigt, daß das gesellschaftliche Wissen und das Wissen im allgemeinen unmittelbare Produktivkräfte geworden und damit die Bedingungen des gesellschaftlichen Lebensprozesses "unter die Kontrolle des 'general intellect' gekommen sind." Auf dieser Stufe werden die Produktivkräfte der Gesellschaft nicht nur auf einem bestimmten Gebiet, dem Gebiet des Wissens produziert, um dann in der Praxis angewendet zu werden; sie sind "unmittelbare Organe der gesellschaftlichen Praxis". Die wissenschaftliche Analyse und die Anwendung der mechanischen und chemischen Gesetze ermöglichen es, die Arbeiten, die früher von Arbeitern verrichtet wurden, automatisch auszuführen. Das ist nur zu verwirklichen, wenn die Großindustrie eine höhere Entwicklungsstufe erreicht, wenn "sämtliche Wissenschaften in den Dienst des Kapitals gefangen genommen sind", und wenn die vorhandene Maschinerie große Möglichkeiten bietet. Dann wird die Produktion von der Anwendung der Wissenschaft bestimmt. Die Entwicklung vollzieht sich jedoch nicht auf diesem Weg. Der Weg ist die Analyse, d.h. die Arbeitsteilung, die es ermöglicht, die Arbeit durch den Mechanismus zu ersetzen, weil die Arbeit in Mechanismus umgewandelt wurde." Was Tätigkeit des lebendigen Arbeiters war, wird Tätigkeit der Maschine", so daß die Aneignung der Arbeit durch das Kapital plötzlich dem Arbeiter gegenübertritt. Das automatische System ist nur die adäquateste Form der Maschinerie. "In Bewegung gesetzt durch einen Automaten, bewegende Kraft, die sich selbst bewegt; dieser Automat bestehend aus zahlreichen mechanischen und intellektuellen Organen . . .", so verwandelt sich das Arbeitsmittel seinem Gebrauchswert nach in eine dem Kapital überhaupt adäquate Existenz und "die Form, in der es als unmittelbares Arbeitsmittel in den Produktionsprozeß des Kapitals aufgenommen wurde, in eine durch das Kapital selbst gesetzte und ihm entsprechende Form aufgehoben." Die Maschinerie steht nicht mehr zwischen dem Arbeiter und dem Gegenstand, im Gegenteil: die Tätigkeit des Arbeiters besteht nicht mehr darin, sich des Werkzeugs zu bedienen, sondern es zu bedienen. Die Maschinerie besitzt die Geschicklichkeit und die Kraft, denn sie ist "ein Virtuose", ausgestattet mit einer Seele, die aus den Gesetzen besteht, die in ihr wirken! Die Wissenschaft, die die Gelenke der Maschine zwingt, automatisch zweckmäßig zu wirken, diese Wissenschaft existiert nicht im Bewußtsein des Arbeiters; von nun an tritt die Ausbeutung (Aneignung der lebendigen, vergegenständlichten Arbeit durch das Kapital) in die automatisierte Produktion als Eigenschaft des Produktionsprozesses selbst. Dieser Vorgang erscheint direkt und unmittelbar als Macht, die die Arbeit beherrscht, die sie in die Vorherrschaft des Kapitals integriert. Diese "größte Negation" der notwendigen Arbeit ist die notwendige Tendenz des Kapitals, das die Maschinerie verwirklicht (neben der die lebendigen Arbeiter nur noch ein unendlich Kleines sind). Zudem nimmt die dadurch möglich gewordene ungeheure 51 Produktion dem Produkt jede Beziehung zu den unmittelbaren Bedürfnissen der Produktion, also zu dem unmittelbaren Gebrauchswert. Die Akkumulation von Wissen und Geschick "der allgemeinen Produktivkräfte des gesellschaftlichen Hirns" erscheint dann als Eigenschaft des Kapitals" (7). Noch niemals ist die theoretische Fähigkeit Marx' so weit gegangen. So weit, daß sich ihre Tragweite erst ein Jahrhundert später zeigt, als sich das, was er voraussagte, vor unseren Augen verwirklicht. Nicht ohne Überraschungen und neue Probleme. Wenn man sich die vorher zitierten Texte der Deutschen Ideologie vergegenwärtigt und voraussetzt, daß sie noch relevant sind, kann man sich ein Bild von der totalen Revolution nach Marx machen. Die totale Revolution läßt sich weder auf ethischer noch auf ästhetischer Ebene richtig definieren. Automatische, zu fabelhafter Produktivität fähige Systeme, ersetzen den früheren Mangel durch Überfluß ohne Berücksichtigung der Bedürfnisse und Wünsche der

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Bevölkerung. Von allen früheren Beschränkungen der gemeinschaftlichen Lebensweisen befreite Gemeinschaften beherrschen diese Produktivkräfte (und werten sie so für den Gebrauch aus). In welchem Rahmen ? In einem städtischen Rahmen, der selbst von den Beschränkungen und Grenzen befreit ist, die der früheren "Stadt" eigen waren. Die Mitglieder dieser kommunistischen Gesellschaft oder der Gemeinschaftsgruppen, welche sie bilden, sehen sich von allen Verpflichtungen und allem Zwang der früheren Arbeit befreit. Sie sind zur Nicht-Arbeit bestimmt. Die Tätigkeiten, denen sie sich hingeben und besonders die geistigen (wissenschaftlichen) Tätigkeiten, durch die sie das "soziale Hirn" bilden, das die materiellen Organe (die automatischen Systeme) beherrscht, sind nicht mit der Arbeit zu vergleichen. Vor allem können weder die Tätigkeit, noch ihre Ergebnisse nach Zeiteinheiten gemessen werden. Die Nicht-Arbeit hat die Arbeit verdrängt. Bewegen wir uns hier nicht auf dem Boden der Science-Fiction, der Utopie ? Wie soll man zu diesem höchsten Stadium gelangen ? Wie soll man diese Systeme und diese ungeheuren Produktivkräfte beherrschen, die gleichzeitig von dem Kapitalismus erzeugt und in Beschlag genommen werden, während die Systeme sich die Arbeiter durch die Zerstreuung der Arbeiterklasse einverleiben ? Wo befindet sich die Kampfstätte ? Genügen politische Veränderungen, um diesen ungeheuren Umsturz zu vollziehen, diese völlige Umkehrung der Erde, wo das Mittel zum Zweck wird, weil der Zweck keine Mittel mehr findet? Nicht ohne Ironie hat man den Sinn des philosophischen Vokabulars verschoben und ihn auf andere Ziele übertragen, indem man die marxisti- (7) Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Europäische Verlagsanstalt, S. 584 ff. (Rohentwurf) 1857-1858, Anhang 1850-1859 52 sche Auffassung von der revolutionären Zeit "Herrschaft des Endes" (8) genannt hat. Diese Zeit besteht aus einer ganzen Liste von Untergängen: dein Untergang der Religion, der Philosophie, der Ideologie, des Staates, der Politik usw. Fügen wir dieser eindrucksvollen Aufzählung noch hinzu: den Untergang der Arbeit, den Untergang der Stadt. Die Arbeit findet ihr Ende nicht in der Freizeit, sondern in der Nicht-Arbeit. Die Stadt findet ihr Ende nicht im Land, sondern in der gleichzeitigen Überwindung von Land und Stadt. Das hinterläßt eine Leere, die von der Vorstellungskraft , der theoretischen Planung und Voraussage ausgefüllt werden kann. Worin können die Nicht-Arbeit und die Nicht-Stadt bestehen ? Um darauf zu antworten, kann man nur auf die Vergangenheit zurückgreifen; einerseits auf die schöpferischen Tätigkeiten (die Kunst) und andererseits auf das, was die Analyse aus "dem Städtischen" herausarbeitet, nämlich die Begegnung, die Versammlung, das Zentrum und die "Dezentrierung". Man könnte jedoch antworten, daß die Überwindung der Arbeit und der Stadt nichts mehr mit dem gemeinsam haben kann, was früher hinter diesen Begriffen stand. Also doch Utopie ? Science-Fiction ? Vielleicht, aber dieser Teufelskerl, der Marx war, hält noch mehr Überraschungen für uns bereit. Nichts ist positiver als diese Auffassung der Automatisation. Sie schreitet vorwärts. Sie "umgibt" uns, wie man sagt, während sie sich hinter der natürlichen Umgebung und deren Untergang (noch einer von den vielen, der sich auch "verwirklicht"!) verbirgt. Wo ist also die Utopie ? Mitten in der Realität, der sie innewohnt. Wo ist die "Realität"? In dem Möglichen? Sicherlich. Aber was ist möglich und was ist unmöglich? Was passiert, wenn die automatischen Systeme die Straßen, die Gebäude, die Häuser überfluten ? Wenn das Zusammenspiel der mechanischen und geistigen Elemente den Verstand selbst überflutet und sich auf diesem Wege "die Menschen" unterordnet ? Wenn ihre Kraft so groß ist, daß sie, nachdem sie die Arbeiter absorbiert und die "Arbeiterklasse" als solche durch Desintegration integriert haben, auch den Verbraucher absorbieren, der unfähig ist, den "Gebrauchswert" wiederherzustellen oder zu proklamieren? Muß man der Reihe der Untergänge noch den Untergang des "Tauschwertes" hinzufügen? Wie soll man das neue Ungeheuer, den Leviathan, das Golem bändigen? Muß man mit ihm rechnen, einen Kompromiß suchen, anstatt sich ihm entgegenzustellen ? Der äußerste Konflikt würde, wenn man Marx folgt, an der Grenze zwischen der Politischen Ökonomie und der zivilen Gesellschaft auftreten. (8) Henri Lefèbvre: La Fin de l'Histoire, Ed. de Minuit, 1970, S.42 ff. 53

Die Kritik der politischen Ökonomie Es gab und gibt eine Wegroute im marxistischen Denken. Für Marx war es ein mühsam über Hindernisse gebahnter Weg. Nach und nach verwandelte sich diese berühmt gewordene Wegstrecke in eine große Straße, dann in eine touristische Autobahn. Wer hat sie nicht nachvollzogen zu Fuß, zu Pferd, im Auto und jetzt nach dem von den

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Reisebüros veröffentlichten Programm? Entlang der Autobahn liegen gut ausgestattete Rastplätze, Motels, verruchte Orte. Und dennoch, welche Überraschung, gibt es noch Erstaunliches, fast Neuentdeckungen, nicht an der Straße nach dem Süden, aber in der Landschaft, in der "Umgebung", am Horizont ... Wie lange hat man gebraucht, bis man merkte, daß der Untertitel des Kapitals, nämlich "Kritik der politischen Ökonomie", wörtlich verstanden werden muß ? Trotz des Untertitels betrachtete man Das Kapital über ein halbes Jahrhundert lang als eine ökonomische Abhandlung. Danach interpretierte man es als Kritik der bürgerlichen politischen Ökonomie, welche die Prämisse einer sogenannten "sozialistischen" politischen Ökonomie enthielt. Dabei muß man es als Kritik jeglicher politischen Ökonomie auffassen: als Kritik des Ökonomischen als Getrenntem, der zerstückelten Wissenschaft, die sich in zwingende Verordnungen umwandelt, der "Disziplin' die gewisse, zeitweilige Verhältnisse fixiert und erstarren läßt und in den Rang von sogenannten wissenschaftlichen "Wahrheiten" erhebt. Desgleichen enthält die marxistische Kritik des Staates nicht nur die Anfechtung des Hegelschen Staates, des bürgerlichen Staates, sondern die Anfechtung der Demokratie, des sogenannten demokratischen und sozialistischen Staates: eines jeden Staates (als Macht). Zwischen 1848 und 1867, während fast zwanzig Jahren, bereitet Marx sein großes Werk Das Kapital vor. Begnügt er sich damit, Material, Zitate, Zahlen zu sammeln ? Nein. Es gibt andere Gründe. Er steht vor theoretischen Schwierigkeiten. Er hat zunächst ein methodologisches Problem; nach der Polemik gegen Proudhon und dessen Hegelianismus betrachtet Marx die Dialektik voller Mißtrauen; er entdeckt sie erst zehn Jahre später wieder. Was die wesentliche theoretische Gliederung, den Begriff und die Theorie des Mehrwerts anbelangt, so arbeitet er sie nur langsam heraus. 54 schließlich und vor allem, reiht er, unserer Ansicht nach, die politische Ökonomie, das heißt die Studie der sogenannten ökonomischen Wirklichkeit mit ihren politischen Implikationen falsch ein, und setzt sich in falsche Beziehung zu ihr. Die marxistische Problematik während dieser langen Zeit und dieser entscheidenden Periode erscheint heute viel klarer, als sie Marx selbst erschien, als er den Weg einschlug. Aufgrund der neueren Veröffentlichungen und der Möglichkeit, die miteinander zu konfrontieren (9), können wir jetzt die Marschroute nachzeichnen. Auch dank einer gewissen Distanz zu den Exegeten, den Kommentaren den Interpretationen, den mal literarischen, mal "symptomatischen" Lektüren. Diese aufeinanderfolgenden, entgegengesetzten, konvergierenden, divergierenden Interpretationen haben eine seltsame theoretische Erfahrung erbracht. Wenn man sich von dieser scholastischen Anhäufung befreit, gewinnt man einen Grad von Freiheit, der einige Entdeckungen ermöglicht. Wir haben zu zeigen versucht, daß die Auflösung der feudalen Produktionsweise und der Übergang zum Kapitalismus von Marx einem Subjekt zugeschrieben werden und mit ihm verbunden sind: der Stadt. Diese sprengt durch ihre Selbstüberwindung das mittelalterliche (Feudal) System. durch den Übergang zu den kapitalistischen Produktionsverhältnissen (deren Auftauchen keinem Zweifel unterliegt), durch den Eintritt also in eine andere ,Produktionsweise, den Kapitalismus. Mit der Stadt klärt sich alles für lange Zeit. Man braucht nicht einmal zwischen dem Subjekt und dem System zu wählen, weil die Stadt ein "Subjekt" ist, eine zusammenhängende Kraft, ein Teilsystem, das das Gesamtsystem angreift, das dieses zugleich zeigt und zerstört. Nun aber versagen zugleich das Subjekt und das System. Wenn es ein System gibt, wann wird es geboren ? In welchem Augenblick kann man, gestützt auf die neuen Produktionsverhältnisse, behaupten: das ist der klar und deutlich systematisierte Kapitalismus ? Und wer handelt übrigens ? Wer ist der soziale Träger, das Mittel, zuerst des Übergangs und später der Bildung oder Errichtung des Systems ? Die Allgemeine Einführung in die Kritik der politischen Ökonomie (1857) zeigt Marx' Zögern. Man behauptete, das Problem des Subjekts stelle nur ein Überbleibsel der klassischen Philosophie dar, eine frühere Sprache, von der das Denken Marx' ausgeht, um eine neue Sprache zu suchen. Ist das falsch ? Nicht vollständig. Das beweist die Einfügung der Fragen über das "Subjekt" und das "Objekt" in eine Reihe von Bemerkungen über die Sprache (S. 7). Aber es ist mehr (9) Vor allem die "Grundrisse", vollständige, schon zitierte Ausgabe. Allerdings waren die "Allgemeine Einführung in die Kritik der politischen Ökonomie" (anders gesagt, in die "Grundrisse") sowie eine gewisse Anzahl von für unseren Zweck wichtigen Texten schon bekannt. 55 als das. Die Frage nach dem Subjekt ist schon mit der Frage nach der Produktion verbunden. Die Produktion ist im allgemeinen eine Abstraktion, aber eine verständige Abstraktion. "Es gibt allen Produktionsstufen gemeinsame Bestimmungen"- . . . so muß gerade das, was ihre Entwicklung ausmacht, den Unterschied von diesem Allgemeinen und Gemeinsamen, die Bestimmungen, die für die Produktion überhaupt gelten, müssen grade gesondert werden, damit über der Einheit - die schon daraus hervorgeht, daß das Subjekt, die Menschheit, und das Objekt, die Natur, dieselben die wesentliche Verschiedenheit nicht vergessen wird." Die Frage nach dem Subjekt und dem Objekt

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verbindet sich also mit der nach der spezifischen Eigentümlichkeit der Produktionsverhältnisse und -arten. Die Produktion ist "stets ein gewisser Gesellschaftskörper, ein gesellschaftliches Subjekt . . ." (S. 8). Wenn man aber auf dieser abstrakten Ebene bleibt, anstatt die Produktivität und den konkret und praktisch erreichten Stand anhand der Produktion zu untersuchen, kommt man zu einer Tautologie: der Reichtum im allgemeinen wird von objektiven und subjektiven Elementen aus geschaffen. Dann löscht man die Unterschiede aus "in allgemein menschlichen Gesetzen". So ist die Versuchung, besonders für den Philosophen groß, den "Menschen", von der philosophischen Sprache ausgehend zum Subjekt zu nehmen. Ein Irrtum, der schon einmal vermieden wurde, als man eine konkrete, praktische, historische Daseinsform als Träger und Subjekt nehmen mußte: die Stadt. Die Schwierigkeit kommt auch daher, daß es Verhältnisse, Stufen, Formen und Funktionen gibt, die zusammen ein Ganzes bilden müssen und notwendigerweise bilden. Vor allem die Produktion und der Verbrauch, die Bedürfnisse und die Mittel, sie zu befriedigen, bilden notwendigerweise eine Einheit, die eine gewisse vermittelnde Bewegung besitzt (S. 12). Man geht oder vielmehr springt so von dem Subjekt zum System. Was die Probleme aber nicht löst. Wird man "die Gesellschaft" zum Subjekt nehmen, statt den "Menschen" ? Das ist falsch, ist wieder philosophisch und spekulativ, denn man klammert die Produktionsverhältnisse aus und die Art und Weise wie die Produktion den Verbrauch und den Verbraucher, die Bedürfnisse und die Gegenstände zu ihrer Befriedigung, den Tausch und die ausgetauschten Dinge "objektiv und subjektiv schafft". Wird man das System in Betracht ziehen ? Aber wem soll man es dann zuschreiben ? Wie soll man seinen Zusammenhang erst theoretisch, dann praktisch angreifen ? Wer führt den Prozeß der Wechselwirkung der Faktoren in dem organischen Ganzen ? Man kann sich an niemanden halten. Dem zu persönlichen Subjekt steht das unpersönliche System gegenüber. Während das Subjekt die "Zuschreibung" garantiert, das Vorhandensein eines Bewußtseins, eines Denkens, also einer (durch die Abwesenheit theoretischen Wissens mehr oder weniger begrenzten) Verantwortung, sichert das System 56 die Kohärenz, die Rationalität, die Gesamtheit. Von diesem letzten Gesichtspunkt aus kommt man schnell zur Tautologie (zum Beispiel, indem man die innere Verbindung der Produktion und des Verbrauchs aufzeigt) und zu ähnlichen Vergleichen (indem man zum Beispiel die Gesellschaften, die geschichtlichen Epochen vergleicht), die beide die Unterschiede auslöschen. Wenn man wählen muß, wie soll man wählen? Muß man nicht einen anderen Weg entdecken und dabei das Dilemma Subjekt oder System vermeiden? ist die Geschichte, die man in Betracht ziehen kann (Marx selbst tut es) geeignet, das Dilemma auszuschließen und die Widersprüche zu lösen? Man kann es bezweifeln. Tatsächlich weiß man schon, daß die "Geschichte" nur als "Subjekt" gelten kann, wenn man sie nach der Art der Theologen (die Vorsehung) oder der Metaphysiker (der Geist, die Idee) personalisiert. Sie kann nur schwerlich als System angenommen werden, wenn man ihr eine Wahrheit oder eine natürliche, wiederum theologische oder metaphysische Logik voraussetzt. Anläßlich der Produktion und des Verbrauchs und ihrer Beziehung, stellte sich die Frage: "Wer produziert und für wen ?" Später stellt sie sich etwas anders: "Was ist produzieren? Wie und warum produzieren? Warum und wie mehr produzieren ?" Von der Produktion weiß man schon, daß ihr Begriff in zwei Bedeutungen aufgefaßt werden kann. Das ist keineswegs überraschend. Wenn ein vom Denken erfaßter Begriff oder Wirklichkeit nur eine Bedeutung hätte, keine doppelte Bestimmung besäße, keinen Widerspruch enthielte, würde sich eine Methode aufdrängen: die deduktive Methode. Die Probleme wären alle potentiell gelöst und man könnte sie sogar wie in der Mathematik für schon gelöst halten, um die Lösung zu suchen. Auf dem Gebiet, das Marx erforscht, geht das nicht. Von den zwei Bedeutungen des Begriffs "Produktion" weiß man, daß die eine eng und genau ist, die andere weit und ungenau. Verweilen wir - wie Marx es jahrelang getan hat - bei diesem Widerspruch. Die doppelte Bedeutung des Begriffs kommt daher, daß die "Menschen" in der Gesellschaft bald Dinge (Produkte), bald Werke (alles Übrige) produzieren. Die Dinge kann man aufzählen, zählen, in Geld bewerten, austauschen. Die Werke? Nur schwer. Produzieren in weitem Sinne heißt Wissenschaft, Kunst, Beziehungen zwischen den Menschen, der Zeit und dem Raum, Ereignisse, Geschichte, Institutionen, die Gesellschaft selbst, die Stadt, den Staat, mit einem Wort: alles produzieren. In der engen Bedeutung herrscht der gesunde Menschenverstand und jeder weiß, wovon er redet: aber auf diesem Gebiet verflachen sowohl das Denken, wie auch die Praxis. Andererseits, wo und wie soll man aufhören ? An der Grenze findet sich hier der Philosoph wieder zurecht: ja, die Menschen alle zusammen produzieren die Wahrheit, die Idee, die Göttlichkeit!" 57 Die Alternative entspricht der des Subjekts und des Systems, deckt sich aber nicht mit ihr. Wo und wie soll man die "Zuschreibung" finden? Wo die Kohärenz? Die Produktion von Produkten ist unpersönlich; die Produktion von Werken ist unverständlich, wenn sie nicht von Subjekten abhängt.

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Der Ökonom behauptet seinen Platz mit gutem Gewissen, das heißt, mit einer Sicherheit, die sich nicht von der Trivialität des gesunden Menschenverstandes unterscheidet und sich für wissenschaftliche Wahrhaftigkeit in der engen Bedeutung hält. Er stellt fest. Er zählt. Er beschreibt. Er kann ebensogut Eier zählen wie Tonnen von Stahl. Vieh wie Arbeiter. Er bewahrt bei diesen Rechenaufgaben eine ruhige, unerschütterliche Gewißheit. Das "Wer", das "Warum" interessieren ihn nicht. Der ökonomische Empirismus lehnt den Begriff, die Theorie, die Kritik ab. Besitzt er das Wissen ? Nein, glaubt Marx, denn er erfaßt keine einzige Beziehung. Läuft jedoch das Denken, wenn es die sozialen Beziehungen erfassen will, nicht Gefahr, sich von den Tatsachen zu entfernen ? Es nimmt Abstand; die kritische Wertung findet Raum; aber ist es nicht gerade die Kritik (der "wirklichen" Gesellschaft, des Empirismus, der sich mit der Feststellung begnügt), die die Auffassung von Beziehungen motiviert? In der Einführung in die Kritik der politischen Ökonomie, jeder, der sein Denken kennt weiß es, regelt Marx das Los der Geschichte. Lange hatte er geglaubt, daß dieses höchste, umfassendste Wissen es möglich machen würde, die moderne Gesellschaft dadurch zu verstehen, daß es ihre Zusammensetzung zeigte. Er glaubte es noch 1845, als er mit Engels die Deutsche Ideologie schrieb, obwohl die ersten Zweifel schon aufgetaucht waren. War dieses Vertrauen in die Geschichte nicht noch Hegelianismus? Für die Antike und das Mittelalter war die Geschichte als Wissenschaft des Zukünftigen noch ziemlich gut geeignet. Das Denken entdeckte sowohl das "Subjekt", wie auch die Bindekraft des Subjekts als "Agens". Aber wie steht es mit dem modernen Zeitalter ? In Wirklichkeit geht das theoretische Denken, wenn es die Antike und das Mittelalter umfaßt, schon von der modernen Epoche und ihren Kategorien, von deren Anwesenheit oder Abwesenheit in früheren Epochen, aus. "Die bürgerliche Gesellschaft ist die entwickeltste und mannigfaltigste historische Organisation der Produktion. Die Kategorien, die ihre Verhältnisse ausdrücken, das Verständnis ihrer Gliederung, gewähren daher zugleich Einsicht in die Gliederung und die Produktionsverhältnisse aller der untergegangenen Gesellschaftsformen . . ." Sie können sie übrigens in entwickelter oder verwässerter, ja sogar grotesker Form enthalten. So daß der Unterschied wesentlich bleibt. So daß man sich nicht auf die geschichtliche Entwicklung berufen kann, um die letzte Gesellschaftsform, die bürgerliche Gesellschaft, auf kritische Weise zu verstehen und einzuschätzen. Die Berufung auf die Vergangenheit erzeugt sogar Mythologie. Das entgegen 58 gesetzte Vorgehen drängt sich auf; man muß von der Gegenwart, von ihren "Kategorien", ihrem kritischen Verständnis ausgehen, um die Vergangenheit, den Feudalismus, die Antike zu erfassen. Die Geschichte kann die politische Ökonomie und die Kritik der politischen Ökonomie nicht ersetzen! Wie wird also das theoretisch legitime methodologische Vorgehen aussehen ? "wie überhaupt bei jeder historischen, sozialen Wissenschaft, ist bei dem Gang der ökonomischen Kategorien immer festzuhalten, daß, wie in der Wirklichkeit, so im Kopf, das Subjekt, hier die moderne bürgerliche Gesellschaft, gegeben ist, und daß die Kategorien daher Daseinsformen, Existenzbestimmungen, oft nur einzelne Seiten dieser bestimmten Gesellschaft> dieses Subjekts ausdrücken, und daß sie daher auch wissenschaftlich keineswegs da erst anfängt, wo nun von ihr als solcher die Rede ist. Dies ist festzuhalten, weil es gleich über die Einteilung Entscheidendes zur Hand gibt" (Einleitung in die Grundrisse, S. 26-27). Also wird man die Genesis der bürgerlichen Gesellschaft nicht von früheren Kategorien (zu denen die Stadt gehört) aus zu erklären versuchen. Man wird zuerst die Industrie und die Landwirtschaft studieren. "In allen Gesellschaftsformen ist es eine bestimmte Produktion, die allen übrigen ... Rang und Einfluß anweist." So stellt man fest, wie sehr sich diese bürgerliche Gesellschaft von den Gesellschaften entfernt, in denen das Grundeigentum herrscht, in denen die Beziehung zur Natur vorherrschend ist. Unter der Herrschaft des Kapitals geht die Vorherrschaft auf das neue soziale Element über. "Die Grundrente kann nicht verstanden werden ohne das Kapital", eben weil es vorhanden ist, zeitgemäß, obwohl im Laufe der Geschichte geschaffen; es ist die wirtschaftliche Macht, welche die sozialen Beziehungen in der bürgerlichen Gesellschaft beherrscht. Es ist also " ... Ausgangspunkt, wie Endpunkt". Von hier ausgehend wird man die früheren Gesellschaften begreifen, zum Beispiel jene, in der die aufkeimende Industrie wie im Mittelalter in dem städtischen Rahmen die Organisation und die Beziehungen nachahmte, die dem Lande eigen waren (S.27-28). Es ist also für Marx 1857 unmöglich, die Stadt und das Land wie vor zehn Jahren als selbständige, von der Geschichte hinterlassene Begriffe und Kategorien aufzufassen, die es erlauben, die historische Zeit auf der Ebene der theoretischen Verständlichkeit zu erzeugen. Diese Kategorien sind allgemeineren Kategorien untergeordnet, die einerseits aus den jeder Gesellschaft gemeinsamen Eigenarten (der Produktion, dem Verbrauch und ihrem inneren Zusammenhang, ihrer Einheit) hervorgegangen sind - und andererseits aus den spezifischen Eigenarten der modernen Gesellschaft. So und nur so, methodisch und theoretisch hervorgehoben, erscheinen alle Unterschiede. Nichtsdestoweniger werden die Stadt und das Land als wesentliche Kategorien in dem Plan beibehalten, den Marx (1857) als Plan des künftigen Werkes vorstellt: 59

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1. die allgemeinen, abstrakten Bestimmungen, die daher mehr oder minder allen Gesellschaftsformen zukommen ... 2. Die Kategorien, die die innere Gliederung der bürgerlichen Gesellschaft ausmachen und worauf die fundamentalen Klassen beruhen. Kapital, Lohnarbeit, Grundeigentum. Ihre Beziehungen zueinander. Stadt und Land ... 3. Zusammenfassung der bürgerlichen Gesellschaft in der Form des Staats. In Beziehung zu sich selbst betrachtet. Die unproduktiven Klassen, Steuern, Staatsschuld . . . 4. Internationales Verhältnis der Produktion. Internationale Teilung der Arbeit ... 5. Der Weltmarkt und die Krisen . . Wir wissen heute, daß Marx seinen Plan nicht genau einhielt. Warum ? Es ist ziemlich klar, daß mehrere methodologische und theoretische Probleme noch nicht gelöst waren. Insbesondere hatte Marx die (bürgerliche) Gesellschaft zuerst als ein Subjekt (S. 26) betrachtet, ohne die Frage gestellt zu haben "Was ist eine Gesellschaft ? Ist sie ein Subjekt ? ", ohne sich zu fragen, ob die Bourgeoisie als Klasse ein Subjekt ist, das mit der bürgerlichen Gesellschaft übereinstimmt. Vom Subjekt sprang er zum System über, indem er das Kapital und den Kapitalismus als ein Ganzes betrachtete (s. S. 27-28). Aus dieser Sicht erhalten die anderen Fragmente aus derselben Zeit ihre ganze Bedeutung. Das berühmte Fragment über die Kunst kann nicht isoliert betrachtet werden. Es antwortet auf die Frage: "Was ist produzieren im weiten Sinn?" Es antwortet auch auf die andere Frage: "Was ist eine Gesellschaft ?" Produzieren heißt nicht nur materiell produzieren, es heißt Recht, eine Form der Familie, ein Rechtssystem (S. 30), Kunst produzieren, nicht ohne Disparitäten zwischen diesen Produktionsgebieten. Eine Gesellschaft ? Das impliziert praktische soziale Beziehungen, zu denen die "Kultur" gehört (S. 30). Eine Gesellschaft kann nicht auf die Produktion in der Auffassung der Ökonomen: Produktions- und Verbrauchsapparat, Gleichheit oder Verschiedenartigkeit zwischen den beiden Aspekten, reduziert werden. Für eine Gesellschaft produzieren, heißt auch Ereignisse, Geschichte und folglich Kriege produzieren. Und der Krieg ist sogar "früher ausgebildet wie der Frieden". So wichtige wirtschaftliche Beziehungen wie die Lohnarbeit und die Maschinerie haben sich "durch den Krieg und in den Armeen ... früher entwickelt als im Innern der bürgerlichen Gesellschaft." Außerdem veranschaulicht die Armee besser ,das Verhältnis von Produktivkraft und Verkehrsverhältnissen . . ." (S. 29). Allein die Existenz dieses Fragmentes von außerordentlicher Dichte und Undurchsichtigkeit würde genügen, um zu zeigen, daß das Denken Marx' 60 im Vormarsch auf einem mit Hindernissen gespickten Weg seine Richtung gefunden, aber seine Werkzeuge noch nicht benutzt und nicht einmal Sein Ziel entdeckt hat. Was ist die Folge hieraus ? Paradoxe Ergebnisse. Der Entwurf von 1857-1859, der erst viel später veröffentlicht und noch später ins Französische übersetzt wurde, erweckt den Eindruck einer gewissen Unordnung, die aber fruchtbar, besser noch, anregend ist für den modernen Leser nach dem Lesen und Wiederlesen des Kapitals, das alles in eine Form und Ordnung gebracht hat. In den Grundrissen ist das Denken durch seine Elemente und Probleme hindurch auf der Suche. Eine Absicht herrscht vor, die später zwar nicht verschwinden, sich aber abschwächen wird: den Schwerpunkt auf die Unterschiede zu legen, sie voll ans Licht zu bringen, sie bis zur Sprache und zum Begriff zu führen. Wer vergißt die spezifischen Eigentümlichkeiten ? Sowohl die Ökonomen wie auch die Philosophen und die Historiker. Mal die einen, mal die anderen. Die Ideologien klammern die spezifischen Bedingungen aus, diejenigen der bestimmten Form dieser oder jener Produktion in dieser oder jener Gesellschaft, der unsrigen. Wenn man nur den Inhalt unterstreicht, der aus der vergangenen angesammelten Arbeit das notwendige Element jeder gegenwärtigen Arbeit macht, ist nichts leichter, als "zu beweisen, daß das Kapital eine notwendige Bedingung jeder menschlichen Produktion ist-. Ist das ein Beweis ? Vielleicht, aber er ist trügerisch, da dieser vereinheitlichende Gedanke alle spezifischen Bedingungen beiseite gelassen hat. in den Grundrissen wird alles nach dem Unterschied wahrgenommen und aufgefaßt. Einschließlich der asiatischen Gesellschaften und der asiatischen "Produktionsweise" im Verhältnis zu den westlichen Gesellschaften und ihrer Entstehung. Zweites Paradoxon: die Geschichte, die Vergangenheit, die Genesis gewinnen vom Gegenwärtigen aus wiederaufgenommen eine außergewöhnliche Schärfe. Die Züge treten hervor, anstatt sich in der Entfernung zu verlieren, sich in dem geschichtlichen Abstand zu zerstreuen. Besonders die Stadt und die Beziehung "Stadt-Land". Was Marx in den vorangegangenen Werken gesagt hat, erscheint mit erneuerter Kraft wieder. Die Stadt? Es gab keine "städtische Produktionsweise", ebensowenig wie eine "ländliche" oder "bäuerliche Produktionsweise". Ebensowenig gibt es für Marx eine "Industriegesellschaft" und eine "industrielle Revolution". Und doch spielen die Erde, das Land, die Stadt, die Industrie eine wesentliche Rolle in dem Werden der menschlichen Gesellschaft, in den Umwandlungen der Produktion, der Produktionsverhältnisse und -weisen. Was ist die Erde ? Die materielle Grundlage der Gesellschaften. Ist die Erde unveränderlich? Mitnichten. Ihr Gesicht wandelt sich von der reinen, ursprünglichen Natur zur verwüsteten Natur. Dieser Träger der menschlichen Gesellschaften ist vom Ursprung bis zum Ende der Menschheit weder unveränder- 61

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lich noch passiv. Die Erde ist vor allem "das große Laboratorium" (Grundr. 1, S. 376), das sowohl das Arbeitsmittel und das Arbeitsmaterial Wie dessen Sitz, dessen Basis liefert (vgl. auch Das Kapital, I. Band, 5. Kap. über die Erde und ihre Beziehung zur Arbeit, ein Text, der die Ideen der Grundrisse wiederaufnimmt und gewisse Aspekte daraus entwickelt). Dann beherrschen die vereinigten, eine Gesellschaft bildenden Menschen die Natur, verändern die Erde und ihre Elemente, entnehmen ihr die Mittel zu ihrer Tätigkeit, entfernen sich von der Natur, um sie durch eine neue, ihre eigene Wirklichkeit, die bis zur Unnatürlichkeit geht, zu ersetzen. Die Erde bleibt nicht das ursprüngliche Laboratorium. Wodurch wird sie ersetzt? Durch die Stadt. Die wechselnde Beziehung- "Stadt-Land" (der Ausdruck "wechselnd" bedeutet "konfliktgeladen") ist der ständige Träger der Veränderungen der Gesellschaft. Was ist also die Stadt ? Wie die Erde, auf die sie sich stützt: ein Milieu, ein Vermittler, eine Vermittlung, ein Mittel, das umfassendste, wichtigste Mittel. Die Umwandlung der Natur und der Erde impliziert einen anderen Ort, ein anderes Milieu-. die Stadt. Obwohl es, wie gesagt, weder eine "städtische Produktionsweise", noch eine "ländliche Produktionsweise" gibt, treibt die Stadt, oder vielmehr ihre Beziehung zu dem Land, die Veränderungen der Produktion an, indem sie gleichzeitig das Behältnis und die Voraussetzung, den Ort und das Milieu liefert. In und durch die Stadt tritt die Natur ihren Platz an eine zweite Natur ab. So durchläuft die Stadt die Produktionsweisen, ein Prozeß, der einsetzt sobald die städtische Gemeinschaft die Stamm- oder Agrargemeinschaft, die eng mit der Erde verbunden ist, ersetzt. So wird die Stadt, anstelle der Erde, zu dem großen Laboratorium der sozialen Kräfte. Das begründen und entwickeln die Grundrisse (ab S. 373). Im allgemeinen geht die Gemeinde aus der (Stamm- oder Dorf-) Gemeinschaft als ihrer Voraussetzung hervor. Der Übergang von der Gemeinschaft, in der die Natur mit ihren unmittelbaren Bindungen (des Blutes, der Familie, der engen Umwelt und der natürlichen Eigenheiten) vorherrscht, zur städtischen Gemeinde impliziert beträchtliche Veränderungen in dem Eigentum, der Produktion und dem Tausch. Im Laufe dieser Veränderungen wird die unmittelbare Natürlichkeit durch eine "soziale" Natur ersetzt. Während die Natur dem Individuum in der primitiven Gemeinschaft als solche erscheint, gleichermaßen als seine Erwerbsquelle und sein Feind, sein Verbündeter und sein Zerstörer, behandelt die soziale Natur das Mitglied der Gesellschaft als Fremden. Das Ergebnis der Vereinigung in der Arbeit drängt sich der Lebensaktivität als eine außenstehende Kraft auf, so daß weder die Arbeit, noch deren Produkt mehr das Eigentum des Arbeiters sind. Nach und nach stellt sich die Kollektiv- oder Gemeinschaftsarbeit gleichzeitig als Objektivität (fremdes Eigentum) und Subjektivität (fremde Macht) dar (s. S. 374). So wendet sich die eigene Macht des Gesellschaftswesens gegen dieses selbst wie 62 ,ein "beseeltes Ungeheuer". Die Stadt wird zum Hauptsitz dieser Umwandlung. ist sie nicht selbst das "beseelte Ungeheuer"? Vielleicht, obwohl Marx es nicht sagt, hier aber sind die spezifischen Unterschiede. In den asiatischen Gesellschaften, wo der Herrscher das Mehrprodukt der landwirtschaftlichen Arbeit behält, sieht man Verwaltungsstädte emporwachsen, die alle Militärlager sind, in denen der Herrscher seine Einkünfte gegen "free hands" eintauscht. Dies bedeutet keine bezahlte Arbeit, obwohl die Tätigkeit dieser "free hands" in Gegensatz zu der Sklaverei und der Leibeigenschaft treten kann (S. 371). Hier liefert also das Land direkt und unmittelbar die Grundlage. Worin besteht dieses Land ? in kleinen, bäuerlichen Gemeinwesen, die die Einrichtung einer höheren Einheit erlauben. "Es widerspricht ihr durchaus nicht, daß ... die zusammenfassende Einheit, die über allen diesen kleinen Gemeinwesen steht, als der höhere Eigentümer oder als der einzige Eigentümer erscheint, die wirklichen Gemeinden daher nur als erbliche Besitzer." Wirklicher Eigentümer und höhere Voraussetzung des gemeinschaftlichen Eigentums, "so kann diese (Einheit) selbst als ein Besonderes über den vielen wirklichen besonderen Gemeinwesen erscheinen" (S. 376). Diese höchste Einheit, diese despotische Regierung, hat ihren Sitz in der orientalischen Stadt. in den asiatischen Gesellschaften hat also die höchste Einheit der Gesellschaft, der Einzige, dem der ganze Boden, die Gemeinwesen und die Individuen gehören, die Stadt als Sitz und Stützpunkt. Die orientalische Stadt entsteht in der Nähe der Dörfer, die der despotische Staat verwaltet, wobei er sie ausbeutet, entweder an Stellen, wo man Außenhandel treiben kann, oder "wo das Staatsoberhaupt und seine Satrapen ihre Revenu (Surplusprodukt) austauschen gegen Arbeit, sie als labourfunds verausgaben" (S. 377). In diesen Gesellschaften kann sich das persönliche Eigentum auf keinen Fall selbst genügen; die direkte Verbindung zwischen der Gemeinschaft und der Natur kann nicht unterbrochen werden; die zum Leben der Gemeinwesen unerläßliche Bewässerung und Wasserregulierung unterliegen dem Staat, der damit eine direkte ökonomische Rolle spielt, indem er auf die Produktivkräfte einwirkt, über die Natur wacht, seine Verbindung mit der Gesellschaft aufrecht erhält (S. 378). So regiert die höchste Einheit, der Despot, der das den lokalen bäuerlichen Gemeinschaften gemeinsame Element, die absolute Vaterschaft verkörpert. Das gesellschaftliche Mehrprodukt, das nach der tatsächlichen Aneignung in der Arbeit bestimmt wird, d.h. man läßt den Dorfbewohnern etwas zum Leben, deckt die allgemeinen

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Kosten der Verwaltung und der wichtigen Arbeiten; der Rest kommt dem Einzigen zu. Dieser ungeheure Reichtum ermöglicht ihm große Unternehmungen: Kriege, Feste, Bauwerke. "Mitten im orientalischen Despotismus und der Eigentumslosigkeit, die juristisch in ihm zu existieren scheint, existiert daher in der Tat als Grundlage dieses 63 Stamm- oder Gemeindeeigentum, erzeugt meist durch eine Kombination von Manufaktur und Agrikultur innerhalb der kleinen Gemeinde, die so durchaus self-sustaining wird und alle Bedingungen der Reproduktion und Mehrproduktion in sich selbst enthält" (S. 377). Die höchste Kollektivität nimmt das Aussehen einer transzendenten Person an. Die Mehrarbeit in Form von Tributen, die Gemeinschaftsarbeiten selbst, gehören zu der Verherrlichung der menschlichen und göttlichen, wirklichen oder imaginären Einheit, dem Herrscher. Diese Texte sind in den letzten Jahren wieder ausgegraben worden, als man die Frage der "asiatischen Produktionsweise" wieder in Betracht zog. Dieser Begriff erscheint hier nicht; Marx schreibt nur "asiatische Gesellschaften". Der Begriff der asiatischen Produktionsweise ist jedoch insofern schon da, als er eine gewisse Anzahl von Gesellschaften nennt, die sich von den westlichen Gesellschaften durch die Anordnung und Beziehung der Grundelemente: Land und Stadt, Arbeitsteilung, Staat und Staatshoheit unterscheiden. Man weiß aus anderen, sehr vereinzelten Texten, daß Marx ziemlich genaue Ideen über die spezifischen Eigenschaften der Geschichte in den asiatischen Gesellschaften erarbeitet hatte. Auf der Grundlage der bäuerlichen Gemeinschaften werden große Reiche errichtet; sie überdauern durch ihre Trägheit; sie zerbrechen unter dem Ansturm der Eroberer, werden aber wieder so hergestellt wie sie vor ihrem Fall waren. Die Geschichte hat eine Eigenschaft sich zu wiederholen, die sie der Stabilität oder vielmehr der Stagnation der Produktivkräfte, das heißt den bäuerlichen Gemeinschaften und ihrer Organisation verdankt. Die Städte, deren Rolle als Sitz der despotischen Staatshoheit entscheidend ist, entgehen den Launen der Despoten nicht. Mal teilen sie die Stabilität des ökonomisch-sozial-politischen Ganzen, wenn ihre Lage besonders günstig ist, mal verschwinden sie mit einem Reich und werden anderswo als Verwaltungs- und Militärzentren (10), wieder aufgebaut. In Grundrisse gibt Marx zu verstehen, daß diese Ideen oder Hypothesen nicht nur auf die verschiedenen asiatischen Gesellschaften angewendet werden können, sondern eventuell auch auf das präkolumbianische Amerika, auf Mexiko, auf Peru usw. (S. 377). Die Einheit kann sich bis auf die Arbeitsgemeinschaft erstrecken, die nach einem förmlichen System, nicht nur auf der Ebene lokaler Gemeinschaften, sondern für die ganze Gesellschaft organisiert ist. Der Begriff der asiatischen Produktionsweise ist auf diesem Komplex von Analysen errichtet, die Marx immer wieder aufzunehmen beabsichtigte, weil sie ein grundlegendes Thema umreißen: die Verflechtung der Formen des Eigentums in Verbindung mit der Beziehung Stadt-Land. Der Begriff wurde, (10) Eine Reihe von Briefen Marx und Engels von 1853 zeigt, wie sehr diese Frage sie interessierte. 64 zumindest bei Marx, nie zu einer Theorie ausgearbeitet. Werden die jüngsten Anstrengungen, die seit der Veröffentlichung des berühmten Werkes von Wittvogel über den orientalischen Despotismus weitergeführt werden, diese Theorie bringen? Sie kann ihre ganze Fülle und Tragweite nur erhalten, wenn die Funktionen der orientalischen Stadt verschiedenartige (religiöse, militärische, politische, verwaltungsmäßige, ökonomische usw.) und spezifische Funktionen, die mit einer in Zeit und Raum zentralisierten Organisation solidarisch sind, voll ans Licht gebracht werden. Das hat Marx begonnen, aber bei weitem nicht beendet. Wenn der Begriff die Unterschiede sowohl innerhalb der asiatischen Gesellschaften, wie in Beziehung zu den europäischen Gesellschaften vergessen läßt, wenn er lediglich ein Mittel zur Einordnung der Tatsachen ist, der diese in die allgemeinen und einheitlichen Kategorien einreiht, bleibt die sogenannte marxistische Theorie wiedereinmal hinter dem Werk Marx zurück! Was meinte Marx, wenn er die Erde ein "Laboratorium" nannte ? Der Boden ist ein Teil der Produktivkräfte. Diese umfassen: die Arbeit - die Produktionsmittel, Werkzeuge und Maschinen - die Techniken und wissenschaftlichen Kenntnisse - die Natur und ihre Schätze. Gewisse "Puristen" werden protestieren und verlangen, daß diese Reihenfolge umgekehrt wird; ihr Dogmatismus ist so groß, daß sie in einer Aufzählung, die den Arbeitern geschichtlich und wissenschaftlich nicht den letzten und höchsten Rang zuerkennt, eine politische Absicht vermuten. Wir sehen über diesen scholastischen Byzantinismus hinweg, jedoch nicht ohne ihn zu erwähnen. Marx' Ausdruck "das Laboratorium" bedeutet, daß die Natur kein passiver Bestandteil der Produktion bleibt. Sie greift schon durch die Tatsache ein, daß die vereinigten Menschen (die eine Gesellschaft bilden und ihre soziale Existenz "produzieren") gegen sie kämpfen. Die Produktion als Handlung vollzieht sich zwischen dem Menschen und der Natur, ermöglicht es dieser, auf die menschlichen Initiativen zu antworten. Sie begnügt sich nicht damit, Rohstoffe zu liefern, die von der produktiven Arbeit entnommen, abgesondert, umgewandelt werden. Die Gemeinschaft geht als Bluts-, Sitten- und Sprachgemeinschaft aus der Natur hervor. Diese erste Voraussetzung der sozialen Aneignung der objektiven Voraussetzungen, nämlich

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die Gemeinschaft, tritt sehr verschiedenartig aus der Natur hervor, weil die Natur selbst außerordentlich vielgestaltig ist. Es scheint, daß nach Ansicht Marx' die Organisationen der "primitiven" Gemeinschaft sehr vielfältig waren, aber dennoch bestimmt durch den Kampf gegen die ursprüngliche Natur. Die einen sind verschwunden, andere sind verfallen, wieder andere sind erstarrt. Nur wenige haben den Wohlstand, die Entwicklung erlebt, die sie bis zur Zivilisation, das heißt bis zur Stadt geführt hat. Diese hat sich, die Rolle der "objektiven" Natur als Voraussetzung zur Aneignung annehmend, ihrerseits als Laboratorium aufgedrängt. Unter den Städten und städtischen Organisationen sind die einen 65 verfallen und verschwunden, andere überlebten mühsam, wieder andere erstarrten. Wenige durchliefen den Wachstums- und Entwicklungsprozeß, der das Wachstum der Produktivkräfte ermöglichte und höhere soziale Gebilde erzeugte. Wie die Erde stellt die Stadt eine Produktivkraft dar (aber kein Produktionsmittel, kein Werkzeug). Weil sie die Versammlung der Arbeiter und der Arbeiten, des Wissens und der Techniken, der Produktionsmittel selbst ermöglicht, greift sie aktiv in das Wachstum und die Entwicklung ein; sie kann sie also beeinträchtigen; die Konfrontation der Produktivkräfte und der Produktionsverhältnisse auf ihrem Gebiet kann vorteilhafte oder verheerende Wirkungen haben. Gegenüber der Erde und der Nation wird die Stadt im Laufe der Geschichte wie diese zum Schmelztiegel, in dem sich die Produktionsverhältnisse ausbilden, wo sich die Konflikte zwischen den Produktionsverhältnissen und den Produktivkräften zeigen. Im europäischen Westen tritt, im Gegensatz zu den asiatischen Gesellschaften sogleich ein "zweiter Zustand" der Umwandlung der bäuerlichen Gemeinschaft auf. Dieser zweite Zustand brachte historisch gesehen auf lokaler Ebene ebenfalls beträchtliche Abwandlungen hervor (S. 399). Da er die Frucht eines bewegteren historischen Lebens und Schicksals als in Asien ist, vermutet man die Gemeinde, aber deren Stammesgrundlage ist durch das Nomadentum, die Wanderungen als erste Loslösung vom Sozialwesen im Verhältnis zur Natur, verwandelt worden. Im Gegensatz also zur asiatischen Form, behält die europäische Form die natürliche Gemeinschaft nicht als Substanz und Inhalt bei. Das gibt der städtischen Form eine andere Wirklichkeit als die der asiatischen Stadt. Diese Gesellschaft hat nicht das Land und die Natur "an sich" zur Grundlage, sondern die als Sitz (Zentrum) für die Leute vom Land, die Grundbesitzer, errichtete Stadt. Die Äcker bilden schon das Territorium der Stadt und nicht des Dorfes (S. 378). Die Stadt wird also Athen oder Rom und Samarkant oder Peking sein. Im Westen erfordern die Natur und die Erde keine ungeheure kollektive Arbeit (Bewässerung, Eindeichen, Entwässern) und stellen "an sich" dem, der sie bearbeiten und sich aneignen will, kein Hindernis entgegen. Die westlichen Gesellschaften, die als Ausgangsbedingung schon die Unstabilität, das Nomadentum und die Wanderung haben, sind also zur Agressivität bestimmt. "Der Krieg ist daher die große Gesamtaufgabe, die große gemeinschaftliche Arbeit" (s. S. 378), die betrieben wird entweder, um sich des Bodens zu bemächtigen gegen die bestehenden Gemeinschaften, die ihn okkupieren, oder um die Okkupation gegen die Angreifer zu verewigen. Die Natur setzt sich in dieser Gesellschaft in einem ständigen Lebenskampf fort. Die Gesellschaft wird zuerst militärisch organisiert und nicht verwaltungsmäßig wie im Orient. Die Kriege haben eine selektive Funktion. Sie spielen sich zwischen den Städten ab. In der Tat ist die Stadt die Grundlage dieser kriege 66 rischen Organisation (ebda). In dem städtischen Rahmen werden die Stammesverbindungen verändert fortgesetzt. Als die städtische Gemeinde sich zum Staat erhebt, wird das Privateigentum von dem Gemeindeeigentum getrennt. In dieser Form der Vereinigung deckt sich das Eigentum des Individuums nicht mehr mit dem unmittelbaren Gemeinschaftseigentum, da die Verbindung zur Natur abreißt. Hier beruht die Gemeinde auf den Grundeigentümern, die zu Beginn noch Arbeiter (Bauern) sind, später aber Grundbesitzer, die nicht mehr arbeiten. Die städtische Gemeinde als Staatsform besteht in einer Wechselbeziehung zu diesen "privaten", aber freien und gleichberechtigten Eigentümern; sie beschützt sie und steht für sie ein. Das "ager publicus" sichert die gemeinschaftlichen Bedürfnisse. Als Tatsache und als Bewußtsein ein Produkt der Geschichte, bleibt diese städtische Gemeinde die Voraussetzung jeglichen Grundeigentums (öffentlicher und privater Natur), für das einzelne Mitglied der Gemeinde ist "diese Gehörigkeit aber vermittelt durch sein Sein als Staatsmitglied, durch das Sein des Staats daher durch eine Voraussetzung, die als göttlich etc. betrachtet wird" (S. 379). Die Ähnlichkeiten zwischen der antiken und der orientalischen Stadt, nämlich gewisse religiöse, militärische und politische Züge, können die Unterschiede nicht verschleiern. Die orientalische Stadt kommt nicht aus einer "Unmittelbarkeit" der Verbindung mit der Natur, die ihre Institutionen und Ideen beeinflussen oder gar formen könnte, während die antike Stadt die Unmittelbarkeit verloren und den Vermittlungscharakter angenommen hat, der ihr Schicksal prägen wird. Eine starke Konzentration (von Bevölkerung und Reichtümern) vollzieht sich in der Stadt, deren Gebiet das umliegende Land einschließt. Der Reichtum steigt mit der produktiven Arbeit: der Kleinbauernwirtschaft, dem Handwerk und dem Kleingewerbe

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(Spinnerei, Weberei, Schmieden und kleine Hüttenwesen, Keramik usw.). Aber die städtische Gemeinschaft erweitert und bereichert sich vor allem durch den Krieg. Lange Zeit jedoch ist "der Zweck dieser Arbeit nicht Wertschöpfung ... sondern ihr Zweck ist Erhaltung des einzelnen Eigentümers ... wie des Gesamtgemeindewesens." Das ist die schöne Zeit der antiken Stadtrepubliken. Die überschüssige Zeit und das soziale Mehrprodukt kommen der städtischen Gemeinde zugute und gehen somit auf die gemeinsame Arbeit, den Krieg, über. Im Laufe dieser unaufhörlichen, schrecklichen kriegerischen Kämpfe, welche die griechische und römische Zivilisation kennzeichneten, trugen gewisse, für den Krieg besser ausgerüstete und organisierte Städte, die in dieser Hinsicht "gelungen" waren, den Sieg davon: Athen, Rom. Wir können schon jetzt eine theoretisch nicht unwichtige Bemerkung wagen. Auf den hier besprochenen Seiten der Grundrisse untersuchte Marx die Entwicklung der antiken Stadt. Er betrachtet sie als eine "zweite Form" der 67 Geschichtlichkeit, des historischen Schicksals oder der Entwicklung, während die orientalische Stadt in den asiatischen Gesellschaften die erste Form ist. Er beschreibt die antike Stadt in einigen wesentlichen Zügen, vor allem ihren Verbindungscharakter, der mit der Unmittelbarkeit (der direkten Verbindung mit der Natur, die in der frühen asiatischen Gesellschaft wie in der Stammes-, Bluts- oder Familiengemeinschaft noch prägnant ist) gebrochen, aber das Unmittelbare, die Erde, die Natur und die Landwirtschaft noch nicht vollständig überwunden hat. Marx erwähnt die Sklaven nicht einmal. Vernachlässigt er eine wichtige Tatsache 7 Nein. Zahlreiche Texte, besonders alle diejenigen, in welchen er die Unterschiede zwischen den Sklaven und den modernen Arbeitern zeigt, beweisen es. Anläßlich der antiken Stadt, ihrer Genesis und ihrer formalen Konstitution beschreibt er die Bedingungen des Sklaventums. Die Sklaven tauchen auf als eine zusätzliche Vermittlung zwischen dem Bürger und der Erde, zwischen dem freien Mitglied der städtischen Gemeinde und der produktiven Arbeit, die ihm ein höheres Maß an Verantwortung, zunächst für das kriegerische und politische Leben, danach für seine eigene Bereicherung bringt. Das führt die Stadt zum Ruhm oder zum Untergang (11) (s. Grundrisse S. 134-135 ff.). In der Tat unterhöhlen das Geld und die Geldgier die früheren Gemeinschaften. Die nicht wirklich von dem Land losgelöste Stadt wurde, als sie von dieser Verbindung befreit war, von dem (Bar)geld zerrissen und verdorben. In Rom und in Griechenland erschien das Geld zuerst harmlos in der Form seiner beiden ersten Funktionen als Maß und Zirkulationsmittel. Aber als sich der Handel entwickelte, oder als bei den Römern die Eroberungen plötzlich auf einer bestimmten Stufe der wirtschaftlichen Entwicklung massenhaft Geld hereinbrachten, erschien das Geld notwendigerweise in seiner dritten Bestimmung "und je mehr es sich in derselben ausbildet, als Untergang ihres Gemeinwesens" (s. S. 134). Die dritte Bestimmung des Geldes ist die des verallgemeinerten Kaufens, das aus dem Geld Kapital macht. Man kann sich also fragen, ob der Begriff der "sklavischen Produktionsweise" nicht einen späten und zerstörerischen Zug der antiken Stadt begünstigt. Dieser Zug gewinnt seine Wichtigkeit und seine Bedeutung erst durch die Konfrontation mit dem Kapitalismus; an sich ist es in der Genealogie der antiken Stadt von der Blutsgemeinschaft an ein abweichender Zug. Er hat neben der wesentlichen Beziehung: Stadt - Land, das heißt Gesellschaft - Natur, historisch - ursprünglich usw., wenig Bedeutung. (11) Gegen Malthus polemisierend, zeigt K. Marx, daß die Kolonisierung in der Antike einem Bevölkerungsüberschuß entspricht, der nichts mit den Vorgängen in den modernen Gesellschaften gemein hat (Wegzug von Emigranten, Reservearmee des Proletariats usw.) 68 Er kondensiert das Zukünftige, er faßt den Höhepunkt und den Zerfall der antiken Stadt zusammen. In diesem Sinne kann man den Begriff beibehalten, wenn man ihn abgrenzt, relativiert, ihn den wesentlichen Beziehungen unterordnet. Die antike Stadt erscheint also in Grundrisse als zweiter Zug der Entwicklung und später des Zerfalls, während die orientalische der erste ist. Es gibt eine dritte Form, also einen dritten Zug im Westen, der aus den barbarischen germanischen Gemeinschaften kommt (S. 380 ff.). Verstehen wir den scheinbar winzigen Unterschied, der die Formen unterscheidet recht. Im Orient bleibt das Eigentum immer Gemeinschaftseigentum, sogar das des Einzigen, des Herrschers. In der antiken Stadt stehen sich zwei Formen des Eigentums gegenüber, vereinigen sich jedoch im städtischen Rahmen. das Privateigentum des Bürgers - das öffentliche Eigentum der Stadt, das ager publicus. Von der germanischen Stammesgemeinschaft aus bilden sich drei Eigentumsformen: ein Privateigentum (das Haus, ein Teil des Ackerbodens) - ein Kollektiveigentum, das von der Gesellschaft der Besitzer und nicht von dem Dorf oder der Stadt als solchen abhängt - und schließlich ein Gemeindeeigentum, das Gemeindeland oder Land des Volkes, das ganz getrennt ist von den Einzelbesitzern und ihrer Gruppierung in einer Vereinigung. Es handelt sich um die Jagdgebiete, die Weiden, Wälder usw. (S. 384). Der Unterschied ist einschneidend, denn er macht aus der Stadt im europäischen Westen (Deutschland, Frankreich, England, Spanien) nicht ein seinen Mitgliedern

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überlegenes Wesen, sondern eine Vereinigung. Daher kommt ihre geschichtliche Zukunft! Kurz gesagt unterscheidet Marx drei Richtungen, die alle die Auflösung der Blutsgemeinschaft, das Erscheinen von Gemeinschafts- und Gemeindeformen der Besitzergreifung (der Nutzung und dann des Austausches) der Gebiete, also die Bildung der Beziehung "Stadt-Land" und die Umwandlung dieser Beziehung implizieren. Ein erster Zug verurteilt die Gesellschaft und die Stadt zur Stagnation. Ein zweiter verurteilt die Stadt und die Gesellschaft zusammen zu einem schnellen Wachstum, zu großem Glanz und dann zum Niedergang. Eine dritte Richtung bestimmt die Stadt in ihrem Verhältnis zu dem Land zu einem langsamen Wachstum, jedoch zu einer Zukunft ohne bestimmbare Grenzen. Die erste Formel ist unitarisch, die zweite binär und die letzte trinitarisch (12). Marx beschäftigt 1857 die Frage so sehr, daß er lange darauf beharrt, ohne (12) Man muß heute, warum soll man es nicht zugeben, einige Einwände erheben. Waren die germanischen Völker nicht Indo-Europäer wie die Gründer Griechenlands und Roms? Vgl. die bekannten Arbeiten der Historiker und Anthropologen, vor allem Dumezils. Jedoch kann man weder die Tendenz der (manichäischen) Mittelmeerwelt, noch gewisse trinitarische Züge der Gesellschaft und der Ideologie in Westeuropa leugnen. 69 den großen Wortaufwand über die erwähnten Unterschiede zu scheuen. Vielleicht empfindet er einige Schwierigkeiten, seine Gedanken ohne beweiskräftige historische Unterlagen zu verdeutlichen, so daß diese Gedanken etwas von einer Hypothese, einer Geschichtsphilosophie haben, obwohl er sich auf zahlreiche Teilarbeiten (Niebuhr usw.) stützt. Während die asiatische Geschichte "eine Art indifferenter Einheit von Stadt und Land" zeigt, während die Geschichte des klassischen Altertums aus einer Geschichte der Stadt als Zentrum des ländlichen Lebens mit dem Grundeigentum und der Landwirtschaft als Mittelpunkt besteht, geht das Mittelalter vom Land als Sitz der Geschichte aus und entwickelt sich in dem heftigen Gegensatz zwischen Stadt und Land: "die moderne (Geschichte) ist Verstädterung des Landes, nicht wie bei den Antiken Verländlichung der Stadt" (S. 382). Eine entscheidende Formulierung, die die wesentliche dialektische Bewegung beleuchtet. Die Entwicklung nahm ihren vollen Umfang an und deckte das Feld des Möglichen nur da, wo sich der konfliktgeladene Aspekt der Beziehung Stadt-Land entfaltete, wo der Konflikt den höchsten Grad erreichte. Und im Orient ? Dort gab es keinen Konflikt. So waren der Glanz, die Größe, die Macht der orientalischen Städte vom frühen Altertum, von Babylon, Susa, Ninive bis zu unseren Tagen umsonst. Der Glanz und die Macht ändern nichts an der Tatsache. Die Städte folgen aufeinander, lösen sich ab, erscheinen und verschwinden wie die Reiche. Und die antike Stadt? Sie spielte-. wer verliert, gewinnt (oder wenn man so will, wer gewinnt, verliert). Zu Anfang scheinbar gewinnend, verlor sie später unwiderruflich, trotz des Ruhms von Athen und Rom und ihrer Eroberungen auf allen Gebieten. Das Land politisch beherrschend, wurde sie von diesem wirtschaftlich beherrscht. Der Konflikt, der nicht bis zum Ende ausgetragen wurde, führte die Auflösung herbei. Auch hier verhindern die Schönheit und der Glanz nicht das Schicksal. Im Gegenteil: es vollstreckt das Urteil der sogenannten "historischen" Mächte. Die bescheidenen westeuropäischen Handelsstädte dagegen hatten nicht nur die Geschichte auf ihrer Seite, sondern sie machten die Geschichte. Sie waren ihr "Subjekt". Warum? Auf welche Weise? Im Laufe eines erbitterten Kampfes, der schon ein Klassenkampf war. Weil ihr Prinzip die Vereinigung war (wobei der Eid nur einen Aspekt dieses Vereinigungsprinzipes darstellte). Die westliche Stadt wird, durch ein historisches Schicksal, das nichts mit theologischer Prädestination zu tun hat, der Ort und das Milieu einer außergewöhnlichen Umwälzung der Lage- die beherrschende Natur wird ihrerseits beherrscht. Was nicht bedeutet, daß die Stadt, der Ort der Anti-Physis, alleine dadurch eine den Menschen günstige Macht ist, eine zweite entgegenkommende Mutter für die, welche die erste verlassen haben, denen es gelungen ist, die Nabelschnur zu durchschneiden. Aber gehen wir nicht zu schnell vor. Nicht schneller als Marx! 70 Die Gemeinde barbarischen (germanischen) Ursprungs deckt sich nicht mit der Stadt. So kann sie weder eine höhere Existenz als die ihrer Mitglieder, noch ein unabhängiges wirtschaftliches und politisches Dasein erwerben. "Bei den Germanen, wo die einzelnen Familienhäupter sich in Wäldern festsetzten, getrennt durch lange Strecken, existiert, schon äußerlich betrachtet, die Gemeinde nur durch die jedesmalige Vereinigung der Gemeindeglieder, obgleich ihre an sich seiende Einheit gesetzt ist in Abstammung, Sprache, gemeinsamer Vergangenheit . . ." (s. S. 382-383). Unter diesen Voraussetzungen wird die Gemeinde durch die Stadt kein "Staatswesen"; sie kann nicht durch Beamte eine Einheit außerhalb der allgemeinen Vereinigungen werden. Das Eigentum des Individuums und der Familiengruppe wird nicht durch die Gemeinde vermittelt; im Gegenteil, die Existenz der Gemeinde und ihres Eigentums wird durch die Beziehung zwischen ihren Mitgliedern vermittelt. Das ökonomische Ganze ist in jedem Haus, in jeder Familie enthalten. "In der antiken Welt ist die Stadt mit ihrer Landmark das ökonomische Ganze" (S. 383), während der

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Grundeigentümer dort gleichzeitig Städter und (städtischer) Bürger, und die Bürgerschaft auf eine einfache Formel zu bringen ist: der Bauer als Bewohner der Stadt. Bei den Barbaren drängt sich die Gemeinde also nicht als eine Substanz auf, deren Akzidens der Einzelne ist. Sie ist weder die in der Existenz der Stadt und ihrer Bedürfnisse verwirklichte Einheit, noch die in dem städtischen Gebiet verwirklichte Einheit. Sie trennt sich nicht gewaltsam von der Sprach- und Blutsgemeinschaft, von der Produktion von Gebrauchswerten, von Beziehungen, welche die Reproduktion der Individuen implizieren. Der Eigentümer verliert diese Beziehungen, das heißt "das Verhalten des Menschen (der produziert und reproduziert) zu seinen Produktions- oder Reproduktionsbedingungen als ihm gehörigen . . . nur langsam" (S. 391). Dieser Verlust der doppelten Beziehung, die aus dem Individuum gleichzeitig einen den anderen Mitgliedern der Gemeinde gleichgestellten Bürger und einen Eigentümer macht, ist unvermeidlich. Besonders dann, wenn das Dorf infolge eines Anwachsens der Produktivität zur Stadt wird. Im Westen, auf den Grundlagen der barbarischen Gemeinschaften, vollzieht sich dieser Verlust mit dem geringsten Schaden. Im Orient dagegen vollzieht er sich nicht, so daß es zu einer Blockierung kommt; und in der antiken Stadt brachte er die Auflösung der Produktionsweise mit sich, "auf der das Gemeinwesen beruht und daher der objektiv Einzelne, d.h. als Römer, Grieche etc. bestimmte Einzelne" (S. 394). Die soziale Einheit zwischen einer bestimmten Form des Gemeinwesens und das damit verbundene Eigentum an der Natur besitzt in der Tat eine lebendige Wirklichkeit in einer bestimmten Weise der Produktion (von Marx unterstrichen), die ebenso in einer Beziehung zwischen den Individuen besteht, wie in dem Verhalten ihrer Gesamtheit zu der Natur, die eine bestimmte Arbeitsweise einschließt 71 (Familienarbeit und Gemeindearbeit). Somit stellt das Gemeinwesen selbst die erste große Produktivkraft dar und es entwickeln sich, je nach Art der Produktion (Viehzucht, Ackerbau) eine besondere Produktionsweise und besondere Produktivkräfte, die sowohl objektiv als auch subjektiv sind (S. 394-395). Da die Auflösung dieser Beziehungen, der Verlust der Unterstützung, die sie dem Individuum geben, unvermeidlich sind, weiß man jetzt wie und warum die Bedingungen des Übergangs zu einem höheren Stand im Westen die besseren waren. Hier und nicht in der Antike oder im Orient wird das "Herdentier" - das Land- oder Stadttier - zum politischen Tier. Der Austausch war ein wesentliches Agens dieses Prozesses, "er macht das Hürdenwesen überflüssig und löst es auf." Aber diese Auflösung war in den meisten Fällen katastrophal. Das geringere Übel? Das war, wenn das Mitglied der Gemeinde nach dem Verlust seines Landes, der Natur, seiner unmittelbaren Verbindung mit diesen, seines Anteils an der Gemeinschaft, der es zum Eigentümer machte, als Arbeiter im Besitz seines Arbeitswerkzeugs blieb. Das geschieht in einer bestimmten Form der Manufaktur: der Handwerksarbeit. Die Arbeit ist dort gleichzeitig künstlerisch und an sich fein, die Geschicklichkeit gewährleistet den Besitz der Arbeitsinstrumente. Die Arbeitsweise wird mit dem Werkzeug und der Organisation erblich überliefert. So funktionierte das "Mittelaltrige Städtewesen" (S. 397). Dieses städtische System enthielt, wie wir schon wissen, eine große Vielfalt von Vereinigungen; dazu gehört das "System der Zünfte und Innungen". Es setzt voraus, daß der Arbeiter für seinen Unterhalt aufkommen kann, bis er seine Arbeit beendet hat. Dieser Arbeiter verfügt also über einen "Konsumtionsfond", sei es durch ein Erbe oder durch Verdienst, sei es in seiner Eigenschaft als Miteigentümer in einer Gemeinschaft, der Zunft, die ihm diesen Gebrauch aufgrund ihrer Gesetze und Traditionen vorbehält. (Dieser Punkt muß vertieft werden, Anmerkung von Marx, S. 397). Das läßt tatsächlich vermuten, daß sich diese Notwendigkeit dem Arbeiter noch nicht als eine fremde Macht, der Macht des Kapitals aufdrängt, weil der Arbeiter als lebendige Kraft noch direkt an den objektiven Produktionsbedingungen teilnimmt. Obgleich zweifellos unterjocht, ist er noch nicht von seiner eigenen Arbeit getrennt; im Kapitalismus dagegen "ist der Arbeiter keine Produktionsbedingung, sondern nur die Arbeit . . ." Das System des Kapitals impliziert eine Beziehung von Nicht-Eigentum (negative Beziehung) gegenüber dem Rohmaterial, dem Werkzeug, den Lebensmitteln. Das impliziert vor allem das Nicht-Grundeigentum, die Verneinung der von der Natur kommenden Bedingungen und der unmittelbaren Beziehungen zwischen der Arbeit, den Elementen der Arbeit und dem Arbeiter selbst, " dem Subjekt, das arbeitet". Diese Auflösung vollzieht sich in mehreren Stufen. Erste Stufe: der Eigentümer bearbeitet den Boden, 72 der ihm gehört; diese Bedingung wird in dem Dorf mit dem barbarischen Gemeinwesen verwirklicht. Zweite Stufe: das handwerkliche Eigentum in dem städtischen Gemeinwesen. Diese zweite geschichtliche Stufe besteht entweder neben oder außerhalb der ersten. Das Gemeinwesen und die Vereinigung gemeinschaftlicher Art entfernen sich mehr und mehr von den ursprünglichen, unmittelbaren (naturwüchsigen) Formen. In der Tat ist: "das Gemeinwesen, worauf diese Art des Eigentums begründet - selbst schon produziertes, entstandenes . . ." (S. 399), es ist das städtische (mittelalterliche) Gemeinwesen. Das Kennzeichen des auf der handwerksmäßigen und städtischen Arbeit

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begründeten Zunftwesens ist, daß es die Gemeinschaft allein auf die Beziehung zwischen dem Arbeiter und dem Produktionswerkzeug beschränkt, da das Eigentum - durch die Geschicklichkeit legitimiert - nur für das Arbeitswerkzeug gilt. Diese Beziehung ist völlig verschieden von derjenigen, die den Grundbesitz stiftet. Die Auflösung dieser Beziehung des Arbeiters zu dem Werkzeug führt zum Kapitalismus. Ist dies nicht "die Formel der Sklaverei und Leibeigenschaft, die ebenfalls negiert ist, als historisch aufgelöster Zustand gesetzt ist im Verhältnis des Arbeiters zu den Produktionsbedingungen als Kapital" (S. 399) ? Marx behält diese sehr hegelianische Methode der Bildung von Kapital durch Negativität und Synthese nicht bei. In Grundrisse führt dieses Verfahren neue Überlegungen, zum Beispiel über die antike Stadt ein. Die Auflösung der Verbindung zwischen den verschiedenen Produktionselementen hat dort nicht ein Proletariat im modernen Sinne hervorgebracht, auch kein Handwerk, sondern einen Plebs, der Brot und Spiele verlangte. Ebenso die gleichwohl grundlegend verschiedene Beziehung des Herrn und seines Gefolges. In diesem andersgearteten Fall gibt die Auflösung der Eigentumsverhältnisse dem Herrschaftsverhältnis Raum. Das Herrschafts- und das Knechtsverhältnis gehören somit zu der Dekadenz der Beziehungen zwischen Eigentum und Produktion, während sie gleichzeitig Borniertheit ausdrücken und ein Ferment zur Umwandlung mit sich bringen. Ein solches Machtverhältnis herrschte im kaiserlichen Rom, aber man findet es in allen Auflösungsprozessen einschließlich in der Auflösung der mittelalterlichen Vereinigungen und der Feudalbeziehungen während der sogenannten "Renaissance"zeit. Mit den üblichen Begleiterscheinungen dieser Auflösungsprozesse: Klientelverhältnisse, eingebildete oder reale Dienstleistungen, Rivalitäten und Kriege. "In allen diesen Auflösungsprozessen wird sich bei genauerer Prüfung zeigen, daß Verhältnisse der Produktion aufgelöst werden, worin vorherrscht: Gebrauchswert . . ." (S. 402). Ironie der Geschichte. Was an "Gebrauchswert" in den antiken oder mittelalterlichen Städten übrigbleibt, muß verschwinden; dieses Verschwinden ruft einen höchst eigenartigen "Wert", sehr alte Gebräuche hervor: den gewaltsamen Mißbrauch des Reichtums und der Macht. Und durch diesen Prozeß bahnt sich die Vorherr- 73 schaft des Austauschs den Weg. In den Machtverhältnissen sind Naturallieferungen und -dienste wichtiger als Geldzahlungen. Das Geld, dieses beseelte Ungeheuer unter den Ungeheuern, versucht mit diesem anderen Ungeheuer, dem Staat, den Frieden, seinen Frieden, einen tödlichen Frieden: den Frieden der Warenwelt (s. S. 402 ff.) zu erzwingen. Aber die Dinge ändern sich, sie bewegen sich von ihrer schlechtesten Seite vorwärts. Diese Entwicklung des Währungs- und Geldvermögens setzt den Durchbruch einer Sperre, nämlich der mittelalterlichen Vereinigungen, voraus. In dein städtischen Zunftwesen vermag das Geld alleine gar nichts; nur das Geld der Zunft, das Geld des Meisters ermöglicht es beispielsweise Webstühle zu kaufen. Das Geld wird nur dann der Meister dieser Meister, wenn es ihm gelungen ist, die vereinigten Arbeiter der Mittel (Lebensmittel, Materialien, Werkzeuge) zu berauben, die sie früher besaßen. Die qualifizierte oder nichtqualifizierte Arbeitskraft findet das Kapital bald fix und fertig vor "teils als Resultat des städtischen Zunftwesens, teils der häuslichen oder als Akzessorium am Landbau haftenden Industrie" (S. 405). Der historische Prozeß ist nicht das Resultat des Kapitals, sondern seine Voraussetzung. Diese Geschichte kennt die sentimentalen Märchen nicht, nach denen der Kapitalist und der Arbeiter eine Vereinigung bilden noch findet sich davon eine Spur in der Begriffsentwicklung des Kapitals" (ebd.). Der Kapitalismus resultiert aus der Auflösung der städtischen Vereinigungen und nicht aus irgendeiner Teilnahme an diesen. Es kam vor, daß die Manufaktur und die Zunft nebeneinander bestanden; dann entwickelte sich die schon kapitalistische Manufaktur in einem Rahmen, der einer anderen Epoche angehörte. Das war der Fall in den italienischen Städten. Ein lokales Phänomen, glaubt Marx. Anderswo (besonders in England) nahm der Konflikt seine ganze Schärfe an, da sich die neuen Bedingungen, die Bedingungen des Kapitalismus, auf breiter Basis erweiterten, was es ihm ermöglichte zur beherrschenden Kraft zuwerden. Diese Geschichte erhellt eine Schlußfolgerung. Das bloße Dasein des Geldvermögens oder seine Übermacht (Machtverhältnisse) genügt nicht, um die Auflösung alter Gesellschaften in den Kapitalismus münden zulassen. "Sonst hätte das alte Rom, Byzanz etc. mit freier Arbeit und Kapital seine Geschichte geendet oder vielmehr eine neue Geschichte begonnen. Auch dort war die Auflösung der alten Eigentumsverhältnisse verknüpft mit Ent-wicklung des Geldvermögens - des Handels etc. Aber statt zur Industrie, führte diese Auflösung in fact zur Herrschaft des Landes über die Stadt" (s.S.405). Tausend, millionenmal ist der Weg Marx' wiederbeschritten und nachgezeichnet worden. Von Politikern, Philosophen, Ökonomen, Historikern, Lehrern, unzähligen Studenten im Osten, im Westen, im Norden und im Süden. Eine 74

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Autobahn mit Reisebüros und Gesellschaftsreisen? Gewiß, aber auch mit Sackgassen, Verirrungen. ist nicht jede fachorientierte Lektüre, sowohl des Philosophen wie des Ökonomen irrig? Der Prozeß, den Marx studiert und den sein Denken impliziert, beschränkt sich auf kein Fachgebiet. Die Genesis oder Genealogie des "Stadtwesens" (mit seinem Anhängsel, dem Zunftwesen) in Westeuropa, im Mittelalter, umfaßt eine Geschichte, eine politische Ökonomie, eine Politik, versteht sich jedoch nicht aus diesen Trennungen heraus. Dreimal haben wir mit Marx, ihm auf dem Fuße folgend, den Weg wieder zurückgelegt: die Genesis des "Stadtwesens" als Stufe einer breiteren Genesis, nämlich der des verallgemeinerten Tauschwertes, der Warenwelt und des Geldes, mit einem Wort, des Kapitals. Jedesmal hat sich der Begriff gleichzeitig gefestigt und erweitert; aber vor allem sind jedesmal Unterschiede aufgetaucht. Das Wiederholen der Wegstrecke hat keine tautologische Identität der mehr und mehr allgemeinen und leeren Wahrheiten erbracht, sondern im Gegenteil Unterschiede in dem ursprünglichen, unmittelbaren und naturwüchsigen Gemeinwesen, die so zahlreich sind wie die Sprachen, die Sitten, die Beziehungen zwischen den Mitgliedern der Gemeinschaft und der natürlichen Umwelt, Unterschiede, die zur Auflösung führen und von der Auflösung herrühren, der Auflösung des ursprünglichen Gemeinwesens (Stamm, Familie), der Gemeinde, die auf den Trümmern der antiken Stadt, der mittelalterlichen Stadt errichtet wurde, verschiedenen Entwicklungszügen, die einen zur Stagnation, die anderen zum Niedergang führend und wieder andere schließlich sich zur "Geschichte" hin öffnend und so die moderne Gesellschaft mit ihren untrennbaren guten und schlechten Seiten produzierend. Auf allen Stufen dieses erstaunlich vielseitigen Werdegangs, in jedem Augenblick wird ein schrecklicher "Auswahldruck" ausgeübt. Dieser Ausdruck ist nicht von Marx, aber er entspricht der Übersetzung seines Denkens in eine moderne Sprache; dialektisch gesehen kommt die Geschichte aus der Vorgeschichte; das soziale Wesen geht aus dem tierischen Wesen hervor; ein biologischer Begriff verdeutlicht also den Übergangsprozeß ziemlich gut. Herrliche Schöpfungen, prachtvolle Formen wurden einfach aufgelöst, zerstört, beseitigt: unter anderem die antike Stadt, die mittelalterliche Stadt (die orientalische Stadt erhielt sich im Verlaufe einer von der unsrigen verschiedenen weltlichen Macht). Diese Analyse des Werdegangs benutzt nur selten allgemeine oder Oberbegriffe wie "den Menschen" oder "die Produktionsweise". Wir weisen nochmals auf diesen Punkt hin. Die "Produktionsweise" als genau umrissener theoretischer Begriff, als Ausdruck, der eine Gesellschaft oder eine Gruppe von Gesellschaften bezeichnet, dieser Begriff und dieser Ausdruck erscheinen in Grundrissen weder anläßlich der orientalischen Gesellschaften, noch anläßlich der antiken oder mittelalterlichen europäischen Gesellschaften. Sie erschei- 75 nen nur bei den sogenannten primitiven Gemeinschaften (die von der Blutsverwandtschaft oder von dem Gebiet, dem Stamm oder den Familienbindungen bestimmt werden), aber in recht sonderbarer Weise. Jedes Gemeinwesen hat seine Produktionsweise, weil es seine Sprache, seine Sitten, sein weites oder begrenztes Gebiet, seine Haupttätigkeit (Jagd, Fischen, Viehzucht, Ackerbau, Familienindustrie mit sehr verschiedenen Kombinationen dieser Elemente) hat, kurz, eine unmittelbare Verbindung mit der Natur und all ihren Aspekten, biologisches und tierisches Leben, Naturschätze, verwandtschaftliche Bindungen usw. Der Ausdruck und der Begriff "Produktionsweise" werden erst in dem berühmten, im allgemeinen kommentierten Text, der als Zusammenfassung des marxistischen Denkens gilt, mit der Hätte und Starrheit, die wir nur zu gut an ihm kennen formuliert- In ihren großen Zügen erscheinen die asiatische, die antike, die feudale und die moderne bürgerliche Produktionsweise als progressive Epochen der ökonomischen Bildung der Gesellschaft. Die bürgerlichen Produktionsverhältnisse sind die letzte antagonistische Form des gesellschaftlichen Produktionsprozesses ... Mit diesem gesellschaftlichen System schließt also die Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft ab. Dieser Text jedoch, der so bekannt ist, daß kein Werk über Marx und den Marxismus darauf verzichten kann, ihn zu zitieren, erweckt große Ratlosigkeit und stellt vor unlösbare theoretische Probleme, sobald man ihn wörtlich nimmt. Das tun die scholastischen Kommentatoren seit dieser Beitrag zur Kritik der politischen Ökonomie in die marxistische Vulgata aufgenommen wurde, oder besser hineingeriet. 1. Wodurch und wie fügt sich die "asiatische Produktionsweise" in diese Phasen des Fortschritts ein ? Eine Frage ohne Antwort, die es lange Zeit (und vor allem während der stalinistischen Periode) möglich machte, die asiatischen Gesellschaften, ihre Entwicklungslinie und ihre Unterschiede (untereinander, sowie im Verhältnis zu den westlichen Gesellschaften) im Dunkeln zu lassen. 2. Als Entitäten, das heißt als Totalitäten genommen, sind die "Produktionsweisen" so festgelegt, daß der Übergang von einer zur anderen unverständlich wird. Die Übergänge verschwinden durch Verzauberung oder durch Gaukelspiel. Wenn man auf diese Weise vorgeht, löst die scholastische Lektüre Marx' Denken auf, Die Auslegung gibt sich gründlich. Sie verläßt sogar die Buchstäblichkeit, das eigentlich einzige Kriterium, obwohl man sie nicht mit einer Engstirnigkeit auffassen sollte, von der man glaubt, sie verbürge Orthodoxie. Marx beginnt in der Tat mit einer einschränkenden Klausel: In großen Zügen ... Wie soll man klarer ausdrücken, daß der Begriff der

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"Produktionsweise'' vereinfachend ist, daß er, sowohl in jeder Zeitspanne, wie für die Gesamtheit des Werdegangs nur allgemeine und einheitliche Züge 76 festhält? Er erlaubt es, die Zeitspannen zu ordnen, läßt jedoch die Unterschiede beiseite. 3. Dogmatisch dargestellt, tritt dieser Begriff mit der sehr klaren methodologischen Erklärung Marx' in Konflikt: "Dialektik der Begriffe Produktivkraft (.Produktionsmittel) und Produktionsverhältnis, eine Dialektik, deren Grenzen zu bestimmen und die realen Unterschiede nicht aufhebt" (s. S. 29). Das sind also die Gründe, weshalb wir auf diesen Seiten der Grundrisse nicht den abstrakten Aufbau von Entitäten, den "Produktionsweisen", miterlebten, sondern die Analyse eines Werdegangs, die Genesis eines dialektischen Prozesses, der den ganzen Umfang dieses Werdens von einer konfliktgeladenen Beziehung aus, nämlich der von Stadt und Land umfaßt, die potentiell seit den Ursprüngen vorhanden war, die aber aktuell wird, sich umwandelt, neue Formen erzeugt, von denen die einen verschwinden, die anderen sich bis zum geschichtlichen (oder "vorgeschichtlichen" - dieser Punkt bleibt im Dunkeln) Ausgang behaupten. Wie etabliert sich der Kapitalismus ? Seine Vorherrschaft ist das Ergebnis dieses langen, gleichzeitig ökonomischen und politischen Prozesses (S. 407 ff.). Sie hat keinen bestimmten Zeitpunkt; man kann nicht nach Art des geschichtlichen Denkens und so, als ob das Kapital eine Geschichtskategorie wäre, sagen: "Von diesem Augenblick an gab es, gibt es den Kapitalismus". Die Bildung des Kapitals und des Kapitalismus durchläuft eine Phase der "ausdrücklichen Unterwerfung der Arbeit unter das Kapital". Dieses, das heißt, die im Besitz der Bourgeoisie befindliche Großindustrie, unterwirft sich den bestehenden Produktivkräften, Kräften, die noch nicht den kapitalistischen Produktionsverhältnissen und der kapitalistischen Produktionsweise: Handwerk, Gewerbebetrieben, stets sehr unterschiedlichen Einheiten der landwirtschaftlichen Produktion und des Handelsaustausches entsprechen. Der wesentliche Faktor im Laufe dieser Umwandlung bleibt die unmittelbare Arbeit wie man sie im Handwerk und in den Gewerbebetrieben antrifft, die sich die große industrielle Produktion schließlich einverleibt. Der Kapitalismus findet diese schon vorhandenen Elemente vor und bildet sich, indem er sie sich unterwirft. In den meisten Fällen beschleunigt und verstärkt das politische Eingreifen den wirtschaftlichen Prozeß und vervollständigt so die Ausweitung des Marktes, die Konzentration des Kapitals. Lange Zeit steht das vorhandene Kapital erst am Anfang und die mittlere Profitrate kann nicht einmal in Erscheinung treten, weil es noch keine Konkurrenz der Kapitalien auf dem Kapitalmarkt gibt, sondern nur Konkurrenz auf dem Warenmarkt. Die Mehrwertrate (die Beziehung zwischen den Gewinnen und den Löhnen) hat während dieser Zeitspanne größere Bedeutung als die Profitrate. Während dieses Prozesses spielt die Stadt eine ungeheure Rolle, sowohl in der Unterordnung der vorhandenen Produktivkräfte unter das Kapital, wie als Ort der Kapitalakkumulation, der Ausweitung der Märkte, der Bildung der 77 mittleren Profitrate und schließlich der politischen Interventionen. Am Ende des Prozesses stellt sich alles als Produktivkraft des Kapitals und nicht mehr der Arbeit dar. Man darf jedoch nicht anhand der vorangegangenen Betrachtungen extrapolieren und die konfliktgeladene Beweglichkeit der sozialen Beziehungen daraus ableiten, daß man dem Bild feststehende Produktionsweisen und erstarrte Strukturen gegenüberstellt. Dadurch würde man wiederum das dialektische Denken nach Marx ausschalten und einen Irrtum durch die entgegengesetzte Illusion ersetzen. Es steht fest, daß die Beziehung Stadt-Land eine soziale Beziehung ist. Sie impliziert die konfliktgeladenen Beziehungen: Natur -Gesellschaft, Unmittelbarkeit - Vermittlung. Sie entwickelt und verändert sich. Der sie bezeichnende theoretische Begriff hat eine spezifische Eigenschaft; er ist eine geschichtliche Kategorie. Man kann also, Marx folgend denken, daß die Weltgeschichte mit der Stadt, aus der Stadt und in der Stadt geboren wurde: der orientalischen, antiken, mittelalterlichen Stadt. Bis zum Beginn des Kapitalismus. Der Gegensatz Stadt-Land war lange Zeit (von den Ursprüngen bis zur Bildung der Bourgeoisie, zur Vorherrschaft des Handelskapitals und der Manufaktur) ein tiefer, hauptsächlicher, wesentlicher Gegensatz für eine beträchtliche Anzahl von geschichtlichen, das heißt trotz ihres Glanzes untergegangenen Gesellschaften. Bleibt er während des Aufstiegs des Kapitalismus der hauptsächliche Gegensatz? Nach Marx' Ansicht nicht. Er ordnet sich anderen Gegensätzen unter, besonders denen, die aus dem Produktionsverhältnis hervorgehen: Kapital - Arbeitslohn, das heißt dem Mehrwert, seiner Bildung wie seiner Verteilung und folglich den Klassengegensätzen. Zudem stumpft der gegensätzliche Charakter der Beziehung Stadt-Land ab. Die Stadt trägt den Sieg über das Land davon, die Gesellschaft den Sieg über die ursprüngliche Natur. Die frühere Lage wird mit dem Aufstieg der städtischen Bourgeoisie umgekehrt. Die Stadt wird das Land verstädtern; vom Mittelalter an ist dieses beachtliche Ergebnis der Geschichte zur Tatsache geworden. Marx wollte zeigen, daß das geschichtliche Werden von seinen schlechten Seiten aus "vorwärtsschreitet". Gewiß, es gibt ein Wachstum der Produktivkräfte, der sozialen Kraft über

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die Natur. Diesem Wachstum entspricht die Bildung einer entgegengesetzten Macht, die auf der ganzen Gesellschaft und besonders auf der Arbeit und den Arbeitern lastet. Wenn sich auch ungeheure Möglichkeiten eröffnen, so gibt es doch nicht weniger Unterdrückung. Worin besteht diese Macht? Wie soll man sie nennen? Objektiv heißt sie "Kapital" und subjektiv "Bourgeoisie"; aber vorn Standpunkt der Erkenntnis aus trägt sie einen anderen Namen, den die Allerwelts-Ideologie aufzuwerten versucht. Sie heißt politische Ökonomie. 78 Mit den Produktivkräften verbunden und selbst eine Produktivkraft ist die Stadt der Sitz des Ökonomischen und seiner entsetzlichen Macht. In ihr hat im Laufe der Geschichte (ihrer Geschichte) der Tauschwert langsam den Gebrauchswert besiegt; dieser Kampf stand auf den Mauern der Stadt, auf den Bauwerken, auf den Straßen geschrieben; die Städte tragen seine Spuren und legen Zeugnis von ihm ab. Ebenso ist die Stadt der Sitz der politischen Macht, welche die wirtschaftliche Macht des Kapitals sichert und das (bürgerliche) Eigentum der Produktionsmittel schützt und lenkt, indem es ihm Ausschreitungen und Gewalt verbietet. Der Staat verfügt über viele Mittel: die Armee, die Polizei, aber auch die politische Ökonomie und die Ideologie (die nicht hinzukommt, denn für Marx ist die politische Ökonomie bereits ideologisch, was nicht heißen soll, daß sie völlig wirkungslos ist). Die Stadt ermöglicht auch den politischen Kampf gegen die politische Macht durch das Zusammenscharen der Bevölkerung durch die Konzentration der Bedürfnisse, der Forderungen, der Bestrebungen mit Hilfe der Produktionsmittel. In dieser Hinsicht enthält sie einen Widerspruch, der nicht verschwinden, der sich sogar noch vertiefen kann, der aber nicht mehr als Mittelpunkt (Triebkraft) gelten kann. Man könnte annehmen, daß Marx nach Grundrisse sozusagen im selben Zuge fortfährt und die geschichtliche Vision verlängert, akzentuiert. Er hätte tatsächlich annehmen können, daß die Geschichte das Ökonomische umgrenzt, ablenkt, umwendet, da das Werden seine unwiderstehliche, Hindernisse hinwegfegende Macht entfaltet. Sicherlich war Marx kurze Zeit dieser Auffassung (zwischen 1845 und 1848). In dieser Perspektivierung konnte er die hegelianischen Begriffe verlängern und glauben, daß die (französische) Revolution den Staat geschaffen hat, daß die (proletarische) Revolution diesen Staat vernichten wird. Er konnte auch denken, daß der Konflikt "Gesellschaft - Natur" eines Tages wieder auflodern, einen neuen Erfolg erleben und einen überraschenden Mißerfolg bezeichnen könnte. Mit Sicherheit hat Marx diese Möglichkeiten in Betracht gezogen; vereinzelte Fragmente beweisen es; er hielt sie nicht zurück. Warum nicht ? Im Kapitalismus ist die politische Ökonomie etwas Wesentliches. Es handelt sich nicht um ein zufälliges Ergebnis des geschichtlichen Werdegangs, das dieser Werdegang überwinden wird wie ein Wildbach einen Damm mitreißt. Das Problem ist vielgestaltiger. Die historischen Gesellschaften hatten selbstverständlich ihre wirtschaftliche Grundlage gehabt; es gibt keine Gesellschaft ohne "Produktion" im engen Sinne des Wortes; und doch waren in den vergangenen Gesellschaften die wirtschaftlichen nicht die wichtigsten sozialen Beziehungen. Nehmen wir die mittelalterlichen Gesellschaften. Die hierarchischen Beziehungen waren auf wirtschaftlicher Grundlage aufgebaut, ohne sich auf diese zu beschränken; die auf der Gewalt zwischen Herren und Vasallen beruhenden Beziehungen waren "außerökonomisch", da sie es ermöglichten, 79 durch einen direkten Druck ein Mehrprodukt aus der landwirtschaftlichen und handwerklichen Arbeit zu erheben, was die ökonomischen Einrichtungen (der Markt, das Geld, die nach und nach auftauchten, aber zu Anfang nicht vorhanden waren) nicht erlaubten. Kurz, in ihrem ursprünglichen und heftigen, noch natürlichen Charakter verstehen sich die charakteristischen gesellschaftlichen Beziehungen der mittelalterlichen Gesellschaften für Marx als persönliche, unmittelbare, also durchsichtige Beziehungen (siehe insbesondere Das Kapital 1, IV, Band I, S. 93) (13). Ebenso war es mit den gesellschaftlichen Beziehungen in der Stadt und den Beziehungen zwischen Stadt und Land. Trotz ihres konfliktgeladenen Charakters, oder vielmehr wegen dieses Charakters und seiner Unmittelbarkeit waren die Beziehungen durchsichtig, trotz der Masken und Verkleidungen, welche die Rollen, den Stand der Leute, die gesellschaftlichen Statuten verrieten. Diese Gesellschaften hatten eine ökonomische Grundlage, aber die Strukturen und der überbau enthielten, ohne sich von der Grundlage befreien zu können, ein gewisses Maß an Freiheit, das seitdem verlorengegangen ist. Daher kommt die Bedeutung und das Interesse der Philosophie, der Erkenntnis, des Rechts und der Logik, einer zweideutigen Mischung von Wissenschaft und Ideologie, der Religion selbst, in diesen Gesellschaften. Im Kapitalismus wirkt die ökonomische Grundlage bestimmend. Das Ökonomische ist beherrschend. Die Strukturen und der überbau bestimmen die Produktionsverhältnisse (was keineswegs Verspätungen, Verschiebungen, Mißverhältnisse ausschließt). Die Konflikte selbst kommen von den Produktionsverhältnissen. Insofern es in dieser Gesellschaft eine Kohärenz gibt (ohne die sie zusammenfiele oder vielmehr, ohne die sie sich nicht hätte bilden können), insofern es der inneren Kohärenz, ohne die Widersprüche aufheben zu können, gelingt, die Wirkungen abzuschwächen oder zu verzögern, besteht eine "Produktionsweise" und

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sogar ein "System". Der Reichtum der Gesellschaften "in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht, erscheint als eine ungeheure Warenansammlung", so beginnt Das Kapital mit Bezug auf die frühere Kritik der politischen Ökonomie. Mit der Bourgeoisie hat der Tauschwert den Gebrauch und den Gebrauchswert besiegt; sie behandelt diese wie einen Dienstboten, wie einen Sklaven. Gleich welchen Ursprungs das Bedürfnis ist, welches der Gegenstand befriedigt, ob es dem Magen oder der Phantasie entspringt, Hauptsache ist, das Ding wird verkauft und gekauft. Die Bourgeoisie hat die politische Ökonomie erfunden; sie ist ihre Voraussetzung, ihr Handlungsmittel, ihr ideologischer und wissenschaftlicher Mittelpunkt. Folglich muß man sie auf diesem, ihrem eigenen Gebiet angreifen. Das erfordert Mut und birgt Gefahren wie jeder Kampf auf feindlichem Boden; man kann sich, um seine Postulate zu (13) Karl Marx - Friedrich Engels Werke Band 23, Dietz Verlag Berlin, 1962 80 bekämpfen, von diesen beeinflussen lassen. Die geschichtlichen Kategorien ordnen sich nichtsdestoweniger den ökonomischen Kategorien unter. Der Ernst dieser Lage und der theoretischen Entscheidungen, die er fällen mußte, erklären Marx' Zögern; er mußte die Niederlagen der Revolution von 1848, den steilen Aufstieg des Kapitalismus in Europa, der einen Sieg des Ökonomischen über das Geschichtliche anzeigte, berücksichtigen. Die Kritik der politischen Ökonomie vollzieht sich weder durch die Geschichte, noch im Namen der Geschichte (als Werdegang und/oder als Wissenschaft). Sie muß innerhalb der politischen Ökonomie stattfinden; die revolutionäre Tat muß das System von innen heraus zersprengen (was Widersprüche zunächst innerhalb der Produktionsverhältnisse und dann zwischen den Produktionsverhältnissen und der Produktionsweise impliziert). In dieser Perspektive, in diesem Licht, liefert die Stadt den Hintergrund; auf dem Hintergrund spielen sich viele Ereignisse und bedeutsame Geschehnisse ab, welche die Analyse aus einer verhältnismäßig gleichgültigen Szenerie hervorhebt. Die Stadt ist hier ständig die Szenerie, auf der die ökonomischen Kategorien, der Arbeitslohn und das Kapital, das Mehrprodukt und der Mehrwert ihr Drehbuch und ihre Dramen aufführen. Um diesen Hintergrund kümmert sich das Denken ziemlich wenig. Manchmal tritt der geschichtliche Hintergrund plötzlich in den Vordergrund. Er stellt einige Probleme. Finden wir hier nicht schon die Bedeutung des wohlbekannten methodologischen Fragments, das die Grundrisse eröffnet (S. 21) ? "Wenn wir ein gegebenes Land politischökonomisch betrachten, so beginnen wir mit seiner Bevölkerung, ihrer Verteilung in Klassen, Stadt, Land, See, den verschiedenen Produktionszweigen, Aus- und Einfuhr, jährlicher Produktion und Konsumtion, Warenpreisen etc." Nicht ohne eine gewollte, weil ironische Unordnung zählt Marx das auf, was der gewöhnliche Ökonom aufzählt, der sich damit begnügt zu beschreiben und das Bestehende dadurch bestätigt, daß er es als eine "vollendete Tatsache" betrachtet. Nun kann man zwar nicht ohne Tatsachen auskommen, aber die Feststellung kann nur als ein unzulänglicher Schritt des Denkens angesehen werden! "Es scheint das Richtige zu sein mit dem Realen und Konkreten, der wirklichen Voraussetzung zu beginnen", aber man bemerkt den Irrtum schnell. Wenn man sich daran hält, verwechselt man das Konkrete und das Unmittelbare, das Wissen und das Beschreibende, das Wirkliche und das Gegebene. "Die Bevölkerung ist eine Abstraktion, wenn ich z.B. die Klassen, aus denen sie besteht, weglasse. Diese Klassen sind wieder ein leeres Wort, wenn ich die Elemente nicht kenne, auf denen sie beruhen, z.B. Lohnarbeit, Kapital etc. Diese unterstellen Austausch, Teilung der Arbeit, Preise etc." Die richtige Methode wird also von Abstraktionen ausgehen, jedoch von wissenschaftlichen Abstraktionen* von abstrakten allgemeinen Beziehungen wie 81 der Arbeitsteilung, dem Wert, dem Geld. Von diesen Begriffen aus, die Beziehungen zum Inhalt haben, wird das Denken eine Genesis des Konkreten versuchen (die dieses Konkrete, Produkt des Denkens, erreichen wird, indem sie es definiert, anstatt es zu Beginn aufzustellen und vorauszusetzen). Die Methode wird zugleich das Ineinandergreifen der Begriffe und die Begriffe selbst hervorbringen. Sie wird durch das Erfassen ihrer Unterschiede die Inhalte wiederfinden, die zunächst durch die Reduktion, welche wirre Visionen ausschließt und sie durch die Beschreibung und die Analyse ersetzt, beiseitegeschoben wurden. So findet man, von dem allgemeinen Begriff Arbeit ausgehend, die Rolle und sogar die Darstellung der produktiven Arbeit in den verschiedenen Gesellschaften (einschließlich den Vereinigten Staaten und Rußland, s. S. 25) wieder. Man schafft den Begriff der Stadt, ihre Beziehung zum Land, ihre Konflikte und die Modalitäten dieses Konfliktes (S. 28). So entwickelt sich, der politischen Ökonomie als Wirklichkeit und als Wissenschaft innewohnend, die Kritik der politischen Ökonomie. Diese begnügt sich nicht mit einer Kritik der bürgerlichen politischen Ökonomie; sie zeigt, daß jede politische Ökonomie im Grunde bürgerlich ist. Sie übt Kritik an jeder politischen Ökonomie, sowie die marxistische Kritik des Staates für jeden Staat gilt und gegen jeden Staat gerichtet ist und nicht nur gegen den

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bürgerlichen. Denn jeder Staat ist ein Staat der Klasse, der herrschenden Klasse; dieser Apparat ermöglicht es ihr, die Gegensätze durch die Ideologie zu verschleiern und ihre Folgen durch Zwang zu unterdrücken. Diese Haltung hat Folgen: Das Ende der politischen Ökonomie, das nicht von dem Ende des Austauschs (und dem dem Austausch gegenüberstehenden Verbrauch) zu trennen ist - das Ende der Arbeit (und der Freizeit) - das Ende der Stadt (und des Landes). Sie bringt etliche Schwierigkeiten mit sich. 82 Das Kapital und der Grundbesitz Von Grundrisse zum Kapital ändert sich das Bild, aber es ist keine einfache Abwandlung., Die in Grundrisse nicht ohne eine gewisse Unordnung enthaltenen methodologischen und theoretischen Einblicke werden bestätigt. Die kritische Erkenntnis, die nach Marx die wahre Wissenschaft bildet, (die wahre, von der Ideologie befreite Wissenschaft), beginnt hier; sie weiß, wo und wie sie vorgehen, an wen sie sich wenden muß. Dagegen steht ein offensichtlicher Verlust: die Unterschiede werden weniger betont, weniger beleuchtet und hervorgehoben. Andererseits wird der Aufbau mit größerer Strenge durchgeführt, die schon am Anfang impliziert ist: die reine Form. Das Kapital beginnt in der Tat nach den methodologischen Vorlagen der Grundrisse mit Allgemeinheiten, aber es sind nicht mehr ganz dieselben. Die in Grundrisse enthaltenen Allgemeinheiten sind Inhalte, die vom Denken als allgemein festgehalten wurden: die Produktion, die Produktionsstufen, die Art, wie die Mitglieder einer Gesellschaft die Naturprodukte ihren Bedürfnissen anpassen (gestalten) usw. Diese den Inhalten entlehnten Allgemeinheiten sind nicht falsch; sie bleiben im Rahmen des Alltäglichen (s. Grundrisse S. 10 ff.). Diese Banalitäten können nicht von dem Hin- und Herschwanken zwischen dem Subjekt (dem Menschen, dem Individuum, der Gesellschaft usw.) und dem System (der Verbindung zwischen produzieren und verbrauchen, zwischen Bedürfnissen und Befriedigungen, zwischen den Objekten und den Subjekten, zwischen den Strukturen und den Funktionen) befreit werden (s. S. 20 ff.). Wiederholen wir es noch einmal: Das Kapital geht ausdrücklich von einer durch Vereinfachung vollkommen von jeglichem Inhalt gereinigten Form aus. Eine subtile Abstraktion von geradezu theologischer Schwierigkeit, obwohl sie gerade einen äußerst wissenschaftlichen Charakter hat; definiert sie nicht für Marx das wissenschaftliche Denken selbst ? "Aller Anfang ist schwer, gilt in jeder Wissenschaft. Das Verständnis des ersten Kapitels, namentlich des Abschnitts, der die Analyse der Ware enthält, wird daher die Meiste Schwierigkeit machen ... Die Wertform, deren fertige Gestalt die Geldform, ist sehr inhaltslos und einfach. Dennoch hat der Menschengeist 83 sie seit mehr als 2000 Jahren vergeblich zu ergründen versucht - . . Mit Ausnahme des Abschnitts über die Wertform wird man daher dies Buch nicht wegen Schwerverständlichkeit anklagen können. ich unterstelle natürlich Leser, die etwas Neues lernen, also auch selbst denken wollen. Was ich in diesem Werk zu erforschen habe, ist die kapitalistische Produktionsweise und die ihr entsprechenden Produktions- und Verkehrsverhältnisse." (Vorwort der deutschen Ausgabe). Wir sind scheinbar von dem Thema Stadt-Land, ihrer sozialen Beziehung, den Problemen, die es aufwirft, abgekommen. Ein Abschweifen, das mehr scheinbar als wirklich ist. Diese Beziehung gehört zu den Inhalten, welche die ursprüngliche Reduktion vermeidet, jene Reduktion, die die reine Form der gesellschaftlichen Beziehungen freimacht: die Form des Austauschs. Dennoch, wenn der Verfasser des Kapitals seine Verpflichtung einhält, muß er am Ende einer gewissen theoretischen Wegstrecke die betrachtete Beziehung wiederfinden, sie als gesellschaftliche Beziehung in die Produktionsweise, die selbst als ein Ganzes betrachtet wird, das jedoch Kräften der Auflösung, des Auseinanderfallens, der Überschreitung preisgegeben ist, einordnen. Von diesem "reinsten", einfachsten Anfang aus müssen die Subjekte (insofern sie vorhanden sind) und die Systeme (insofern sie ... ) die Funktionen und die Strukturen, die im Laufe einer Genesis herausgearbeitet wurden, aufeinandertreffen. Vor mehr als einem halben Jahrhundert fand Lenin, daß noch niemand Das Kapital richtig gelesen und verstanden habe, weil noch niemand die Hegel'sche Dialektik richtig verstanden habe. Seiner Ansicht nach fehlte den Lesern des großen Werkes von Marx also die begriffliche Ausrüstung. Fünfzig Jahre später kann man sich fragen, ob die begriffliche Ausrüstung nicht zu groß ist. Man kommt zu Marx, den Geist übervoll von Auslegungen; man befragt ihn, um seine Antwort sogleich durch das zu ersetzen, was dem Fragenden durch den Kopf geht. Das ist sogenanntes symptomatisches Lesen. Wortgetreues Lesen wäre zweifellos besser, wenn es nicht die Leseart der orthodoxen Kommentatoren wäre, die das marxistische Gelände umgraben, um die immer gleichen Zitate herauszuholen. Sie tun einen langen Dienst. Hier ist nicht der Ort, die Methode des Kapitals oder seiner Lektüre wiedereinmal darzulegen. Das Wichtigste ist wohl, seiner Bewegung zu folgen, den Weg bis zum Ende zu durchlaufen. Marx hielt es nicht

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ohne Grund für gut, von der Form auszugehen, die so lauter ist, daß sie der vollkommen "reinen" Form, der logischen Form, derjenigen, welche die formale Logik untersucht, benachbart ist (14). Diese Form des Austauschs von materiellen Dingen ist (14) siehe H. Lefèbvre, Logique formelle, Logique dialectique, die den Prozeß des Reduzierens und der Wiederherstellung des Inhalts (re-saisie) im einzelnen darstellt. 84 ebenfalls der Form des mündlichen Austauschs und der mündlichen Mitteilung, der Sprache, benachbart. Das ermöglicht es Marx, die Verknüpfungen, die sie in (fast) vollkommen logischer Weise impliziert, zu zeigen. Das ermöglicht es ihm auch, von diesem Anfang aus eine theoretische Ausführung, eine Verkettung von Begriffen zu erarbeiten, der die Gesamtheit der kapitalistischen Gesellschaft bis ins Einzelne umfassen soll, wobei er im Vorübergehen - an gegebener Stelle - die Aspekte des Inhalts erfaßt: von der sozialen Arbeit bis zur Familie, von dem Unternehmen bis zur Nation, von dem Mehrwert bis zur Beziehung Stadt-Land usw. Diese theoretische Ausführung im Denken Marx' vereint das Wissen und die Revolution. Er vermittelt das Wissen von der bürgerlichen Gesellschaft und der politischen Ökonomie (die von der Bestimmung her kapitalistisch ist), ein Wissen, das gleichzeitig kritisch und konkret ist. Es ist die theoretische Revolution. Beiläufig berührt er die triviale Ausführung des täglichen Lebens und der Warenwelt, des einzelnen Kapitalisten mit den entsprechenden Modalitäten des Bewußtseins, des Wissens und der Ideologie. Er zerstreut auf seinem Weg diese Signifikanten, um eine rationelle Verknüpfung der Bedeutungen aufzustellen, die nicht mit dem "Wirklichen" wie es den in der Wirklichkeit Lebenden erscheint, übereinstimmt, die sie aber erhellt, indem sie sie schon jetzt von einer undurchsichtigen in eine durchsichtige Wirklichkeit verwandelt, die sich der Tat öffnet, welche sie zerstören wird. Diese theoretische, die Ideologie zerstörende Ausführung setzt (laut Marx, scheint es) keine besondere Kompetenz voraus. Um ihr zu folgen genügt es, die Begriffe verknüpfen und sich zur Abstraktion erheben zu können. Wenn Lenin das Wissen überschätzt, wenn er behauptet, daß Marx nur bewährten Dialektikern zugänglich sei, kann man umgekehrt glauben, daß die Hypothese, derzufolge die begriffliche Verknüpfung und die Verknüpfung der Worte in der Umgangssprache einander nahestehen, ein wenig zu optimistisch ist. Wir wollen den Weg in etwas anderer Weise gehen, um seine Richtung deutlich zeigen zu können. Stellen wir uns jemanden mit gesundem Menschenverstand vor, einen "Empiriker" also, der zu verstehen versucht, was um ihn herum vorgeht. Er wird die Gegenstände, die Dinge zählen: dieser Tisch, dieses Bett, diese Butter, dieser Zucker usw., oder diese Häuser, diese Straßen, diese Bauwerke. Er wird eine Liste der Gegenstände aufstellen. Seine Untersuchung weiter verfolgend, wird er nach dem Preis dieser Gegenstände fragen; er kann bei den Händlern die Preisschilder auf diesen lebensnotwendigen Dingen lesen; er wird also seine Liste der Gegenstände und seine Preisliste auf dem Laufenden halten. Weiterhin wird er die Bedürfnisse suchen, die durch diese Dinge befriedigt werden. Danach kann er, laut Marx, eine Abhandlung über politische Ökonomie in der allgemeinen und nicht in 85 der kritischen Bedeutung schreiben; es wird eine Verherrlichung der bestehenden Gesellschaft sein. Dieser "Gelehrte" (der tatsächlich viele Dinge wissen kann!) wird jedoch nirgends eine Beziehung zwischen Gegenständen, zwischen Währungseinheiten erfassen. Er wird sie aufzählen und gruppieren, nachdem er sie einzeln berücksichtigt hat. Er wird nicht wissen, warum und inwiefern ein Gegenstand eine gewisse Summe Geld "wert" sein kann; er wird niemals wissen, daß er es nicht weiß. Noch weniger wird er wissen, inwiefern und warum zwei Gegenstände (oder mehrere) dieselbe Summe Geld wert sein können und umgekehrt, warum und inwiefern ein Gegenstand mehrere Summen Geld wert sein kann, wenn sich sein Preis ändert. Er wird nur ökonomische Tatsachen gesehen haben und nirgendwo eine gesellschaftliche Beziehung. Marx hingegen zeigt Beziehungen. Und zudem enthält die "Sache", der Gegenstand, eine erste Beziehung. Es ist eine doppelte Beziehung, die sogleich ins Auge fällt, obwohl man es der Form der Austauschbarkeit" nicht sogleich ansieht, daß sie eine "gegensätzliche Warenform" ist (siehe Kapital 1. Band, S. 82 und Anmerkung). Nur die Analyse entdeckt, was vor Augen steht; nur die Erkenntnis kann diese Sache entschleiern. Sie impliziert Gebrauchswert und Tauschwert. Der Gebrauchswert entspricht dem Bedürfnis, der Erwartung, der Wünschbarkeit. Der Tauschwert entspricht dem Verhältnis dieser Sache zu den anderen Sachen, zu allen Gegenständen und allen Sachen in der "Warenwelt". Diese "Warenwelt" hat ihre Logik, ihre Sprache, welche die theoretische Ausführung trifft und "versteht" (wobei sie folglich ihre Vorspiegelungen zerstreut). Mit ihrer inneren Kohärenz will sich diese Welt spontan (automatisch) grenzenlos entfalten; sie kann es. Sie verbreitet sich über die ganze Welt; so entsteht der Weltmarkt. Alles wird verkauft und gekauft, in Geld bewertet. Alle von ihr

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hervorgebrachten Funktionen und Strukturen gehen auf diese Welt über und unterstützen sie. Und doch kann diese Welt nicht zum Abschluß kommen. Ihrer Kohärenz sind Grenzen gesetzt, ihre Ansprüche enttäuschen diejenigen, welche auf den Austausch und den Tauschwert als Absolutum bauen. In der Tat entgeht eine Ware der Warenwelt: die Arbeit, oder vielmehr die Arbeitszeit des (proletarischen) Arbeiters. Er verkauft seine Arbeitszeit und bleibt - im Prinzip - frei; selbst wenn er glaubt, seine Arbeit und seine Person verkauft zu haben, verfügt er über Rechte, Fähigkeiten, Kräfte, welche die absolute Vorherrschaft der Warenwelt über die ganze Welt unterhöhlen. Durch diese Lücke können die beiseitegeschobenen "Werte", der Gebrauchswert, die Beziehungen freier Vereinigung usw. zurückkehren. Es ist keine zufällige Lücke, vielmehr setzt sich der Widerspruch innerhalb des Zusammenhaltes des Kapitalismus fest. Der Mehrwert erscheint auf mehreren Ebenen. Zunächst auf der Ebene des einzelnen Arbeiters; er produziert während der Arbeitszeit, die er dem 86 Kapitalisten liefert mehr als er von diesem in Form von Geld mit dem Lohn bekommt, wobei der Unterschied gerade die soziale Produktivität der Arbeit bildet. So ist die Struktur des Kapitalismus. Zweitens erhalten die Kapitalisten auf der Ebene des Unternehmens oder des Industriezweiges ihren Anteil an dem gesamten Mehrwert nach dem entsprechenden Anteil des investierten Kapitals, wenn die Tendenz zu der Bildung einer mittleren Profitspanne vorhanden ist. Drittens, auf der Ebene der ganzen Gesellschaft, das heißt des Staates, erhebt dieser einen bedeutenden Teil des gesamten Mehrwerts (auf verschiedene Weise: Steuern, staatliche Unternehmungen), und wirkt so stark auf seine Verteilung zwischen den Klassenschichten und -teilen der bürgerlichen Gesellschaft ein; insbesondere verwaltet er die großen, für eine Gesellschaft unentbehrlichen öffentlichen Dienste, welche die Gesellschaft ausmachen, ohne sich jedoch mit dem ökonomischen Verhältnis Produktion - Verbrauch, der Grundlage der bürgerlichen Gesellschaft, zu decken. Es sind dies die Schule und die Universität, der Verkehr, die Medizin und die Krankenhäuser, die "Kultur" und somit die Stadt. Das Kapital untersucht nacheinander: a) Die Bildung des Mehrwerts durch die Arbeit und die Mehrarbeit (welche die Akkumulation des Kapitals ermöglichen). Die Kapitalisten im allgemeinen und jeder Kapitalist im besonderen bemühen sich, ihre Profite, das heißt ihren Anteil am Mehrwert, mit verschiedenen Mitteln zu vergrößern: Verlängerung des Arbeitstages, Erhöhung der Produktivität, technische oder organisatorische Verbesserungen, Beschleunigung des Kapitalumlaufs. Das stellt sie vor schwierige Probleme, vor allem hinsichtlich der Mehrproduktion. b) Die Realisierung des Mehrwerts: tatsächlich muß die Zirkulation GWG (Geld, Ware, Geld) so schnell wie möglich vollzogen und abgeschlossen werden. Wenn das Geld zu Kapital geworden ist, wird es investiert; die damit in Bewegung gesetzte Arbeit produziert Waren, diese Waren müssen wieder in Geld umgetauscht, das heißt verkauft werden, um Profit zu erzielen. Verkaufen, verkaufen, um den Profit (den Mehrwert) zu realisieren, diese Sorge treibt den einzelnen Kapitalisten an, stachelt die Kapitalisten und ihre Verwalter als Klasse auf, verleiht ihnen eine Art Genius. Jeder Kapitalist möchte diese unerbittliche Notwendigkeit überwinden, weil er wünscht, daß sein Geld direkt Geld produziere. Zum Beispiel durch Spekulationen (mit Grundstücken, mit Börsenaktien usw.). Dieses glückliche Geschick erfahren nur wenige Kapitalien; einige Exzesse in dieser Richtung zerstören das System. Im allgemeinen müssen der Kapitalismus und die Kapitalisten diesen Kreislauf, diesen wunderbaren circulus vitiosus (G-W-G-W-G usw.) immer aufs Neue wiederholen. Er ist ihr Sisyphusfelsen. c) Die Verteilung des Mehrwerts. Jeder Kapitalist verfährt mit seinem investierten Kapital wie mit einer Pumpe, welche den Mehrwert in der Masse ansaugt. Nur scheinbar beutet der Kapitalist "seine" Arbeiter und Ange- 87 stellten aus. In Wirklichkeit beutet die Klasse der Kapitalisten, das heißt die Bourgeoisie, die Gesamtheit der Gesellschaft einschließlich der Nicht-Proletarier, Bauern, Angestellten usw. aus; aber zuerst und direkt das Proletariat. Die Masse des Mehrwerts wird unter ihre verschiedenen Teile einschließlich die Grundbesitzer, die Kaufleute, die sogenannten freien Berufe usw. verteilt. Diese Verteilung wird auf globaler Ebene vorgenommen. Der Staat überwacht sie und verhindert allzu große Exzesse. Außerdem erhebt er, besonders durch das Steuersystem einen beträchtlichen Teil des Mehrwerts, um das Leben der Gesellschaft, das Wissen und den Unterricht, die Armee und die Polizei, die Bürokratie und die Kultur usw. zu unterhalten. Man weiß, daß der kapitalistische Staat der Kultur wenig Geld zugesteht, denn die Bourgeoisie legt nur Wert auf ihre wirtschaftlichen Grundlagen, und im übrigen unterhält sie nur die Kultur, die für die bürgerliche Gesellschaft nutzbar und integrierbar ist. Die sozialen Bedürfnisse werden von dem kapitalistischen Staat nur nach den Bedürfnissen der Bourgeoisie gehandhabt. Das kontraktliche (rechtliche) System, das der Staat als (politische) Macht aufrechterhält und vervollkommnet beruht auf dem Privateigentum des Bodens (unbeweglicher Besitz) und des Geldes (beweglicher Besitz). Diese ineinandergreifenden Analysen bilden ein vollständiges (kritisches) Exposé der bürgerlichen Gesellschaft und des

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Kapitalismus. Die rationelle und damit (laut Marx) revolutionäre Ausführung reicht vom logischen Anfang bis zum Ende der Wegstrecke. dem Funktionieren der bürgerlichen Gesellschaft. Am Ende des Weges wird das Konkrete, das heißt die soziale Praxis sichtbar, die zu Beginn als zu entziffernder Text vorhanden ist und am Ende als bekanntes Ganzes (entschlüsseltes Ganzes, würden gewisse moderne Geister sagen). Dagegen suchen die meisten Leser und vor allein die "gelehrten" Leser das, was ihnen gefällt und finden es hier und da, mal am Anfang des Werkes (Theorie der Ware und des Warenfetischismus), mal in den weiteren Kapiteln (in der Klassentheorie), selten aber am Ende, in der Theorie der sozialen Gesamtheit, ihrer immanenten Tendenz (zur monopolistischen Konzentration der Kapitalien und/oder zur Vorherrschaft einer auf die Tat der Arbeiterklasse gestützten planenden Rationalität). Auf eine weitere Schwierigkeit muß hier noch hingewiesen werden. Das Werk ist trotz seines Umfanges unvollendet. Die Theorie der Verteilung des Mehrwerts, die das Ganze krönen sollte, läßt den Leser unbefriedigt. Sie zeigt weder die "Subjekte" (die Klassen und Klassenteile) deutlich, noch die geschaffene Produktionsweise (die als solche gut definiert ist), noch die Systeme und Unter-Systeme, die sie umfaßt (rechtliche, steuerliche, kontraktliche usw.). Inwiefern betrifft uns diese Unvollendung? In folgendem äußerst wichtigen Punkt. Die marxistische Theorie des Grundeigentums im Kapitalismus ist nicht vollständig. Wie und warum besteht eine Klasse von Eigentümern unbe- 88 weglicher Güter im Kapitalismus fort, wo der bewegliche Besitz stark vorherrscht ? Woher kommt die Grundrente ? Was impliziert sie ? Diese Frage umfaßt die Fragen der Landwirtschaft, der Viehzucht, der Bergwerke, der Gewässer und natürlich des bebauten Gebietes der Städte. Über diesen Punkt, dessen Bedeutung man gar nicht hoch genug ansetzen kann, muß man die Angaben Marx festhalten und sammeln, um sie interpretieren zu können. Und nun kehren wir wieder zur Stadt zurück. Der Begriff als solcher gehört der Geschichte an. Es ist eine geschichtliche Kategorie. Nun wissen wir aber schon, daß die geschichtliche Analyse und Darstellung des Kapitalismus die Geschichte und die geschichtlichen Kategorien implizieren, sie aber dem Ökonomischen und den ökonomischen Kategorien (Begriffen) unterordnen. Und das aufgrund der inneren Struktur des Kapitalismus selbst. Die ökonomischen Kategorien tragen folglich "ihre geschichtliche Spur" (Kapital Band I, S. 183), denn "im Dasein des Produkts als Ware sind bestimmte historische Bedingungen eingehüllt". Das Verhältnis zwischen den Geld- oder Warenbesitzern einerseits und jenen, deren einziger Besitz ihre Arbeitskraft ist andererseits, ist nicht naturgegeben und ebensowenig ein allen Perioden der Geschichte eigenes Verhältnis. Es ist offensichtlich das Ergebnis einer geschichtlichen Entwicklung und sogar einer gewissen Anzahl von Umwälzungen, welche die früheren Formen zerstört haben (s. S. 183). Obschon die ersten Anzeichen kapitalistischer Produktion schon früh in einigen Städten des Mittelmeeres auftauchten, gibt es die kapitalistische Ära erst seit dem XVI. Jahrhundert. Wo sie erscheint, ist die Abschaffung der Leibeigenschaft eine vollendete Tatsache und die Herrschaft der freien Städte, der Stolz des Mittelalters, befindet sich schon in ihrer Dekadenz (s. Grundrisse). Aber die Geschichte allein erklärt diese Verhältnisse, ihre Formen und Formationen nicht. Die Stadt als solche gehört zu den im Kapitalismus implizierten geschichtlichen Voraussetzungen. Sie geht sowohl aus der Zerstörung der früheren sozialen Formation hervor, wie aus der frühen Akkumulation von Kapital (die sich in ihr und durch sie vollzieht). Sie ist eine soziale Sache, in der soziale Beziehungen ins Auge fallen, die an sich genommen nicht offensichtlich sind, so daß man sie von ihrer konkreten (praktischen) Verwirklichung aus durch das Denken konzipieren muß. In diesem Rahmen der objektivierten sozialen Beziehungen vollzieht sich die Warenzirkulation, die Gründung des Handels und des Marktes, der Ausgangspunkt des Kapitals im XVI. Jahrhundert (1, S.161). Hier wird die "Magie des Geldes" ausgeübt, die gleichzeitig wunderbare und dumm brutale Macht der Dinge - des Goldes und des Geldes - die aus dem Inneren der Erde hervorkommen und sich sogleich als Inkarnation der menschlichen Arbeit aufdrängen (s. S. 107). In der Stadt trifft die an sich abstrakte (weil von Beziehungen, die vom Gebrauch gelöst 89 sind gebildete) Warenwelt auf die Natur, täuscht sie vor, kann für natürlich gehalten werden, läßt ihre materielle Verkörperung für natürlich gelten. Die Forderungen des Kapitals und die Bedürfnisse der Bourgeoisie werden hier gleichzeitig für natürlich und sozial ("kulturell" würde man heute sagen) gehalten. Von der Geschichte im städtischen Rahmen ausgebildet, drängen sich die Bedürfnisse dort auf. Tatsächlich "im Gegensatz zu den anderen Waren enthält also die Wertbestimmung der Arbeitskraft ein historisches und moralisches Element"; die sogenannten natürlichen Bedürfnisse, ihre Anzahl und die Art, sie zu befriedigen, hängen "daher großenteils von der Kulturstufe

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eines Landes . . . ab" (1, S. 185). Das begrenzt im Kapitalismus, trotz der übermäßigen Hoffnungen der einzelnen Kapitalisten, die Ausbeutung der Arbeitskraft; " . . . stößt die Verlängerung des Arbeitstages auf moralische Schranken. Der Arbeiter braucht Zeit zur Befriedigung geistiger und sozialer Bedürfnisse, deren Umfang und Zahl durch den allgemeinen Kulturzustand bestimmt sind " (S. 246). Halten wir diesen Begriff der Zivilisation fest, die Marx von der Gesellschaft (diese erreicht einen mehr oder weniger hohen Grad an Zivilisation) und von den zugrundeliegenden sozialökonomischen Beziehungen unterscheidet, und auf die wir später wieder treffen. Die Zivilisation ist nicht von der Gesellschaft zu trennen, welche die Zivilisation gleichzeitig bestimmt und abgrenzt. Die vorherrschenden Begriffe der Gesellschaft, der Produktionsverhältnisse, der Produktionsweise, verbieten nicht einen umfassenderen Begriff, der sie umspannt. Es ist offensichtlich, daß der städtische Rahmen (die Stadt und ihre Beziehungen zum Land) für den "Grad an Zivilisation" nicht gleichgültig ist. Aber wir wollen die Funktionen und Strukturen der städtischen Form, welche die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft überliefert hat, in der obengenannten Reihenfolge untersuchen. a) Vom Standpunkt der Bildung des Mehrwerts aus. Die Stadt hat keine wesentliche Funktion. In der Tat ist der Ort der Ausbeutung, an dem sich ursprünglich der Mehrwert bildet, die Produktionseinheit: das Unternehmen, die "Gesellschaft" im kapitalistischen Sinne, der Industriezweig und nicht zu vergessen, die großen und mittleren landwirtschaftlichen Produktionseinheiten (die Lohnarbeiter beschäftigen). So liefert das geschichtliche Produkt Stadt das, was wir den Hintergrund der bürgerlichen Gesellschaft genannt haben. Nur selten erwähnt Marx den Begriff, läßt er sie als solche in Erscheinung treten: im allgemeinen handelt es sich um eine englische Stadt, London oder Manchester (s. I, S. 261 ff.). Und doch bleibt die Stadt als solche für ihn eine Produktivkraft. Sie enthält einen wesentlichen Teil der vergangenen und festgefahrenen, buchstäblich toten Arbeit, über die der Kapitalist verfügt, um sich der lebendigen Arbeit zu bemächtigen; was sie so enthält, überlebt die tägliche Abnutzung der Arbeitsmittel (S. 218); sie unterhält, ähnlich einer Institution, die für das 90 Funktionieren des Kapitalismus unentbehrliche Arbeitsteilung; sie erhält und verbessert also die soziale Teilung der Arbeit; sie bringt die Elemente des Produktionsprozesses einander näher. Hier geht die Rolle der Stadt innerhalb der Produktivkräfte im Kapitalismus weiter, als eine oberflächliche Betrachtung vermuten ließe. Die Ökonomen haben seit Marx und noch vor kurzem die Funktionen der städtischen Wirklichkeit, die die Aspekte der Produktion in Zeit und Raum konzentriert, herausgestellt: Unternehmen, Märkte, Informationen und Entscheidungen usw. Diese induzierenden oder multiplizierenden Auswirkungen sind nach Ansicht Marx' weniger wichtig als eine tiefere Wirkung. Die kapitalistische Gesellschaft tendiert dahin, ihre eigenen Voraussetzungen voneinander zu trennen. Der Trennungseffekt ist dieser Gesellschaft, ihrer Wirksamkeit immanent; sie gründet praktisch auf der von dem analytischen Verstand aufs Äußerste getriebenen Arbeitsteilung. Die Trennung offenbart (indem sie hervorbringt, sie wahrnehmbar macht) die dem Verstand unerreichbaren inneren Gegensätze der Gesellschaft. Wenn sie die Elemente der Bevölkerung trennt, kann diese Spaltung Vorteile für den Kapitalismus haben; wenn sie über gewisse Grenzen hinausgeht, bleibt dieses Auflösungsverfahren nicht ohne Nachteile (s. I, S. 127-128 ff.). Das, was man "Wirtschaftskrise" nennt, besteht in einer Auflösung der Produktionsfaktoren; des Geldes und der Ware (die Zirkulation bricht zusammen, weil die Waren ihren Tauschwert mit dem darin einbezogenen Mehrwert auf dem Markt nicht mehr realisierten), des Gebrauchswertes und des Tauschwertes, der toten Arbeit (Kapital) und der lebendigen Arbeit (Arbeitskraft) usw. Am Anfang, zur Zeit der Gründung des Kapitalismus, steht die Trennung des Produzierenden (des Arbeiters) und der Produktionsmittel, aber auch und ursprünglich die Auflösung des Austausches, in zwei getrennte Akte: die Produktion und den Verkauf (die Bezahlung mit Geld), was die Trennung des Produktionsprozesses und des Zirkulationsprozesses mit sich bringt, die auseinanderfallen und miteinander in Konflikt geraten (s. Theorien über den Mehrwert, Band 11, 17. Kap. ff.). Nach der Krise wird die gestörte Ordnung wiederhergestellt; eine vorübergehende Lösung der bestehenden Gegensätze. Die bürgerliche Gesellschaft wurde von ihren Überschüssen an Kapital und Produktionsmitteln gereinigt: die Einheit des Prozesses mit der Möglichkeit zu einer erweiterten Reproduktion wird wiederhergestellt. Ein guter Krieg hat dieselbe Funktion. Der städtische Rahmen und die Stadt selbst handeln jedoch ständig gegen den Zerfall und die Auflösung in Zeit und Raum der Voraussetzungen des Prozesses: der Rahmen impliziert und enthält Bindekräfte, obwohl auch Gegenkräfte wirksam sind. Die Stadt enthält die für den Produktionsapparat erforderliche Bevölkerung und die "Reservearmee", welche die Bourgeoisie verlangt, um Druck auf die Arbeitslöhne auszuüben und um über eine "Arbeiter-Reserve" zu verfügen. 91 Die Stadt, Waren- und Geld (Kapital-)markt, wird auch zum Arbeitsmarkt (zum Markt der Arbeitskräfte). Sobald sich das kapitalistische Regime der Landwirtschaft bemächtigt hat, geht die Arbeitsnachfrage dort in dem Maße

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zurück, wie das Kapital akkumuliert wird. Ein Teil der Landbevölkerung steht immer kurz vor seiner Umwandlung zur Stadtbevölkerung. Die latente Überbevölkerung auf dem Land wie in der Stadt ist eines der charakteristischen Phänomene des Kapitalismus. Auf dem Lande wird diese überschüssige Bevölkerung durch die technischen Fortschritte und die Investition von Kapital in die Landwirtschaftsproduktion freigesetzt; in der Stadt bleibt sie fließend je nach den Bedürfnissen der Industrie, die im Besitz der Kapitalisten ist und nach ihren Forderungen verwaltet wird. Muß man darauf hinweisen, daß das von Marx analysierte Phänomen (1, Kap. XXV des Kapitals) weltweit geworden ist? Es besteht ein (latenter) Überschuß an Menschen und Reichtümern (trotz der Kriege), denn der umfassende Prozeß trennt die Leute von den Reichtümern. Die Produktivkräfte der Industrie, die bestrebt ist, sich in den Städten zu konzentrieren, wirken stark auf das Land. In der Landwirtschaft und in den gesellschaftlichen Verhältnissen der Vertreter der Landwirtschaftsproduktion verursacht die Großindustrie eine regelrechte Revolution: Anwachsen der bebauten Fläche, aber (relative und absolute) Verringerung der Landbevölkerung, Entvölkerung des Landes. In der Landwirtschaft wirkt die Großindustrie revolutionärer als anderswo, da sie den Bauern, den Grundpfeiler der früheren Gesellschaft, verschwinden läßt und ihn durch den Lohnarbeiter ersetzt. So werden die Bedürfnisse nach gesellschaftlicher Umwandlung und der Klassenkampf auf dem Lande genauso geführt, wie in den Städten. Die kapitalistische Produktionsweise ersetzt die gewohnheitsmäßige Ausbeutung des Bodens durch die technologische Anwendung der Wissenschaft. Mit dem immer größer werdenden Übergewicht der Stadtbevölkerung, die sie um die großen Zentren herum ansiedelt, akkumuliert die kapitalistische Produktion die Kräfte, die auf die Veränderung der Gesellschaft hinwirken können. Zugleich zerstört sie die körperliche Gesundheit der städtischen und das Gleichgewicht der Landarbeiter, schlimmer noch sie stört den organischen Austausch zwischen Mensch und Natur. Durch die Umwälzung der Bedingungen, unter denen eine frühere Gesellschaft diesen Austausch fast spontan vollzog, zwingt sie eine systematische Wiederherstellung desselben in einer der gesamten menschlichen Entwicklung angepaßten Form und als regulierendes Gesetz der gesellschaftlichen Produktion auf. In der modernen Landwirtschaft, sowie in der Industrie der Städte werden das Anwachsen der Produktivität und des höheren Ertrags der Arbeit mit der Zerstörung und dem Versiegen der Arbeitskraft erkauft. Die kapitalistische Produktion erschöpft mit der Anwendung der Arbeitstechnik und -organisation zugleich die Quellen, aus denen der Reichtum fließt. die Erde 92 und die Arbeiter. Aber die Voraussetzungen für eine radikale Änderung werden verwirklicht, sagt Marx. Während die Zerstreuung der Landwirtschaftsarbeiter deren Widerstandskraft bricht, erhöht die Konzentration die der städtischen Arbeiter. Die Stadt spielt also in dieser Umwandlung weiterhin eine wesentliche, wenn auch nicht antreibende Rolle. Worin besteht diese Rolle ? In ihrem Beitrag zum Anwachsen der Produktivkräfte, der Arbeitsproduktivität, der Anwendung der Techniken; umgekehrt trägt die Verbindung der Techniken und der Arbeitsorganisation in der Produktion zu dem Anwachsen der städtischen Bevölkerung und der Bedeutung der Städte bei. Das Land verschwindet auf zweifache Weise: einerseits durch die Industrialisierung der Landwirtschafts-Produktion und das Verschwinden der Bauern (also des Dorfes) und andererseits durch den Zerfall der Erde und die Zerstörung der Natur. Die vollständige Verstädterung der Gesellschaft, die sich schon vor dem Kapitalismus ankündigte und sogar begonnen wurde (der Umsturz des früheren Zustandes gehört zu den Voraussetzungen der neuen, der bürgerlichen Gesellschaft) geht also weiter und beschleunigt sich sogar unter der Herrschaft der Großindustrie, der Bourgeoisie und des Kapitals. Es ist ein revolutionärer Prozeß, da er die Erdoberfläche und die Gesellschaft verwandelt. Dieser Prozeß vollzieht sich jedoch nicht zusammenhängend im Rahmen der kapitalistischen Produktionsweise; er hat eine negative Seite, die ihn vorwärts treibt, jedoch auf Zerstörung und Selbstzerstörung zustrebt. Der Kapitalismus zerstört die Natur und vernichtet seine eigenen Voraussetzungen, bereitet sein revolutionäres Verschwinden vor und kündigt es an. Erst nach ihm kann der Austausch (im weiten Sinne: organischer wie wirtschaftlicher Austausch) zwischen dem Gesellschaftlichen und dem Natürlichen, dem Erworbenen und dem Spontanen in einer der allgemeinen menschlichen Entwicklung angepaßten Form und als regulierendes Gesetz der gesellschaftlichen Produktion wiederhergestellt werden. Die Stadt ist also, weil sie mit den Produktivkräften (und folglich mit der Bildung des Mehrwerts) verbunden ist, der Sitz dieses umfassenden widersprüchlichen Prozesses. Sie nimmt das Land in sich auf und trägt zu der Zerstörung der Natur bei; sie zerstört auch ihre eigenen Existenzbedingungen und muß sie systematisch wiederherstellen. Wenn die Stadt als solche schon nicht außerhalb der Produktivkräfte steht, noch für die sozialen Verhältnisse in der bürgerlichen Gesellschaft gleichgültig ist, so tritt sie in der Verwirklichung des Mehrwerts (ökonomisch gesehen) an die erste Stelle. b) Vom Standpunkt der Realisierung des Mehrwerts aus. Diese Realisierung des Mehrwerts erfordert zunächst einen Markt und dann ein besonderes System des Kredits, des Diskonts, der Geldüberweisung, die es dem Geld

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93 (der Währung) ermöglichen, seine Funktion voll zu erfüllen: Ausgleich der Tauschwerte, Warenzirkulation, Zahlungsmittel. Selbstverständlich ist die Ausweitung des Marktes mit dem städtischen Phänomen verbunden. Der Handel hat zweifelsohne die Bildung der mittelalterlichen Stadt veranlaßt, aber sie hat auf ihn eingewirkt, indem sie ihn anregte und ihn schließlich über die ganze Welt ausbreitete. Selbst wenn das Land rings um die Stadt kleine lokale Märkte behält, oder wenn umgekehrt die Stadt in ihrem Gebiet "Handelszentren" verstreut, konzentriert sie nichtsdestoweniger den Austausch. Andererseits beherbergt sie das Banksystem, das schon im Mittelalter eingerichtet wurde, um die Funktionen der Währung zu sichern. Mit den Banken und dem Banksystem, einer künstlichen Einrichtung, die dazu bestimmt ist, die Zahlungen zu verknüpfen und sie untereinander auszugleichen, hat sich das Währungssystem zu einem Kreditsystem entwickelt. Das macht wirkliche Zahlungen überflüssig und ersetzt sie durch bargeldlosen Zahlungsverkehr, durch eine "Papiergeld"- oder "Bankgeld"-währung, die Vertrauen erfordert. Bei Wirtschaftskrisen kommt es zur Währungskrise. Die Währung funktioniert nicht mehr in ihrer idealen Form (Bankgeld). Man verlangt Bargeld. Der anmaßende Ökonom und der eingebildete Bourgeois erklärten noch am Tage zuvor, das Geld und das Gold seien nur Blendwerk. Und nun drängt sich das Blendwerk, sich von dem Schein lösend, als Wirklichkeit au£ Man benötigt Bargeld, ohne das die Ware in den Lagern und auf den Docks liegenbleibt und verfault. Was ist die Stadt also noch ? Der Schauplatz dieser Dramen der Bourgeoisie, die sich auf die verschiedenen Teile des Volkes auswirken, weil "die Reichen kein Geld mehr haben . . ." Nur auf diese Weise, auf dieser Entwicklungsstufe, in diesem Rahmen und diesem "künstlichen" System, die so weit wie nur möglich von der Natur entfernt sind, beherrscht das Geld mit dem, was es in sich birgt (dem Kapital und der Macht der Kapitalisten) die Ware, die seine Voraussetzung ist, sowie auch die Welt, in der sie entsteht, aus der sie Nutzen zieht und die sie unterhält. Das Geld wird nun zum "sozialen Stoff des Reichtums", wobei es sich im höchsten Maße von dem Gebrauchswert und den wirklichen Stoffen befreit. Die Analyse der städtischen Bevölkerung ist noch nicht abgeschlossen. Marx weiß, daß die Großindustrie sich nicht selbst genügt. Vielleicht, erklärt er, ist ihre Sphäre sogar begrenzt und sie kann nicht die ganze gesellschaftliche Produktion umfassen (die sie nichtsdestoweniger beherrscht). Um ein großes Industrieunternehmen herum siedeln sich eine Menge kleiner Unternehmen an, die von diesem abhängen; die einen sind handwerklicher Art, andere Manufakturen, wieder andere gehören der kleinen und mittleren Industrie an. Womit beschäftigen sie sich ? Mit Reparaturen, Wartung, Ersatzteilen, Endfertigung usw. Im allgemeinen um 94 gibt also ein Kranz von untergeordneten Unternehmen eine große Einheit, die alle Epochen der produktiven Tätigkeit nach sich zieht. So wie auf dem Land ein großer Herrschafts- oder kapitalistischer Besitz von einem Schwarm von Kleinbauern, Landwirtschaftsarbeitern, die auf eigene Rechnung ein kleines Stück Land bebauen, und von unausrottbaren mittleren Bauern auf meist mittelmäßigen Ländereien usw. umgeben ist. Die Gruppierung dieser abhängigen Unternehmen hat Vorteile; wenn sich diese Unternehmen andererseits weit von der städtischen Ansiedlung entfernt niederlassen, tragen sie dadurch bei, daß die Stadt auf das Land übergreift. Von der Großindustrie zum Trabanten gemacht, bleiben sie dennoch nicht außerhalb der Arbeitsteilung und des Kapitalismus selbst (über diese ökonomische und technische Ungleichheit der Unternehmen siehe Kapital I, ff.) Schließlich und endlich konzentrieren die Stadt und die städtische Ansiedlung die "Dienstleistungen". Hier stoßen wir auf drei Schwierigkeiten, drei schon alte theoretische Diskussionen. Zunächst: worin bestehen diese berühmten "Dienstleistungen"? Wie soll man sie definieren ? Die Dogmatiker des Marxismus, insbesondere die Politiker, die ihre Kundschaft überzeugen wollen, suchen Kriterien. Nach Ansicht der einen sollte der "Arbeiter" ein Handarbeiter sein; nach Ansicht anderer muß er zur Schaffung des Mehrwerts beitragen. Das bringt endlose Argumente und Spitzfindigkeiten mit sich, obschon das Problem (der Klasse, die im Besitz einer Einheit ist, trotz der Eigentümlichkeiten der Teile dieser Einheit) kein Scheinproblem ist. Produzieren die Transportarbeiter, die Bank- und Handelsangestellten direkt Mehrwert, obwohl sie keine "Sache", keine Ware produzieren ? Tragen sie indirekt zum Mehrwert bei, weil sie in die Warenzirkulation eingreifen, die für die Realisierung des Mehrwerts unentbehrlich ist ? Werden sie aus dem gesamten Mehrwert bezahlt ? Wir wollen hier diese alte, wahrhaft byzantinische (der Friseurlehrling produziert Mehrwert, während der Friseursalon-Besitzer einen Teil des globalen Mehrwerts erhält usw.) Diskussion nicht wieder aufnehmen. Wichtig ist, daß Marx die produktive Arbeit (von Sachen, Waren) und die unproduktive, aber sozial notwendige Arbeit (z.B. die Arbeit des Wissenschaftlers oder des Erziehers, des Lehrers im allgemeinen oder des Arztes usw.) unterscheidet. Außerdem sagt er, daß, obgleich alle produktiven Arbeiter Lohnarbeiter sind, nicht alle Lohnarbeiter unmittelbar und direkt produktiv sind (Sachen, tauschbare Güter produzieren). Was den Begriff der "Dienstleistung" anbelangt, so ist er nur ein Ausdruck für die Bezeichnung eines

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Gebrauchswertes, der im Austausch gegen eine Geldsumme von einem "Tätigen" erbracht wird, der über seine Produktionsmittel verfügen kann; er liefert einen Dienst in Form von Tätigkeit, wobei dieser Dienst wie eine Sache gekauft und verkauft wird, obwohl er nicht unbedingt eine Sache ist. Eine materielle Arbeit kann 95 als "Dienst" gekauft werden, zum Beispiel die Arbeit des Handwerkers, der eine Wasser- oder Gasleitung repariert. Dieselbe Art von Tätigkeit kann als produktive oder unproduktive Arbeit angesehen werden-. der Dichter schafft die Dichtung, sagt Marx, wie die Seidenraupe die Seide schafft, von Natur aus; aber einmal veröffentlicht, produziert er Mehrwert durch d für den Verleger, den Buchhändler; er liefert dein Drucker produktive Arbeit usw. (s. Marx, Theorien über den Mehrwert, Band 11). Die Polemik kommt von weit her. Marx verwarf den "Produktivismus" Adam Smith', des großen Ökonomen, des "klassischen" Theoretikers der bürgerlichen Gesellschaft, der aber unfähig war, die politische Ökonomie und seinen eigenen Ökonomismus zu kritisieren. Adam Smith träumte (utopisch, aber auf für ihn sehr "positive" Weise) von einer nur aus Produzenten bestehenden Gesellschaft, die folglich soviel Sachen, produktive gesellschaftliche Arbeit und somit Mehrwert, wie möglich liefert (obwohl Smith den Begriff nicht herausarbeitete und formulierte). Marx, der viel freigeistiger ist, als der puritanische und moralistische Smith, weil er eine kritische Haltung gegenüber dem Ökonomischen und dem Ökonomismus einnimmt, schiebt die zahlreichen "Dienstleistungen" nicht als "parasitär" beiseite. Es ist übrigens interessant, und wenn man darüber nachdenkt ein wenig paradox, daß die Arbeiterbewegung und die sogenannte "proletarische" Politik häufig die Haltung des bürgerlichen Ökonomen gegen das Denken Marx' eingenommen haben. Der Ökonomismus, der Produktivismus, der Moralismus stellen ihre Forderungen. Wir finden die Frage - "Was ist produzieren?" in der weiten Bedeutung des Wortes wieder. Produzieren in diesem Sinne ist Wissen, Werke, Fröhlichkeit, Vergnügen produzieren und nicht nur Sachen, Gegenstände, tauschbare materielle Güter. Marx verwarf stets die Vereinfachung und die Tendenzen zum vereinfachenden Denken, die er um sich her feststellte, besonders bei den Ökonomen. Man folgte ihm kaum, verstand ihn nicht einmal. Hier ist Raum für die zweite Frage - "Was ist eine Gesellschaft?" Wir sagten schon, daß die Großindustrie nach Marx eine Arbeiterklasse schafft, aber keine Gesellschaft. Ebensowenig wie "produzieren" im engen Sinne. Zu einer "Gesellschaft" bedarf es aller möglichen Leute, aller Arten von Tätigkeiten. In der Kritik des Gothaer Programmes (1875) erinnert Marx die schon in einer Mischung von Ökonomismus und politischem Staats-Sozialismus festgefahrenen Führer der Arbeiterbewegung ernsthaft hieran. In einer Gesellschaft braucht man Künstler, Berufs-Spaßmacher. Gibt es Schmarotzer? Gewiß, zum Beispiel die Spekulanten, die erwarten, daß ihr Geld "arbeitet" und direkt Geld macht. Ist es leicht, einen klaren Trennungsstrich zwischen den gesellschaftlich notwendigen Unproduktiven und den Schmarotzern zu ziehen? Nein. Wer kennt heutzutage nicht das ironische Fragment, in dem Marx den Verbrecher feiert? "Ein Philosoph 96 produziert Ideen, ein Poet Gedichte ... Ein Verbrecher produziert Verbrechen. Betrachtet man näher den Zusammenhang dieses letzten Produktionszweiges mit dem Ganzen der Gesellschaft, so wird man von vielen Vorurteilen zurückkommen." (Karl Marx, Friedrich Engels, Werke Band 26, Erster Teil, Dietz Verlag Berlin 1965, Theorien über den Mehrwert, S. 363) Was produziert der Verbrecher? Das Recht, die Polizei und die Justiz, die Moral die Kriminalromane, den Eindruck des Tragischen usw. Kurz, er unterbricht die Eintönigkeit und die Alltagssicherheit des bürgerlichen Lebens. Er bewahrt es vor Stagnation und läßt jene unruhige Spannung und Beweglichkeit ansteigen, ohne die der Stachel der Konkurrenz abstumpfen würde. So gibt er den Produktivkräften einen Sporn (s. S. 363-364). Die Stadt enthält all das, was wir gerade aufgezählt haben: Überschüssige Bevölkerung, Satelliten der Großindustrie, Dienstleistungen" jeder Art (gute und schlechte). Nicht zu vergessen die Verwaltungs- und politischen Apparate, die Bürokraten und die Führer, die Bourgeoisie und ihr Gefolge. So gehen die Stadt und die Gesellschaft zusammen, verschmelzen miteinander, da die Stadt als "Hauptstadt" die kapitalistische Macht selbst, den Staat, in sich aufnimmt. In diesem Rahmen vollzieht sich die Verteilung der Schätze der Gesellschaft, eine ungeheure Mischung von schäbiger Berechnung und unerhörter Verschwendung. Aber bevor wir uns in dieser Hinsicht (der Verteilung des Mehrwerts) festlegen, stoßen wir auf die von Rosa Luxemburg aufgeworfenen Probleme. Obwohl diese "luxemburgische" Problematik, weil sie aus ihnen hervorgeht, neuer ist als Marx und die Analysen des Kapitals, scheint es nicht angezeigt, sie auszuschließen. Umsoweniger, als wir eine Antwort auf die von R. Luxemburg gestellten Fragen haben, die in den Texten und Thesen Marx, die wir anführen, impliziert, wenn auch nicht formuliert zu sein scheint. In ihrem Werk über Die

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Akkumulation des Kapitals zeigt R. Luxemburg einen schwachen Punkt der marxistischen Theorie und des der Realisierung des Mehrwerts gewidmeten Teils des Kapitals. Die in der Industrie tätigen Arbeiter können nur einen Teil der Produkte kaufen; den Teil der ihrem Lohn entspricht. Aus der marxistischen Theorie geht jedoch hervor, daß dieser Teil winzig klein ist, da der Unterschied zwischen der Summe der Arbeitslöhne und dem Gesamtwert der Produkte den Mehrwert selbst bildet. Dieser Mehrwert kann also nur auf einem Markt außerhalb der kapitalistischen Gesellschaft realisiert werden. Der Mehrwert wird und kann nur unter den Bauern und nicht industrialisierten Völkern realisiert werden, die im übrigen durch diese Transaktionen unweigerlich ruiniert werden. Daher kommt der nicht weniger unvermeidliche Zusammenbruch des Kapitalismus als Folge einer entscheidenden Krise. Der Kapitalismus nagt an den entfern- 97 ten Peripherien des industriellen Kapitalismus, den Märkten, auf denen seine Produkte verkauft werden; er zerstört sich also selbst, indem er seine Voraussetzungen zerstört. Das hatte Marx vorausgesehen, jedoch nicht in derselben Bedeutung wie R. Luxemburg. Lenin wandte dagegen ein, daß die Kapitalisten innerhalb des Kapitalismus einen bedeutenden und ausreichenden Teil des Mehrwerts realisieren, weil die Großindustrie (Primärbereich der Produktion in Das Kapital) vor allem Produktionsmittel, Maschinen, Rohstoffe produziert. Diese Produkte der kapitalistischen Großindustrie werden von anderen Kapitalisten gekauft und bezahlt. Es entsteht also ein Anwachsen der Produktivkräfte, wen diese Kapitalisten ihre verfügbaren Kapitalien in der Produktion investieren. Die diesem Prozeß innewohnende Mehrproduktion zeigt sich in einer zyklischen Depression oder Krise (und nicht in einer Endkrise, wie sie R. Luxemburg voraussah). Wir können hier die leninistische Argumentation vervollständigen. Um die Kerne der großen industriellen Produktion und der bürokratischen Macht herum ordnen sich in der modernen Stadt vielfarbige Schichten von Arbeitern, Angestellten, verschiedenen Berufen. Diese Schichten gehören nicht zu dein Gegensatz "Großindustrie - Proletariat". Und dennoch stehen sie nicht außerhalb des Kapitalismus, weder in Hinsicht auf die Produktion, noch in Hinsicht auf den Markt und den Verbrauch. Sie stimmen weder mit der Definition des Industrieproletariats überein, noch mit derjenigen der Hand- und/oder unmittelbar produktiven Arbeit. Wenn die Großindustrie (Primärbereich) einerseits innerhalb des kapitalistischen Milieus einen bedeutenden Teil ihrer Produkte absetzen kann, wenn sie für den Rest auswärtige Märkte sucht, wird ein beträchtlicher Teil der auf dem Sekundärbereich (Produktion von Verbrauchsgütern) erzeugten Güter in diesem städtischen Kreis abgesetzt, der weit über die eigentliche Arbeiterklasse hinausgeht. In der Gesellschaft, welche die Bourgeoisie beherrscht und leitet, beschränkt sich der Markt nicht auf das Proletariat. Es gibt einen inneren Markt und die Strategie der kapitalistischen Führer bemüht sich (seit einigen Jahrzehnten), ihn zu erweitern. Die Zuflucht zu den Außenmärkten ist gewiß unerläßlich und anregend, aber nicht wie R. Luxemburg meinte, eine absolute Notwendigkeit. Sonst wäre das Anwachsen der Produktivkräfte im Kapitalismus unverständlich (15). Und doch, sollte R. Luxemburg nicht in großem Maße gegen Lenin rechthaben ? Die wirtschaftlichen und politischen Zentren der kapitalistischen Gesellschaft wollen den Absatz ihrer Produkte, das heißt die Realisierung des Mehrwerts sichern; sie manipulieren nicht nur den Markt (durch die Reklame), sie schützen ihn (durch das System der Zolltarife und der Fest- (15) Dies ist es für einige luxemburgistische und trotzkistische Doktrinäre. 98 preise), sie kontrollieren ihn. Die Reproduktion des Mehrwerts und der gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse sind nicht mehr voneinander zu trennen. Das bleibt nicht ohne neue Gegensätze. In der Ausweitung der großen Städte und der Raumordnung wird der gesellschaftliche Raum selbst produziert und zugleich überwacht und kontrolliert. Wenn also die Bourgeoisie irgendeines Industrielandes die Außenmärkte verloren hat, verlegt sie den Kolonialismus in dieses Land. Die Randgebiete veranlassen neokolonialistische, neoimperialistische Phänomene im Verhältnis zu den Zentren (der wirtschaftlichen Produktion und der politischen Entscheidungen). Die nebeneinanderstehenden Gesellschaftsschichten im städtischen Raum zählen wenige Bauern, aber viele, gleichzeitig verstreute und von den Zentren beherrschte Bevölkerungsgruppen. Die moderne Stadt (Metropolis, Megalopolis) ist zugleich Sitz, Werkzeug, Aktionszentrum des Neo-Kolonialismus und des Neo-Imperialismus (16). Wie soll man von Marx ausgehend diesen Tatsachenkomplex erklären, den er nicht vorausgesehen hatte und nicht voraussehen konnte? Nach den Interpretationen (widersprüchlichen Interpretationen R. Luxemburgs und Lenins) kehren wir zu ihm zurück, um die Bedeutung des Grundeigentums und der Grundrente zu entdecken. c) Vom Standpunkt der Verteilung des Mehrwerts aus. Diese Verteilung geht über die höchste, die globale, das heißt nationale und sogar weltweite Ebene der kapitalistischen Gesellschaft (insoweit es einen Weltmarkt, Konkurrenz der Kapitalien auf dem

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Weltmarkt usw. gibt). Sie vollzieht sich auf wirtschaftlicher und politischer Ebene. Ökonomisch gesehen erhält jeder Kapitalist seinen Anteil am Mehrwert im (ungefähren) Verhältnis zu dem von ihm aufgewendeten Kapital. Auf der Gesamtebene bildet sich ein Durchschnitt, die mittlere Profitspanne, die von verschiedenen Variablen abhängig ist, insbesondere von der durchschnittlichen organischen Zusammensetzung der Kapitalien. In seiner Sprache errechnet der Kapitalist seine Produktionskosten, seine Amortisierungen, seine Profite, die an die Geldgeber auszuschüttenden Dividenden, seine Voranschläge für Investitionen; er stellt danach seine Buchhaltung nach einem für ihn stichhaltigen und seiner Logik entsprechenden Empirismus auf. Das marxistische Denken faßt dieselbe Bilanz anders auf, in einer anderen Sprache und verwendet die Begriffe: konstantes Kapital (Investitionen und tote Arbeit), variables Kapital (Arbeitslöhne, durch die Arbeit in Bewegung gesetztes Kapital), organische Zusammensetzung des Kapitals, Mehrprodukt, Mehrwert, durchschnittliche Profitspanne. Die zwei Sprachen oder "Buchhaltungen" entsprechen einander, aber die zweite erklärt die erste und zerstreut dabei die Illusionen des Kapitalismus und den äußeren Schein der bürgerlichen Gesellschaft. (16) s. Samir Amyn, "L'Accumulation a l'échelle mondiale, Antbropos, 1970. 99 Auf politischer Ebene erhebt der Staat einen Teil des Mehrwerts, um die allgemeinen Ausgaben der bürgerlichen Gesellschaft zu bestreiten, was kein einzelner Kapitalist übernehmen könnte. Wie geht er dabei vor? Mit der größten Schonung der Interessen der herrschenden klasse "erlegt" er diese Erhebung "auf'. Das System der Steuern und Abgaben wird auf mehrere Arten vervollständigt (17), zum Beispiel durch staatliche Monopole und den Verkauf von Waren, die zur Befriedigung von "Bedürfnissen" bestimmt sind, deren gesellschaftlicher Charakter nicht immer verbürgt ist (Salz, Tabak, Streichhölzer, mit dem Namenszug des Staates gestempelte Papiere usw.). Diese ungeheuren Summen sind zu mehreren Zwecken bestimmt. In erster Linie zum Unterhalt der Staatsbürokratie, (die sich selbst reproduziert durch die Sicherung der Reproduktion ihrer eigenen Voraussetzungen, was die Sicherung der Reproduktion der Produktionsverhältnisse in der ganzen Gesellschaft, in der Produktionsweise, bezweckt). Denn der Staat hat seine eigenen Interessen, durch die er, besonders im Westen und in Frankreich danach strebt, sich über die Gesellschaft zu erheben, sich zu etablieren, indem er die Widersprüche dieser Gesellschaft verschleiert, sie durch repressive Macht vernichtet oder sie unter dem Schleier der Ideologie verbirgt, kurz, eine - ideologisch - mit der Vernunft im allgemeinen verwechselte "Staatsraison" herrschen zu lassen. Aus demselben Grund unterhält der Staat mit der Bürokratie einen repressiven Apparat: Armee, Polizei, Justiz usw. Aber der Staat muß sich auch um die sozialen Bedürfnisse der ganzen Gesellschaft kümmern und sie verwalten. Eine Liste und die Zusammenhänge dieser sozialen Bedürfnisse wurden nie aufgestellt und können nicht aufgestellt werden. Auf politischer Ebene ist alles Sache der Machtverhältnisse; aber in diesem (übrigens wichtigen Punkt) bleibt der demokratische (bürgerliche oder nichtbürgerliche) Staat empfindlich und zugänglich für den Druck von unten, für die Forderungen. Sein kontraktliches System kann nicht erstarren. Neue Bedürfnisse - gesellschaftliche und individuelle Bedürfnisse - tauchen auf und zuerst, wie man weiß, die der Arbeiter als solchen, aber auch die der großen Teilgruppen, der Frauen, Kinder, Kranken, Alten, Verbrecher, Geisteskranken usw. Warum kommen wir auf diese Aspekte der modernen Gesellschaft zurück? Weil es zu erwarten war, daß unter den gesellschaftlichen Bedürfnissen schon bald diejenigen des städtischen Lebens, der Stadt, auftauchen würden. Von der Geschichte aus als soziale Einheit, als Ort der (sozialen) Beziehungen zwischen den Menschen (der "Kultur") und der Natur betrachtet, konnte die Stadt zu allen Zeiten zu den Nutznießern der politischen Verteilung des (17) Selbstverständlich konnte Marx die modernen Verfahrensweisen wie die gemischten Gesellschaften nicht kennen. 100 gesamten Mehrprodukts (Mehrwerts) durch den Staat zählen. Dem ist jedoch nicht so. Man mußte bis zum XX. Jahrhundert und sogar bis zur zweiten Hälfte des XX. Jahrhunderts warten, bis die Vorstellungen von: Urbanisierung, "Kollektiveinrichtungen", Raumverteilung usw. in Erscheinung traten, die trotz ihres "objektiven" Gehabes sehr verschwommen, tendenziös, mehr Bilder und Metaphern als Begriffe sind. Was führt Marx selbst an, wenn er in der Kritik des Gothaer Programms die sozialen Bedürfnisse aufzählt, die eine sozialistische Gesellschaft berücksichtigen müßte? Die allgemeinen Verwaltungskosten, die die Produktion nicht betreffen (diese Kosten sollen sich verringern und dann in der umgewandelten Gesellschaft verschwinden), Schulen, öffentliche Gesundheitspflege (auf diesen Gebieten sollen die Ausgaben beträchtlich gesteigert werden), Fonds für Arbeitsunfähige (das, was man heute in der offiziellen Sprache staatliche Wohlfahrt nennt). Die städtischen Bedürfnisse zählen wahrscheinlich zu der "öffentlichen Gesundheitspflege", eine etwas notdürftige Bezeichnung. Dieses Fehlen ist umso bemerkenswerter,

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als der Begriff der rationellen Organisation der Produktion (Planung) in Hinsicht auf die Befriedigung sic entwickelnder "sozialer Bedürfnisse" bei Marx ständig wiederkehrt; er definiert den Sozialismus. Zu der rationellen Organisation der Produktion kommt laut Marx die Organisation des organischen Austauschs zwischen Gesellschaft und Natur, der Austausch von Stoffen und Energie, die dem Austausch von materiellen Gütern innerhalb der Gesellschaft zugrundeliegen. Unser Verfasser weiß jedoch, daß durch die Ausbeutung aller Quellen des Reichtums bis zum Äußersten, die der Kapitalismus praktiziert, die Natur selbst bedroht ist. Die Regulierung des organischen Austauschs muß ein "Ordnungsgesetz" der neuen Gesellschaft werden. Wie soll man zu diesem Ergebnis gelangen, ohne im höchsten Maße die Stadt selbst zu berücksichtigen, den Ort dieses Austausches und das Zentrum eines ständigen Angriffs auf die Natur? Man könnte nicht besser beweisen, daß in einem Regime (System oder Produktionsweise), in dem das Ökonomische vorherrscht, in dem der Staat diese Vorherrschaft einrichtet, die geschichtlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse den Geboten des Ökonomischen untergeordnet sind. Die Sorge um die großen Industrieunternehmen ist wichtiger als alle anderen. Was wird aus der Stadt? Ihre Einflüsse auf die Produktion und die Produktivität, auf den Güteraustausch, werden im Namen einer allgemeinen Kontrolle über den gesellschaftlichen Raum berücksichtigt, gesichert, überwacht. An sich ist sie nur ein von der Vergangenheit überlieferter Gebrauchsgegenstand, der genau wie die umsetzbaren "Sachen" Tauschund Verbrauchsgegenstand geworden ist. Sie besitzt keinerlei Privilegien; sie lenkt keine besondere Aufmerksamkeit auf sich. Bis zu dem Tag, an 101 nünftige Regulierung ersetzt, und doch bleibt die Gesellschaft an den Boden gefesselt. Durch das Eigentum und die zahlreichen Zwänge, die sie unterhält. Vor allem und insbesondere, indem er den Boden dem Markt unterordnet, aus der Erde ein handelsfähiges "Gut" macht, das dem Tauschwert und der Spekulation untersteht und nicht dem Gebrauch und dem Gebrauchswert. Die Nabelschnur, welche ihrer Nachkommenschaft, der menschlichen Gemeinschaft, den Saft und das Blut aus der ursprünglichen Gebärmutter zuführte, hat sich in eine trockene und harte Schnur verwandelt, die die Bewegungen und die Entwicklung dieser Gemeinschaft behindert. Sie ist das Hindernis schlechthin. Man muß zugeben, daß seit Marx keine befriedigende Lösung das Problem durch Überwindung seiner Bedingungen und Gegebenheiten beseitigt hat. Der staatliche Grundbesitz überträgt dem Staat einen beträchtlichen Teil der Grundrenten (der "absoluten" Rente, nach Marx, sowie einen Teil der Differentialrente, die von der Aufwertung der Ackerbauprodukte in der Nachbarschaft der Märkte, das heißt der Städte, kommt). Diese Übertragung würde dem Staat ungeheure Einnahmen und Macht gewähren, und den Bauern eine juristisch und kontraktlich begrenzte "Nutznießung", ein Bodennutzrecht, überlassen. Das wollte Marx nicht, als er den Sozialismus definierte. Die Nationalisierung? Die Vergemeindung des Bodens? Man kennt ihre Grenzen und Unzulänglichkeiten besser, als ihre Vorteile. Das Problem der Grundrente schien veraltet; es ist jedoch noch immer bedeutsam. Es weitet sich sogar aus, da die Baugrundstücke der Industriestadt, ihre Preise, die sich ihrer bemächtigende Spekulation zu dieser, im Verhältnis zu der Theorie des Profits und des Arbeitslohns scheinbar nebensächlichen Theorie gehören. "Die Differentialrente tritt überall ein und folgt überall denselben Gesetzen wie die agrikole Differentialrente, wo überhaupt Rente existiert. Überall, wo Naturkräfte monopolisierbar sind und dem Industriellen, der sie anwendet, einen Surplusprofit sichern, sei es ein Wassergefälle, oder ein reichhaltiges Bergwerk, oder ein fischreiches Wasser, oder ein gutgelegener Bauplatz, fängt der durch seinen Titel auf einem Teil des Erdballs zum Eigentümer dieser Naturgegenstände Gestempelte diesen Surplusprofit dem fungierenden Kapital in der Form der Rente ab." Was die Baugrundstücke betrifft, so hat Smith gezeigt, daß ihre Rente, wie die aller nichtlandwirtschaftlichen Ländereien, durch die eigentliche Ackerbaurente geregelt ist, das heißt durch die den Differentialrenten I und II nach Marx entsprechenden Renten nach Lage und Beschaffenheit. Der Einfluß der Lage ist in den großen Städten besonders wichtig. (Kapital Band III, Kap. 46, S. 781 ff.). So dringen einige vor-kapitalistische Züge in den Kapitalismus ein. Sie verschärfen sich nicht nur in seinen landwirtschaftlichen Randgebieten, sondern in ihm selbst, in der städtischen 104 Wirklichkeit. Sie üben hier einen großen Einfluß aus und werfen sie in ihrer ,Entwicklung zurück. Selbstverständlich nehmen die Kapitalisten dem Grundeigentümer von den Renten, die er ihnen entzieht, so viel wie möglich wieder weg; diese Renten zeigen übrigens die "gänzliche Passivität" dieses Eigentümers, dessen einzige Aktivität lediglich darin besteht, den Fortschritt auszubeuten, zu dem er nichts beiträgt und für den er, im Gegensatz zu dem industriellen Kapitalisten, nichts riskiert (ebd.). Wenn es diesem Letzteren gelingt, sich des Bodens und des Immobilienbesitzes zu bemächtigen, sie in denselben Händen zu vereinigen wie das Kapital, verfügen die

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Kapitalisten über eine so große Macht, daß sie sogar befähigt sind, "die Arbeiter im Kampf um den Arbeitslohn praktisch von der Erde als ihrem Wohnsitz auszuschließen" (ebd., S. 781-782). a) Quantitativ. Die Grundrenten, zu denen man die Renten aus der Landwirtschaftsproduktion, der Viehzucht, der Jagd, dem Fischfang und der Nutzung der Gewässer und Wälder, der Bergbauproduktion (wenn der Untergrund nicht dem Staat gehört) und schließlich der Gebäude (bebautes Grundstück) rechnen muß, unterlag Schwankungen. In Frankreich schwächte die demokratische (zwar bürgerliche, aber sehr weitgehende) Revolution und die mit ihr verbundene Agrarreform während fast eines Jahrhunderts auf dem Lande die Nachteile des Grundbesitzes und die Bedeutung der Grundbesitzer ab. Auf dem Land mehr als in der Stadt, weil die Bodenspekulation ebenso wie die militärischen Anliegen die Umwandlung von Paris durch den Baron Haussmann orientierten. Im Laufe des XX. Jahrhunderts wurde der Grundbesitz unter dem Schutz des Kapitalismus wiederhergestellt; die Industrialisierung bemächtigte sich der Landwirtschaftsproduktion, vor allem in den Großkulturen (Weizen, Rüben usw.), den spezialisierten Kulturen (Weinberge, Gemüse-, Milchproduktion) und der Viehzucht. Das frühere Feudalmonopol räumte dem neuen kapitalistischen Monopol den Platz: in einigen Gebieten bestanden sie nebeneinander oder arbeiteten in Bündnissen zusammen. Unter diesen Umständen gewinnt der Grundbesitz den Einfluß wieder, den er verloren zu haben schien. Dieser Einfluß wirkt auf verschiedene Weisen. Der Boden und mehr noch der ganze Raum wird stückweise verkauft. Die Tauschbarkeit des Raumes ist von wachsender Bedeutung in der Umwandlung der Städte; sogar die Architektur hängt von ihr ab; die Form der Gebäude richtet sich nach der Parzellierung und dem Ankauf von Boden, der in kleine Rechtecke zerteilt ist. Der Immobiliensektor wird spät aber immer deutlicher ein dem Großkapitalismus untergeordneter Sektor, der im Besitz von dessen (Industrie-Handels-Bank-) Unternehmen ist, mit einer sorgfältig unter dem Deckmantel der Raumordnung versteckten Rentabilität. Der Prozeß, der die Produktivkräfte dem Kapitalismus unterordnet, wiederholt sich hier mit dem Ziel der Unterordnung des Raumes, der in den Markt der Kapitalanlagen einge- 105 gangen ist, das heißt zugleich in den Profit und in die Reproduktion der kapitalistischen Produktionsverhältnisse. Die Profite sind ungeheuer und das (tendenziöse) Gesetz der Verringerung der durchschnittlichen Gewinnspanne wird sehr wirksam hintertrieben. Einerseits steigen die Grundrenten ständig (die Rente I, die aus den besten, den städtischen Märkten am nächsten liegenden Ländereien erzielt wird und die Rente II, eine technische Rente, die aus den Kapitalinvestitionen in der Landwirtschaftsproduktion erzielt wird) zum Nutzen der Kapitalisten entsprechend dem Anwachsen der Städte. Zudem tauchen innerhalb der städtischen Expansion selbst wieder Renten auf, die den Grundrenten des landwirtschaftlichen Bodens entsprechen: eine Rente nach Lage und Beschaffenheit, die schwer zu beziffern ist. Außerhalb Frankreichs bestand die Bedeutung des Grundbesitzes immer, außer in den Ländern, die eine Agrarreform durchführten. Riesige Kontinente wie Amerika und Afrika wurden von dieser revolutionären Reform kaum berührt. Die großen Besitztümer (die "Latifundien") üben einen Einfluß aus, der stark zu dem politischen Chaos beiträgt, mit dem sich zahlreiche Länder herumschlagen. Bei dieser Gelegenheit möchten wir an die Theorie der Besitznahme und Besiedlung nach Marx und Lenin erinnern. Letzterer unterschied, einige Ideen Marx' weiterentwickelnd, zwei Methoden der Kolonisierung (im weiten Sinne: Niederlassung von "Siedlern", Bauern und landwirtschaftlichen Produktionseinheiten) und stellte sie einander gegenüber. Das sind Grenzfälle, Pole, zwischen die sich zahlreiche verwirklichte oder mögliche Situationen einschieben. Die preußische Methode besteht in der rücksichtslosen Kolonisierung auf schon angeeigneten (besessenen) Ländereien: die Leiter des Unternehmens sind bereits Grundbesitzer, Junker, Feudalherren; sie wenden Gewalt an, handeln von einem "Podest" aus, und die Siedler bleiben ihre Vasallen. Die amerikanische Art der Kolonisierung ist eine ganz andere: die freien Siedler lassen sich auf freien Ländereien nieder (wenn man hierbei die eingeborene Bevölkerung, die meistens keine ständige Landwirtschaft mit festen Dörfern und Ortschaften treibt, nicht berücksichtigt). Die Besitznahme des Bodens und die Niederlassung großer landwirtschaftlicher Produktionseinheiten stoßen nicht auf Hindernisse vonseiten einer früheren, festeingesessenen Gesellschaft oder Produktionsweise wie die mittelalterliche Gesellschaft in Europa. Diese freien Siedler kommen aus schon bestehenden Städten mit Märkten, Tauschzentren, die oft schon auf dem Wege zur Industrialisierung sind. Der Kapitalismus in Amerika brauchte keine frühere Gesellschaft umzustoßen oder zu zerstören; er entfaltete sich ohne Hindernisse, aber auch ohne Widerstand, außer dem der Eingeborenen. Es fehlt ihm dieser in Europa so mächtige ländliche Hintergrund; dieser Mangel setzt ihm, kulturell gesehen, zu. Er hat einen ausgeprägt städtischen 106 Charakter, aber die Stadt hat bei ihrer freien Entfaltung über das Land keinerlei Sicherheit, keinerlei Selbstbewußtsein gewonnen. In diesem außergeschichtlichen Zusammenhang, der ziemlich verschieden ist von dem Ablauf der geschichtlichen Ereignisse im asiatischen Osten und im europäischen Westen, begründete die Stadt ihre

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Macht über die ländlichen Gebiete. Heute jedoch vollzieht sich eine Umkehrung der Lage: die Stadt, selbst die riesige Stadt, verländlicht mehr, als sie ihre "Umgebung" verstädtert. Obwohl zudem der Grundbesitz in den Vereinigten Staaten nicht vor dem Kapitalismus bestand, hat dieser ihn stark gefestigt. Nach zwei Jahrhunderten ist sein Druck und seine Bedeutung nicht geringer, als im alten Europa. Dieses war das Opfer von sozialen und politischen Kräften, die es nicht auszuschalten verstand: der Feudalherren (Junker) in Preußen, der Latifundianer in Spanien, usw. Quantitativ gesehen bleibt also der Druck des Grundbesitzes in der ganzen Welt beträchtlich, sowohl in der Landwirtschaftsproduktion, wie in dem Verstädterungsprozeß. Man kennt diesen Einfluß schlecht, und Zahlen, die es erlauben würden ihn abzuschätzen, bleiben meist verborgen (19). Marx fragt sich, wie der Grundeigentümer, ohne über Kapitalien zu verfügen, ohne zu investieren, einen Teil des Mehrwerts erschleichen kann. Die Antwort ist: der formale Charakter des Eigentums (des Besitzrechtes) erlaubt es ihm. Er entlockt dem Boden, ohne ihn auszubeuten, ohne ihn auch nur zu berühren, selbst wenn er abwesend ist, die sogenannte absolute Rente und einen großen Teil der sogenannten Differentialrenten, die aus der Verschiedenheit der Ländereien, ihrer unterschiedlichen Fruchtbarkeit, ihrer mehr oder weniger günstigen Lage, den geleisteten Arbeiten und den investierten Kapitalien resultiert. Ursprünglich ist dies nur möglich, weil die ganze Landwirtschaft ein rückständiger Sektor der kapitalistischen Produktion ist; die organische Zusammensetzung des Kapitals (der Investitionen) ist hier geringer als anderswo und die Rolle der lebendigen Arbeit (die Anzahl der Arbeiter) folglich größer. Aus dieser lebendigen Arbeit erhebt der Eigentümer direkt oder über eine Zwischenperson seine "Revenu", das heißt seinen Teil am globalen Mehrwert. (19) "Trotz der durch die private Aneignung des städtischen Bodens hervorgerufenen ungeheuren Unordnung, die jeder empfindet, bleibt der Verstädterungsprozeß, den sie impliziert, verbotenes Gebiet ... Den Ursprung der Grundrente studieren heißt, das städtische Wachstum auf konkrete Weise, in einer bestimmten Situation ins Auge fassen . . . Der rechtliche Status des Bodens ermöglicht es einigen als Grundbesitzer anerkannten Individuen sich die Vorteile anzueignen, die der städtischen Infrastruktur zukommen . . ." P. Vieille, Marché des terrains et Société urbaine, Edit. Anthropos, 1970. S. 11-12 107 Selbstverständlich kann diese Erklärung der Analyse nur in Hinsicht auf den Grundbesitz klassischen Typs genügen: den ursprünglich feudalen, aus großen Gütern, die man Bauern überließ, oder summarisch als Weiden usw. ausbeutete, bestehenden Grundbesitzen. Sie muß für die Bergwerke, die vervollkommnete Landwirtschaft usw. anders aussehen. Was das "bebaute Grundstück" anbelangt, eignet sie sich für den Eigentümer alten Stils, der auf seinem Grundstück von einem "Unternehmer" einen Renditebau errichten läßt. Sie eignet sich nicht mehr für die Bauten moderner Art mit der Beteiligung von großen, gutausgerüsteten Unternehmen, Banken, verschiedenen Institutionen. Diese Phänomene sind jedoch, vor allem in Frankreich, neu; der "Immobilien"-Sektor wurde nur langsam in Bewegung gesetzt, das heißt, dem Kapitalismus unterworfen; dieser Prozeß ist bei weitem noch nicht abgeschlossen. In diesem Zusammenhang der starken Industrialisierung, wir betonten es bereits, tauchen die "städtischen Renten", die mit den ländlichen Grundrenten verwandt sind, wieder auf: Rente nach Lage (Differentialrente I) - und nach Beschaffenheit (Rente 11). Hinzu kommt die absolute Rente, auf die jeder Eigentümer in seiner Eigenschaft als Besitzer Anspruch erhebt und die als Grundlage zur Spekulation dient. Das heißt, daß die "Immobilien"-Theorie (mit ihren charakteristischen Zügen- Grundrente und Kommerzialisierung des Raumes, Kapitalinvestitionen und Profitmöglichkeit usw.) lange Zeit ein zweitrangiger Sektor, der allmählich dem Kapitalismus eingegliedert wurde, sich noch in der Entwicklung befindet. Diese (kritische) Theorie bezieht sich gerade auf den Integrationsprozeß, auf den Prozeß der Unterordnung eines lange Zeit abseits stehenden Sektors unter den Kapitalismus, zusammen mit der Integration der ganzen Landwirtschaft (außer den "Peripherien") in die Industrie und den Kapitalismus. Die Texte Marx' über den Kapitalismus und das Grundeigentum und seine Renten münden in diese Theorie, die sie zwar nicht enthalten, jedoch skizzieren und umreißen (Band 111, 47. Kap.). Aber die symbolische Rolle des Grundeigentums übersteigt bei weitem ihre "tatsächlichen" ökonomischen (quantitativen) Auswirkungen. b) Qualitativ. Das Grundeigentum wirft sozusagen die ganze Gesellschaft zurück; es bremst nicht nur das Wachstum und lähmt die Entwicklung, es orientiert sie auch durch einen ständigen Druck. Muß man den zwitterhaften Charakter der städtischen Ausdehnungen nicht dieser unmerklichen, ständigen Wirkung zuschreiben? Kommen die Vororte, halb Stadt, halb Land (oder vielmehr: weder Stadt, noch Land) nicht von diesem Druck? Der Eigentümer einer Parzelle hält sich für einen ländlichen Eigentümer, der einen Teil der Natur besitzt. Er ist jedoch weder Bauer, noch Städter. Die Verstädterung erstreckt sich auf das Land, ist jedoch degradiert und degradierend. Anstelle einer Aufnahme und Wiederaufnahme des Landes 108

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in die Stadt, statt einer Überwindung ihrer Gegensätze, findet ein gegenseitiges Verderben statt: die Stadt zerfällt in Randgebiete, und das Dorf löst sich auf; ein unförmiges städtisches Gebilde verbreitet sich über das ganze Land. Daraus entsteht ein formloser Brei: Elendsviertel, Megalopolis. Marx sagt: der Stadt droht die Verländlichung, die an die Stelle der Verstädterung des Landes tritt. So wie in den Zeiten des Niedergangs der antiken Städte. Und das geschieht trotz der Macht der Industrie und unter dem beunruhigten und doch mitschuldigen Blick der Vertreter der herrschenden Klasse, die in diesem Verfall reichhaltige Profite finden. Die Mahnungen und Kritiken finden nur ein geringes Echo. Der Besitz wurde nicht entthront; er verlor weder seinen Platz, noch sein Prestige. Der praktische und ideologische Druck des Privateigentums (an Boden und Kapital) macht die Herrschenden und sogar die Intellektuellen blind; er umnebelt die Einbildungskraft der Architekten, der Städteplaner. Diese Verblendung hat einen doppelten Ursprung; die direkt oder indirekt von dem Besitz resultierenden Vorstellungen - und die von der Rationalität des Unternehmens (technische Arbeitsteilung) herstammenden. Das Städtische bleibt also eine Abstraktion, eine Utopie. Indessen erobert das vernichtete, besudelte Ländliche die ganze Gesellschaft. Und die zerstörte Natur entzieht sich an der Basis dieser scheinbar zufriedenen Gesellschaft . . . Dies alles kann nicht von den anderen Aspekten einer theoretischen und praktischen Lage getrennt werden, deren Paradoxe die Gegensätze verschleiern. In den letzten Jahren umreißt Marx in seinen Schriften den Begriff der Produktionsweise immer näher. Für ihn bedeutet die kapitalistische Produktionsweise definieren weder, ein "Modell" zu erstellen, wie man später sagt, noch seine Auffassung von der Gesellschaft im allgemeinen und der bürgerlichen Gesellschaft im besonderen, zu systematisieren. Anstatt die Wirklichkeit zu verschließen, anstatt den Begriff "abzuschließen", öffnet er sie im Gegenteil. Die kapitalistische Produktionsweise ist weder nach der Vergangenheit, noch nach der Zukunft hin abgeschlossen. Die Großindustrie, halb blinde, halb bekannte (oder verkannte) Kraft, treibt oder vielmehr stößt sie in die Zukunft. Aus der Vergangenheit zieht sie das Grundeigentum mit sich, die Verlängerung dessen, was vor ihr war. Niemals stellte sich Marx, wie man später behauptete, eine kapitalistische Produktionsweise vor, die mehrere Produktionsweisen einschlösse, von denen eine - der Kapitalismus -beherrschend oder "vorbestimmend" wäre, und so den politischen Instanzen erlauben würde, durch das Machtsystem zu "strukturieren" und den anderen Systemen, dem Ökonomischen, dem Ideologischen usw. eine Kohärenz aufzuzwingen. Es stimmt, daß Marx jahrelang vor einer neuen "Problematik" stand, die er formulierte, ohne eine Antwort darauf zu geben. Sollte die Nichtvollendung 109 des Kapitals durch diese Lage zu erklären sein? Zweifellos ja. Sie erklärt sich nicht nur durch Marx' Krankheit, durch den Umfang oder die Veränderung seiner Anliegen, sondern durch das Auftauchen neuer Fragen, zu deren Beantwortung noch gewisse Elemente fehlten. Nach dem Scheitern der Kommune, während des Aufstiegs einer riesigen Arbeiterbewegung, die jedoch nicht den von Marx gezeigten Weg einschlägt, bleibt der Kapitalismus aufrechterhalten. Das schloß Marx nie ganz aus, obschon ihn das Anwachsen der Produktivkräfte im Kapitalismus überraschte. Was bedeutet das? Daß es eine Reproduktion der Produktionsverhältnisse gibt. In seiner früheren Periode fühlte Marx dieses Phänomen voraus, besonders in den Grundrissen; aber das unmittelbar gegebene Phänomen war die einfache oder erweiterte Reproduktion der Arbeitskraft, der Produktionsmittel. Der Arbeitslohn muß es dem Arbeiter ermöglichen, sich zu reproduzieren, muß den Proletariern erlauben, Kinder zu haben und sie großzuziehen, bis sie selbst in die Produktion eintreten. Um 1875 ändert sich das Problem. Wie kommt es, daß nach einer oder mehreren Generationen, während der sich die Menschen verändert haben, die Produktionsverhältnisse im wesentlichen fortbestehen? Es handelt sich nicht mehr um die wirtschaftlichen Zyklen oder um die erweiterte Reproduktion der Produktionsmittel, sondern um ein anderes soziales Phänomen. Marx stellt weder einen strukturellen Zusammenhang, noch eine bevorstehende Auflösung der Produktionsweise dar. Er zeigt weder ein "Subjekt", noch ein System, sondern einen Prozeß. Im Verlauf dieses Prozesses werden (auch) die Widersprüche produziert, reproduziert, abgeschwächt oder vertieft, tauchen sie auf oder verschwinden. In der Gesamtheit des Prozesses findet eine erweiterte Reproduktion (der alten und der neuen) Gegensätze statt. Die Analyse eines solchen Prozesses bringt Themen (Agenten oder Darsteller: Gruppen, Klassen oder Teile von Klassen) hervor, aber kein Subjekt. Sie durchleuchtet Teilsysteme (zum Beispiel das System der Kontrakte oder Fast-Kontrakte in einer bestimmten Gesellschaft innerhalb der Produktionsweise), aber kein System. Die Produktionsweise wird von der Gesamtheit ihrer Wechselwirkungen bestimmt. Der Gegensatz zwischen den Produktivkräften und den (kapitalistischen) Produktionsverhältnissen ist nur eine konfliktgeladene Beziehung unter vielen anderen, zwar eine wesentliche, aber in ihrer Intensität und ihrem Einfluß veränderliche. Besteht nicht der entscheidende Gegensatz in einem ständigen Konflikt zwischen der Bemühung um die Sicherung der Kohärenz des gesellschaftlichen Ganzen und dem ständigen Wiederauftauchen der Gegensätze auf allen Gebieten? Dieser Gegensatz ruft Gewalt hervor, wird

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aber durch Repression und Zwang nur vorübergehend aufgehoben. Wenn sich die Gebiete und Sektoren, auf denen sich die Reproduktion der Produktionsverhältnisse (einschließlich der städtischen Wirklichkeit) vollzieht, vermehren 110 und vervielfältigen, vermehren und vervielfältigen sich auch die Gegensätze zwischen den Gebieten und Sektoren innerhalb eines jeden von ihnen. Wenn dem so ist, kann die Analyse der sogenannten "städtischen" Probleme in der kapitalistischen Produktionsweise bei der Bemühung Marx' Werk fortzusetzen nicht in der Entdeckung oder dem Aufbau eines modernen, "städtischen Systems" oder einer "städtischen Macht" bestehen, sondern nur in der Erhellung der Gegensätze des Phänomens Stadt innerhalb des Gesamtprozesses. Eine einfache Beschreibung des städtischen Chaos oder Unbehagens auf phänomenologische Weise wäre im übrigen nicht für diese Methode und diese Richtung geeignet. Es kann sich nur um eine Analyse handeln, die Begriffe verwendet, sich zu einer Theorie entwickelt, die globale Darstellung des Prozesses anstrebt. Fügen wir noch einige erläuternde Worte hinzu, bevor wir dieses Kapitel abschließen. Nach dieser Hypothese wären die Stadt und die städtische Wirklichkeit der eigentliche Ort und Ortkomplex, an dem sich die Reproduktionszyklen abspielen, die weiter, umfassender sind, als die der Produktion, welche sie umschließen. Insbesondere impliziert die Reproduktion der (kapitalistischen) Produktionsverhältnisse die Reproduktion der Arbeitsteilung, das heißt, der Trennungen innerhalb der Arbeitsteilung. Besonders zwischen der technischen Teilung (in den Produktionseinheiten) und der sozialen Teilung (auf dem Markt). Es wäre möglich, daß die Stadt und/oder das, was von ihr übrigbleibt (Zentren), zugleich der Ort dieser Reproduktion und die bleibende Verbindung zwischen diesen Begriffen ist, die in der Auflösung begriffen sind. Was die Reproduktion von Wissen anbetrifft, so umfaßt diese nicht nur die Reproduktion der sozialen Verhältnisse (durch die Beziehung: Unterrichtender -Unterrichteter hindurch), sondern auch die Reproduktion von Ideologien, die mit den Begriffen und Theorien in Form von Themen, belegten oder versteckten Zitaten, "Untersuchungen", Perspektivgierungen, mit Informationen vermischtem Wortschwall, mehr oder weniger hintertriebenen Vereinfachungen usw. vermischt sind. Ein gewisses Verhältnis von Wissen und Nicht-Wissen, das die Ideologie aufrechterhält, wird ebenfalls weitergegeben. Besonders in Hinsicht auf den Marxismus, die Stadt usw. 111

Allgemeine Schlußfolgerungen Gewiß haben wir Marx' Gedanken über das uns gestellte Thema nicht erschöpft, und wenn man alle Texte, in denen das Wort "Stadt" bei Marx und Engels vorkommt heraussuchen würde, könnte man vielleicht noch einiges entdecken. Besonders hinsichtlich des Klassenkampfes. Dieser unaufhörliche Kampf hat für Marx und Engels seinen Ursprung in der Produktion, seine Grundlage in der ökonomischen Wirklichkeit, seine Motive in den Forderungen, seinen aktiven Träger in der Arbeiterklasse. Und doch entsteht der Klassenkampf in der Stadt. Einerseits spiegelt der politische Kampf eine politische Lage wieder, und andererseits deckt er deren noch nicht wahrgenommene Aspekte und latente Möglichkeiten auf. Durch sein Bemühen, die Produktionsverhältnisse zu verändern, bringt der Klassenkampf sie zum Bewußtsein. Auf diese Weise macht er sie in einem bestimmten Zusammenhang, nämlich den "Stadt-Land"-Beziehungen, wahrnehmbar. Im Jahre 1848 widersetzten sich die französischen Städte dem politischen Einfluß der damals zahlreichsten Klasse der französischen Gesellschaft, der Klasse der Parzelle-Bauern. Den Bürgern der Städte gelingt es, "das Ergebnis der Wahl vom 10. Dezember 1848 zu verfälschen", den Aufstieg des Bonapartismus zu verzögern. Für die Parzellen-Bauern tat Bonaparte mehrere Jahre lang nichts weiter, als "die Bande zu lösen, in welchen die Städte den Willen des Landes eingeschlossen hatten". Dabei waren der Bauer und seine Parzelle das Ergebnis der Ausweitung des Regimes der freien Konkurrenz und der Großindustrie auf das Land, die in den Städten unter Napoleon I. ihren Anfang nahm. Dabei stimmten in diesem Prozeß die Interessen der Bauern nicht mehr mit denen der Bourgeoisie überein und sie müßten "in dem Proletariat der Städte, deren Aufgabe der Umsturz der bürgerlichen Ordnung ist, ihren Verbündeten und Führer finden." (18 Brumaire, tr. Marcel Ollivier, E.S.I., 1928, S. 134-146 ff.) Nun wollen wir einen Blick zurück auf den hinter uns liegenden Weg werfen, um danach klarer den Weg der Zukunft zu erkennen. Die Texte Marx' und Engels über die Stadt sind nur sinnvoll, wenn man sie in den Werdegang ihres ganzen Denkens wiedereinfügt. Sie zwangen uns,

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112 diesen zuerst verlorengegangenen, dann wiedergefundenen Gedankengang zu wiederholen. Es war unmöglich, sie zu isolieren! Sie einzeln wiederaufzunehmen hätte einen Verrat an der Bewegung, die sie trug und die sie vorwärtstreibt bedeutet. So mußten wir, um die ökonomische Rolle der Städte zu verstehen, die ganze Theorie des Mehrwerts, der Arbeitsteilung usw. wieder in Erinnerung bringen. Unter unseren Lesern werden manche sicher sagen: "Was wollten wir? Wir wollten erfahren was Marx und Engels vor einem Jahrhundert über eine Frage wußten und sagten, die sich damals zu stellen begann, Texte, die noch niemals jemand zu vereinen gedacht hatte. Mit welchem Recht werden die gegenwärtigen Interessen mit der Wiederaufnahme dieser Texte und ihres aufmerksamen Studiums vermischt?" Andere dagegen werden ausrufen: "Aber das ist nicht das, was wir erwarteten! Wir hofften, daß ein zeitgenössischer Marxist uns mit der Methode Marx' sagen würde, was er über Fragen weiß, die sich mit wachsender Dringlichkeit stellen, anstatt seine Doktrine zu verlängern. Wozu sind diese Texte gut, wenn sie zu nichts dienen?" Den Ersteren erlauben wir uns einmal mehr zu antworten, daß die Marxologie unserer Ansicht nach keinen großen Zweck hat. In ihrem Namen balsamiert man "Denker" und ein Denken ein, die insofern aktuell bleiben, als man das Gegenwärtige ohne sie nicht begreifen kann und man sogar noch von ihnen ausgehen muß, um zu verstehen, was während eines Jahrhunderts vorgegangen ist. Die Gelehrsamkeit, der Rückfall in das "Geschichtliche" interessieren uns nicht. Wir befragen die Texte im Namen des Gegenwärtigen und des Möglichen; und das ist genau die Methode Marx', das empfiehlt er, damit das Vergangene (Ereignisse und Dokumente) wieder auflebe und dem Zukünftigen diene. Den Letzteren entgegnen wir, daß die Kontroverse über das Denken Marx' die Verwendung der Begriffe ohne vorherige Prüfung verbieten. Um die Gedanken Marx' über eine "Sache", die er ausdrücklich untersucht hat, weiterzuführen, muß man sie erst wiederherstellen. Erst dann und auf diese Weise kann man, wenn es nötig ist, die kritische Analyse des Konkurrenz-Kapitalismus, die Marx vornahm, für die moderne Stadt und ihre Problematik wiederaufnehmen. In der Tat beabsichtigte der Verfasser (ego) seit langem diese Wiederherstellung und versuchte die Analysen fortzusetzen, bevor er das Ergebnis dieser Wieder-Wieder-Lektüre veröffentlichte. Dafür zeugen, wenn nötig, implizit und explizit verschiedene "marxistische" Werke und Veröffentlichungen. Die Forschung, die Marx' Denken weiterführt, versucht nicht, eine Kohärenz zu entdecken oder zu schaffen: ein "städtisches System", städtische Strukturen und Funktionen innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise. Ein 113 Denken, das sich zu Recht "marxistisch" nennen kann, ordnet die Zusammenhänge den Gegensätzen unter. Wenn man das Gegenteil feststellen und annehmen muß, also die Unterordnung der Konflikte unter die Kräfte des Zusammenhalts in der kapitalistischen Gesellschaft, dann hat Marx sich geirrt, dann schweift sein Denken ab, dann siegt die Bourgeoisie. Wir haben flüchtig gezeigt, welche Probleme sich seit der zweiten Hälfte des XIX. Jahrhunderts der kritischen Analyse der (kapitalistischen) Produktionsweise und zugleich den (bürgerlichen) Beherrschern dieser Gesellschaft stellten. Sie mußten in ihrer politischen Praxis die Reproduktion der Produktionsverhältnisse in Betracht ziehen und nicht mehr nur die der Produktionsmittel. Die erweiterte Reproduktion betraf nicht mehr nur die Zyklen und Umläufe der wirtschaftlichen Produktion, sondern verwickeltere Prozesse. Die Bourgeoisie löste diese Probleme - nach Strategen wie Bismarck - auf empirische, aber wirksame Weise, wirksam genug, um die kapitalistische Produktionsweise aufrechtzuerhalten. Während das marxistische Denken sich in "Reformismus" und "Revolutionarismus" spaltete: einerseits die Suche nach der sozialen Logik und andererseits die Ankündigung der Katastrophe. Marx, der die neuen Probleme vorausgeahnt hatte, verstand es nicht, eine Antwort darauf zu finden. Die Reproduktion der Produktionsverhältnisse impliziert sowohl die Ausdehnung wie die Erweiterung der Produktionsweise und ihrer materiellen Grundlage. Einerseits also breitete sich der Kapitalismus über die ganze Welt aus, unterwarf, wie Marx es vorhergesehen hatte, die früheren Produktivkräfte und änderte sie für seinen Gebrauch um. Andererseits bildete der Kapitalismus neue Produktions- und damit Ausbeutungs- und Beherrschungsgebiete, wie zum Beispiel die Freizeit, das tägliche Leben, das Wissen und die Kunst und schließlich die Verstädterung. Was ergibt sich aus diesem zweifachen Prozeß? Der Kapitalismus blieb bestehen und erstreckte sich über den ganzen Raum. Zur Zeit Marx' von begrenzten Ländern (England, einem Teil des europäischen Festlands und dann von Nordamerika) ausgehend, eroberte er den Erdball, nachdem er den Weltmarkt gebildet hatte und ungeheure Erfolge errang (besonders durch die Schaffung der Freizeit, des Tourismus usw.), trotz einiger ernster Niederlagen, Revolutionen und Aufstände. Die Produktivkräfte erlangten in ihrem Wachstum, trotz der "Behinderung" durch die kapitalistischen Produktionsverhältnisse, die durch zwei Weltkriege angestachelt wurden, eine solche Macht, daß sie den Raum produzieren. Auf Weltebene wird der Raum nicht nur entdeckt und besiedelt, er wird so verändert, daß sein "Rohstoff", die "Natur", durch diese Beherrschung, die keine Aneignung ist, bedroht ist. Die allgemeine Verstädterung ist ein Aspekt dieser ungeheuren Ausdehnung. Wenn es eine Produktion des Raumes gibt, sollte es dann nicht auch Gegensätze des Raumes, oder genauer gesagt,

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114 dieser Produktion immanente Konflikte, neue Gegensätze geben ? Wenn ja, so behält Marx' Denken seine Bedeutung und bekommt sogar eine größere Tragweite. Wenn nicht, so muß man Marx und den Marxismus aufgeben. Es ist unnötig, sie im Namen einer "Wissenschaftlichkeit" beizubehalten, die sich der Kapitalismus angeeignet hat, und deren Kriterien sich zudem nicht für sie eignen. Man kann jedoch beweisen (dieser schon begonnene "Beweis" wird an anderer Stelle in Untersuchungen und entwickelten Darstellungen fortgesetzt), daß die Gegensätze des Raumes und seiner Produktion sich vertiefen: a) Der Hauptgegensatz liegt zwischen dem global, auf Weltebene produzierten Raum und seiner Zerstückelung, die aus den kapitalistischen Produktionsverhältnissen resultiert (aus dem Privateigentum der Produktionsmittel und des Bodens, das heißt dem Raum selbst). Der Raum zerbröckelt, wird ausgetauscht (verkauft), wird von Teilwissenschaften fragmentarisch erfaßt, während er sich zu einer weltweiten und sogar interplanetarischen Gesamtheit ausbildet. b) Die Ausdehnung des Kapitalismus verallgemeinert die von Marx vorgenommene kritische Analyse seiner "trinitarischen" Beschaffenheit. Es genügt nicht, diese Ausdehnung durch den verallgemeinerten Austausch ausschließlich in der "Warenwelt" zu erklären; es würde sie einzig auf den Weltmarkt beschränken, der zu Marx' Zeiten bereits bestand. Die Gesellschaft und die sie bestimmende Produktionsweise trennen ihre Elemente und lösen sie durch die Aufrechterhaltung in einer der Trennung auferzwungenen und übergeordneten Einheit auf. Dies ist die "trinitarische Formel" (Erde, Kapital, Arbeit), Die kapitalistische Produktionsweise zwingt einer allgemeinen Trennung (Absonderung) der Gruppen, Funktionen und Orte eine repressive (staatliche) Einheit auf. Und zwar in dem sogenannten städtischen Raum. c) Dieser Raum ist also der Sitz eines spezifischen Widerspruches. Die Stadt dehnt sich übermäßig aus; sie explodiert. Wenn eine Verstädterung der Gesellschaft stattfindet und folglich die Stadt das Land absorbiert, gibt es aber auch gleichzeitig eine Verländlichung der Stadt. Die städtischen Ausdehnungen (Vororte, nahe oder entfernte Peripherien) unterliegen dem Grundbesitz und seinen Konsequenzen: Grundrente, Spekulation der natürlichen oder der provozierten Bodenknappheit. d) Die mit den Techniken und dem Anwachsen der Produktivkräfte verbundene Beherrschung der Natur, die ausschließlich den Profitansprüchen (des Mehrwerts) unterworfen ist, endet in der Zerstörung der Natur. Der organische Stoffwechsel zwischen der Gesellschaft und der Erde, dessen Bedeutung Marx anhand der Stadt hervorhebt, ist, wenn nicht unterbrochen, so doch gefährlich gestört. Es besteht die Gefahr ernster, wenn nicht sogar katastrophaler Auswirkungen. Man kann sich fragen, ob die Zerstörung 115 der Natur nicht ein "integrierender" Bestandteil einer Selbstzerstörung der Gesellschaft ist, die mit der Aufrechterhaltung der kapitalistischen Produktionsweise ihre Kräfte und ihre Macht gegen sich selbst richtet . . . e) Keine der Überwindungen, die in dem marxistischen Projekt in Betracht gezogen wurden, wurde verwirklicht, weder die Überwindung des Gegensatzes "Stadt-Land", noch die der Arbeitsteilung, noch die des weniger stark unterstrichenen Gegensatzes: "Werk - Produkt". Was ist die Folge hiervon? Ein gegenseitiges Verderben der nichtüberwundenen Begriffe, ein besonders hinsichtlich der Stadt und dem Land wahrnehmbarer und bedeutsamer Verfall. f) Der Zerstreuung in den Peripherien, der Absonderung, welche die gesellschaftlichen Beziehungen bedroht, steht eine Zentralisation gegenüber, die als Zentralisation von Entscheidungen (über Reichtum, Information, Macht, Gewalt) ihre Formen verschärft. g) Die Produktion des Raumes berücksichtigt die Zeit nur, um sie den Forderungen und Zwängen der Produktivität zu unterwerfen. Ein merkwürdiger Kreis, in den die Zeit eingeschlossen ist. h) Da die Automation, die Nicht-Arbeit möglich macht, erschleicht sich die herrschende Bourgeoisie diese Möglichkeit für ihren Gebrauch. Sie dehnt die Freizeit nur aus, um sie auf dem Umweg über die Industrialisierung und Kommerzialisierung der Freizeit und der Freizeiträume dem Mehrwert zu subsumieren. Sie sterilisiert die Nicht-Arbeit, indem sie sie ihrer eigenen Untätigkeit, die ohne schöpferische Fähigkeit ist, weiht. Sie erweckt die Forderung nach Nicht-Arbeit, diese symptomatische Empörung, die eine Randerscheinung (Hippie-Gemeinschaften) bleibt. Die "Werte" der Arbeit entarten und werden durch nichts ersetzt. Desgleichen automatisiert die Klassenstrategie die Verwaltung schneller und besser als die Produktion: es kommt der Augenblick, wo die Bourgeoisie die Arbeit in den Industrieländern unterhalten wird, anstatt die Nicht-Arbeit erscheinen zu lassen! Daraus folgt, daß die Arbeits-, Nicht-Arbeits- und Freizeiträume sich in dem weltweiten Raum auf eine paradoxal neue Weise, die erst anfängt Form und Verteilung anzunehmen, miteinander verflechten. i) Das Individuum ist also zugleich "sozialisiert", integriert, angeblich natürlichem Druck und Zwang unterworfen, die es beherrschen (besonders in seinem räumlichen Rahmen, der Stadt und ihren Ausdehnungen) - und getrennt, isoliert, desintegriert. Ein Widerspruch, der sich in Angst, Frustration und Empörung ausdrückt.

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j) Die Gemeinschaft stellt sich auf zwei Arten dar: einerseits das "Öffentliche", das "Kollektive", das Staatliche, das Soziale. Andererseits, die am Rande stehende, ja sogar abwegige Vereinigung der Willensäußerungen. Diese Spaltung muß in einer Auffassung des Raumes gelöst werden; aber diese Lösung ist noch utopisch und verhindert nicht die Auflösung dieser 116 Beziehungen, die ihren angemessenen Ort (Raum und "Topos") nicht finden können. Zusammenfassend kann man sagen, daß diese Gesellschaft, die ihre Umwandlung nicht nach dem marxistischen Plan zu vollziehen verstand, die auf diesem Weg, es sei denn, sie hätte (unbewußt) einen anderen gewählt, stagniert, dem Möglichen preisgegeben ist. Was quält sie? Die Gewalt, die Zerstörung und die Selbstzerstörung, deren Ursache in ihr selbst liegt, aber auch die Nicht-Arbeit, der totale Genuß. Und nicht zu vergessen der vollkommen angeeignete, also städtische Raum. Wenn man heute die Gedanken der großen Utopisten Fourier, Marx, Engels wieder aufnehmen und erweitern muß, so nicht, weil sie von Unmöglichem träumten, sondern weil diese Gesellschaft immer noch ihre Utopie in sich trägt: das Mögliche - Unmögliche, das Mögliche, das sie unmöglich macht, äußerste, revolutionäre Situationen erzeugende Gegensätze, die nicht mehr mit dem übereinstimmen, was Marx verkündete, sowie ein organisiertes (geplantes) Anwachsen der Produktivkräfte nicht mehr ausreicht, um sie zu lösen! 117