lettland zwischen dainas und 'i wanna

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Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna 1 Lettland zwischen Dainas und I wanna Zur Konstruktion der lettischen Nationalkultur im 19. Jahrhundert Diplomarbeit Studiengang Kulturarbeit im Fachbereich Architektur und Städtebau an der Fachhochschule Potsdam vorgelegt von: Yvonne Chaddé Wichertstr. 42 10439 Berlin Berlin, im Januar 2004 Erster Gutachter: Prof. Dr. Hermann Voesgen Zweite Gutachterin: Una Sedleniece

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Zur Konstruktion der lettischen Nationalkultur auf Grundlage der Volkskultur im 19. Jahrhundert.Diplomarbeit 2004

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Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

1

Lett land zwischen Dainas und I wanna

Zur Konstruktion der lettischen Nationalkultur im 19.

Jahrhundert

D ip lomarbe i t

Studiengang Kulturarbeit

im Fachbereich Architektur und Städtebau

an der Fachhochschule Potsdam

vorgelegt von:

Yvonne Chaddé

Wichertstr. 42

10439 Berlin

Berlin, im Januar 2004

Erster Gutachter:

Prof. Dr. Hermann Voesgen

Zweite Gutachterin:

Una Sedleniece

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Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

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Inhaltsverzeichnis

Einführung 4

1. Die kulturelle Konstruktion der Nation im

Wandel der europäischen Gesellschaft

12

1.1. Die Konstruktion der Nation 12

1.2. Die Konstruktion der Nationalkultur 17

1.3. Der lettische geschichtliche Kontext 23

1.4. Der Wandel der lettischen Gesellschaft im

19. Jahrhundert

27

2. Die nationale Bewegung in Lettland 36

2.1. Die Rolle der Jungletten bei der

Konstruktion des lettischen

Nationalbewusstseins

36

2.2. Die Modernisierung der lettischen Sprache 38

2.3. Die Rolle der Vereine 43

2.4. Die Produktion nationaler Literatur 44

2.5. Die Aufsplitterung der nationalen

Bewegung

46

3. Volkskultur 49

3.1. Die Entdeckung der Volkskultur als

nationale Kultur

49

3.2. Das wissenschaftliche Interesse an der

Volkskultur

56

3.2. Dainas 58

3.2.1 Formale Kennzeichen 59

3.2.2 Musikalische Kennzeichen 61

3.2.3 Funktionen der Dainas 62

3.2.4 Themen und inhaltliche Aspekte 64

3.3. Weitere Volksliedtypen 70

3.4. Die Sammlung und Veröffentlichung der

Dainas im 19. Jahrhundert insbesondere

72

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Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

3

durch Krišjānis Barons

3.4.1 Die Baron’sche Dainasammlung 73

3.4.2 Barons Methode der Systematisierung 75

3.4.3 Die Nationalisierung der Dainas mit Hilfe

wissenschaftlicher Erkenntnisse

79

4. Fazit 85

4.1. Die nationalen Funktionen der Dainas 85

4.2. Die aktuelle lettische kulturelle Identität 88

4.3. Kritische Schlussbemerkungen 90

Literatur 91

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Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

4

Einführung

Die Nationalstaaten sind Konstrukte der Moderne. Sie wurden

geschaffen, indem unterschiedliche gesellschaftliche Strukturen

vereinheitlicht wurden, um das effektive und geregelte Wirtschaften

ermöglichen zu können. Doch, was ist die Nation, für die der

Nationalstaat geschaffen wurde? Ist sie eine Gemeinschaft, die unter

bestimmten geschichtlichen, kulturellen und gesellschaftlichen

Bedingungen, gewachsen ist und welche unter diesen Bedingungen

einzigartig wurde? Liegt ihr Ursprung in längst vergangenen Zeiten,

denen man nicht mehr nachspüren kann? Oder bewahrt sie die

Geschichte um ihre Entstehung und ihre Entwicklung in bestimmten

kulturellen Formen, die nur ihr eigen sind? Und sind sich die

Mitglieder der Nation ihrer kulturellen Eigenart bewusst?

Wenn man nach dem kulturellen Substrat, welches die lettische

Nation ihr Eigen nennen kann, sucht, wird man auf Volkslieder

stoßen. Nicht, dass sich die lettische Nation kulturell nur über

Volkslieder identifiziere, aber es wird auffallen, dass in

landeskundlichen und populärgeschichtlichen Publikationen über die

lettische Republik, der Stellenwert der typisch lettischen Volkslieder,

seit dem 19. Jahrhundert als Dainas bekannt, im kulturellen

Bewusstsein der Letten hervorgehoben wird. „Diese Lieder bilden die

Grundlage der lettischen Identität und Singen wird zu einer

identifizierbaren Eigenschaft eines Letten“ (Freiberga in Bula 1999),

formuliert 1975 die jetzige lettische Staatspräsidentin Vaira Viėe-

Freiberga. Die Dainas gelten als das älteste kulturelle Denkmal

Lettlands überhaupt. Man kann lesen, dass es heute fast so viele

lettische Dainas wie Letten gäbe. Diese Erkenntnis resultiere daraus,

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Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

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dass im 19. Jahrhundert begonnen wurde, diese Lieder systematisch

zu sammeln. Dieses Unterfangen ist mit der Person Krišjānis Barons

(1835 – 1923) verbunden, der fast 218000 Lieder zu Lebzeiten, nach

Aufrufen, Volkslieder zu sammeln und einzuschicken, erhält und

diese in sechs Bänden „Latvju Dainas“ veröffentlicht. Die

Sammlungstätigkeit setzt sich bis heute unter der institutionellen

Führung des Archivs für Lettische Folklore fort. Sucht man das

singende Lettland auf einem anderen Weg, wird man bei dem

Eurovision Song Contest, dem Wettbewerb um den großen Preis des

europäischen Liedes, das Lied I wanna finden, was Lettland 2002

den ersten Platz einbrachte.

Kontext

Die Nationalstaaten in Osteuropa formen sich nach dem

Zusammenfall der Monarchien zum Ende des Ersten Weltkriegs. Es

ist ein Phänomen in Osteuropa, dass sich die Nationen alle im 19.

Jahrhundert bilden. Auf dem heutigen Gebiet Lettlands vollzieht sich

im 19. Jahrhundert vor dem Hintergrund der europäischen

Industrialisierung, der Wandel der Gesellschaft. Ein lettisches

Bürgertum bildet sich heraus. Das Gebiet Lettlands befindet sich zum

einen in der Selbstverwaltung durch deutsche Ritterschaften und ist

andererseits an das russische Zarenreich angegliedert. Alle

politischen, bürgerlichen und adeligen kulturellen Sphären sind von

Deutschen besetzt. Der soziale Aufstieg für Letten bedeutet, dass sie

sich im Deutschen assimilieren müssen. Innerhalb der gebildeten

Schichten stellt sich ab den 1850er Jahren die Frage, ob die lettische

Kultur autonom werden könne, und ob die lettische Nation existiere.

Mit Hilfe kultureller Aktionen, die intellektuellen Schichten

durchführen, sollte die lettische Nation sichtbar werden und auf der

kulturellen und geschichtlichen Bühne erscheinen.

Vorraussetzung dieser Arbeit ist die Gegebenheit, dass die lettische

Nation, ebenso wie die Nationen West-, Mittel- und Osteuropas,

Ergebnisse eines Konstruktionsprozesses sind. Diese Arbeit verfolgt

die Konstruktion der lettischen Nation anhand bestimmter kultureller

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Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

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Formen im 19. Jahrhundert. Die Gestaltung der lettischen Nation

verläuft über die Gestaltung der lettischen Nationalkultur. Eine

besondere Rolle wird dabei den Dainas zuteil. Es ist die

Hauptannahme der Arbeit, dass die Dainas instrumentalisiert

werden, um die Grundlage der lettischen nationalen kulturellen

Identität zu bilden. Die Motivation für diese Untersuchungen ist der

Eindruck, dass die Dainas das natürliche Fundament der nationalen

Kultur und somit die natürliche Basis nationaler Identität für jeden

Letten darstellen.

Die konstruierten Nationen beruhen alle auf einem Mechanismus:

etwas Eigenes, das die Nation nach innen verbindet und nach außen

abgrenzt, zu betonen. Die Idee der Nation beruht auf der Annahme,

dass eine bestimmte Eigenheit, die eine Nation von der anderen

unterscheidet, durch bestimmte Merkmale nachgewiesen und

ausgedrückt werden kann. Fast jede Nation versucht, durch

bestimmte kulturelle Formen, geschichtliche Ereignisse oder

gemeinsame Sprache, ihre Existenz nachzuweisen. Je weiter sich

diese Existenz in die Vergangenheit verfolgen lässt, desto

glaubwürdiger ist sie bestätigt. Sodann kann die Forderung nach

politischer Selbstbestimmung in Form des Nationalstaates nach

außen gerechtfertigt werden. Nach innen muss gleichermaßen ein

Zugehörigkeitsgefühl zur Nation ausgebildet werden, so dass die

politischen und gesellschaftlichen Veränderungen von allen

Gesellschaftsteilen mitgetragen werden. Die Idee der Nation muss so

in das Bewusstsein der Menschen verpflanzt werden, dass sie ihnen

als etwas ganz Natürliches und Selbstverständliches erwächst.

Sprache eignet sich besonders gut zur Ausbildung, eines nationalen

Zugehörigkeitsgefühls, da eine einheitliche Sprache durch

Verwaltung, Militär, Schulwesen, Presse und Literatur systematisch

verbreitet werden kann. Die Sprache entwickelt sich damit zu einem

wesentlichen Bereich nationaler Emanzipation.

Im Fall Lettlands sind die Gebiete der Administration, des

Schulwesens sowie des Militärs durch Deutsche besetzt. So bleiben

als einzige Handlungsfelder nationaler Bewusstseinsbildung,

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Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

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Publizistik und Literatur. Eine lettischsprachige Literatur und Presse,

die von Letten produziert wird, existiert bis Mitte des 19.

Jahrhunderts nicht. Auch die lettische Sprache wird zu diesem

Zeitpunkt den Anforderungen einer modernen Gesellschaft nicht

gerecht. Da aber in allen Gebieten des öffentlichen Lebens von den

nationalen Aktivisten lettische Autonomie erzielt werden soll, muss

die lettische Sprache modernisiert werden. Ebenso muss, um das

deutsche Kulturmonopol zu stürzen, lettische Schriftsprache

produziert werden. Die Etablierung lettischsprachiger Literatur

vollzieht sich in der lettischen Gesellschaft. Konkret: sie soll die neue

lettische Literatur - in der die nationalen Gedanken transportiert

werden - aufnehmen und unterstützen. Für einen Großteil der

lettischen Bevölkerung existiert jedoch keine Bindung an

Schriftkultur, da ihre gewohnheitsmäßige kulturelle Ausdrucksform in

der mündlich tradierten Volkskultur liegt. Es ist also erforderlich, die

kulturellen Präferenzen der lettischen Bevölkerung zu ändern: von

der mündlichen Bauern- und Volkskultur zur nationalen Schriftkultur.

Den Dainas wird in der nationalen Bewusstseinsbildung eine

tragende Rolle zuteil, die mehrere Funktionen erfüllen. Sie

integrieren die ländlichen Bevölkerungsteile in die moderne lettische

Gesellschaft. Sie avancieren zum Symbol für die Eigenständigkeit

der lettischen Kultur. Das Wesentliche dieser Prozesse, in dem sie

von der funktionalen bäuerlichen Volkskultur zur Grundlage lettischer

nationaler kultureller Identität erhoben werden, ist ihre schriftliche

Fixierung, der besonderes Augenmerk geschenkt werden muss.

Der Übergang von einer mündlichen zur verschriftlichten Tradition

manifestiert sich in der Bindung der eigentlichen, oralen Kulturgüter,

die nun dauerhaft, also schriftlich fixiert werden.

Ein solcher Wechsel ist erforderlich, um die kulturellen Präferenzen

der einfachen, ländlichen Bevölkerung zu ändern. Gleichzeitig wird

die bis dahin vorherrschende orale Kulturform, in eine schriftliche

integriert, die zur Basis der nationalen Autonomie wird.

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Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

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Im nationalen Kontext ist besonders die schriftliche Gestaltung und

die methodische Anordnung der Dainas, die K. Barons in seiner

Sammlung vornimmt, von Bedeutung.

Damit ist zum Ausgang des 19. Jahrhunderts eine „lettische

Geschichte“ nachgewiesen – die Dainas bringen Kunde

vergangenen lettischen Lebens dar. Ein Nachweis für die

Eigenständigkeit lettischer Kultur ist erbracht.

Dieser richtet sich hauptsächlich gegen die Dominanz der

Deutschen. Zum Kontext: in der deutschen Geschichtsschreibung ist

die These gängig, die Christianisierung des baltischen Raumes im

13. Jahrhundert und dessen anschließende Besiedelung, hätte die

barbarischen, wilden – kulturlosen – altlettischen Stämme kultiviert.

Dieser Anspruch auf eine „kulturelle Mission“ legitimiert das

Herrschaftssystem der deutsch-baltischen Ritterschaften. Mit den

Dainas wird also die behauptete Kulturlosigkeit widerlegt und damit

findet eine Aufwertung lettischer Sprache und bäuerlicher Kultur

statt.

Vorgehensweise

Im ersten Kapitel werden die theoretischen Vorraussetzungen, um

den Charakter der Konstruktion aller Nationen in Europa sichtbar zu

machen, dargelegt. Besonderes Augenmerk ist auf das deutsche

Modell der Nationsbildung zu richten, gekennzeichnet durch die

romantische Besinnung auf einen in der vorgeschichtlichen

Vergangenheit angesiedelten Volksbegriff, der den Begriff der

Nation überhaupt rechtfertigt. Anzumerken ist, dass besonders in der

Romantik alle Phänomene des Daseins auf die Natur als zentrales

Erklärungsmodell bezogen werden. Die Nation und ihr Volk werden

demnach als natürlich gewachsen begriffen. In der Romantik wird der

Kunst, im weitesten Sinne, eine umfassende Geltung anerkannt. Da

die Vereinigung aller Künste angestrebt wird und darin die

Wissenschaften einbezogen sind, werden kulturellen Erzeugnissen

geschichtlichen Wert zugesprochen.

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Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

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Des Weiteren werden Mechanismen der Nationalkultur und

Erklärungsmechanismen für die Bildung der Nation demonstriert. Der

Fokus ist hauptsächlich auf Osteuropa gerichtet und verdichtet sich

in Beispielen über Ungarn. Die kulturelle Einheit, ausgedrückt in

bestimmten kulturellen Symbolen und symbolischen Formen, ist das

Sinnbild für die natürlich gewachsene Gemeinschaft der Nation. Mit

diesen Ausführungen soll der Zusammenhang zwischen

Nationalkultur, Volkskultur, Geschichte und Sprache aufgedeckt

werden.

Im einführenden Teil zu Lettland wird ein Überblick über die

Geschichte seit dem Einbruch der deutschen Kultur Ende des 12.

Jahrhunderts gegeben. Dort beginnt für Lettland der offizielle Punkt

der Geschichtsschreibung - jedoch aus deutscher Perspektive

vorgenommen. Es ist für den anschließenden Rahmen meiner Arbeit

sehr wichtig, die Veränderungen der lettischen Gesellschaft im 19.

Jahrhundert sehr ausführlich zu benennen, da das 19. Jahrhundert

den Hintergrund meiner Untersuchungen zur systematischen

Gründung der lettischen Nationalkultur bildet. Das Spannungsfeld

der Herrschaftsverhältnisse, in dem die nationale Bewegung in den

1850er Jahren ansiedelt, soll damit aufgezeigt werden. Zudem wird

ein Bezug auf die ideengeschichtlichen Auswirkungen der Aufklärung

hergestellt. Die Frage nach der Geschichtlichkeit des Menschen in

der Aufklärung fördert die Sammlung ethnographischer Daten und

volkskultureller Erzeugnisse. Diese sind dem Entwurf eines eigenen

lettischen Geschichtsbildes nützlich.

Die Aktionen der Jungletten, die national gesinnten Aktivisten des 19.

Jahrhunderts, werden im zweiten Kapitel näher beleuchtet. Sie

erkennen, dass die lettische Sprache erneuert werden muss, um die

moderne lettische Gesellschaft auszubilden. Da die Aktionen an

bestimmte Personen gebunden sind, gehen die Untersuchungen von

diesen aus. Von den Instrumenten der Verbreitung wird sich dabei

auf die Presse konzentriert, die das Hauptwerkzeug der Neuletten

bildet.

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Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

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Der Produktion der nationalen Literatur - epische, lyrische und

dramatische Werke -, wird in dieser Arbeit nur am Rande

Aufmerksamkeit geschenkt. Literatur ist zwar ein wichtiges

Instrument, um die nationale Idee in romantischer Verkleidung zu

präsentieren, aber diese Ausführungen hätten den Rahmen der

Arbeit gesprengt.

Ein Bezug zu den Bereichen des öffentlichen Lebens, zu denen den

Letten durch die Ausweitung der persönlichen Freiheiten Zugang

gewährt wird, findet in kulturellen Vereinen und massenwirksamen

Veranstaltungen statt. Dort werden die Praktiken der nationalen

Bewusstseinsbildung angewendet; dort besteht die einzige

Möglichkeit, politisch aktiv zu werden. Auf die Bedeutung anderer

Arten von Vereinigungen, wie wissenschaftlichen oder

wirtschaftlichen, wird hier nicht weiter eingegangen.

Die Verzweigung der lettischen Intelligenz und die Auswirkungen der

Ideen der Sozialdemokratie bilden den Abschluss dieses Kapitels.

Sie markieren auch zeitlich das Ende des 19. Jahrhunderts. Die

Schilderung der gesellschaftlichen Verhältnisse unterstützt die

Ansicht, dass die Volkskultur dazu genutzt wird, die sozial

widersprüchliche Lage Ende des Jahrhunderts abzumildern. Indem

das Bild einer, in der Vergangenheit verwurzelten Gemeinschaft

gezeichnet wird, werden die sozialen Missstände auf eine nationale

Ebene gehoben und nach außen gerichtet.

Das dritte Kapitel wird mit einer Abhandlung über J.G. Herder

eingeläutet. Dem deutschen Romantiker Herder kommt eine

besondere Bedeutung zu, weil ihm die Aufwertung der Volkskultur

und der Sprache in Europa zugeschrieben wird. Mit der

Veröffentlichung lettischer Volkslieder erbringt Herder den Beweis

von der Existenz und der Qualität lettischer Kultur. Seine

Geschichtsphilosophie und Aufrufe zum Sammeln von

Folkloreliedern initiieren erstmals ein wissenschaftliches Interesse an

der Volkskultur. Probleme der Volksmusikforschung im Lichte

romantischer Sammelbestrebungen bilden die kritischen

Vorannahmen für meine Untersuchung lettischer Volkslieder und

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Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

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deren Sammlung im 19. Jahrhundert. Es wird der Versuch

unternommen, das inhaltliche, formale und funktionale Wesen der

Dainas sowie ihre Themen zu bestimmen.

Letztere sollen mein Argument bestärken, dass die Dainas eine

poetische Sicht auf die Welt generieren und eben nicht genaues

Zeugnis von der Welt ablegen, wie oft propagiert. Im Abschnitt über

weitere Volksliedtypen des 19. Jahrhunderts in Lettland soll gezeigt

werden, dass die Dainas ein Produkt der Volksliedentwicklung zur

Zeit ihrer Fixierung, in einer Fülle weiterer Produkte eingebettet, sind.

Meine Ausführungen zur Baron’schen Sammlung sollen so

aufzeigen, wie durch den Prozess der Selektion, Bearbeitung,

Gestaltung und wissenschaftlichen Betrachtung die Dainas zur

Nationalkultur stilisiert werden und die Funktion erfüllen, die Existenz

der Nation zu belegen.

Das Schlusskapitel stellt das Fazit meiner Überlegungen auf. Mit I

wanna wird der Kontext der Arbeit knapp im Heute verortet. Daraus

ergibt sich eine Perspektive auf weitere Forschungsfelder.

Abschließend wird meine Methode einem kritischen Blick

unterworfen.

Methode

Trotz des im Titels „Lettland zwischen Dainas und I wanna“

aufgebauten Spannungsfeldes, das eine Diskussion der aktuellen

lettischen Nationalkultur erfordert, habe ich mich entschlossen, die

Konstruktion der Nationalkultur nur in seiner Entstehungsphase zu

erforschen. Der Bereich über das lettische Gewinnerlied des

Eurovision Song Contest wird dabei fast ausgeblendet. Ich gehe vom

Phänomen der Dainas aus und ziehe Rückschlüsse auf die

Nationalkultur. Ich musste, um das Phänomen zu verorten, die

geschichtlichen und gesellschaftlichen Umstände beleuchten, weil

ich denke, dass diese Umstände der Nationalkultur ihre bestimmte

Färbung gegeben haben. Sehr wichtig ist mir die Einbindung von

Ideen und Konzepten, die mit der gesellschaftlichen Entwicklung

einhergehen. Dass ich die Methoden dieser Arbeiten mische, ist dem

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Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

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Umstand geschuldet, dass die Arbeit im Rahmen eines

Fachhochschulstudiums abgelegt wurde.

1. Die kulturelle Konstruktion der Nation im Wandel der

europäischen Gesellschaft

1.1. Die Konstruktion der Nation

Die kulturelle Idee der Nationen ist eng verzahnt mit der Erschaffung

von Nationalstaaten. Sie entwickelte sich im Kontext des Wandels

der europäischen Gesellschaft. Der ständisch-feudale und

absolutistische Staat1, das göttlich legitimierte monarchische

Eigentum (Negri/ Hardt 2002, 108), ist als Sicherung der feudalen

Gesellschaftsordnung und Produktionsverhältnisse bis zur Ablösung

durch den Nationalstaat die dominierende Staatsform in Europa. Mit

der Errichtung der kapitalistischen Wirtschaftsweise, der Freisetzung

von neuen Produktivkräften und verstärkter Kapitalakkumulation,

entwickeln sich neue Bedingungen für die gesellschaftlichen

Machtverhältnisse. Die Übergangsphase von der feudal-

monarchischen Gesellschaftsordnung zur kapitalistisch-bürgerlichen

Ordnung ist bestimmt durch kapitalistische Produktionsverhältnisse

auf der einen und feudale Regierungsformen auf der anderen Seite.

Die kulturelle Idee der Nation als „ideale Abstraktion“ (Ebd. 2002,

108) des territorialen und gesellschaftlichen Körpers stabilisiert diese

Strukturen.

Der „Übergang von der feudalen Ordnung der Untergebenen

(subjectus) zur disziplinarischen Ordnung des Bürgers (cives)“ (Ebd.

2002, 109) gibt dem Konzept der Nation einen Gesellschaft

gestaltenden, zukunftsweisenden, aktiven Charakter. Damit

ermöglicht es die Identifikation des Einzelnen mit der (Idee der)

Nation und die Affirmation der bestehenden Herrschaftsverhältnisse

(Ebd. 2002, 108f). Um die Herrschaftsverhältnisse dauerhaft zu

verändern, wird das Nationskonzept als ein politisches 1 Der Staat ist eine „Gesellschaftsordnung, durch die ein Personenverband (Volk) auf begrenztem Gebiet durch hoheitl. Gestalt zur Wahrung gemeinsamer Güter verbunden“. In: (Brockhaus Enzyklopädie in vierundzwanzig Bänden 1991, 13) (Bd. 21)

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Handlungsprogramm mit einer zukünftigen Perspektive entworfen

und durch die Annahme von gemeinsamen Merkmalen (Sprache,

Geschichte, Kultur) legitimiert. Das politische Ziel ist nach der

Französischen Revolution die Erlangung von politischer Souveränität

in Form des Nationalstaates („Nationalstaatenprinzip“).

Estel definiert Nation folgendermaßen: „Eine Nation ist eine

(zumindest teilweise geschlossen siedelnde) Bevölkerung, die eine

eigene, arbeitsteilige Gesellschaft auch modernen Zuschnitts bildet

oder bilden kann, und deren Angehörige sich mehrheitlich als eigene

ethnische oder historische, d.h. durch Gemeinsamkeit des

kollektiven, insbesondere: des politischen Schicksals begründete

Einheit verstehen; eine Einheit, die nach dem Verständnis ein

natürliches Recht auf Unabhängigkeit nach außen besitzt, und die

deshalb auch einen eigenen, den Nationalstaat errichten oder

behalten soll.“ (Estel 1994, 19)

Die historisch oder ethnisch begründete Einheit, in Form der

territorialen Bindung an eine Staatsnation, stellen zwei

Begründungsmotive der Nationalstaatenbildung in Europa dar. Die

Nationalstaatenbildung erfolgt in Europa anhand von drei Stadien:

Erstens die Umgestaltung einer absolutistischen Monarchie zum

Staat einer Nation mittels Revolution, wie zum Beispiel in Frankreich,

zweitens die Zusammenführung von Teilstaaten, wie es in

Deutschland der Fall ist, drittens die Bildung Nationalstaaten, welche

ethnisch heterogen zusammengesetzt sind, nach dem Zusammenfall

von Großstaaten in Osteuropa Ende des ersten Weltkrieges (Dribinš

1997, 23).

Nach dem „französischen Modell“, Nation als Willensgemeinschaft,

entspricht der Nationalstaat dem Ergebnis freiwilliger Beitrittsakte

seiner Bürger zum Staat, auf der Grundlage eines „sozialen

Vertrages“ (Giordano 2000, 386). Gleichheit bestehe als

Rechtsgleichheit der Bürger vor dem Gesetz und im gleichen Recht

aller, den Raum zu nutzen. Das Volk entspricht damit einem

„kollektiven Rechtssubjekt“ (Stölting 1994, 302). Rechtlich verankert

findet sich das Geburtsortprinzip bei der Vergabe der

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Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

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Staatsangehörigkeit (jus solis). Die Definition der Nation entspricht

subjektiven Kriterien, die kollektiv oder individuell wahrgenommen

werden (Estel 1994, 24; Hobesbawm 1991, 18). Nach diesem Modell

lässt sich die Unterschiedlichkeit miteinander lebender Personen für

ein Territorium erfassen. Das nationale Verständnis dieses Modells

impliziert eine Offenheit der Gesellschaft und die Möglichkeiten der

kulturellen Assimilation. Die Einheit entsteht auf willentlicher

Grundlage. Die Vernachlässigung des Ethnischen in der Betonung

der Anpassung kann die Unterdrückung kultureller Äußerungen von

Minderheiten zur Folge haben.

Das „deutsche Modell“ der Nationalstaatenbildung verweist im

Gegensatz dazu auf das Abstammungsprinzip (rechtlich verankert in

Deutschland ab 1913 als jus sanguinis) und die romantische

Prägung des Begriffes Volk bei Johann Gottfried Herder und der

deutschen Romantik.

Für die Definition des Begriffes Volk im Unterschied zur

überethnischen Definition des Begriffes Nation, treten nach Estel zu

den genannten Bedingungen noch Kriterien der „Zeugungs- und

Kulturgemeinschaft“ (Estel 1994, 18). Diese äußerten sich als ein

Bewusstsein einer Identität, die durch die ethnische Zugehörigkeit als

eigentümlich betrachtet wird, wie das Wissen um kulturelle

Eigenarten und gemeinsamen Abstammungsglaube, zumindest bei

den Macht- und Kultureliten (Ebd. 1994, 18).

Johann Gottfried Herder, Pfarrer und Schriftsteller, der in Anlehnung

an die Aufklärung in den 70er Jahren des 18. Jahrhunderts seine

Schriften „Abhandlungen über den Ursprung der Sprache“ (1772)

und „Auch eine Philosophie der Geschichte der Menschheit“ (1774)

verfasst, entwickelt eine organische Geschichtsbetrachtung. Durch

eine Gleichsetzung des menschlichen mit dem kulturellen Dasein

wird eine Pluralität von Kulturen gegen den Kosmopolitismus der

Aufklärung postuliert. Jede Kultur bewahre „den Mittelpunkt seiner

Glückseligkeit in sich selbst“ (Herder [1774], in Bausinger 1999, 31)

und jedes Volk stelle eine einzigartige Einheit dar. Die irrationalen

Faktoren der Unterschiedlichkeit von Nationen, welche sich aus

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Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

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dieser Vielzahl der Völker ergeben, bereiteten den Boden für

Spekulationen über „Volks- und Nationalgeist“, welchen Herder durch

die Volkspoesie vernimmt (Hartmann 2001, 20).

Dieser Volksgeist sei verankert in Leidenschaft und Gefühl, nicht in

Vernunft, und fände sich in Kunst, Tradition und Sprache2 (Wolf

1993, 341). Er sei Ausdruck der schöpferischen Kräfte, der im

gesamten Volk angelegten „starke[n] Kraft des Genies“ (Lotter 1998,

392). Volkspoesie in Herders Auffassung scheint von sozialen

Bedingungen gelöst (Bausinger 1999, 32). Die „romantische

Reduktion“ (Ebd. 1999, 31) des Begriffes Volk gilt Herder als

Synonym für die Aktivierung seelisch schöpferischer Kräfte, um die

Kunst der Gegenwart zu reformieren (Schwidtal 2001, 13), weniger

als ethnische oder ethno-biologische Kategorie. Als Träger des

Volksbegriffes fungiert die agrarische Bevölkerung, welcher eine

Einfachheit und Beständigkeit der gesellschaftlichen Ordnung aus

der Perspektive des Bürgertums zugewiesen wird, ebenso wie

Bürger und Handwerker, Bevölkerungsschichten, welche nicht in

Besitz der Herrschaft sind.

Mittels kultureller Zeugnisse, wie Volkslieder, Märchen und Sagen,

soll die Existenz des Volkes als ursprüngliche Gemeinschaft in vor-

geschichtliche Zeit verlegt werden.

Die deutsche Romantik übernimmt als Abkehr von der politischen

Realität, insbesondere die Enttäuschung über die mangelnde

Emanzipationskraft des deutschen Bürgertums in Deutschland, die

Idee des Volkes und dessen mythischen Ursprungs. Als Umkehrung

des Aufklärungskonzeptes sei der Ursprung besetzt mit Merkmalen

des Dunklen, Unbekannten, Irrationalen (Bausinger 1999, 39). Die

Mythologisierung des Ursprungs, den Bezug auf das Vergangene als

vollkommen, suggeriert eine geschichtliche Kontinuität, andererseits

werden die sozialen Widersprüche des 19. Jahrhunderts in einem

2 Wolf macht darauf aufmerksam, dass das Konzept des „Volksgeistes“ durch die Faszination des deutschen Bildungsbürgertums an der griechischen Antike angeregt war, vornehmlich durch J. J. Winckelmanns Propagierung des hellenistischen Volksgeistes („paideia“). In dieser Betrachtung wurde Hellas als ganzheitliche, vollkommene Kultur wahrgenommen und diente als Vorbild für die deutsche Kulturentwicklung. Wolf bezeichnet die „Leitidee eines ideellen Holismus“ (Wolf 1993, 341) als konstitutiv für das Kulturverständnis deutscher Intellektueller des 19. Jahrhunderts.

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ahistorischen Erklärungsmodell harmonisiert. Der Begriff Volk wird

für die Idee der Nation grundlegend, dient nach der Meinung Hardts

und Negris jedoch nicht einer Vorstellung von Gemeinschaft im

demokratischen Sinne, sondern dazu, bürgerliche

Herrschaftsansprüche in Form nationaler Eigenstaatlichkeit zu

legitimieren, indem die Einheit des Volkes als gegeben dargestellt

würde (Negri/ Hardt 2002, 116). „Eine solche ursprüngliche

Vorstellung von Volk behauptet eine Identität, die das Bild der

Bevölkerung homogenisiert und reinigt, während sie gleichzeitig die

konstruktiven Interaktionen zwischen den Differenzen innerhalb der

Menge3 blockiert.“ (Ebd. 2002, 126)

Die Idee der Schicksalsgemeinschaft des deutschen Bürgertums, die

romantische und mythische Überhöhung deutscher Geschichte

gegen die Überfremdung durch die napoleonische Fremdherrschaft,

wird mit dem Konzept der Abstammungsgemeinschaft durch Ludwig

Jahn verkettet. Das Grundmotiv eines Ethnozentrismus hält Einzug

in den „bürgerlichen Kulturnationalismus“ (Kaschuba 1999, 26).

Im 19. Jahrhundert orientieren sich die Gebiete Osteuropas, die zum

Teil noch in monarchisch-feudale Systeme eingebunden sind und

sich in einer Rückständigkeit4 im Vergleich zu Westeuropa befinden,

an der nationalstaatlichen Entwicklung Westeuropas. Lettland wie

auch andere Regionen, favorisieren in der Argumentation für die

Gründung eigener Nationalstaaten, das deutsche Modell (Giordano

2000, 391; Stölting 1994, 310; Sundhaussen 1999, 648f.). Es ist die

Eigenheit Ost- und Mitteleuropas, dass sich dort die Nationen im 19.

Jahrhundert formen, die Nationalstaaten erst im 20. Jahrhundert. Die

Regionen in Osteuropa können sich nicht sofort aus den Klammern

der Monarchien lösen. Auch muss die Idee der Nation erst innerhalb

der Bevölkerung etabliert werden. In Lettland entwickelt sich diese

Idee erst mit der Lockerung der ständischen Ordnung und der damit

3 Menge sei nach Meinung der Autoren ein Beziehungsgeflecht von „Singularitäten“, heterogen, mit inklusivem Verhältnis zu Außenstehenden (Negri/ Hardt 2002, 116). 4 Die Modernisierung/ Kapitalisierung der Gesellschaft und deren „bürgerliche Umgestaltung“ verläuft inkonsequent (split up) aufgrund des Interessenszwiespalts zwischen den „herrschenden Klassen“ und der „Volksmassen“, unter anderem bedingt durch die verspätete Aufhebung der Leibeigenschaft. (Hofer 1973, 252f)

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Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

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verbundenen Möglichkeit der höheren Bildung. Die Intelligenz, die

sich damit aus der lettischen Bevölkerung bildet, erhält Zugang zu

national gesinnten Schriften der deutschen Philosophie. Das

ermöglicht ihr, diese auf Lettland anzuwenden.

Die gesellschaftlichen Veränderungen im 19. Jahrhundert durch die

Industrialisierung und Errichtung der Nationalstaaten ergänzen

einander. Da sich die Form der Nationalstaaten als effektivste

Entsprechung zur marktwirtschaftlichen Entwicklung erweist, entsteht

in Europa eine Art Dominoeffekt, der mit der Gründung der

französischen und englischen Nationen einsetzt. Mit der

europäischen Nationalstaatenbildung im 19. Jahrhundert ist die

Bildung sozial größerer Gruppen, um mit der ökonomischen

Effektivität bereits bestehender Nationalstaaten (England und

Frankreich) konkurrieren zu können, verbunden.5 Durch die

Schaffung einer nationalen Identität, die einen größeren

Identifikationsraum gegenüber der statisch gebundenen regionalen

oder ständischen Identität bietet, ist eine stärkere Mobilisierung der

Bevölkerung, um die Industrialisierung als Arbeitskräfte zu

unterstützen, möglich. Im gleichen Sinne erscheinen die

gesellschaftlichen Veränderungen, wie Rationalisierungstendenzen,

soziale Ausdifferenzierung und verstärkte Landflucht unter Zuwachs

der Stadtbevölkerung, legitimierbar. (Norbert Reiter 1989, 32)

Mit der Konstruktion einer nationalen Identität gehen die

Möglichkeiten wirtschaftlicher Expansion, Stabilisierung von Märkten

und Herrschaftsverhältnissen einher.

1.2. Die Konstruktion der Nationalkultur

Im nationalen Diskurs im 19. Jahrhundert in Ost- und Mitteleuropa

erhält Kultur als Zugehörigkeitsmerkmal, Träger der Vergangenheit

und Repräsentant der Einheit der Nation symbolische Funktionen.

5 Produktionssteigerung als Ziel der Modernisierung der Gesellschaft verlangten Neuerungen, territoriale Erweiterung des Wirtschaftsgebietes und erhöhte Mobilität der Gesellschaft. (Reiter 1989, 32-40)

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Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

18

Die Konstruktion der Nationen in Mittel- und Osteuropa ist das

Ergebnis der Verschiebungen von politischen, sozialen und

ökonomischen Machtverhältnissen und Interessenskämpfen

(Niedermüller 2001, 169). Der politische Diskurs des Nationalen wird

zunehmend über die Idee der Nationalkultur ausgetragen. „Eine

Gesellschaft wird durch ein bestimmtes kulturelles Substrat zur

Nation, und die Nationalkultur ist das Mittel, mit dessen Hilfe sich

eine Gesellschaft mit „nationalem Sinn“ anreichert.“(Ebd. 2001, 169)

In Lettland formuliert sich im 19. Jahrhundert die Nation im Recht auf

kulturelle Autonomie. Das Bewusstsein für das kulturelle

Selbstbestimmungsrecht wird durch aufklärerisch gesinnte deutsche

Geistliche und durch das ethnographische Interesse an der

kulturellen Wesenheit der Völker initiiert. Das kulturelle lettische

Bewusstsein wächst mit der Kritik an der deutschen Obrigkeit. Diese

rechtfertigt ihre Herrschaft mit dem Argument, durch sie wären die

Letten überhaupt kultiviert worden. Diese Kultur definiert sich im 19.

Jahrhundert hauptsächlich als bürgerliche Hochkultur, zu der den

Letten durch die Standesordnung der Zugang verwehrt ist.

Die Idee von der Verbindung von Nation und Kultur, fußt auf

Auffassungen, dass Nationen anhand objektiver Merkmale6 oder

Merkmalskombinationen, wie die Gemeinsamkeit der Sprache, der

kulturellen Eigenart, der Geschichte oder des Territoriums bestimmt

und daher einzigartig seien, und dass die gemeinsame nationale

Geschichte und Zugehörigkeit zur Nation mittels Kultur dargestellt

werden sollte (Ebd. 2001, 169).

Eine kulturelle Einheit nach scheinbar objektiven Kriterien vermittelt

den Eindruck, eine Nation sei nicht nur anhand dieser Merkmale

bestimmbar, sondern auch zugleich Ergebnis dieser objektiven

Einflüsse. Das wird deutlich anhand von Konzepten aus der Antike,

die verlauten, eine Nation sei durch Faktoren wie Klima, Boden,

Nahrung geprägt (Estel 1994, 23). Des Weiteren seien Einheitlichkeit

und Einheit der Nation auch in Geschichte begründet, wobei nach 6 Diese Bestimmungskriterien sind nach Hobesbawm so unscharf, dass sie nur für bestimmte Gruppen innerhalb von Nationalstaaten gelten und deshalb für nationalistische Propaganda und Programme geeignet sind (Hobesbawm 1991, 16).

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Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

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dem romantischen Modell diese Einheit in einer vergangenen Zeit

liege und in einem kollektiven Gedächtnis und dem Herderschen

Volksgeist fortwirke.

Die nationale Bewegung wird in Osteuropa zumeist durch die

kulturelle Intelligenz angeregt und findet ihre Resonanz innerhalb des

Bürgertums, welches politisches Emanzipationsinteresse mit der

Nationalbewegung verbindet (Stölting 1994, 307). Die Konstruktion

der Nationalkultur sei eine Aufgabe der Erschaffung des nationalen

kollektiven Gedächtnisses, welches sich eines Mythos erinnere. Der

Konstruktion widmen sich Wissenschaftler, Historiker, Dichter,

Schriftsteller und Künstler, Geistliche und Lehrer über die Organe der

Literatur, Kunst, Presse und Wissenschaft (Niedermüller 2001, 179f).

Das Konzept einer einheitlichen Nationalkultur und der damit

verbundene Glaube an die Homogenität eines kulturellen Raumes

verkörpern und repräsentieren den nationalen Gedanken

(Niedermüller 2001, 169). Mit diesem „Siebungsmechanismus“

(Giordano 2000, 385) der Ein- und Ausgrenzung können die

Selbstbestimmungsansprüche in Form des Nationalstaates nach

Außen artikuliert und nach Innen ein Bewusstsein der Zugehörigkeit

vermittelt werden.

Es findet ein Prozess der Selektion von kulturellen Gütern nach

Kriterien der Hochkultur und Sparte statt, welche die Nation

repräsentieren sollen. Diese werden verallgemeinernd als Kultur

zusammengefasst und einem kollektiven Subjekt zugerechnet (Estel

1994, 63). Das Kulturprodukt selbst verliert seine ursprüngliche

Funktion und Bedeutung und nimmt symbolischen Charakter an. Die

Disfunktionalisierung des Kulturgutes und seine Erhebung zu einem

symbolischen Wert ermöglicht eine soziale Trägergruppen

überdauernde Wirkung (Stölting 1994, 308).

Nach Niedermüller orientiert sich die Produktion von Nationalkultur in

Osteuropa an konkreten kulturellen Formen, an historischer

Vergangenheit und am so genannten Nationalcharakter. In der

Konstruktion der Nationalkultur ist ein Kulturbegriff prägend, der

Kultur als objektives Zeugnis und Produkt der Geschichte deutet -

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Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

20

verfasst in Schlüsselsymbolen, kollektiven Riten oder Mythen.

Ausgang ist die, in Anlehnung an den Volksbegriff der deutschen

Romantik entstandene These, dass sich eine bestimmte Wesenheit

der Völker aus Urzeiten und –umständen innerhalb kultureller

Formen bewahrt hätte (Niedermüller 2001, 176).

Die Verkörperung der Geschichte in nationalkulturellen Symbolen

erfolgt, nach Niedermüller, in Osteuropa aus zwei Intentionen. Für

die ersten zwei Drittel des 19. Jahrhunderts, muss Geschichte

erfunden werden, um nationale Bestrebungen von

Bevölkerungsgruppen zu legitimieren. Diese kulturelle

Abgrenzungsfunktion richtet sich nach Außen. Die erfundene

ursprüngliche Kultur dient der Unterscheidung. Im letzten Drittel des

Jahrhunderts fungiert Nationalkultur als Identität und

Zugehörigkeitsmerkmal innerhalb der Gesellschaft, welche sich in

der Modernisierung und Organisation des Staates befindet.

Volkskultur als Grundlage der Nationalkultur wird favorisiert, um ein

kollektives Geschichtsgedächtnis zu erschaffen.

Folklore7, als durch Zeiten und Räume Tradiertes und in narrativer

oder ritueller Form Übermitteltes (Kaschuba 1999, 173), wird als

Volkskultur vom Bürgertum Anfang des 19. Jahrhunderts entdeckt,

da sich das Bildungsideal der Aufklärung auch auf die bäuerlichen

Schichten ausweitet. Es folgt die Stilisierung und Stereotypisierung

der Volkskultur als ein „System ländlicher Relikte“ (Bausinger 1999,

193), als dauerhafte Grundlage aller Kultur. Folklore stiftet für die

Nationen, die keine eigene Geschichtsschreibung besitzen, aus

denen sich die Größe und Eigenart der Nation ableiten ließe,

Identität (Stölting 1994, 306).

Der idealisierte Zustand eines ursprünglichen Lebens, welcher der

Volkskultur zugeschrieben wird, kann anhand örtlicher Kultur

lokalisiert werden. Ästhetische Objekte dienen als Beweis der

Geschichte. Volkskultur wird mit Vorstellungen von bestimmten

7 Begriff wurde in England 1846 von William John Thoms erfunden und fungierte als „Leitbegriff“ im 19. Jahrhundert (Kaschuba 1999, S. 173). Folklore erfasst „Glaubensvorstellungen und Bräuche“ und die „Gesamtheit der Traditionen des (einfachen) Volkes“ in Form von zum Beispiel „Erzählungen, Lieder und Sprichwörter“ (Bausinger 1999, 50).

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Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

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Tänzen, Bräuchen, Liedern verbunden. Sie wird reduziert auf die

„expressive Ebene“ und festgeschrieben als Ausdruck einer zeitlosen

und ursprünglichen Vergangenheit (Niedermüller 2001, 185). Die

praktische Vermittlung dieser volkstümlichen Kulturelemente festigt

wiederum eine Ansicht, dass nationale Zugehörigkeit und

ästhetisierte Volkskultur schon immer miteinander verbunden seien.

Die Rolle der kleinstädtischen und ländlichen Intelligenz, wie

beispielsweise Lehrer und Pfarrer, besteht in der organisierten

Umformung einer Folklore zu nationalen Zwecken. Folkloretexte

werden gesammelt, schriftlich fixiert und katalogisiert, Volkslieder

„moralisch einwandfrei“ in die Hochsprache übertragen und

Vereinsaktivitäten angeregt. So erfolgt ein Anschluss des örtlichen

Bewusstseins an das nationale und die emblematische Einbeziehung

der Folklore in die nationale Bewegung (Stölting 1994, 308).

Nach Hofer ist der Bezug der Nationalkultur auf die Volkskultur nicht

ausschließlich nur ein Programm zur Erschaffung einer nationalen

Geschichte. Sie ist nicht dient nicht nur Intellektuellen und

Bürgerlichen, sich die nationale Idee greifbar zu gestalten und zu

verorten in der als beständig idealisierten bäuerlichen Lebenswelt.

Die symbolische Umwertung der Volkskultur in nationale Embleme

dient auch dazu, die bäuerliche Gesellschaft in die komplexe

Gesellschaft einzufügen (Hofer 1973, 261). Dafür ist es nützlich,

diese Einbindung über kulturelle Symbolik zu artikulieren. Volkskultur

übernimmt die Rolle der Bewusstseinsbildung und Ausbildung eines

Selbstwertes des bäuerlichen Standes, der nicht mehr in die

materielle Enge der Ständeordnung gedrängt ist.

So kann die Kultur des Dorfes im 19. Jahrhundert zum Teil als

Produkt der Modernisierung gewertet werden, andererseits als

Zeugnis der bewahrten Tradition. Sie ist gestützt auf die traditionellen

Institutionen und Wertsysteme, und angeregt durch den gesteigerten

materiellen und kulturellen Verkehr, durch die Marktwirtschaft der

Bauern und deren Erneuerungs- und Unternehmenslust (Ebd. 1973,

260).

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Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

22

Die kulturelle Entwicklung der bäuerlichen Bevölkerung ist

beeinflusst durch den Austausch mit der städtischen Bevölkerung

und eine gegenseitige Einflussnahme. In die Konstruktion einer

nationalen Kultur werden bäuerliche Elemente einbezogen, die

nationale Kultur wirkt über verschiedene Kanäle (Ebd. 1973, 255) auf

die Dörfer zurück. Die Entwicklung der Volkskultur im Einflussgebiet

der städtischen Kultur verläuft in drei Richtungen: Verbürgerlichung

oder Verstädterung, Erneuerung oder Betonung des Bäuerlichen und

Beibehaltung fronbäuerlicher Lebensformen (Ebd. 1973, 261).

Sprache, als Kulturträger und kommunikatives Mittel der

Wissensverbreitung (Hobesbawm 1991, 71) eignet sich zur

Homogenisierung und als Klassifizierungsmerkmal. Sie reguliert

Zugehörigkeit übersozial, bestimmt territoriale Grenzen und lässt

diese zur weiteren Bestimmung offen und ist konkret überprüfbar.

Innerhalb einer Sprachgruppe entwickle sich ein

Zugehörigkeitsgefühl, indem der Lebensführung, Tradition,

Abstammung oder Denkart als ebenfalls gleich abgeleitet werden

(Reiter 1989, 37).

„Wo es in der näheren Umgebung keine fremden Sprachen gibt, da

ist die eigene Sprache nicht so sehr ein Gruppenmerkmal, sondern

etwas, das allen Menschen gemeinsam ist wie zwei Beine.“

(Hobesbawm 1992, 71) Dieses Gefühl motiviere die Mobilität des

Einzelnen innerhalb der Grenzen dieses Sprachraums.

Die nationalen Bewegungen in Osteuropa entstehen innerhalb eines

Diskurses der Sprachen. Einsprachigkeit gilt als Voraussetzung der

Nation. Konflikte zwischen ethnischen Mehrheiten und Minderheiten

werden als Sprachkonflikte formuliert. Die Bedrohung der eigenen

Sprache ist Argument für die Befreiung von der Fremdherrschaft

(Stölting 1994, 302ff). Es erfolgt die Auswahl oder Setzung der

Landessprache auf der Grundlage von Dialekten oder Idiomen. In

der schriftlichen Fixierung wird diese Sprache mittels Grammatik,

Wörterbuch und Wortneuschöpfungen standardisiert. Die schriftliche

Fixierung garantiert den Anschein der Dauerhaftigkeit. Die

standardisierte Sprache wird systematisch verbreitet (Hobesbawm

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Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

23

1991, 74ff) über Administration, allgemeines Schulwesen und Militär,

populäre Literatur und Presse (Stölting 1994, 307).

In der Festlegung eines Territoriums durch Grenzen materialisiert

sich die Idee der Nation (Giordano 2000, 398). Der Rückgriff auf

territoriale Nationskonzepte kann als Errichtung einer mentalen

Konstante gegenüber geschichtlichen und gesellschaftlichen

Wandlungen gewertet werden, oder als idealistische Aufwertung

bäuerlichen, immobilen Lebens. Bauern dienen in der Konstruktion

nationaler Identität als „positive Referenzgruppe“ (Ebd. 2000, 403),

denen in romantischer Manier Authentizität und Natürlichkeit

zugesprochen wird, sowie eine tiefe räumliche Verbundenheit. Dies

entspricht einer symbolischen Aufwertung des Territoriums. Der

territoriale Status der Nation bürge für dessen Existenz und

Zukunftsfähigkeit (Ebd. 2000, 405).

Die Etablierung eines Gemeinschaftsgefühls in Form nationaler

Identität, erfordert dessen ständige Konstruktion und Rekonstruktion

in der Praxis. Die Praktiken der „Indoktrinierung“ (Reiter 1989, S. 36)

sind im Sinne Hobesbawms erfundene Traditionen und vermitteln

sich durch Schulbücher, Tänze oder Lieder oder mittels neuer

Symbole wie Nationalflagge oder Nationalhymne. Nach einer zweiten

Methode werden vorhandene Materialien für die Konstruktion eines

neuen Typs (Hobesbawm 1998, S. 104) modifiziert und

instrumentalisiert. Die Traditionen werden in einem Formalisierungs-

und Ritualisierungsprozess konstruiert und rekonstruiert, wobei sie

sich auf die Vergangenheit beziehen (Ebd. 1998, 102).

1.3. Der lettische geschichtliche Kontext

Lettland besteht aus den historischen und kulturellen Gebieten

Vidzeme, Kurzeme, Zemgale und Latgale auf einer Gesamtfläche

von 64589 Quadratkilometern und grenzt im Norden gegen Estland,

im Osten gegen Weißrussland und Russland, im Süden gegen

Litauen und wird im Westen von der Ostsee eingegrenzt. Am 18.

November 1918 ruft es seine Unabhängigkeit als Republik Lettland

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Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

24

aus und wird zwei Jahre später– als Nationalstaat – durch den

Völkerbund anerkannt. Bis 1934 herrscht eine parlamentarische

Demokratie, welche durch die Autokratie K. Ulmanis’, Präsident der

Bauernpartei abgelöst wird. Im Zusatzprotokoll zum Hitler-Stalin-Pakt

wird Osteuropa unter Deutschland und der Sowjetunion aufgeteilt,

Lettland fällt an die Sowjetunion und wird ein Jahr darauf besetzt.

Zwischen 1941 und 1944 okkupiert das Naziregime das Gebiet

Lettlands unter den Plänen der Osterweiterung. 1944 folgt die

erneute Besetzung Lettlands durch die Sowjetunion und seine

Einverleibung in die Räterepublik. Es folgen Zwangskollektivierungen

der Landwirtschaft, einhergehend mit Massendeportationen, wie

bereits 1941 und Industrialisierung, verbunden mit der Ansiedlung

von Arbeitskräften aus allen Teilen der UdSSR. Seit Mitte der 1980er

Jahren entwickeln die Umweltschutz- und Folklorebewegung

Mobilisierungskräfte, die in die so genannte Singende Revolution

münden. Die Unabhängigkeit der lettischen Republik wird 1990

proklamiert, die Staatlichkeit kann im August 1991 wieder hergestellt

werden. Teile der Verfassung von 1922 treten wieder in Kraft. Die

Republik Lettland ist Mitglied internationaler Organisationen und wird

2004 in die europäische Union aufgenommen.

Ende des 12. Jahrhunderts wird das Territorium um die

Flussmündung der Düna in die Ostsee von deutschen Kaufleuten

des Ost-West-Handels der Genossenschaft der Kaufmannshanse

entdeckt und nach dem dort angesiedelten Volksstamm der Liven

(Alt-Livland oder Livonia) benannt. Die Aufsegelung des heutigen

Gebiets von Lettland und Estland und Städtegründungen nach

lübischem oder hamburgischem Recht, insbesondere die Gründung

Rigas 1201 durch Bischof Albert von Bremen, finden statt

(Pistohlkors 1990, 12). Aus der Heidenmission des Papstes Innozenz

III. vom Jahr 1199 folgt die Christianisierung des Territoriums

Lettlands im 13. Jahrhundert sowie Estlands im 14. Jahrhundert

durch den Deutschen Orden. Der livländische Ordensstaat besteht

aus den Provinzen Estland, Livland und Kurland. Nach Pistohlkors

kommt es aufgrund der Missions- und Siedlungsbewegung und des

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Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

25

Fernhandels unter Führung des Erzbischofs von Riga und des

deutschen Ordens, der sich auf eine adlige Vasallenschaft stützt,

rekrutiert aus der Schicht der deutschen Ministerialität (Ebd. 1990,

12), zu keiner Herrschaftsbildung indigener Bevölkerung. Die

Gewaltenmenge in Alt-Livland aus Orden, Erzbischof, Bischöfen und

Städten mündet in den Landtag der livländischen Föderation

(Krupnikow 1999, 128). Militärische Kämpfe zur Unterwerfung und

Bekehrung durch den deutschen Ordens bis Ende des 16.

Jahrhunderts errichten ein hegemoniales System der Fron- und

Arbeitspacht, welches lettische und estnische Gesindewirte in die

vollständige Abhängigkeit Adliger bringt, welche aus Westfalen und

Niedersachsen zugewandert und in Herrschaftsverbänden, später

Ritterschaften, organisiert sind (Pistohlkors 1990, 12). „Das

Wirtschaftssystem wurde auf dem flachen Lande bis über die Mitte

des 19. Jahrhunderts hinaus weitgehend von den Bauernwirten

getragen, die als Schollenpflichtige und Untertänige ihrerseits ein

wachsendes Heer von Landlosen befehligte – zunächst meist

jüngere Familienmitglieder, die in Badstuben oder Hintergebäuden

hausten. Mit eigenem Inventar mußten die Gesindewirte dafür

sorgen, daß Ackerbau und Viehwirtschaft auf dem Gutsland wie auf

dem Bauernhof einigermaßen funktionierten.“ (Ebd. 1990, 12f) Die

Struktur der Selbstverwaltung der deutschen Oberschicht funktioniert

bis Anfang des 20. Jahrhunderts. Außenpolitisch vergrößert sich im

16. Jahrhundert die staatlich Abhängigkeit der Föderation durch die

erstarkenden Mächte Polens, Litauens und Russlands. Der

Ordensstaat wird 1525 säkularisiert (Geiss 2002, 198). Im

livländischen Krieg (1558-15618) Ivan Groznyjs zerbricht die

livländische Föderation. Der nördliche Teil (Estlands) wird 1561

schwedisch, im Süden Lettlands entstehen die Herzogtümer

Kurland9 und Semgallen, angegliedert an Polen, der Mittelteil behält

den Namen Livland und wird ebenfalls von Polen annektiert. Livland

wird 1692 ohne Lettgallen (Polnisch-Livland oder Inflanty) von 8 Das Ende des livländischen Krieges ist nach meinen Informationen verschieden datiert. Pistohlkors setzt ihn 1561, Geiss und Krupnikow 1582 beziehungsweise 1883. 9 Kurland wird bis 1795 polnisches Lehnsherzogtum (Butenschön, 1992, 112).

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Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

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Schweden erobert. Die deutsche Oberschicht in Lettgallen wird

polnisiert. Russland erhält im Nordischen Krieg 1710 Livland, 1772

Lettgallen nach Polens erster Teilung, welches dem Gouvernement

von Vitebsk unterstellt wird. Nach der dritten Teilung Polens 1795

fällt Kurland unter russische Herrschaft. Die Bezeichnung deutsche

Ostseeprovinzen Russlands (Krupnikow 1999, 128) wird für Livland,

Estland und Kurland im 19. Jahrhundert gebräuchlich.

Ab 1522 setzt sich in den Städten die Reformation mit Fokus auf das

gelesene und gehörte Wort als Glaubensbasis und unter verstärkter

Hinwendung zur bäuerlichen Bevölkerung ab 1525 auch auf dem

Land durch (Pistohlkors 1990, 13). Frühe Bibelübersetzungen ins

Lettische und Estnische folgen. Bibellektüre, regelmäßiger

Katechismusunterricht und „Volksbildungsunterricht“10 (Ebd. 1990,

139) alphabetisieren bäuerliche Bevölkerungsschichten zu einem

hohen Grad11 und bereiten nach Pistohlkors die Grundlagen der

Emanzipationsbestrebungen der Bauern von der Ständeordnung.

Deutsche Pfarrer bilden einen prägnanten Kultureinfluss (Geiss

2002, 199). Lettgallen12, als Teil Polens, wird im Zuge der

Gegenreformation im 16. Jahrhundert katholisch. Innerhalb eines

Jahrhunderts sei die Bevölkerung rekatholisiert und des Lesens und

Schreibens mächtig (Ivanows 2001, 18). Die bäuerliche Bevölkerung

erhält „Heimunterricht” (Bukšs 1996, 208), welcher sie befähigt,

Katechismus und Gebetsbuch zu lesen. Im Unterschied zu den

protestantisch geprägten Gebieten Lettlands herrscht das

mittelalterliche Bildungsmonopol der Katholischen Kirche vor. In der 10 Eine Schulpflicht wurde in Livland im Zuge der Regelung der Bauernfrage im Landtag durch die russische Regierung 1765 eingeführt. 11 Die Volkszählung 1897 in Russland bescheinigt eine „einigermaßen geläufige Lesefähigkeit“ in Estland von 92%, in Livland von 95% (Pistohlkors 1990, 24), in Lettgallen von 47%-51% (Bukss 1996, 208). 12 Ich bin mir der Ungleichheiten oder Ungleichzeitigkeiten der historischen Entwicklung zwischen den Provinzen und Lettgallen bewusst, kann sie aber nicht immer herausarbeiten, weil sich das Gros der Literatur, welche ich einbezogen habe, auf die historischen Gebiete Liv-, Kur- und Estland beziehen. Die Ausführungen von Bukšs zu Lettgallen unter den Kapiteln „Das politische Erwachen“ (Ebd.1996, 214) und „Das Erbe“ (Ebd.1996, 225) besitzen eher zuschreibenden als beschreibenden Charakter, um dieser Region Lettlands völkische Eigenständigkeit zu attestieren. Peter Krupnikow verweist auf die schon im 19. Jahrhundert bestehende Fülle von historiographischer Literatur von Autoren unterschiedlichster politischer Anschauungen und nationaler Abstammung (Krupnikow 1999, 132). Politisch intendierende und intendierte Geschichtsschreibung besteht auch im 20. Jahrhundert und scheint auch nicht mit Ende des politischen Blockdenkens zu verebben. Geschichtsschreibung ist nach Kaschuba vergangene „Wirklichkeit“ in „Begriffen und Bildern heutigen Denkens“ (Kaschuba 1995, 18), was als Diskursstrategie bedeuten kann, so genannte kollektive Identitäten zu konstruieren, die sich durch Geschichte ihrer Selbst vergewissern und als kulturalistische Strategie (Ebd. 1885, 17), Soziales als Ethnisches zu konzipieren.

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Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

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(nicht-deutschen) Literatur, die sich auf Lettgallen bezieht, habe ich

verschiedene Hinweise gefunden, die einen Unterschied zwischen

den lutherisch geprägten Regionen Lettlands und dem katholischen

Lettgallen festschreiben (Bukšs 1996; Ivanovs 2002; Juško-Štekele

2002). Nach Bukšs beziehen sich diese Unterschiede weitgehend

auf den Einfluss polnisch katholischer Kultur, auf

Bildungsmöglichkeiten, wirtschaftliche Rückständigkeit, die um 40

Jahre zu den baltischen Provinzen verzögerte Aufhebung der

Leibeigenschaft, Sprache, russische Verwaltung, „Druckverbot“ und

russischsprachigen Unterricht (Bukšs 1996, 207).

1.4. Der Wandel der lettischen Gesellschaft im 19. Jahrhundert

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts ist die Selbstverwaltung in den

baltischen Provinzen in der Hand der deutschen Ritterschaften. Die

wichtigsten lokalen Ämter, wie Kirchen- und Schulverwaltung und

Rechtspflege ist unter deren Aufsicht (bis 1889). Das Ständerecht

bestimmt über Eigentum sowie über Steuerprivilegien, Polizei, über

Körperstrafen, Fischerei-, Brau-, Jagd- Wegebau- und andere

adelige Vorrechte, Kirchen- und Patronatsrecht13 der immatrikulierten

Gutsbesitzer sowie das Dreiklassenwahlrecht in den Städten

(Pistohlkors 1990, 18). Die Amts- und Geschäftssprache ist deutsch

und nur auf unterster Gemeindeebene lettisch. Die ethnische

Zusammensetzung der Bevölkerung in den Provinzen ist heterogen.

Die Oberschicht der Gutsbesitzer und Verwalter in den Provinzen

bilden sich aus dem Adel, dem Bürgertum, dem Klerus und aus

Literaten14. Sie sind deutscher, schwedischer, russischer, polnischer,

englischer, französischer, irischer, schottischer adeliger oder

bürgerlicher Herkunft (Krupnikow 1999, 129). Die Mittelschicht

besteht aus meist deutschen Pächtern, Krügern, Müllern, Förstern

sowie einigen Handwerkern, welche in Gilden organisiert sind. Letten

und Esten bilden als die zahlenmäßig größte Bevölkerungsgruppe

die Unterschicht. Sie erledigen die Fronarbeit und sind tätig als 13 Der Gutsherr hatte das Recht einen Geistlichen zu bestimmen. 14 Als Literaten wurden jene Akademiker bezeichnet, die in der Phase des Aufbaus nach dem Nordischen Krieg (1700 – 1721) ins Baltikum ziehen und oft als Hofmeister arbeiteten.

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Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

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Träger, Dienstleute, Hafenarbeiter und in wenigen Fällen als

Industriearbeiter (Rauch 1980, 571). In Lettgallen ist unter polnischer

Herrschaft ein Zuzug polnischen Adels und „bedrängte[r]

Altgläubige[r]“ (Krupnikow 1999, 129) zu verzeichnen. In Lettgallen

und Kurland siedeln Juden aus Polen und Ostpreußen; und im Zuge

der Industrialisierung kommen Arbeiter aus Russland, Polen und

Litauen in die größeren Städte. Als Beispiel für die ethische

Zusammensetzung einer lettischen Stadt dient das Riga der 20er

Jahre des letzten Jahrhunderts. Es existieren Schulen in neun

Sprachen: lettisch, deutsch, russisch, polnisch, litauisch, jiddisch,

hebräisch, estnisch und weißrussisch, Theater in vier, Presse und

Publizistik in sieben bis acht Sprachen (Ebd. 1999, 129f). Die

Verwendung des Begriffes „deutsch“ ist bis in das 19. Jahrhundert

nicht als nationale Herkunftsbezeichnung von Bedeutung, sondern

fungiert als soziale Kennzeichnung. In den Kategorien deutsch und

undeutsch werden die Menschen verschiedener Herkunft ihrer

Schicht zugewiesen. So gelten die Vertreter der unteren Schicht als

Undeutsche und Vertreter der führenden Schichten als Deutsche

(Lele-Rōzentāle 2001; Hobesbawm 1992, 62).

In den Jahren 1816 - 1819 wird in Liv-, Kur- und Estland die

Leibeigenschaft aufgehoben, welche eine persönliche Befreiung der

Bauern und Bildungsmöglichkeit für Letten (respektive Esten), jedoch

weitere wirtschaftliche Abhängigkeit durch die Einbehaltung des

Rechtes auf Grund und Boden, bedeuten. Die Änderung der

Rechtsgrundlage für Letten hat verschiedene Gründe. Von Seiten

der Ritterschaften soll dem staatlichen Zentralismus und politischen

Veränderungen in Russland ein Regionalismus auf Grundlage der

Ständeordnung (Pistohlkors 1990, 15) entgegengestellt werden,

welcher eine Reformpolitik einschließt, um die, von einer russischen

Bürokratie unabhängigen Selbstverwaltungsstrukturen modernisieren

und dadurch erhalten zu können. Aus wirtschaftlicher Perspektive

wird mit der Gefahr der technischen Rückständigkeit im Vergleich zu

Westeuropa und einer verbesserten agrarischen Infrastruktur durch

Einführung rationeller Wirtschaftsweise argumentiert (Ebd. 1990, 16).

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Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

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Es gibt Pläne, die lettischen Bauernvertreter in die Landtage

einzubeziehen. So sollen aufständischen Tendenzen in der

Unterschicht entgegengewirkt werden15.

Psychologische Voraussetzungen dafür schafft der

Paradigmenwechsel in der Epoche der Aufklärung: ein

wissenschaftliches Interesse am Menschen und seinen

Lebensumständen, die Geschichtlichkeit des Menschen, ein

universal geltender Bildungsanspruch sowie eine Herausbildung der

Öffentlichkeit und eine Verbreitung dieser Paradigmen durch

Geistliche, Studenten und Freimaurer in den Städten der

Ostseeprovinzen (Garleff 2001, 57). Dieser Paradigmenwechsel

schafft auch die Bedingungen dafür, dass die Letten von der

deutschen Bevölkerung als Nation und im humanistischen Sinn, als

Menschen wahrgenommen werden. Ihnen wird seitens deutscher

Intellektueller eine eigene Geschichte, Kultur sowie das Recht auf

Bildung zugestanden. Reiseberichte, Kritiken, und ethnographische

Aufzeichnungen, die durch das neue europäische Interesse am

Menschen über Lettland angefertigt werden, dienen später den

lettischen nationalen Aktivisten, die geschichtliche Existenz der

lettischen Nation zu belegen.

Neben der liberalistischen Gesinnung von Gutsbesitzern, welche

durch einzelne Vergabe von privaten Bauernrechten bereits Ende

des 18. Jahrhundert das Ende der Leibeigenschaft einläuten, werden

aufklärerische Werte durch publizistische Tätigkeiten Einzelner

verbreitet. Diese Autoren sind oftmals Angehörige des Klerus. Sie

stehen in einem regelmäßigen Kontakt zu Deutschland und sind als

Vermittler zwischen den lettischen bäuerlichen Schichten und der

Intelligenz tätig und sind so in der Lage, die europäischen Ideen der

Aufklärung auf die soziale Realität in Lettland zu übertragen (Lundin

1971, 48).

15 Im Jahr 1784 kommt es zu Unruhen der Bauern in Süd- und Nordlivland, welche gewaltsam zurückgehalten werden. Grund für Unzufriedenheiten sind fehlendes Recht der Bauern, eine fehlende Normierung der Arbeitsleistungen, Missbrauch der Hauszucht, öffentlicher Verkauf von Leibeigenen und Ähnliches (Garleff 2001, 54).

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Garlieb Merkel (1769 – 1850), Sohn eines livländischen Pfarrers, der

als Kind der Züchtigung eines Bauern durch den Gutsbesitzer

beiwohnt (VīksniĦš 1971, 55), veröffentlicht 1776 in Leipzig mit „Die

Letten, vorzüglich in Livland, am Ende des philosophischen

Jahrhunderts“ eine Kritik an der Leibeigenschaft. Er stellt die

ständisch-feudale politische Ordnung mit dem Argument zur

Disposition, dass mit einer Verbesserung der wirtschaftlichen

Verhältnisse ein Weg für die soziale und kulturelle Entwicklung

dieser Bevölkerungsschicht geebnet und mit Beibehaltung der

Zustände, die Gefahr einer Revolution heraufbeschworen würde.

Merkel stellt die Letten als historisch entstandene Gemeinschaft dar,

die zwanghaft in einen Stand gedrängt wird (Ebd. 2001, 44). Er setzt

- entgegen das weit verbreitete Geschichtskonzept der Deutschen,

welche die These von der kulturellen Missionierung der indigenen

Bevölkerung durch die Kreuzritter vertreten - seine

Geschichtsschreibung mit Darstellungen des Lebens vor der Zeit der

deutschen Eroberung im 13. Jahrhundert an, indem er sich auf

ethnographische und folkloristische Studien stützt, die er angefertigt

hat. Neben „Die Letten“, dienen Werke wie „Die Vorzeit Livlands“ und

die lettische Sage „Vanems Imanta“, die Nachrichten und Bilder über

die Geschichte, Ethnographie und die Sitten Lettlands enthielten, den

Vertretern der nationalen Bewegung im 19. Jahrhundert als Fundus

für die Konstruktion einer nationalen Ideologie (Lāms 2001, 37).

Merkels „epochale Entdeckung der Letten und Esten als

eigenständige und gleichberechtigte Völker“ (Heeg 2001, 56), gilt als

Ausgang nationaler Emanzipationsbewegung. Nach dem Naturrecht

der Aufklärung seien die Menschen gleichberechtigt. Nach Schwidtal

kann „Die Letten“ als Merkels Entwurf einer nationalen Mythologie

gewertet werden, welche die Nationalbewegung der Letten emotional

stützen kann (Schwidtal 2001, 14). Merkel würde bis heute verehrt

als ein früher Begründer lettischer Eigenständigkeit (Pistohlkors

1990, 14). Lāms dagegen macht darauf aufmerksam, dass Merkel in

„Die Letten“ nicht die Nationswerdung der Letten im Sinn hat. Die

Letten dienten ihm als „Mittel und Objekt im Kampf um den

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Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

31

Menschen und die Menschheit“, Russland gelte ihm als Vaterland

und Merkel nutze den Begriff Letten als Synonym für Bauern (Lāms

2001, 33f). Gotthard Friedrich Stender (1714 – 1796), Pastor in

Kurland, arbeitet als Vermittler zwischen deutschem Adel und

lettischer Volkskultur. Er gilt als Begründer der lettischen

Schriftsprache und verfasst Fibeln, Wörterbücher, Grammatik,

Lexika, Bücher über Geographie und Erdkunde (Seehaus 1986, 127)

in lettischer Sprache. Er betrachtet Schriftkultur als Weg in die

soziale Mündigkeit der Letten. Als weitere Kritiker an bestehenden

Verhältnissen gelten Pastor und Publizist Wilhelm Hupel (1737 –

1819) mit Berichten über Lebens-, Kultur- und Wirtschaftsumstände,

sowie Johann Georg Eisen (1717 – 1779), welcher als erster die

Verhältnisse der Leibeigenschaft öffentlich anprangert.

Der Dichter und Schriftsteller Johann Joseph Gotthard Otto

Rutenberg (1802 – 1864) verfolgt einen ähnlichen Ansatz wie Merkel

in der Darstellung einer historischen Entwicklung der lettischen

Stämme seit dem Altertum. Die Entwicklung der lettischen Nation

belegt Rutenberg durch Hinzuziehen verschiedener Chronikberichte

und geschichtlicher Dokumente für sein Werk (Seehaus 1986, 30).

Er vertritt wie Merkel die These, dass die lettischen Stämme vor

Eroberung durch Schwert und Bibel eine zivilisierte Form von

kulturellem Entwicklungsstand, gemessen an damaligen Maßstäben

von Zivilisation und Barbarei, erreicht hatten. Sie hätten Ackerbau,

Vieh- und Bienenzucht betrieben, sich mit Jagd- und Fischfang

beschäftigt und mit Bernstein bis zum Adriatischen Meer gehandelt.

Er widerlegt die These, dass die Letten ohne Herkunft, also

geschichtslos, seien. Gemeinsam mit Merkel ist die Methode, den

Stand einer hohen kulturellen Entwicklung in eine vergangene Zeit zu

verlegen und zu urteilen, dass unter dem „Doppeljoch“ (Seehaus

1986, 32ff) der Geistlichkeit und Ritterschaften die kulturelle

Entwicklung stagniert sei, was die Letten „faul und schmutzig,

lügnerisch, tückisch und widerspenstig“ (Rutenberg in Seehaus

1986, 32) gemacht hätte.

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Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

32

Mit der pietistischen Strömung wenden sich Geistliche im Baltikum

verstärkt der individuellen Seelsorge zu und errichten karikative

Einrichtungen. Zugleich sind sie bemüht, die ländliche Bevölkerung

zu bilden. Die Herrenhuter Brüdergemeinde, propagiert durch Graf

von Zinzensdorf (1700 – 1760), hat seit Mitte des 18. Jahrhunderts

besonders im Gebiet Vidzeme verstärkt Zulauf. Die Brüdergemeinde

hält ihre Gottesdienste in lettischer Sprache ab und nimmt sich der

Lage der leibeigenen Bauern an. Es bilden sich tatsächliche soziale

Gemeinden heraus, in denen ein kulturelles lettisches Leben

gefördert wird. Indem sie wahrgenommen werden, erhalten die

Bauern ein positives Bewusstsein ihres Standes.

Die Leibeigenschaft in Lettgallen wird mit der russischen

Bauernbefreiung 1861 aufgehoben und zieht umgehend ein so

genanntes Druckverbot (Bukšs 1996, 207), ein Verbot von Schrift

und Sprache, nach sich. Da der lettgallische Dialekt sich von der

lettischen Schriftsprache erheblich unterscheidet, hat die

(genehmigte) Verbreitung katholischer Bücher aus Kurland keinen

Erfolg. Ivanows und Bukšs erwähnen eine soziale Homogenität der

lettgallischen Bevölkerung, aufgrund ähnlicher wirtschaftlicher

Verhältnisse als Kleinbauern oder Arbeiter ohne Eigentum in einer

kapitalschwachen Region (Ebd. 1996, 214). Ivanows schreibt der

katholischen Kirche eine vereinigende Funktion im Zusammenleben

von Letten, Polen und Weißrussen zu (Ivanovs 2002, 19).

Zu einem „Leitmotiv des 19. Jahrhunderts“ (Rauch 1980, 571)

avanciert im 19. Jahrhundert die Idee des sozialen Aufstiegs unter

den Letten. Bis Mitte des Jahrhunderts gibt es für Letten nur die

Form der Aufstiegsassimilation. In Liv-, Kur- und Estland müssen die

Letten und Esten die deutsche Sprache annehmen, um zu Besitz

oder Bildung zu gelangen, in Lettgallen, übernehmen sie die

polnische Sprache. Aber auch unter der deutschen Bevölkerung gibt

es Fälle von Abstiegsassimilation (Krupnikow 1999, 129).

Agrarreformen in den 40er und 60er Jahren, als Sicherung

bäuerlichen Landbesitzes, erzeugen die wirtschaftlichen

Vorraussetzungen der sozialen Differenzierung der lettischen

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Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

33

Bevölkerungsschichten. Nach Beendigung des Fronverhältnisses

stehen die Bauern mit den Gutsbesitzern in Pachtverhältnissen,

welche ähnlich willkürlich geregelt werden. Die Jahre 1839 – 41 und

1844 – 46 sind begleitet von Missernten und Hungersnot und

bäuerlichen Aufständen, aufgrund einer Übertrittsbewegung

(Laakmann 1924, 132) lettischer Bauern zur russisch-orthodoxen

Kirche16. In Folge eines Gerüchtes glauben sie, die Konversion wäre

Voraussetzung für unentgeltlichen Landerwerb im Inneren

Russlands. Mit den Agrarreformen findet ein Übergang zur

Geldpacht und zum Bauernlandverkauf statt, um einen ökonomisch

unabhängigen Stand bäuerlicher Eigentümer (Garleff 2001, 74) mit

dem Aufbau von Einzelbauernhöfen zu ermöglichen. Dieses

politische Ziel wird durch eine liberal gesinnte Partei unter Führung

von Hamilkar Baron Fölckersahm erst im Landtag, dann durch eine

Petersburger Kommission durchgesetzt. Weitere Freizügigkeiten sind

die Aufhebung der Hauszucht und die Emanzipation der

Bauerngemeinden vom Einfluss des Gutsbesitzers (Laakmann 1924,

135). Pistohlkors stellt heraus, dass einerseits die wirtschaftliche

Konkurrenzfähigkeit der neuen Bauern- und Gesindewirtschaften im

Vergleich zu den Gutswirtschaften höher wird, andererseits, dass die

Mehrheit der Landbevölkerung ohne Besitz und lohnabhängig

(Pistohlkors 1990, 19) bleibt. So verbessert sich mit den Reformen

nur die wirtschaftliche Lage einiger Weniger. Die sozialen

Verhältnisse sind nicht mehr ausschließlich an die nationalen

Unterschiede geknüpft. In die Konstruktion der Nation müssen also

auch die Bevölkerungsschichten eingebunden werden, für die sich

die Herrschaftsverhältnisse nur im Prinzip ändern. Mit den

Agrarreformen entsteht bis Ende des 19. Jahrhunderts ein Mittel- und

Großbauerntum mit eigenem Besitz, für das es von Interesse ist, sich

politisch zu emanzipieren. Es ist Ende des 19. Jahrhunderts in der

Lage, wirtschaftliche Macht auszuüben, es bleibt ihnen jedoch

weiterhin verwehrt, im öffentlichen Leben Einfluss zu nehmen.

16 Die Stellung der evangelisch-lutherischen Kirche als Landeskirche wird durch das Kirchengesetz von 1832 aufgehoben.

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Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

34

Durch gesteigerte Absatzmöglichkeiten in den Städten und über die

Häfen und in Konkurrenz zu Großbetrieben deutschbaltischer

Eigentümer kann Produktivität und Einkommen wachsen, was den

Mitgliedern der Familien, die nicht den Betrieb erben, Schulbildung,

Fachausbildung und Universitätsstudium ermöglicht sowie

Aussichten auf Arbeitsplätze im urbanen Raum (Schlau 1990, 222)

und in Positionen der kleinstädtischen Intelligenz. Diese gebildeten

Letten werden die Schicht der urbanen und ländlichen Intellektuellen

bilden, die die nationale Bewusstseinsbildung initiiert und durchführt.

In den Provinzen folgt mit der wirtschaftlichen Modernisierung eine

Infrastrukturierung. Der wirtschaftliche Ausbau Lettgallens bleibt

jedoch mit der fehlenden Eisenbahnverbindung und durch fehlende

Unterstützung seitens der herrschenden Schichten zurück. Die

Verschiffung von agrarisch hergestellten Gütern ermöglicht der

Ausbau der Häfen Riga, Windau (Ventspils) und Libau (Liepaja) und

die Gründung dort ansässiger Werften. Damit werden die

Absatzmöglichkeiten der lettischen Bauern stark erhöht. Ihre

Wirtschaftsweise wird optimiert, weil sie sich über effektive

Landwirtschaftmethoden in der in Nordlivland neu gegründeten

„Baltischen Wochenschrift für Landwirtschaft, Gewerbefleiß und

Handel“ (Pistohlkors 1990, 20f) informieren können. Wissenschaftlich

begleitet wird die Modernisierung der Landwirtschaft durch die

Gründung einer landwirtschaftlichen Fakultät zum Beispiel am Rigaer

Polytechnikum17 und an der Universität Dorpat sowie durch die

Gründung von landwirtschaftlichen Vereinen. Die politische

Mitbestimmung der bäuerlichen Bevölkerung bleibt jedoch weiterhin

beschränkt auf die Ebenen der Landgemeinde und des

Kirchenspiels18. Der Ausbau eines Eisenbahnnetzes und eine

Eisenbahnverbindung zwischen den baltischen Städten und

Petersburg 1861 gelten als Motor der Industrialisierung ab der Mitte

des 19. Jahrhunderts. Besonders Riga aber auch Windau (Ventspils)

17 Das Rigaer Polytechnikum wird als „einzige technische Ausbildungsstätte Russlands“ (Garleff 2001, 70) 1862 von Rigaer Kaufleuten gegründet und hat neben mehreren Fakultäten eine Handelsabteilung. In Folge der Industrialisierung werden Maschinenbau, Eisenbau und Chemie besonders gefördert. 18 Eine Mitentscheidung wird lettischen Bauern in Livland 1870 eingeräumt (Ebd. 2001, 74).

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Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

35

und Libau (Liepaja) entwickeln sich zu russischen Wirtschafts- und

Handelszentren, gefördert durch ausländische Kapitalinvestitionen in

Industriebetriebe, Hafenausbau und moderner Infrastruktur. Mit dem

gesteigerten Verkehr des Kapitals, verbreiten sich Wissen und

Informationen. Der Industrialisierung folgen ausländischen

Spezialisten und ländliche Bevölkerungsgruppen, die in den Fabriken

Arbeit finden. Die Städte vergrößern sich und die Bevölkerung wird

ethnisch durchmischt. Es entwickeln sich Textilindustrie, Tabak,

Metall- und Holzindustrie, Porzellanmanufakturen, Maschinen- und

Waggonfabriken. Die Absolventen des Polytechnikums sind an der

Infrastrukturierung maßgeblich beteiligt (Schlau 1990, 220).

Lettischen Arbeitern ist in der Industrie der soziale Aufstieg zu

Werkmeistern möglich. Bis 1914 ist die Industriewirtschaft mit

Großunternehmen und zahlreichen mittleren und kleineren Betrieben

voll ausgebaut (Garleff 2001, 76). In kurzer Zeit hat sich die

Gesellschaftsstruktur verändert: ein lettisches Besitz- und

Bildungsbürgertum und ein modernes Industrieproletariat (Krupnikow

1999, 130) entstehen, die nicht mehr an den bäuerlichen Stand und

dessen Bestimmungsfaktoren gebunden sind. Die Modernisierung

der lettischen Gesellschaft ist von einem Urbanisierungsprozess

begleitet. Noch immer wird den Letten keine kulturelle Autonomie

zugesprochen. Die Sphären des gesellschaftlichen Lebens sind

weiterhin gebunden an die deutsche Kulturhoheit aus der Zeit der

ständischen Ordnung. Unter den Letten erhöht sich das

Bildungsniveau. Die bäuerliche Ordnung diversifiziert sich und die

städtische und bäuerliche Kultur beginnen sich zu vermischen. Der

Prozess der Verbürgerlichung und Vergesellschaftung der

bäuerlichen Kultur, der damit einsetzt, ist immer noch an das

Paradigma gekoppelt, dass die Kultur der Städte und der urbanen

modernen Gesellschaft deutsch geprägt ist und kaum Möglichkeiten

bestehen, lettische Interessen auf den gesellschaftlichen Plattformen

zu äußern. Die lettische Bauernkultur ist funktional gebunden. Mit der

Bildung der ländlichen Bevölkerungsschichten könnte sich ihr

spezifischer Charakter ändern, da auch auf dem Land neue

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Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

36

Techniken der Wissensvermittlung Einzug finden. Ebenso erfüllt

diese Bauernkultur nicht mehr die kulturellen Bedürfnisse der

Arbeiter und des Bürgertums. So besteht die Möglichkeit, dass sich

die ländlichen Bevölkerungsteile, für die sich wirtschaftlich nichts

ändert, von der modernisierten Gesellschaft abspalten. Die urbane

Bevölkerung hingegen, könnte sich die deutsche und europäische

Kultur aneignen oder Syntheseformen erschaffen. Sie könnte ebenso

eigenständige moderne lettische Kulturformen ausbilden.

2. Die nationale Bewegung in Lettland

2.1. Die Rolle der Jungletten bei der Konstruktion des lettischen

Nationalbewusstseins

Die sozialen und politischen Veränderungen in Lettland in den

Jahren 1850 – 1880 stehen in Wechselwirkung mit den Aktivitäten

einer Generation national gesinnter Intellektueller in den baltischen

Provinzen. Als Synonym für diese Vorgänge steht der Begriff

Nationales Erwachen. Von lettischen Intellektuellen, auch als

Neuletten oder Jungletten (jaunlatvieši) bezeichnet, welche in den

1850er Jahren universitäre Ausbildungen an der Universität Dorpat

(Tartu) auf den Gebieten der Geschichts-, Wirtschaft- und

Naturwissenschaften absolvieren, wird in den 1850er Jahren das

Konzept der Aufstiegsassimilation im Deutschen oder Russischen als

einzige Möglichkeit sozialer Mobilität und höherer Bildung, in Frage

gestellt. Als Gegenentwurf entwickeln sie Konzepte, welche eine auf

der lettischen Sprache und von lettischen Institutionen getragene

Kultur favorisieren. Sie stellen sich damit in Opposition zu der in der

Oberschicht gängigen Meinung, die lettische Sprache sei nicht

„literaturfähig“ (Butenschön 1992, 115). Sie beziehen das ethnisch

linguistische Konzept (Apals 1998, 31) deutscher Philosophen wie J.

G. Herder oder G. Fichte auf die lettische Situation. Ihre Ziele sind

die Propagierung eines lettischen Nationalbewusstseins in der sich

ausdifferenzierenden lettischen Gesellschaft, insbesondere innerhalb

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Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

37

des entstehenden Bildungsbürgertums und die, mit der deutschen

Sprache verbundene, kulturelle Hegemonie der deutsch-baltischen

Oberschicht zu stürzen.

Konkrete Aktivitäten der Jungletten sind die Etablierung einer

lettischen Publizistik und Presse, die Modernisierung der Sprache

und die Verbreitung der lettisch nationalen Idee, basierend auf der

Idee des Volkes sowie Reformvorschläge für das Bildungswesen. Mit

diesen Vorhaben sind die Namen Krišjānis Valdemārs (1825 – 1891),

Verleger, Juris Alunāns (1832 – 1864), Schriftsteller, Krišjānis Barons

(1835 – 1923), Journalist und Atis Kronvaldis (1837 – 1875), Lehrer,

verbunden.

Eine zweite Strömung mündet in die Gründung des Lettischen

Vereins (Rīgas Latviešu biedrība) 1868 in Riga.

Als Ergebnis dieser Periode steht die Grundlegung einer lettischen

Kultur auf Basis der lettischen Sprache und die Bewusstseinsbildung

der lettischen Bevölkerung, dass sie Letten seien. Die Vorstellung

der tradierten nationalen Vergangenheit wird innerhalb der

gebildeten Bevölkerungsschichten propagiert sowie die Idee eines

lettisch ethnischen Territorium und der Name Lettland. Die Neuletten

bilden, so Apals, ein nationales Bewusstsein aus und stellen sich

gegen, seit dem 18. Jahrhundert propagierte, Konzepte, die

Einwohner des Baltikums aufgrund kultureller, religiöser und

sprachlicher Einheitlichkeit zusammenzuschließen (Apals 1998, 31).

Lettland befindet sich im Einflussgebiet einer romantischen

Begeisterung für die Lebensweise und Kultur und die damit

verbundene Sprache der agrarischen Bevölkerung, wie sie im

deutschen Bürgertum des 19. Jahrhunderts aufkommt. Neben Merkel

und Rutenberg, welche die Idee der Nation auf die lettische

Bevölkerung übertragen, indem sie ihre geschichtliche Entwicklung

darstellen, und Stender, welcher eine kulturelle Verwurzelung von

Letten in der Volkskultur ablehnt (Seehaus 1986, 27), gibt es Anfang

des 19. Jahrhunderts konkrete Aktivitäten von Baltendeutschen, die

sich aus dieser romantischen Begeisterung ableiten lassen.

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Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

38

Auf dem Gebiet der Publizistik wird 1821 eine Zeitung in lettischer

Sprache „Latweeschu Awises“/ „Latviešu avīzes“ („Lettische

Nachrichten“) von Pastor Watson herausgegeben, ohne Beteiligung

von Letten. Auf dem Gebiet des Vereinswesens erfolgt 1824 die

Gründung der Lettisch-literarischen Gesellschaft in Mitau (Jelgava)

durch August von Bielenstein zum Schutz lettischer

Volksüberlieferungen (Garleff 2001, 77). Der Folklore, insbesondere

der Sammlung und Ausgabe von Volksliedern, wenden sich

deutsche Pastoren zu. Die Veröffentlichung von 238 lettischen

Volksliedern ermöglicht im Jahre 1807 der deutsche Pastor der

deutsch-lettischen Gemeinde in Ruien (Rūjiena) Gustav Bergmann,

welcher auch Nachwort und deutsche Übersetzung verfasst, sowie

eine zweite Publikation 1808 mit 249 Liedern. Im gleichen Jahr

erscheint die Sammlung von Friedrich Daniel Wahr mit 412

Liedtexten. Sir Walter Scott veröffentlicht Artikel und Übersetzungen

zur lettischen Volksliedtradition. Seit 1824 erscheinen im „Magazin

der Lettisch=literärischen Gesellschaft“ Aufsätze zur Thematik

lettischer Volkslieder (Scholz 1990, 159). 2854 Lieder publizierte

1844 der Pfarrer Büttner (Carpenter 1980, 20).

Trotz der Initiativen von Deutschbalten, ist das baltendeutsche

Interesse an der kulturellen Entwicklung der lettischen Gesellschaft

gering. Aina Blinkene zu Folge ist Bielenstein, Begründer der

Lettisch-literarischen Gesellschaft, der Meinung, die Entwicklung

lettischer Kultur sei nicht möglich und ein gebildeter Lette sei ein

Unding. Deutsche Pfarrer, in der Position der örtlichen Intelligenz und

als Vermittler von Wissen, vermeiden Bildungsmaßnahmen im

Bereich säkularen und aufgeklärten Wissens und halten den Zugang

zu Literatur, welche außerhalb von Bibel, Liederbuch, und

Katechismus liege für gefährlich (Blinkene 1985, 340ff).

2.2. Die Modernisierung der lettischen Sprache

Der Fokus der Junglettenbewegung auf die lettische Sprache ergibt

sich aus der Beschäftigung mit den Ideen der Aufklärung und der

humanistischen Bildung.

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Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

39

Sprache kann als pädagogischer Bereich nationaler Ideologie

fungieren, indem sie dazu dient, die Idee der nationalen Einheit

mittels der Sprache über die Institutionen der Verwaltung, Bildung,

Militär und der Presse zu verbreiten. Über die Beschäftigung mit

Konzepten der nationalen Einheit und Diskussionen über die soziale

Situation in Lettland mit Ausblick auf erhöhte soziale Mobilität und

Ausdifferenzierung, avanciert die lettische Sprache zu einem

Hauptgebiet der Aktivitäten der Jungletten.

Sprache ist ein Instrument, das Bildungs- und kulturelle Niveau der

lettischen Bevölkerung zu heben, Zugänge zu akademischem

Wissen zu schaffen, dieses Wissen zu verbreiten und ein kulturelles

Selbstbewusstsein zu etablieren, die lettische Bevölkerung zu

intellektualisieren und säkularisieren als Voraussetzungen einer

modernen Gesellschaft (Blinkene 1985, 39).

Bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts ist der Großteil der

Schriftsprache in Lettland vorerst Latein, später Deutsch und

Russisch.

Lettisch existiert in drei Varianten: der lettischen Umgangssprache,

aufgefächert in verschiedene Dialekte, der Sprache der Folklore,

insbesondere der Volkslieder, und in Übersetzungen von kirchlicher

Literatur durch Pfarrer19. Letztere ist gekennzeichnet ist durch

christliche Begrifflichkeit und die Prinzipien der deutschen Sprache

(Huelmann 1996, 291; Blinkene 1985, 338).

Die lettische Sprache entspricht zu diesem Zeitpunkt nicht den

kommunikativen Anforderungen der modernen Gesellschaft. Ein

Mangel an Wortschatz, insbesondere wissenschaftlicher und

abstrakter Termini, an stilistischer Vielfalt, klarer grammatikalischer

Regeln erschwert eine Praxis, die den sozialen und politischen

Forderungen der Neuletten entspricht. Angestrebt werden eine

Gleichstellung der lettischen mit der deutsch-baltischen Bevölkerung

auf allen Gebieten, Reformen im Gerichts- und Schulwesen sowie

19 Das erste überlieferte Buch in lettischer Sprache ist wahrscheinlich der „Catechismus Catholicorum, von Hl. Peter Kanisius verfasst und 1585 in Vilnius gedruckt. Der Druck von lettischen und lettgallischen Büchern geht auf die Tätigkeit der Gesellschaft Jesu, seit 1582 in Lettland tätig, zurück. (Trufanovs 2001, 36)

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Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

40

das Recht an einer Mitbeteiligung innerhalb der Selbstverwaltung der

Provinzen und die Verwendung der lettischen Sprache im

Amtsbereich (Loit 1985, 70).

Die Erneuerung der Sprache durch die Jungletten erfolgt anhand der

russischen Sprache, die als Modell dient, und anhand der

Beschäftigung mit der lettischen Folklore.

„(…) the language of Latvian folklore revealed the versatility and the

subtlety of the Latvian language, the versatility of its expressive

means.” (Blinkene 1985, 339) Auf Basis der Folklore und der

Umgangssprache wird mit bewusster Abkehr von der bestehenden

Tradition der schriftlich fixierten Sprache eine Schriftsprache

entwickelt. Im Bereich der Linguistik ist der Name Juris Alunāns,

welcher in Dorpat Philosophie und Wirtschaft studiert und durch in

lettischer Sprache verfasste Lyrik bekannt wird, zu erwähnen. Er

widmet sich der Anreicherung des lettischen Vokabulars durch

Neologismen und Entlehnungen aus benachbarten Sprachen, der

Systematisierung der Wortbildung und Vereinheitlichung der

Rechtschreibung (Ebd. 1985, 340f). Für das Bildungswesen

engagiert sich Atis Kronvaldis, der Lehrerkonferenzen organisiert,

weil er erkennt, dass das tiefe Verständnis und die Kenntnis der

lettischen Sprache die Vorraussetzung schafft, in dieser Sprache in

allen Disziplinen zu unterrichten. Er erarbeitet Regeln für

Wortneuschöpfungen und erschafft konkrete und abstrakte Begriffe

des modernen Lebens, wie raksturs (Charakter), ėermenis (Körper)

oder zinātne (Wissenschaft) (Ebd. 1985, 342).

Die Sprache wird vorerst über Presse, Publizistik verbreitet und

indem Bibliotheken eingerichtet werden20.

Krišjānis Valdemārs, welcher in Dorpat „lettische Abende“ organisiert

hat, setzt sich für Bibliotheken ein, als auch für Veröffentlichung von

Büchern in lettischer Sprache. Er gilt als Begründer der lettischen

Publizistik. Zu den gedruckten Medien, die Valdemārs herausgibt,

gehören die Wochenzeitschrift „Mājas Viesis“ („Hausgast“) 1856 in

Riga und „Peterburgas Avizes“ („Petersburger Nachrichten“) in 20 Die Vereine sind ausgestattet mit Leihbibliotheken (Loit 1985, 73).

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Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

41

Petersburg 1862 - 65 und die Zeitschrift „Sēta, Daba, Pasaule“ („Hof,

Natur, Welt“) von 1859 bis 1873. Jene werden genutzt, um

wissenschaftliche Aufsätze aus den Bereichen Wirtschaft,

Geschichte, Philosophie, Astronomie und Mathematik zu

veröffentlichen, um einen breiten Leserkreis anzusprechen (Ebd.

1985, 339f). Als Überblick über die Ergebnisse der Modernisierung

und Standardisierung lettischer Sprache kann das „Russisch-

Lettisch-Deutsche Wörterbuch“, zusammengestellt und veröffentlicht

von Valdemārs 1872, angesehen werden.

Blinkene stellt die Rolle der russischen Intelligenz im Tätigkeitsfeld

der Neuletten heraus. Petersburg wird nach Beendigung der Studien

in Dorpat als Agitationszentrum ausgewählt, um politisch freier

agieren zu können (Schmidt 1999, 117). Die russische Akademie der

Wissenschaften unterstützt organisatorisch und praktisch die

Sammlung von Folklorematerialien, insbesondere Volkslieder sowie

die ethnographischen Forschungen in den Provinzen. Das

Bildungsministerium unterstützt die Publikation des „Russisch-

Lettisch-Deutschen Wörterbuchs“ (Blinkene 1985, 339).

Sprache und nationale Bewegung sind auch in Lettgallen verbunden.

Lettgallen befindet sich direkt unter russischer Verwaltung, da es

dem Gouvernement Vitebsk zugeteilt ist. 1864 wird für den gesamten

Bildungsbereich die russische Sprache eingeführt. Lettgaller werden

nicht als Lehrer zugelassen. Voraus geht die Aufhebung der

Leibeigenschaft 1861 und das Schrift- und Sprachverbot (Bukšs

1996, 207) bis 1903. Das Nationale Erwachen in Lettgallen wird

durch lettgallische Priester, welche ein theologisches

Universitätsstudium absolvieren, initiiert. Ihr Anliegen ist es, Wissen

zu vermitteln, den Bildungsstand zu heben, um langfristig den

Wohlstand der Bevölkerung zu erhöhen und politische

Handlungsfähigkeit zu gewährleisten. Die Priester haben die

Aufgaben der Katechisierung und Volksbildung und organisieren,

soweit sie der nationalen Bewegung angehören, Bauernvereine,

wirtschaftliche Unternehmungen, Kurse und Vorlesungen. Sie

verbreiten Bücher und Zeitungen, die in lettgallischer Schrift verfasst

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Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

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sind. Es entzündet sich Ende der 1880er Jahre der Sprachdiskurs im

Priesterseminar in Petersburg um das Recht, die lettgallische

Sprache in den Predigten zu verwenden und lettgallische Geistliche

in Lettgallen einzusetzen. Zum einen finden in Petersburg

Schulungen litauischer und polnischer Priester statt, welche

Lettgallen zugeteilt werden, zum anderen besteht Bedarf, diejenigen

Lettgaller zu betreuen, welche nach Petersburg ausgewandert sind.

Aufgrund des Sprachunterschieds haben diese keinen Kontakt zum

lettischen Leben in Petersburg. Mit diesem Konflikt ist der Name

Francis Trasuns verbunden, welcher versucht, die lettische

Schriftsprache in Lettgallen einzuführen und sich aktiv der Sammlung

lettgallischer Folklorematerialien widmet.

Nach der Gründung eines Lettgallischen Kulturvereins 1903 und der

Erlaubnis, Presse zu veröffentlichen, wird 1907 beschlossen, dafür

die lettgallische Mundart als Schriftsprache zu verwenden. Die

„Petersburger Rechtschreibung“ (Bukšs 1996, 211), als deren

Regelwerk, wird erstellt in Anlehnung an die lettische

Rechtschreibung. Die Schriftmedien erfüllen ähnliche aufklärerische

Funktionen wie in den Provinzen: Vermittlung praktischen Wissens

über Lebensfragen, Selbstorganisation und Wirtschaft sowie die

Ermunterung zu Bildung und politischer Agitation, um in den örtlichen

Institutionen tätig zu sein. Es entstehen die Zeitschriften des Klerus

„Sākla“ („Der Samen“) 1905 – 1906 und „Ausēklis“ („Der

Morgenstern“) 1905 - 1907, von Trasuns redigiert, und „Gaisma“

1905 – 1906 mit klarer politischer Richtung. Nikodems Rancans,

Redakteur des „Sākla“ tut sich zudem als Begründer von drei

Schulen in Lettgallen hervor, in denen lettgallisch gelehrt wird und als

Publizist agrarwirtschaftlicher Bücher. Des Weiteren gründet er den

Landwirtschaftlichen Verein Latgallens und organisiert regionale

Ausstellungen. Die Letgallische Intelligenz verzweigt sich mit ihrem

Anwachsen, es entstehen sowohl konservative als auch

fortschrittliche Strömungen. Letztere stehen unter dem Einfluss der

Geistlichkeit, erstere widmen sich den Belangen der Arbeiter.

Institutionell zeichnet sich diese Entwicklung an der Gründung eines

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Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

43

zweiten Kulturvereins „Gaisma“ („Das Licht“) und anhand der

Presseerzeugnisse: „Dryva“ 1908 - 1918, mit der Zielgruppe der

Bauernschaft und „Janunās ZiĦas“ („Neue Nachrichten“), die sich an

die Arbeiter richtet, ab.

2.3. Die Rolle der Vereine

Das Vereinswesen kann, nach Plakans, als Produkt der

gesellschaftlichen Entwicklung in Lettland gewertet werden (Plakans

1997, 133). Zum Vorteil für die Verbreitung nationaler Ideen sind die

Passverordnung von 1863 und das Recht auf lokale

Selbstbestimmung 1866, die der bäuerlichen Bevölkerung

Bewegungs- und Siedlungsfreiheit garantieren. Eine über-regionale

Organisation von Aktivitäten wird so ermöglicht. Um die

überregionale Wirksamkeit von Aktivitäten zu garantieren, ist

Organisation nötig. Vereinsorganisationen sind Spielfelder

zivilgesellschaftlichen Engagements und bereiten spielerisch die

Letten auf verantwortliches Handeln im öffentlichen Bereich vor (Loit

1985, 73). Neben zahlreichen Gründungen von ökonomischen,

wohltätigen, ideellen und wissenschaftlichen Vereinen in den 1870er

und 1880er Jahren in den Provinzen sind Gesangs-, Musik- und

Theatervereine von besonderer Bedeutung. Musik und Theater

haben einen höheren Aktivierungsgrad als Literatur und Kunst (Ebd.

1985, 76), weshalb sich nationale Gedanken in Amateurchören, -

orchestern und –theatergruppen multiplizieren, die von den Aktivisten

der Bewegung in den 1860er Jahren gegründet werden. Da

politische Vereine gesetzlich untersagt sind, fungieren sie als

Tarnorganisationen politischer Aktivitäten. Die Vereine veranstalten

regionale Sängerfeste, „Dziesmu svētki“ („Liederfeste“) genannt, und

Theateraufführungen. Mit dieser Entwicklung entstehen

dazugehörige Produkte, wie das Chorlied oder dramatische Literatur,

um in lettischer Sprache singen und spielen zu können.

Der lettische Verein wird im Zuge der Landflucht und Urbanisierung

1868 in Riga als Wohltätigkeitsverein zu Hilfe der Hunger leidenden

Esten gegründet als ein Zentrum nationalen Bestrebungen von

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Krišjānis Kalninš, Bernard Diriėis und Alexander Wäber/ nach

Laakmann von Diriėis und Besbardis (Laakmann 1924, 141). Die

Zeitung „Baltijas Vēstnesis“ („Der baltische Bote“) ist ihr Organ. Die

Eröffnung der Vereinsräumlichkeiten kann als Symbol für die

Änderung der bestehenden Ordnung (Lāms 2001, 35) gewertet

werden, da Letten in Riga bis dahin keine repräsentativen Räume

besitzen. Die Eröffnungsfeierlichkeiten fallen mit Merkels 100-

jährigem Todestag 1869 zusammen. Merkel ist der lettischen

Bevölkerung zu diesem Zeitpunkt nicht bekannt, da „Die Letten“ erst

1903 in lettischer Sprache veröffentlicht wird, soll aber als Held, der

die lettische Geschichte ins Bewusstsein der Deutschen brachte,

inszeniert werden. Die Jungletten schöpfen aus dem Merkels Werk,

um das „Existenzrecht“ (Ebd. 2001, 34) der lettischen Nation zu

legitimieren, indem sie sich auf die Vergangenheit als lettische

Nation berufen21. Ein Merkelkult wird konstruiert, indem Merkel als

lettischer Held, durch seine nicht-lettische Herkunft beglaubigt,

systematisch in das lettische Bewusstsein eingeführt wird. Dazu

gehört die Verbreitung Merkels Konterfeit auf Flugblättern und die

Ausrichtung der Feierlichkeiten nach antikem Vorbild. In rituellen

Phasen - Trauermusik, Reden, Tänze, wird „der Untergang einer

Gottheit, deren Wiedergeburt in der lebendigen Natur sie feiern“

(Ebd. 2001, 35f) dargestellt und in mythischer Vorstellung damit das

untergegangene lettische Volk und seine Auferstehung zelebriert.

Die Bewusstmachung der lettischen Vergangenheit durch die Person

Merkels findet zudem nach dem gleichen dreigliedrigen Schema in

der feierlichen Eröffnung seiner Grabstätte, die eigens dafür

hergerichtet wird, und in der jährlichen rituellen Wiederholung der

Feiern, zu denen die Menschen Pilgerfahrten veranstalten, statt.

Die Mitgliederzahl des lettischen Vereins wächst im ersten Jahr auf

230 Mitglieder, zur Jahrhundertwende sind es einige Hunderte

(Plakans 1997, 134). Der Verein veranstaltet Vorlesungen, 21 Es ist Strategie der Jungletten, in ihren Publikationen mit Hilfe historischer Argumente politische Forderungen und Ansichten zu rechtfertigen (Krupnikow 1999, 133). Historische Belege dienen auch der Nationalkultur. Das Vorbild für die spätere lettische Nationalflagge wird nach der Livländischen Reimchronik, in welcher eine im Kampf verwendete Fahne beschrieben wird, entworfen (Schmidt 1999, 119).

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Theaterveranstaltungen, Konzerte, veröffentlicht Bücher und

übernimmt die Organisation der nationalen Sängerfeste. Das erste

regionale Liederfest findet mit etwa 1000 Singenden 1964 in DikĜi

statt. Das erste gesamtlettische Liederfest wird 1873 ausgerichtet22,

nachdem die Sängerfestbewegung in Estland in ein erstes nationales

Sängerfest 1867 mündet, welches seitdem alle vier oder fünf Jahre

ausgerichtet wird. Dieses wird nach der Idee der deutschen

Schillerfeiern (Garleff 2001, 78) entwickelt. Die Form der Liederfeste

bietet das Potential, über Massenzusammenkünfte die Idee der

nationalen Einheit in die Regionen zu tragen, in denen lettisch

gesprochen wird, aber wo noch kein Bewusstsein für überregionale

gemeinsame Interessen entstanden ist. Zudem erregen die Feste

keinen Verdacht, da sie positiv von der deutschen Chorbewegung

bewertet werden.

2.4. Die Produktion nationaler Literatur

Die Produktion eines lettischen Nationalepos23 fördert die Ausbildung

eines nationalen Bewusstseins. Das Epos wird in Anlehnung an das

estnische Epos „Kalevipoeg“ als Collage (Knoll 2003 [2000], 5) aus

Sagenmotiven, Liedern und anderen Materialien der Volkskultur und

zu Hilfenahme geschichtlicher Daten von Andrejs Pumpurs, der 1867

zu den Jungletten stößt, verfasst, nachdem der designierte Autor

Auseklis („Morgenstern“) - Miėelis Krogzemis nach der

Zusammenstellung der Materialien stirbt. Für das Werk „Lāčplēsis,

Latvju tautas varonis“ („Lāčplēsis, ein lettischer Held des Volkes“)

zitiert der Autor inhaltlich und formal aus den Werken der

Weltliteratur. Eine formale volkstümliche Gestaltung des Epos’ nach

traditionellem Volkslied-Versmaß, wie sie der Autor des estnischen

Werkes F. R. Kreutzwald vornimmt, um sie in die bestehende

Nationalpoesie zu integrieren, ist weniger bedeutsam, als inhaltliche

Aspekte und das Vorhandensein des Epos’ an sich. In der lettischen

22 Es nehmen 34 Chöre aus Livland und 11 Chöre aus Kurland teil, das sind zusammen 1003 Sänger, darunter 212 Frauen. Es werden neben dem vorwiegenden Repertoire aus geistlichen Liedern sechzehn weltliche vorgetragen, davon fünf Volkslieder und elf Kunstlieder lettischer Komponisten. 23 Es gibt auch Versuche anderer Schriftsteller, in den 1890er Jahren Epen zu produzieren. (Kessler 2001, 464f)

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Geschichte fehlt das Ereignis, welches die Nation eint, als zentrales

Motiv, weshalb, so Knoll, die Handlung im 13. Jahrhundert angesetzt

wird. Das Szenario verfehdeter lettischer Stämme soll als

Aufforderung dienen, in der Zukunft Einigung herbeizuführen (Ebd.

2003 [2000], 6).

Eine Verbindung zwischen der tradierten Volkskultur und der

nationalen Kultur läßt sich in der Form des lettischen Theaters

erkennen. Volkstümliche Rituale, selbst auf rituelle Weise über die

Form der lettischen Volkslieder über Generationen tradiert, werden

im 19. Jahrhundert von den lettischen Dramatikern wie J. Alunāns, R.

Blaumanis, Aspazija und J. Rainis und A. Brigadere einbezogen. So

wird die Idee der Nation, dem lettischen Publikum fremd, mittels

Charaktere und Figuren der lettischen Mythologie verständlich

gemacht. Die symbolische Bedeutung der Charaktere und

Dialogformen kann sich so denen erschließen, die mit den Ritualen

und Inhalten der Volkskultur vertraut sind. Auf diese Weise können

soziale und politische Themen chiffriert vermittelt werden

(Straumanis 1971, 131). „Es ist die Sternstunde der lettischen

Literatur: Rūdolfs Blaumanis (1863 – 1908) etabliert in seinen

psychologisch präzisen Novellen Archetypen lettischen

Temperaments; auf Grundlage der inzwischen vorhandenen

Märchensammlungen von Ansis Lerhis-Puškaitis (1859 – 1903)

entwickeln Anna Brigadere (1861 – 1933) und Rainis ihre

Märchendramen und Kārlis Skalbe (1879 – 1945) seine

Kunstmärchen; der Neuromantiker Fricis Barda (1880 – 1919) vereint

in seinen Gedichten Elemente der Romantiker des 19. und der

Symbolisten des 20. Jahrhunderts (…).“ (Knoll 2000 [2003], 5f)

Janis Pliekšāns(1865 – 1929), der unter dem Namen Rainis

veröffentlicht, Chefredakteur der Zeitung der Sozialdemokraten

„Dienas lapa“, gilt als großer Sprachschöpfer (Schmidt 1999, 121),

Modernisierer der lettischen Sprache und Übersetzer. Die Faust-

Übersetzung von 1898 gilt als Beweis für die Literaturfähigkeit der

lettischen Sprache. Rainis verfasst 1914 das „erste Volkslied-Drama“

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(Knoll 2001, 7) „Pūt vējiĦi“ („Dünawind“) sowie „Uguns un nakts“

(„Feuer und Nacht“), eine Adaption des Lāčplēsis-Motivs.

2.5. Die Aufsplitterung der nationalen Bewegung

In den 1880er und 1890er Jahren teilt sich die nationale Bewegung

auf. Eine nächste Generation lettischer Intellektueller findet in den

Ideen der Sozialdemokratie bessere Erklärungsmöglichkeiten für die

soziale und kulturelle Entwicklung in Lettland, als es das romantisch

gefärbte Erklärungsmodell der Altnationalen bietet. Die international

orientierte Arbeiterbewegung bietet indirekt eine Alternative zur

bürgerlichen Idee der Nation. Eine politische Entwicklung ab den

1870er Jahren stärkt jedoch die Idee der nationalen Einheit: die

kulturelle Bedrohung durch die Russifizierung der baltischen

Provinzen, die die russische Regierung plant.

1870 wird das deutsche Stadtrecht durch das russische ersetzt, was

die Beteiligung lettischer, estnischer und russischer

Immobilienbesitzer an den Kommunalwahlen 1877 ermöglicht. Mit

dem Regierungsantritt des russischen Zaren, Alexander III., 1881

verstärkt sich der russische Einfluss auf die Selbstverwaltungen in

den Ostseeprovinzen. Die Provinzen befinden sich seit dieser Zeit im

Wirkungsgebiet verstärkter Russifizierungsmaßnahmen. Die

gesamte Schulaufsicht und die Unterrichtsplanung werden dem

Ministerium für Volksaufklärung unterstellt, was einen Rückzug der

Ritterschaften aus der Verwaltung nach sich zieht. Die Erlernung der

russischen Sprache hat Priorität. Der gesamte Unterricht wird in

russischer Sprache abgehalten, russisch als Gerichtssprache

eingeführt, was einen Austausch der des Russischen unmächtigen

Beamten mit sich führt. Die Universität Dorpat wird russifiziert. Das

Polizeiwesen wird umgestaltet. (Laakmann 1924, 181)

Ziel der Russifizierungsmaßnahmen ist, neben der Vereitelung der

antizentralistischen Pläne der Ritterschaften, ein

Zugehörigkeitsgefühl zur „große[n] russische[n] Familie“ in den

Provinzen (Pistohlkors 1990, 19) auszubilden sowie die nicht-

russischer Gruppen an die russischen anzugleichen. Die

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Maßnahmen haben nur bedingte Wirksamkeit, da Ende der 1880er

Jahre die Idee der kulturellen Autonomie schon gefestigt ist (Ebd.

1990, 19). Jene Intellektuellen, die seit Beginn des 20. Jahrhunderts

die Staatsgründung vorbereiten, haben bereits die Volksschule

abgeschlossen und erleben nicht die russische Propaganda.

In den 1880er und 1890er Jahren erhöht sich die Zahl der lettischen

Intellektuellen. Damit geht eine Ausdifferenzierung von politischen

Zielen und Lagern einher (Zelče 1997, 5). Die deutsche

Sozialdemokratie übermittelt marxistisch gestimmte Schriften, welche

in der Rigaer Zeitung „Dienas Lapa“ („Tagesblatt“) seit 1886

erscheinen. Die Zeitung wird nach den Arbeiterstreiks von 1895

eingestellt.

Seitens Universitätsstudenten und Schriftstellern wird Kritik am

lettischen Verein, Sammelpunkt der „Altnationalen“ (Garleff 2001,

79), laut. Der Verein kümmere sich um die Interessen wohlhabender

Rigaer Familien und verdecke das Profitmotiv unter dem Mantel

nationalistischer Rhetorik (Plakans 1997, 134). Nationalismus sei

zum Etikett für die wirtschaftlichen Interessen des Besitzbürgertums

verkommen. 1891 veröffentlicht der Dichter Eduārds Veidenbaums

(1867 – 1892) mit Studenten der Universität Dorpat (Tartu) den

ersten Band eines mehrbändigen Werks „Pūrs“, in welchem Aufsätze

über zeitgenössische wissenschaftliche und öffentliche Debatten in

Westeuropa, wie beispielsweise zum Thema historischer

Materialismus oder Darwinismus, vorgestellt werden. Dadurch sollen

innerhalb der lettischen Gesellschaft Diskussionen über ihre

zukünftige Entwicklung angeregt werden. 1897 werden alle

Mitglieder der Linken in die „Neuen Strömung“ („jaunā strāva“)

integriert. Eine Internationalisierung der politischen Agitation ergibt

sich in Ansätzen durch die Knüpfung eines Netzwerkes mit

Sozialdemokraten im Ausland, besonders in Deutschland und

Österreich (Hiden/ Salmon 1992, 20).

Aus der Strömung spalten sich die lettische sozialistische Bewegung

als auch eine parlamentarischer Demokratie und nationalen

Interessen verpflichtete Bewegung (Plakans 1997, 118) ab. Konflikte

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spitzen sich 1905 in einer revolutionären Krise zu. Auf dem Land

kommt es zu Demolierungen von 184 Gutshäusern und Vertreibung

oder Tötung der Insassen. In den Städten kommt es hingegen zu

Streikbewegungen; es werden Kongresse abgehalten, in denen die

Frage der regionalen Autonomie innerhalb eines sozialistischen

Russlands, wie es die lettische Sozialdemokratie fordert, diskutiert

wird. Die russische Regierung reagiert mit offiziellen

Zugeständnissen und militärischen Bestrafungsmaßnahmen, was

einen Großteil lettischer Intellektueller ins ausländische Exil zwingt.

Ergebnisse sind die Möglichkeit der lettischen Bevölkerung, ihre

nationalen Belange durch verschiedene Parteien in den Dumen zu

vertreten, Pressefreiheit und größere Eigenständigkeit im Schul- und

Bildungsbereich. (Pistohlkors 1990, 27)

3. Volkskultur

3.1. Die Entdeckung der Volkskultur als nationale K ultur

Die gesellschaftlichen Veränderungen in den baltischen Provinzen im

19. Jahrhundert verlaufen vor dem Hintergrund der europäischen

Entwicklungen der Modernisierung der Gesellschaften, dem Wechsel

von agrarwirtschaftlich-ländlich geprägter Bevölkerung zu industriell-

städtischer. Das lettische nationale Erwachen ist mit Bemühungen

verbunden, diesen Veränderungen durch die mit der

gesellschaftlichen Modernisierung korrespondierende

Modernisierung der lettischen Intelligenz gerecht zu werden. Das

kulturelle Programm der Aktivisten der nationalen Bewegung umfasst

die Entwicklung einer, allen Anforderungen der modernen

Gesellschaft gemäße Schriftsprache, eine auf Schriftsprache

basierende nationale Kultur, die Etablierung und Einbindung von

lettischen Leistungen in alle Gebiete intellektuellen Schaffens und die

Verankerung der Idee einer Schriftkultur in der lettischen

Gesellschaft. Ziel ist die Generierung eines nationalen Bewusstseins

(Plakans 1971, 51). Die Vorraussetzungen sind schwierig. In den

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Provinzen existieren kaum Institutionen, Intellektuelle auszubilden.

Die lettische Sprache erfüllt viele Funktionen für ihren literarischen

Gebrauch nicht. Auf den Gebieten moderner Wissenschaft fehlt die

lettische Beteiligung. Innerhalb des Bauerntums besteht keine

Bindung an literarisch geprägte Kultur. Diese Bindung ist jedoch

erforderlich, um den Intellektuellen Rückhalt zu bieten, wenn sie die

neue literarische Kultur im deutschen Umfeld etablieren wollten (Ebd.

1971, 51).

Unter diesen Voraussetzungen muss die Volkskultur in die neue

Schriftkultur eingebunden werden. Zwei Wege führen dahin. In den

literarischen Produkten können folkloristische Motive und Formen

integriert werden, um sie volkstümlich zu gestalten, wie die

Ausführungen zum Nationalepos und zum lettischen Theater

belegen. Der zweite Weg ist die Verschriftlichung der Volkskultur,

indem sie gesammelt und in Liedausgaben publiziert wird. Diese

Methode und damit zusammenhängende Faktoren der

Nationalisierung werden ausführlich beleuchtet.

Bevor die Sammlung der lettischen Volkskultur thematisiert wird,

werden zuerst die historischen Voraussetzungen dazu geklärt, als

auch die lettischen Dainas charakterisiert. Vor dem 18. Jahrhundert

wird die Volkskultur in den bürgerlichen und gebildeten Schichten

gemeinhin geächtet. Es besteht kein Interesse an ihren ästhetischen

Qualitäten, aus dem Grund, dass diese ihr einfach abgesprochen

werden. Das Volk sei kulturlos und ungebildet. Das Interesse an der

Volkskultur wird erst durch J. G. Herder Ende des 18. Jahrhunderts

initiiert, der in der Volkskultur den Ausdruck eines genuinen

schöpferischen Potentials vermutet. Diese kreative Kraft könne sich

belebend und korrigierend auf alle Bereiche der Literatur auswirken.

Herders Aufwertung der Kultur des Volkes schließt eine Aufwertung

der Sprache des Volkes ein. Die Volkskultur kann im nationalen

Fokus als Grundlage der Nationalkultur stilisiert werden, um

nationale Identität und kollektive Erinnerungen für Nationen ohne

eigene Geschichtsschreibung zu erschaffen. Sie kann ein

romantisches Reservat für nicht-bäuerliche Bevölkerungsgruppen

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bilden oder den Zweck erfüllen, die bäuerliche Bevölkerung an die

moderne Gesellschaft anzugliedern und ihnen ein positives

Bewusstsein ihres Standes zu verleihen. Nationalisierter Folklore

liegt das Konzept, die volkskulturellen Objekte bewahren Geschichte

in veräußerter Form in sich, zugrunde. Die Erzeugnisse übermitteln

so die ursprüngliche Wesenheit des Volkes der Nation.

Herder stellt als Erster die Qualität der lettischen Volkskultur heraus

und sichert sozusagen dem lettischen Volk ein Existenzrecht als

Nation zu. Im zweiten Band seiner „Ideen einer Philosophie der

Geschichte der Menschheit“ berichtet er über friedliche lettische

Stämme, die unter das deutsche Joch der Knechtschaft gebracht

wurden, dessen Ende er zum Zeitpunkt der Veröffentlichung, in den

1770er Jahren noch nicht absieht. (Herder 1965, 273) Mit Herders

Aufruf, die Volkslieder zu sammeln, stellt sich ein

Paradigmenwechsel in der bürgerlichen Kulturauffassung ein. Das

Geschichtsbild Herders trägt die Argumentation dafür in sich, warum

die Volkslieder nationalen Wert haben. Herder ist der Erste, der die

lettischen Volkslieder ins Licht der Öffentlichkeit rückt, so dass sich

heute noch im Zusammenhang mit den Dainas darauf berufen

werden kann.

Johann Gottfried Herder betrachtet Geschichte als einen Prozess der

sich verbreitenden Humanität, der an materielle Lebensumstände

gekoppelt ist. Entgegen der Auffassung, alle Kulturen entwickelten

sich aus rationellen Gründen aus einem ursprünglichen Naturzustand

und befänden sich somit in einem vergleichbaren Stand kultureller

Entwicklung, spricht sich Herder aufgrund spezifischer

Lebensbedingungen der Völker und Gesellschaften gegen eine

Klassifikation anhand eurozentrischer Maßstäbe aus (Kaschuba

1999, 33). „So modifizieren sich die Nationen nach Ort, Zeit und

ihrem inneren Charakter; jede trägt das Ebenmaß ihrer

Vollkommenheit, unvergleichbar mit anderen in sich.“ (Herder 1989,

649) So unterscheide sich auch der Charakter der kulturellen

Ausdrücke der einzelnen Nationen. Die humanistische Richtung der

kulturellen Entwicklung sei bedingt durch die Zugehörigkeit aller

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Völker zu einer „Weltseele“ und „der Einen Menschenvernunft“ (Ebd.

1989, 652). Besondere Bedeutung misst Herder der Sprache bei. Er

vertritt die Auffassung, Sprache, die Fähigkeit in der Sprache zu

verstehen und zu erkennen, sei genetisch übermittelbar (Pagden

2002, 140). Mit dem Sprachwissen würde das soziale und kulturelle

Verständnis sowie die Möglichkeiten des gesellschaftlichen und

kognitiven Wandels von Generation zu Generation weitergereicht

(Ebd. 2002, 139). Das schließt eine pädagogische

Zweckbestimmung kultureller Formen ein. Nationalitäten können

damit als das Ergebnis über Jahrhunderte tradierter kultureller

Gewohnheiten verstanden werden (Ebd. 2002, 144).

In Volksliedern, welche für Herder ein „naives

Geschichtsbewußtsein“ (Kaschuba 1999, 33) vermitteln und

„redende Gemälde von den Empfindungen und Seharten“ (Herder in

Seehaus 1986, 37) der Menschen darstellen, spürt Herder ein

„authentisches Volk“ (Kaschuba 1999, 34) und die Existenz einer

schöpferischen genialen Kraft auf. Herder nähert sich seinem

Volksbegriff über die Bereiche der Kultur und Sprache an. Durch eine

Aufwertung der Sprache (Rathmann 1996, 56) wertet Herder

zugleich die Bereiche auf, in denen Sprache angewendet wird.

Herder ist von 1764 bis 1769 als Pfarrer und Lehrer an der

Domkirche beziehungsweise Domschule in Riga tätig. Sein Freund

und Mentor Johann Georg Hamann (1730 – 1788), als Hofmeister in

Livland, der eine Theorie der Sprache „als Subjekt und Objekt eines

schöpferischen Prozesses“ (Kreuzer 1998, 352) entwickelt, lernt

Herder 1763 kennen. Er macht ihn auf lettische Volkslieder

aufmerksam. Auf einer Reise durch Kur- und Livland hört Hamann

den Gesang der Bauern bei der Arbeit und erkennt in den Liedern

„Möglichkeiten großer Kunst“ (Schwidtal 2001, 12).

Die Volkslieder sind für Herder Produkte einer Tradition, die seit

Jahrhunderten fortbesteht, deren Elemente jedem bekannt seien,

was sie zu einem kollektiven geistigen Eigentum mache (Seehaus

1986, 35). Der ästhetische Wert der Volkslieder bestehe darin, dass

sie „Ausdruck des Empfindens“ (Herder in Seehaus 1986, 35) seien

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und die Denk- und Wahrnehmungsweisen der Völker konzentrierten.

Zur Vervollständigung seiner Geschichtsphilosophie beginnt Herder

in der Rigaer Zeit volkskundliche und kulturgeschichtliche literarische

Quellen der Volkspoesie zu sammeln und somit aus dem „Archiv des

Volkes“ (Ebd. 1986, 36/ 37) eine Geschichtsforschung von innen zu

betreiben. Grundlegend ist Herders Prämisse, die Entstehung und

Überlieferung von Volkspoesie in kulturhistorischen Kategorien, das

heißt in den Umständen der Lebensweise und der sozialen

Verhältnisse zu betrachten. Den Wert der Volkslieder als historische

Quelle (Ebd. 1986, 37) betont er im zweiten Band der „Ideen zur

Philosophie der Geschichte der Menschheit“. Zur Veröffentlichung

seiner Sammlung von 1773 ruft Herder zur ethnographisch genauen

Aufzeichnung von Volksliedern auf24, nach welcher die

Geschichtsschreiber nach den Methoden der Naturkunde, also

positivistisch verfahren sollten, durch Darstellung und Schilderung

der „Sitten und Denkart“ (Ebd. 1986, 36) der Völker und Kulturen aus

sich selbst heraus. Er macht als einer der ersten auf die ästhetischen

Qualitäten lettischer Volkspoesie aufmerksam. Damit beweist Herder

in den Liedern einen kulturellen Wert. Diese Wertschätzung dient

fortan in der Kommunikation der nationalen Idee. Die nationalen

Aktivisten können mit Hilfe Herders den Deutschen den Beleg

erbringen, sie besitzen Kultur und dieses Kulturgut durch Sammlung

und Veröffentlichung verbreiten und unterstützen.

Von 79 lettischen Liedern, welche Herder in übersetzter Form durch

deutsche, in Riga ansässige Pastoren zugängliche werden,

veröffentlicht er 1778 in der Ausgabe der „Volkslieder“, welche 1807

unter dem Titel „Stimmen der Völker in Liedern“ erneut erscheinen,

sieben. Die methodische Gestaltung der Volksliedsammlung

verlagert zu Gunsten größerer Publikumswirksamkeit Herder 1776

auf ästhetische Schwerpunkte, was eine Umordnung

24 Herder ruft bereits 1767 nach seiner Lektüre der „Reliques of Ancient English Poetry“ und der Dichtung James Macphersons, Nachdichtungen schottisch-gälischer überlieferter Motive, zum Sammeln auf. Auch hier gibt er die Dokumentationsmethode vor: unverändert in der „Ursprache“ mit Erklärungen und mit „Gesangsweise“ (Braun 1985, 6)

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ethnographischer Gruppierungen zur Folge hat25 (Seehaus 1986,

37). Die Ungenauigkeit der Übersetzungen durch die Pastoren,

welche Herders Ansprüchen an eine genaue ethnographische

Arbeitsweise nicht entsprechen, wird erhöht, indem Herder die Lieder

nochmals überformt oder thematisch zusammenführt, um sie dem

einheimischen Kunstgeschmack anzugleichen.

Übersetzungsmängel, oberflächliche Recherche, Herders mangelnde

Sprachkenntnis und allgemein, das Fehlen einer Folkloristik für den

baltischen Sprachraum, bilden Kritikpunkte an der Herderschen

Volksliedausgabe (Seehaus 1986, 37ff). Der Aufruf, Wesens- und

Lebensart der Völker zu studieren, indem deren (Er-)Zeugnisse

unverfälscht dargestellt würden, scheint nicht an die eigene

Sammlung gerichtet; ästhetischer Genuss sei Herders Intention

(Ebd. 1986, 40; Bausinger 1999, 51). Seehaus merkt an, dass eben

dieser Genuss sich durch das Verständnis des Form- und

Inhaltszusammenhangs ergebe nicht nur aus Gefühl. „Lettische

Volkslieder sind nicht bloß eine Stimmung, eine Gefühlsäußerung.

Ihr Kern ist der in dieser Gefühlsäußerung eingebettete und sich

durch die Volksweisheit herauskristallisierte Gedanke.“ (Seehaus

1986, 40) Nach Huelmann, welche auf die Schwierigkeiten der

Übersetzung lettischer Volkslieder aufmerksam macht, sind diese

zum Teil auf das religiöse Verständnis der als Übersetzer tätigen

deutschen Pfarrer zurückzuführen, welche die lettische Bedeutung

religiöser Begriffe aus dem christlichen Kontext interpretieren und

zum anderen aus ihrem ästhetischen Verständnis die Form zu

korrigieren bestrebt sind (Huelmann 2001, 76, 81). Das bessere

Verständnis lettischer Volkslieder aus einem mehrere Lieder

umfassenden thematischen Korpus heraus ist zu dieser Zeit nicht

gegeben, da umfangreiche Sammlungen dieser, als auch ein

25 Die Veröffentlichung erster Volksliedsammlungen 1774 erscheint anonym. Es gibt kritische Stimmen zur Idee der Sammlung von Seiten der Aufklärer A. Ludwig, G. Sulzer und F. Nicolai. Letzterer veröffentlicht unter dem Pseudonym G. Wunderlich und D. Seuberlich eine Parodie mit dem Titel „Eyn feyner kleyner Almanach Vol schönerr echterr lyblicherr Volsljder“ als Antwort auf Herders Bemühungen. Die spätere Sammlung „Volkslieder“, welche 1778/ 79 erscheint mit 12 lettischen Liedern, stellt einen methodischen Kompromiss dar und beinhaltet barocke Lyrik sowie Geschichten von Claudius und Goethe. „Stimmen der Völker in Liedern“ erscheint posthum 1807. (Braun 1985, 6f; Scholz 1990, 15)

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umfassender Bestand an Wörterbüchern, Grammatiken und

ähnlichen Hilfsmitteln fehlen. Für die Vermittlung von Wissen an die

ländliche Bevölkerung durch die Pfarrer, ist die deutsche Kultur Maß

gebend. Nach Alfonsas Šešplaukis besteht Herders Bedeutung

darin, dass durch die Entdeckung der Volkspoesie im Baltikum, die

Erneuerung der deutschen Literatur in der Epoche des Sturm und

Drang beeinflusst sei, dass innerhalb der baltischen Länder ein

größeres Bewusstsein und damit einhergehend, eine Aufwertung der

Volkspoesie erreicht würden. Herders Wirken hätte somit indirekt

zum nationalen Erwachen im Baltikum beigetragen (Šešplaukis

1995, 76).

„Seine romantische Aufwertung mündlich aus mythisch-

vorgeschichtlicher Zeit überlieferter Volksstoffe ermöglicht die

nationalen Renaissance-Bewegungen in Mittelosteuropa, seine

Geschichtsphilosophie liefert die argumentative Basis für die

Emanzipation von Fremdherrschaft.“ (Schwidtal 2001, 13) Der

Verweis auf die Nation über die Existenz einer lebendigen,

verjüngenden Volkskultur, die in Herders Philosophie anklingt,

verdeckt jedoch den Umstand, dass die Volkskultur gerade in dieser

Form im Baltikum existiert, weil andere Formen der kulturellen

Entfaltung der im Baltikum lebenden Letten und Esten verhindert

werden. Sie besitzen durch ihre Bindung an die strenge

Ständeordnung keine anderen Ausdrucksmöglichkeiten außerhalb

der Genres der Volkskultur.

Herder, welcher als erster den Begriff Volk mit kulturellen

Phänomenen verbindet, erschafft den Begriff Volkslied nach

Montaignes „poësie populaire“ (Schwidtal 2001, 13) und kann als

Initiator der Volksliedforschung in der Volkskunde angesehen

werden. Die moderne Bedeutung des Begriffes „Volk“, im Lettischen

„tauta“, im Sinne von Nation wird von lettischen Pfarrern wie Jākobs

Lange (1711 – 1777) und Gotthard Stender und dessen Sohn

Alexander Stender (1744 – 1826) vorbereitet und durch

regelmäßigen Gebrauch in der Zeitung „Latviešu avīze“ seit 1822

propagiert. Herder stützt sich in seiner Volksliedsammlung auch auf

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Stenders „Neue vollständige lettische Grammatik“, die 1761 in

Braunschweig veröffentlicht wird. Diese enthält Proben von

Volksliedern, in denen „tautas“ als „Völker“ und „tautietis“ als

„Landsmann“ (Seehaus 1986, 39) übersetzt werden. Herder

übernimmt daher die Bedeutung des Wortes. Locher führt die vor-

moderne Bedeutung des Wortes „tautas“, welches selten in der

Singularform besteht, auf die Anwendung in der Baron’schen

Volksliedsammlung zurück: „Wir hören etwa aus dem Munde eines

Mädchens aus Liezēre: „Šogad man rozes zied/ vairāk baltas, ne

sarkanas, / šogad tautas tautas garām jāj, / citu gadu iekšā jās“

(BARONS 1922, 13 257, 3, 1 – 4: Liezēre in Livland) ‚Dieses Jahr

treiben mir die Rosen Blüten, weiße mehr als rote, dieses Jahr reiten

die tautas vorbei, ein anderes, da reiten sie herbei.’ Tautas sind die

zu Pferd heranreitenden Freiersleute – aus der Sicht des Mädchens,

das auf seinen Bräutigam wartet. Solche Burschen, häufig in der

Dreizahl, werden aber, einmal vor dem Haus des umwerbenden oder

umworbenen Mädchens, aus tautas, jetzt aus der Nähe als

Individuen wahrgenommen, zu tautieši oder je einzeln zu einem

tautietis.“26 (Locher 1999, 120)

3.2. Das wissenschaftliche Interesse an der Volksku ltur

Die Volksliedforschung im 18. Jahrhundert entwickelt zwei Theorien

der Entstehung des Volksliedes: das Lied sei im Volk entstanden

(„Produktionstheorie“) oder das Lied sei Schöpfung eines Einzelnen,

sei aber im Volk verbreitet und umgeformt worden

(„Rezeptionstheorie“) (Dunkele 1984, 52). Damit korrespondieren die

Unterscheidungen „Volkslied“ - ein Lied, welches aus dem Volk

komme - und volkstümliches Lied, ein Lied, welches von einem

Gelehrten stamme und im Volk Fuß fasse (Braun 1985, 15f). „Dabei

spiele die Volksläufigkeit, die vom Sammler gar nicht überprüfbar sei,

keine Rolle.“ (Ebd. 1985, 16)

26 Die Redewendung „iet tautās“ („unter die Völker gehen“) hat die Bedeutung ‚verheiratet werden’ (Biezais 1970, 67).

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Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

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Heute ist die Volksmusikforschung durch zwei Leitperspektiven

eingegrenzt: die Definition des Forschungsfeldes von den Objekten

aus („Objektorientierter Bestimmungsansatz“) oder die Definition des

Forschungsfeldes von handelnden Subjekten ausgehend

(„Subjektorientierter Bestimmungsansatz“) (Schepping 2001, 588f).

Die Bestimmung vom Ansatz der Subjekte führt zurück zum Begriff

Volk in der soziologischen Kategorie als Träger der Musik. Die

Unschärfe und der Spekulationsrahmen des Volksbegriffes bleiben

dabei bestehen, da man sich innerhalb der Forschung noch nicht auf

eine eindeutige Definition, was das Volk sei, einigen konnte. Den

Bestimmungsansätzen ist gemein, dass sie den dynamischen

Charakter der Volksmusik zu erfassen versuchen, so dass eine

Reduktion auf den musikalischen Bereich des Folklorismus

vermieden wird. Kennzeichnend für den Folklorismus sind scheinbar

fixierte, unveränderbare musikalische und poetische Formen, die das

Wesen der Volkskultur ausmachen, sowie eine festgeschriebene

musikalische Praxis27. So wird vermittelt, dass die Volkskultur aus

einem bedrohten Zustand gerettet worden sei und heute nicht mehr

existiere, hätte man sie nicht fixiert. Volkskultur in diesem Sinne ist

immer ein Abbild einer bestimmten vergangenen Zeit, die beständig

reproduziert wird. Sie wird musealisiert, aber sie wird in diesem

Museum immer von Vergangenheitsexperten ins rechte Licht gerückt

und inszeniert.

Es existieren keine eindeutigen Bestimmungskategorien für

Volksmusik oder Volkslieder. Die Kriterien hängen von der Methode

der Erforschung, als auch von der kausalen Determiniertheit der

Forscher ab. Die allgemeine Auffassung von der gesellschaftlichen

Bedeutung der Volksliedforschung oder Sammlung und der

Zuschreibungsgehalt an die erforschten Objekte sind dem so 27 Die Unbestimmtheit der subjektiven musikalischen Durchführung trifft für M. P. Baumann als Merkmal der Folklore zu. Da das Material in einen „andauernden Prozeß der wiederholten Neuschöpfung und verändernden Re-interpretation“ (Baumann in Schepping 2001, 591) eingebettet sei, könne es subjektiviert und daher selbst verändert und variiert werden. Tibbe versucht diesem Problem durch eine Unterscheidung beizukommen: Folklore kann performativen Charakter besitzen und in erstarrter Form als Konzertfolklore dargeboten werden oder funktional an Umgebung und Gemeinschaft geknüpft sein. Sie sei Ausdrucksform der beherrschten Klasse und gekennzeichnet durch geringen Reproduktionsaufwand. Somit entstehen Möglichkeiten der Ausweitung des Folklorebegriffes auf die populäre Musik der Gegenwart. Wird Folklore als kulturelles Phänomen praktiziert, so trage sie dynamische und realistische Züge (Tibbe 1981, 12ff).

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Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

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genannten Zeitgeist unterworfen. Die Entwicklung von der

idealistischen Wahrnehmung des Volksliedes bei Herder bis zu einer

statistisch-deskriptiven Forschungsmethode ist geschichtlich geprägt

und Reflexion gesellschaftlicher Wahrnehmungen. Die Erforschung

und Sammlung der Volkslieder, also die Reflexion und schriftliche

Fixierung der Folklore, bilden eine Zäsur in der Entwicklung der

Volkskultur, weil sie neue Möglichkeiten der Funktion von Folklore

eröffnen und Folklorismus produzieren. Durch das aktive Eingreifen

der Sammler in die Übermittlungszusammenhänge der Volkskultur

werden diese Praktiken mitgestaltet und dahingehend erweitert, dass

sie Zugänge in moderne Kulturbereiche außerhalb der Volkskultur

finden, welche auf sie zurückwirken. Das historische Problem besteht

darin, dass in der Romantik das Paradigma der Sammler

vorherrscht, durch ihre Sammlungstätigkeit die Volkskultur vor dem

Aussterben zu bewahren und was sie echt und ursprünglich mache,

zu erhalten, ohne selbst in die Tradierungszusammenhänge

integriert zu sein. So ist es auch bei den Sammlern der lettischen

Volksmusik bis Anfang des 20. Jahrhunderts der Fall. Daher binden

sie an die Kategorie des Echten und Ursprünglichen und somit

Bewahrenswerten, eigene Kriterien der Auswahl und des

ästhetischen Empfindens. Durch die Veröffentlichung der

Sammlungen wird ein „Katalog von Traditionen“ (Kaschuba 1999,

173) angeboten, auf welchen die Träger der Volkskultur unter dem

Eindruck, diese Kultur sei die wahre Volkskultur, zurückgreifen. Sie

erhalten damit die Vorlagen der Bewertung und richten eventuell ihre

eigene Tradierungspraxis nach den festgeschriebenen Mustern.

Zudem wird die Volkskultur durch Veröffentlichung in anderen

gesellschaftlichen Bereichen popularisiert. So wird Kultur produziert.

Wird Folklorismus aus wirtschaftlichen Interessen betrieben, so

richten sich die Betroffenen oft nach den Stereotypen, die von ihnen

in der Öffentlichkeit kursieren, wie es im Tourismus häufig der Fall

ist.

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Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

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3.2. Dainas

Im Folgenden werden die Form, die Singpraxis, die gesellschaftliche

Funktion, die Themen und literarischen Ausdrucksformen der

Dainas, so wie sie überliefert und aufgeschrieben wurden, im Kontext

der Volkskultur charakterisiert. Darauf folgt ein kurzer Überblick über

die Geschichte und die Genres der lettischen Volkslieder. Dieser soll

veranschaulichen, dass es in der lettischen Volksmusik eine Vielzahl

von Liederformen gibt, aus denen die Dainas für die Repräsentation

der lettischen nationalen Kultur ausgewählt wurden.

Da keine umfangreichen Aufzeichnungen lettischer Volkslieder aus

der Zeit vor dem 19. Jahrhundert vorhanden sind, ist ihre bestehende

Gestalt als Endresultat einer langen Entwicklung zu bewerten

(Scholz 1990, 155). Die wahrscheinlich ältesten Lieder haben sich

als Vierzeiler herausgebildet28 und tragen die Bezeichnung „Dainas“

oder „tautas dziesmas“ („Volkslieder“). Der Begriff „Daina“ ist eine

dem litauischen Wort „dainos“ entlehnte Neuschöpfung durch Henrijs

Vīzendorfs, welche sich durch die Baron’schen Liedersammlung

eingebürgert hat (Scholz 1990, 165) und besitzt Ähnlichkeit mit dem

Verb „daiĦot“ („fröhlich sein, Lieder singen“) (Ebd. 1990, 165). 1894

verwendet Krišjānis Barons, der zusammen mit Vīzendorfs in den

Jahren 1894 bis 1915 acht Bände der lettischen Volkslieder

veröffentlicht, den Begriff für „klasikās tautas dziesmas“ („Klassische

Volkslieder“).

Die Vierzeiler bestehen aus zwei Strophen, die inhaltlich miteinander

in Beziehung stehen, oft verbunden durch das literarische Mittel des

Parallelismus. Ist die erste Strophe zumeist eine aphoristische

Betrachtung oder eine Lebensweisheit, eine Aussage, so bietet die

zweite Strophe dazu einen Vergleich aus Vorgängen in der Natur

oder in dem Lebensumfeld. Sie kann der ersten Aussage antithetisch

gegenüber stehen beziehungsweise deren Motivation liefern. Die

Funktionen der Strophen sind vertauschbar29.

28 Es existieren auch sechs-, acht- und zehnzeilige Lieder. Sie sind, so Scholz, Kontaminierungen aus mehreren Vierzeilern oder aus deren Bruchteilen (Scholz 1990, 156). 29 Nach Erdmane ist die Handlung nach den Regeln des parallelismus membrorum folgendermaßen strukturiert: Bilder von Naturobjekten sind in der ersten Hälfte des Liedes platziert, in der zweiten Hälfte

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Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

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3.2.1 Formale Kennzeichen

Typisch für die vierzeiligen Lieder des lettischen Sprachraums ist die

weitgehend einheitliche Metrik. Metrische Hebungen fungieren als

Wortakzente und fallen oft mit der Betonung der ersten Silbe des

Wortes zusammen. Die Silbenlänge ist nicht ausschlaggebend. Die

Ähnlichkeit im Zeilenaufbau ist bedingt durch die Strenge des

Metrums; 95% der Lieder sind im trochäischen, 5% im daktylischen

Versmaß verfasst30. Die vierhebigen Verse, die durch eine Zäsur

nach der zweiten Hebung getrennt sind, sind reimlos. Reimklang

kann sich aus Alliterationen innerhalb eines Verses ergeben

(Seehaus 1986, 125). In der Regel kann ein Wort nicht über die

Zäsur hinaus verlängert werden. Wirksam werden Längen und

Kürzen, „mit ganz spezifischen Definitionen, was als lang oder kurz

gilt“ (Huelmann 2001, 82) beziehungsweise das Gesetz, dass die

Endsilbe eines doppelfüßigen viersilbigen Trochäus kurz, die

Endsilbe eines doppelfüßigen dreisilbigen Trochäus lang ist31. Das

Metrum kann mit Hilfe von Wortverlängerungen, beispielsweise

durch den Einsatz von Diminutivformen und Flickvokalen oder, indem

Worte ausgelassen oder durch Lautauslassung verkürzt werden,

eingehalten werden. Eine weitere Eigenart der lettischen Dainas ist

der Gebrauch von Verben in der Vergangenheitsform mit der

Bedeutung der Gegenwart (Seehaus 1986, 125). Der Vierzeiler als

typische Grundform der Dainas und dem zu Folge Kürze zum Prinzip

stilisiert wird, bedeuten, dass eine Verlaufsdarstellung von

Geschehnissen oder Handlungen schwierig ist. Die Lieder erhalten

dadurch oft einen aphoristischen Charakter (Scholz 1990, 434;

Seehaus 1986, 122).32 Weiterhin bestimmen die formale Kürze und

folgt ein Vergleich mit einem Ereignis aus dem menschlichen Leben (Erdmane 2000, 202; Scholz 1990, 434). 30 Trochäus: zweisilbig, die erste Silbe ist eine Hebung, die zweite eine Senkung; daktylisch: dreisilbig, erste Silbe ist eine Hebung, letzten zwei Silben sind Senkungen. 31 „ … eine volle akatelektische (=unverkürzte) Dipodie [Doppelfuß] endet mit einer kurzen Silbe, eine katalektische (=abgekürzte) mit einer langen Silbe …“ (Dunkele 1984, 64) 32Viėe-Freiberga erklärt die Dainas als eine Art Momentaufnahme, die Konzentration auf ein Detail wie ein Gegenstand oder eine Naturbeobachtung, aus ihrem zentrifugalen Charakter, begründet in der Form der mündlichen Überlieferung. In schriftlich fixierter Literatur ließen sich im Gegensatz dazu viele Details, eine epische Rahmenhandlung und eine Art Panoramaaufnahme erzeugen. (Viėe-Freiberga 1973, 32f)

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die Regelhaftigkeit des Satzbaus die Auswahl der Worte. Die Worte

würden so gelenkt und die Gedanken konzentriert (Dunkele 1884,

75/ 146). Da die lettischen Dainas eine oral überlieferte Kulturform

darstellen, lässt sich die formale Homogenität und Länge der Lieder

darauf zurückführen, dass die Vorführenden aus ihrem Gedächtnis

repetierten. Die metrische und formale Ähnlichkeit der Lieder erlaubt

den Überlieferern auf der einen Seite, sie einfacher zu speichern und

neue Lieder zu erschaffen. Auf der anderen Seite erleichterte es den

Rezipienten, den Gehalt leichter aufzunehmen. In der

Kommunikation zwischen dem Produzenten, der einen Gedanken

oder eine Erfahrung mit poetischen Mitteln kodiert und dem

Rezipienten, der den Gehalt und Kern des Liedes enkodiert, haben

sich somit diejenigen literarischen Mittel herauskristallisiert, die dafür

kompatibel erscheinen. Betrachtet man die Dainas als die „Seele des

lettischen Volkes“ (Knoll 2003 [2000], 2) oder genauer, als ein Mittel

der Veräußerung von Wissen, das einem bestimmten Kulturkreis

eingegeben ist, so ergibt sich die Erfordernis, für die in den Prozess

Involvierten, den Kode verständlich zu gestalten.33

Die orale Kulturform wurde in der Romantik als Symbol einer

eigenständigen lettischen Kulturform gegenüber der deutsch

geprägten Schriftkultur betrachtet. Es wurde versucht, eine

bestimmte „ursprüngliche“ (Huelmann 1996, 284) Form zu bewahren,

die sich nicht nur gegen die Schriftkultur, sondern auch gegen

andere orale Kulturformen als den Letten eigen abgrenzen konnte.

Zu diesem Zweck wurden die Lieder schriftlich festgehalten, um

diese eigenständige Form zu erhalten, bevor sie sich vor dem

Hintergrund der veränderten bäuerlichen Lebensumstände

umwandeln würden.

33 Daher erfüllen literarische Mittel wie Vergleiche, Parallelismus, Epitheta oder Metaphern, Emphasen und Miniaturisierungen den Zweck, ein Bild zu kreieren, welches von allen gleich gedeutet werden kann. Aus diesen Gründen tauchen Bilder oder Motive immer wieder auf oder formen ein Beziehungssystem (Metuzāle-Kangere 1999, 153). Die Bilder speisen sich aus einem gemeinsamen Erfahrungshintergrund aller, weshalb oft eine Tätigkeit oder ein konkreter Gegenstand das Bild bestimmen. Die Dainas können demzufolge als ein kodiertes System von Referenzen (Ebd. 1999, 157; Viėe-Freiberga 1973, 34). Nach Metuzāle-Kangere ist ein Kennzeichen der Volkspoesie, immer wieder auf die gleichen Muster und Regeln zurückzugreifen.

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3.2.2 Musikalische Kennzeichen

Die Melodie der Dainas ist häufig auf die Länge der ersten zwei

Zeilen - einer Strophe - ausgerichtet. Über Wiederholung oder

Refrain kann der Text längeren Melodien angepasst werden

(Dunkele 1984, 29). Die musikwissenschaftliche Untersuchung (und

Sammlung34) der lettischen Volkslieder durch Andrejs Jurjāns

(Jurjānu Andrejs, 1894 – 192235) ergab zwei Typen der Melodik:

rezitative („teicamāmas dziesmas“), sprich textdominante Lieder mit

kleinräumigen (Boiko 1996, 160) Melodien im Sekunden- oder

Terzbereich, die eher gesprochen als gesungen werden und

singbare Lieder („dziedamās dziesmas“) mit sich entfaltender reicher

Melodie, oft in Strophen mit Kehrreimen zur Ausschmückung

gesungen36. Lange lettische Lieder, die in jüngerer Zeit entstanden

sind, lassen sich dem zweiten Typ zuordnen. Die lettischen Vierzeiler

gehören zum ‚rezitativen’ Typ oder zu Übergangsformen (Dunkele

1984, 98f). Nach der üblichen Vortragsweise trägt eine Vorsängerin

„teicāja“ („Sagerin“) oder saucēja“ („Ruferin“) die ersten vier, sechs

oder acht Takte in der oberen Stimme allein vor. Dann setzen die

„locītājas“ („die Variierenden“, nach „locīt“, „wiederholt biegen“,

„beugen“) ein, ein Chor, der die Melodie mit Variationen wiederholt,

begleitet von einem Chor Bordun37 haltender Sängerinnen, den

„vilcējas“ („Ziehenden“). Der Vortrag ist meist zweistimmig, das Ende

erklingt unisono. Das Begleitinstrument ist die „kokle“, ein

Saiteninstrument.

34 Jurjāns hat die lettische Volksmusikforschung begründet und ein Sammelwerk lettischer Volksliedmelodien „Latviju tautas mūsikas materiāli“ („Materialien zur lettischen Volksmusik; 1894 – 1926) veröffentlicht. Weitere Melodien sind in der Sammlung des Komponisten Emilis Melngailis (1874 – 1954) „Latviju mūsikas folkloras materiāli“ (Materialien zur lettischen Musikfolklore; 1951 – 1953) erschienen, sowie nach dem Krieg in einem mehrbändigen Werk „Latviešu tautas mūsika“ (Lettische Volksmusik; 1958 – 1986) von Jēkabs VītoliĦš (1898 – 1977). Spätere Sammlungen sind an private und öffentliche Dokumentationszentren in Lettland gebunden. (Boiko 1996, 159) 35 Dunkele gibt das Todesjahr mit 1926 an (Dunkele 1984, 98). 36 Der Begriff der rezitativen Lieder stammt vom Verb „teikt“ („sagen“) ab, der der singbaren, vom Verb „dziedāt“ („singen“). 37 Der Bordun, eine „absolut horizontale Linie auf einem Rezitationston“ (Boiko 1996, 159), ist das Langziehen des letzten Tones der Vorsängerin bis zum Liedende, meist im unteren Tonraum auf den Vokalen „a“ oder „e“ oder auf dem Vokal der letzten Silbe.

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3.2.3 Funktionen der Dainas

Die rezitativen Lieder werden oft im Freien aufgeführt und sind an

bestimmte soziale Funktionen gebunden. Nach Dunkele sind es

Lieder, welche an alte Rituale, Feste des Jahreszyklus und an

Kulthandlungen geknüpft sind, wie zum Beispiel „apdziedāšanas

dziesmas“ („Spottlieder“), die auf der Hochzeit, zur Taufe oder

anderen Familienfeiern gesungen werden und Arbeitslieder, die

einen großen Bereich im Korpus der Dainas einnehmen (Dunkele

1984, 98; Huelmann 1996, 284f/ 288). Die melodiereicheren Lieder

der Übergangsform finden Anwendung zu den Johannisfesten/

Sonnenwendfeiern oder im Frühling. Es sind Hirtenlieder,

Hochzeitslieder oder „Lieder der Mahlerinnen“ (Dunkele 1984, 99).

Boiko teilt die Funktion der Bordunlieder verschiedenen Regionen zu:

„Im südwestlichen Lettland sind Bordunlieder meist Hochzeits-,

Namengebungs-, Toten- und Frühlingslieder, im zentralen Lettland

sind es Hochzeits- und Erntehilfelieder, in den Gebieten am linken

Ufer der der Daugava (…) Hochzeits-, Mittwinter-, Frühlings- und

Johannislieder.“38 (Boiko 1996, 160)

In der zeitgenössischen Literatur über die Dainas werden zwei

Aspekte der Volkslieder betont: auf einer allgemeinen Ebene der

Folklore ist es die Funktion der Übermittlung von Grundhaltungen

38Victor von Andrejanow (1857 – 1895), Dichter und Schriftsteller schreibt im Vorwort zu „Lettische Volkslieder und Mythen“ von 1986, Folgendes: „Es [das Lied] hängt unzertrennlich mit Freud’ und Leid, mit Lieb’ und Haß, mit jeder Art von Arbeit und Hantierung, mit Festen, besonderen Ereignissen, alten Sitten und Gebräuchen zusammen. (…) Die Hochzeiten, die Kindertaufen, die Beerdigungen (…) bestanden zum Teil aus einer Reihe höchst merkwürdiger, in urheidnische Zeit zurückweisende Gebräuche, derer jeder von passenden Liedern begleitet werden mußte. Aber auch die wochentäglichen Arbeiten und Verrichtungen konnten jederzeit durch entsprechende Lieder verklärt werden. (…), wenn es überall zu sprießen und zu grünen beginnt, (…) – dann hebt ringsum das Jubeln, Jauchzen und Jodeln, oder wie es heißt ‚Gawileeschana’ an, - fröhliche, neckische Lieder, von Hirten, Mädchen, Kindern (…) Sommer, dessen Einleitung die Ligho-Gesänge bilden. Dann folgt die Mahd- und Erntezeit mit all ihrer Emsigkeit und Mühe, begleitet von den Liedern der Arbeit. Im Spätherbst und Winter aber, wenn sich der Schwerpunkt aller Tätigkeit in die schützenden vier Wände, ins Haus verlegt, kommen die Abendunterhaltungen, die ‚Wakareeschana’, an die Reihe.“ (Andrejanow nach Seehaus 1986, 50/ 51) 38 Bula betont wie Andrejanow den dramatischen Charakter der Volkslieder, da sie bestimmte Rituale und Feste begleiteten, diese gliederten, organisierten und Handlungen erklärten (Bula 1999). Im Bereich des persönlichen Lebens sind die „Hauptübergangsrituale“38 (Ebd. 1999) Taufe, Hochzeit und Beerdigung bedeutsam. Übergangsriten“ sind kennzeichnend für die „alten traditionellen Praktiken“ von bestimmten Gruppen im Unterschied zu „erfundenen Praktiken“ von „Pseudogemeinschaften“ (Hobesbawm 1998, 110) Da den Liedern, soweit es von Verrichtung bäuerlicher Arbeit handelt, oft eine Beschreibung der Tätigkeit, eines Werkzeugs oder Haustiers eingefügt ist, wird auf diese Weise „das bäuerliche Alltagsleben ästhetisiert“ (Bula 1999). Bula macht darauf aufmerksam, dass besonders der Beginn oder die Beendigung von wichtigen Arbeiten, „der erste Tag der Viehweide, Martini, oder das Ende der Erntearbeiten im Herbst“ (Ebd. 1999) Anlässe zum Singen böten.

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und Wertvorstellungen, die in diesem Prozess der mündlichen

Tradierung wandlungsfähig und anpassungsfähig bleiben und eine

bestimmte Lebensanschauung poetisch darstellen39 auf einer

konkreteren Ebene ist es eine Begleitung und Kommentierung

bäuerlicher Alltagskultur, gebunden an die Bestimmungsfaktoren

bäuerlichen Lebens. Das Singen der Dainas erfüllt zudem den

Zweck, eine kulturelle Sphäre zu erschaffen und erhalten, die frei

vom Einfluss der Deutschen und vom Einfluss der Kirche ist

(Oberländer 2001, 236f).

3.2.4 Themen und inhaltliche Aspekte

„The subject matter of the Dainas includes the peasant’s daily

routine, his observations of the world around him, his love and

courtships, his sexual experiences and fantasies, his carousing,

drinking, and singing, his profound love for the native land, his family

life with its joy, heartbreaks, trials, The plight of orphans (a recurring

theme), the hatred of opression, the devastation of the war.“

(Carpenter 1980, 18) Es existiert eine Bandbreite der Themen aus

dem Bereich bäuerlichen Alltags und bäuerlicher

Lebensgewohnheiten. Der zentrale Handlungsrahmen der Lieder,

selbst, wenn Naturphänomene, konkrete Gegenstände oder

Begebenheiten aus der Tierwelt das zentrale Motiv bilden, ist der

menschliche Bereich (Huelmann 2001, 79).

Eine besondere Rolle des Erschaffens und der Überlieferung der

Dainas wird Frauen zuteil: bestimmte Themenbereiche wie Krieg

39 Für M. Knoll stellen die Dainas eine Akkumulation des „gesamte[n] schöpferische[n] Potential[s] des Volkes, seine künstlerische, philosophische und mentale Energie (Knoll 2003 [2000], 1f) dar. Für Seehaus enthalten die Lieder einen „ganze[n] Kodex der Ethik und Ästhetik des Volkes“ (Seehaus 1986, 122). Für Dunkele ist das Volkslied wie ein Sammelbecken für geschichtliche Erlebnisse wie Christianisierung des Landes, seine Besiedelung durch Deutsche, katholische und protestantische Einflüsse und die Aufklärungszeit. Die Lieder würden dadurch ständig umgeformt, vermischt und neu geschöpft. (Dunkele 1984, 52). I. Ziedonis hebt den ethischen Aspekt lettischer Volkslieder heraus: they „contain essential formulae for building one’s character“ (Ziedonis 2000, 3). Diese Aussagen betonen den geschichtlichen und ethischen Wert der Dainas als universell. Die These, dass die kulturelle Identität der Letten in den Dainas wurzele, wird durch diese Aussagen belegt. Gehe ich davon aus, dass die Dainas für die Konstruktion einer kulturellen Identität instrumentalisiert wurden, arbeiten diese Autoren dem Konstrukt zu. Der Einfluss der deutschen Kultur lässt sich anhand von Lehnwörtern nachweisen, es lässt sich auch durch bestimmte Wörter in Liedvarianten mit der gleichen eine thematische Aussage, nachweisen, dass ein Säkularisierungsprozess in Lettland stattfand (Biesais 1970). Bei Viėe-Freiberga fand ich auch ein Lied mit Bezug zur Pest (Viėe-Freiberga 1973, 42). Insoweit ist die Aussage Dunkeles nachvollziehbar. Die Aussagen der anderen Autoren sind meiner Meinung nach Zuschreibungen.

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werden ausgeklammert oder nur durch das Motiv des Verlustes

dargestellt. Die Eingrenzung der Themenbereiche ist ein

Charakteristikum lettischer Volkslieder. Ein großer Teil der lettischen

Dainas widmet sich dem Arbeitsleben40: Pflügen, Heuernte,

Roggenernte, Flachs- und Hanfernte, Hüten des Viehs, Mahlen,

Spinnen, Weben, Waschen, Jagd, Fischerei. Es werden nur

Tätigkeiten aus dem bäuerlichen Leben thematisiert. Eine

konservative Tendenz zeigt sich in der thematischen

Kategorisierung: neue Lieder lassen sich in die vorhandenen

Kategorien einordnen, Modernisierungen, wie zum Beispiel soziale

und technische Entwicklungen, erscheinen nur am Rand. „… und so

kommt es, dass die Lieder nach wie vor ein Lebensbild

widerspiegeln, das eine einfach strukturierte, ausschließlich von

bäuerlichen Belangen geprägte Gesellschaft charakterisierte.“(Ebd.

1996, 302) Die Ordnung des Bestehenden, die in der sich

verändernden Gesellschaft einen „immer kleiner werdenden

Ausschnitt“ (Ebd. 1996, 285) beschreibt, hält Stellung gegen die

Unordnung der sich verändernden Welt.

Die Verrichtung der Arbeit selbst stellt den Ausgang der

Liedhandlung dar. Die konkrete Tätigkeit kann als Symbol eines

abstrakten Inhalts dienen: eine Lebenssituation wird angesprochen

und die affirmative oder negative Haltung des Singenden/ der

Singenden wird zum Ausdruck gebracht; die Tätigkeit steht in

Verbindung mit der sozialen Stellung des lyrischen Ichs oder einer

anderen Person oder impliziert eine soziale Konstellation. Die

Erwähnung des Arbeiters oder der Arbeiterin kann Informationen

über den sozialen Rang in der bäuerlichen Gemeinschaft enthalten:

verwaist, ledig, verheiratet, wohlhabend, arm. (Ebd. 1986, 278).

Die weibliche Wahrnehmung männlich dominierter Arbeiten wie

Pflügen oder Fischen – wobei Ersteres gesellschaftlich höher

40 Es soll nicht der Eindruck entstehen, dass der Anteil der Arbeitslieder von mir überbewertet wird. „So ist das Volkslied mit Arbeit und Kultus verflochten, aber auch mit Spiel und Tanz.“ (BērziĦš 1930, 294) In der Zeit der lettischen SSR erfuhren die Arbeitslieder größere Aufmerksamkeit. In der in den 1980er Jahren vorbereiteten akademischen Ausgabe lettischer Volkslieder sind die Lieder mit den Themen der Arbeit „an erste Stelle gerückt“ (Kokare 1985, 509), da sie als eigentümlich erachtet werden: „weil bei anderen Völkern die Arbeitslieder als eigene Gattung fast gar nicht erhalten geblieben sind“ (Ebd. 1985, 509).

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angesehen ist41, als Zweiteres – beschreibt zugleich eine

(potentielle) soziale Beziehung der Mädchen oder Frauen zu den

Arbeitern. Huelmann betont den zentralen Stellenwert der Arbeit als

Charakter und Wesen bestimmend (Ebd. 1986, 288). Wird das

Arbeitsmaterial oder die Arbeitssituation erwähnt, kann

vorausgesetzt werden, dass der Rezipient über genaue Kenntnis der

Arbeitsumwelt verfügt, weshalb über die Benennung eines Details oft

kontextuelle Informationen transportiert werden.42 Die klare und

konkrete Sprache in den Dainas kann aus heutiger Sicht zu

Missinterpretationen beitragen, weil sich die Themen und

Handlungen der Lieder oft in metaphorischem Gewand auf

bestimmte Bereiche und Erscheinungen oder Redewendungen des

bäuerlichen Alltags beziehen (Viėe-Freiberga 1973).

Nach Huelmann geben die Dainas jedoch keine gesellschaftliche

Realität wider. Huelmann geht von der Wirkung – dem Effekt - der

Lieder auf den Zuhörer aus. Beschrieben sei nicht die konkrete

Wirklichkeit, sondern „eine bestimmte Sichtweise dieser konkreten

Wirklichkeit“ (Huelmann 1996, 287), vornehmlich eine weibliche

Sichtweise. „ …typisch ist gerade eine neutrale, emotionslose

Schilderung von Sachverhalten, die die Beurteilung dem Rezipienten

überläßt.“ (Ebd. 1996, 293) Die symbolische Bedeutung von

Sachverhalten erhebt den Text in eine Ebene, welche eine

emotionale Wirkung im Rezipienten erzielt. Diese ist intendiert, wird

aber nicht aufgezwungen. Das Gefühl bleibt dabei unausgedrückt.

41 „arājs, arējs, 1) der Pflüger (…); 2) der Landmann, der Bauer, im Volksliede oft durch zemes [der Erde; Anmerkung des Autors] näher bestimmt (…); 3) das Dem. arājiĦš dient im Volksliede als Bezeichnung des Verlobten, des Versorgers (…). arējs ist der Pflüger, der im gegebenen Moment pflügt, arājs dagegen Landmann, dessen Lebensberuf der Ackerbau ist. arāji und arānieks heissen im Pabbasch die landeinwärts lebenden Bauern im Gegensatz zu den Fischern.“ (K. Mühlenbachs Lettisch – deutsches Wörterbuch 1923 – 1925, 140) 42 BērziĦš stellt heraus, das in der Benennung von konkreten und realen Gegenständen der das lyrische Ich umgebenden Lebenswelt der besondere Zug der Subjektivität deutlich hervortritt. In der Objektauswahl und der Betrachtung der Objekte spielt eine erfahrungsmäßige Vertrautheit eine Rolle; die unmittelbare Umgebung findet in den Liedern Rücksicht (BērziĦš 1930, 295). Damit korrespondiert die häufige Verwendung der Diminutive, welche Vertrautheit und emotionalen Zugewandtheit – Ein in das Vertrauen des lyrischen Ichs eingebunden Sein - signalisieren als auch Über- und Unterdimensionierungen. Insekten werden scheinbar in menschlichen Dimensionen betrachtet, Mühlsteine werden zu kleinen grauen Steinen: „Nāc tu, māsiĦa, / ZirnekĜa meitiĦa / Palīdzi pūriĦu / Piedarināt.“ „Come, little sister, / Little girl spider, / Help me to fill / My dower–chest.” ; “Pelēkais akmentiĦ,/ Iesim abi spēlēties./ Gan es tevi iespēlēšu, / Baltu miltu kupenā.” “Come, little grey stone, / Let us play with each other, / I shall soon play you under / A drift of white flour.” (Viėe-Freiberga 1973, 39f)

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Dies soll anhand eines Beispiels verdeutlicht werden. Die

Übersetzung und Deutung entstammt Frau Viėe-Freiberga (Viėe-

Freiberga 1973, 35):

Šuvu vienu linu kreklu, Šuvu visu vasariĦu. Dod, DieviĦi, tam kreklam Pa prātam valkātāju.

„I sewed a single linen shirt, All summer long I sewed it. God, grant that this shirt May go to a pleasing wearer.”

Die Tätigkeit des Hemden Nähens kann als gewöhnliche

Frauenhausarbeit gewertet werden, insbesondere für junge

Mädchen, welche so die Mitgift zusammenstellen. Nach Viėe-

Freiberga treffen in dem Bild das Moment der Kontrolle und das der

Ohnmacht aufeinander. Das Mädchen bestimmt die Handarbeit, es

liegt aber nicht in ihrer Macht, den zukünftigen Ehemann zu

bestimmen. Auf die damit verbundene tragische und unsichere

Situation und die Emotionen, des Mädchens, das einen Fremden

heiraten soll, muss der Rezipient selbst schließen.

Viele Liedinhalte sind mit mythologischen Vorstellungen durchwoben.

Die Figuren einer vor-christlichen Glaubenswelt tragen menschliche

Züge, besitzen menschliche Gewohnheiten und eine ähnliche

Umwelt, sind „anthromorphized figures“ (Ebd. 1973, 129), wie Viėe-

Freiberga an der Erscheinung des lettischen Gottes „dievs“ belegt.

Die religiösen Erfahrungen die sich in den Dainas ausdrücken,

lassen entweder auf die Funktion der mythologischen Motive, die

Erscheinungen in der Natur zu erklären, schließen. Sie können aber

auch als Epiphanie (Ebd. 1973, 132), den Glauben an konkrete

Manifestationen der göttlichen Präsenz in den Naturerscheinungen

und –vorgängen, gedeutet werden. Obwohl sich durch ihre

Manifestation in der Umwelt die göttlichen Figuren durch einen

konkreten Vergleich mit dem menschlichen Dasein verständlich

darstellen lassen und eine parallele überirdische Welt imaginiert

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Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

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werden kann, stellen sie in den menschlichen Bereich übertragene

Prinzipien dar und konkretisieren abstrakte Ideen. Einerseits kann so

der Verlauf des Schicksals erklärt werden, andererseits wird eine

Moral vermittelt. „Übernatürliche Wesen sind im Bewußtsein des

Menschen ständig präsent und können helfend oder strafend

eingreifen. Ihr Wirken ist nicht willkürlich, sondern wesentlich vom

Menschen mitbestimmt – durch sein Verhalten, beispielsweise durch

die Art, wie er seinen Pflichten nachkommt.“ (Huelmann 1996, 292)

Ziedonis beschreibt, dass die lettische Sprache dem Sanskrit ähnlich

sei indem sie tiefe, philosophisch harmonische Bedeutungen in den

einzelnen Wörtern transportiere (Ziedonis 2000, 4). Die semantische

Vielschichtigkeit der Sprache drückt sich durch die Verbindung

konkreter und realer Phänomene mit übergeordneten Prinzipien und

Ideen aus43. Verbundenheit findet sich ebenso im stilistischen Mittel

des Parallelismus oder Vergleichs in den Dainas als auch, wie

Huelmann interpretiert, in der Kommunikation zwischen der

physischen und metaphysischen Sphäre der Erscheinungen

(Huelmann 1996, 292). Zudem stehe die „Lesart“, die Art und Weise,

den Text zu interpretieren, in einer „Tradition, die Zusammenhänge

sucht“ (Dahlerup 1999, 49).

Die Geschlossenheit des bäuerlichen Lebensumfeldes, in dem die

Vierzeiler erdichtet, gebraucht und auch aufgenommen werden,

erübrigt nach meiner Meinung den Bedarf an der Darstellung der

43 Matthias Knoll versucht die Schwierigkeiten, alle semantischen Ebenen in einem Liedtext zu erfassen, darzustellen anhand des Vierzeilers: „Lēni, lēni DieviĦš brauca / No kalniĦa lejiĦāi, / Netraucēja ievas ziedu, / Ne arāja kumeliĦu.“ Die wörtliche Übersetzung lautet: „Langsam, langsam fuhr Gottchen/ Vom Bergchen ins Tälchen,/ Störte nicht die Blüte des Traubenkirschbaums,/ auch des Flügers Rößlein nicht“ (Knoll 2003 [2000], 3). „Bei dem lettischen Gott DieviĦš – mitunter auch baltais DieviĦš (weißes Gottchen) genannt – handelt es sich nicht um den allmächtigen Gottvater der Christen Dievs, sondern um einen oft unter den Menschen weilenden, fast unscheinbaren gutherzigen Alten, zu dessen Attributen u.a. ein komplettes Einsiedlergehöft gehört. Dennoch fährt er hier nicht mit einem Wagen o.ä.; vielmehr ist braukt in diesem Fall mit einer Stimmung wie der eines Windhauchs konnotiert, der durch die Zweige fährt; auch „herniedergleiten“ wäre ein einigermaßen stimmiges Bild. Zwar bedeutet lēni durchaus langsam, aber auch „sanft, milde, sacht, leicht, weich, ruhig, gemach“ (…).kalniĦš und lejiĦāi (…) stehen im Diminutiv; dennoch symbolisiert hier das Berglein die seelisch erfaßte kosmisch-göttliche Himmelswelt, das Tälchen wiederum die trauten irdischen Gefilde. netraucēja, wörtlich störte nicht, kann hier im Sinne von „ließ unbehelligt“ verstanden werden. Die ieva (Padus avium Mill.), die zarte, weißblühende Vogel- oder Traubenkirsche, ist ein häufiges, oft besungenes Gewächs in Lettland. (...) ieva gilt als Symbol für das weibliche Prinzip schlechthin, die Blüte des Gewächses ist Sinnbild für Anmut und Schönheit der Frau. arājs, der Pflüger, ist kein gemeiner Landarbeiter, sondern in einer durch die Landwirtschaft geprägten Kultur Symbol für das männliche Prinzip und seine weltgestaltende, lebensbejahende Schaffenskraft. Sein Attribut ist das von dem tief in bäuerlicher Tradition verwurzelten Letten innig geliebte und verehrte kumeliĦš (wörtlich Fohlenchen, jedoch Kosewort für ein ausgewachsenes Pferd), ein Symbol für die dem Menschen bereitwillig dienende Kraft des Naturreichs“ (Ebd. 2003 [2000], 3)

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Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

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„konkreten Lebenswirklichkeit“, wie sie vielleicht für die

volkskundliche und kulturhistorische Forschung von Interesse wäre.

Die Funktion der Dainas in der bäuerlichen Gemeinschaft, das Leben

zu reflektieren, kann den Anteil von emotional gefärbten Inhalten

erklären. Es liegt zudem in der Natur des, von Huelmann

angesprochenen, Effekts, auf die Gefühle der Rezipienten zu zielen.

Die Rolle der Frauen in der Tradierung und Erschaffung der Dainas

scheint gewichtig. Nach Knoll sind 60 - 70 % der Lieder von Frauen

erdacht (Knoll 2003 [2000], 3)44. Auch die Ausführung der rezitativen

Lieder mit Bordun ist „Privileg der Frauen“ (Boiko 1996, 160). Neben

der Möglichkeit sich auszudrücken, dient das Erlernen (durch Singen

oder Skandieren) und Wiedergeben der Lieder der Aufnahme und

Verbreitung von Wissen; es erfüllt pädagogische Zwecke. Die

Mädchen lernen die Lieder oft vor der Heirat und der Übersiedlung in

für sie fremde Gebiete. Die Lieder werden von der Mutter auf die

Tochter oder durch die Schwestern vererbt, oder durch Abhören bei

den Arbeiten und Festen. „Das Lied sagt: „dziesmas tinu kamolā“,

‚die Lieder sammelte ich zu einem Knäuel’ (oder „dziesmu vācelīte“,

‚im Liedkörbchen’), um sie später eines nach dem anderen

abzutrennen (…).“ (Dunkele 1984, 152)

Moralvorstellungen, welche in den lettischen Dainas transportiert

werden, äußern sich auch in so genannten „nerātnas dziesmas“

(„ungezogene Lieder“), welche sich durch sexuelle Anspielungen der

feinsinnigen oder der rohen und plumpen Art auszeichnen. Der

deutsche Historiograph P. Einhorn 1649 äußert sich zu den

Festlichkeiten einer Hochzeit, wobei ein „abscheulich viehisch und

schandlos Leben geführet“ (Einhorn in Huelmann 2001, 81) würde:

„Darnach werden solche unflätige / unzüchtige und leichtfertige

Lieder auff ihre Sprache gesungen Tag und Nacht ohn auffhören /

daß sie der Teuffel selbst nicht unflätiger / und schandloser

erdencken und fürbringen möchte.“ (Ebd. 2001, 81)

44 Ausnahmen bilden die Fischereilieder, die eine männliche oder neutrale Sicht des lyrischen Ichs vermitteln (Huelmann 1996, 287).

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Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

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Für die lettgallischen Folklorematerialen ist, so Juško-Štekele ein

„polychronischer Charakter“ (Juško-Štekele 2002, 48)

kennzeichnend. „Groteske Bildlichkeit“ (Ebd. 2002, 48), Emphasen

physiologischer, naturalistischer oder gewalttätiger Elemente und

Elemente und Verbildlichungen christlicher Ethik und Moral treffen

aufeinander. Die Vielfalt und „Dialekte“ der Folklore seien Ergebnisse

des Ineinanderwirkens von der Folklore immanenten Regeln mit den

sich verändernden äußeren Faktoren wie Paradigmen der Zeit,

sozialer und ökonomischer Wandel, Migration oder die Katholische

Kirche. Die Gleichzeitigkeit von Elementen aus verschiedenen

Epochen, „a fantastic mixture of Christianity and ancient costums“

(Svenne in Juško-Štekele 2002, 49) ergibt sich aus der religiösen

Geschichte in Lettgallen. Nach einer Periode starker Gegensätze

zwischen Heidentum und Christentum, geprägt von Verfolgung und

gegenseitiger Gewalt (etwa vom 13. bis zum 15. Jahrhundert), tritt

eine Phase des Übergangs ein (vom 16. bis zum 18. Jahrhundert).

Heidnische Feiertage, Kalender und heilige Stätten werden übersetzt

in christliche Bedeutungen. „In the second half of the 19th century,

Latgale was a true Catholic land.” (Juško-Štekele 2002, 49) Nach

dem Widerstand der Bevölkerung wird die Folklore unterstützt oder

toleriert und in die Bildungsbestrebungen der Priester eingebunden.

J. MaciĜevičs veröffentlicht unter dem Einfluss der Ideen der

Aufklärung 1850 ein Buch, in welchem Gebräuche der Volkskultur

beschrieben, Elemente wie Aberglaube aber verurteilt werden.

3.3. Weitere Volksliedtypen Die lettischen Vierzeiler haben sich nach F. Scholz im Laufe der Zeit

herausgebildet als Favorisierung einer nicht strophig gegliederten

Form. Es mag der Eindruck entstehen, dass nur diese Form

lettischer Volkslieder existiere, die sich relativ frei von fremden

Einflüssen entwickelt habe. Allerdings existieren neben den Dainas

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Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

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weitere Typen von Volksliedern45: längere, strophig gegliederte, so

genannte „dziesmu virknes“ („Liederketten“). Sie bilden keinen

eigenen Typus, sondern erfüllen die Funktion, das Singen zu

verlängern. Zu diesem Zweck werden thematisch nahe stehende

Vierzeiler aneinandergereiht. Einen zweiten Typus stellen die

„ziĦăes“ (sprich: Singjes) dar. Es sind längere Lieder, lyroepisch mit

einer Erzählfabel, die nachweislich aus der Trivialliteratur stammt.

Diese Lieder haben oft eine sentimentale Note. Eine

Alternativbezeichnung ist „tautas romances“ („Volksromanzen“)

(Dunkele 1990, 33). Diese Bedeutung wird von G. F. Stender

mitgeprägt. Er attestiert in seiner Beschäftigung mit der lettischen

Sprache und Kultur im 18. Jahrhundert den Letten einen „durch die

Leibeigenschaft bedingten Mangel an Kultur“ (Stender in Scholz

1990, 158) und propagiert gemäß eines aufklärerischen Bildungs-

und Fortschrittsglaubens, die Ersetzung der „schamlosen alten

Volkslieder“ (Scholz 1990, 158) durch übersetzte europäische

Kunstlieder. Vor der Aufwertung des Folklorematerials in der

Romantik ist das lettische „dziesma“ oder „dziesmis“ („Lied“) als

„blēĦu dziesma“46 („albernes Lied“) geschmälert. Im 17. Jahrhundert

tritt mit der Bibelübersetzung verstärkt die Bekämpfung „heidnischer

Überbleibsel im Volksglauben“ (Dunkele 1990, 28) hinzu. Sicherlich

auch eine Intention Stenders. Der Erfolg der Herrenhuter

Brüdergemeinde in Vidzeme erstreckt sich auf die Übernahme

geistlicher Lieder im Alltagsgebrauch. Die weltlichen Lieder werden

gemeinhin als „ziĦăes“ bezeichnet. Die Übersetzungen Stenders, in

„einer den lettischen Volksliedern nahestehender Form verfaßt“

(Dunkele 1990, 28), werden populär; sie verbreiten sich und werden

nachgeahmt und erhalten die Bezeichnung „Jaunas ziĦăes“ („Neue

Singes“). Im 19. Jahrhundert wird für die alten Lieder der Herdersche

Begriff „tautas dziesmas“ („Volkslieder“) übernommen. Die

Bauernkultur wird im 19. Jahrhundert mit veränderten

45 Ich schließe aus meinen Ausführungen weitere Formen der gebundenen Poesie, die in Lettland existieren, Märchen, Rätsel, Sprichwörter, Zauberformeln und andere aus. 46 Den Begriff verwendet 1638 Mancelius in seinem Wörterbuch „Lettus“ im Gegensatz zu „Dieva dziesmas“ („Gotteslieder“) (Dunkele 1990, 27).

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gesellschaftlichen Verhältnissen aufgelockert und gerät in das

Interessensgebiet national gesinnter Intellektueller. Das 19.

Jahrhundert markiert eine „Internationalisierung“ (Ebd. 1990, 30) von

Liedern. Neben den geistlichen Liedern, den Herrenhuter Liedern

und den „Jaunas ziĦăes“ werden in Liedausgaben Übersetzungen

fremdsprachiger Lieder und Kunstlieder propagiert. Das literarische

Lied entsteht und verzweigt sich in „das Lied in der Poesie, in der

Musik und im populären Genre“ (Ebd. 1990, 31).

Die Erörterung eines genuinen Typs lettischer Volkslieder fällt mit

einer durch den Volksliedforscher Kaspars Biezbārdis initiierten

Diskussion anlässlich des ersten lettischen Liederfestes 1873

zusammen. Biezbārdis gelangt zu der Auffassung, dass nicht „jedes

Lied, das im Volke gesungen wird“ (Biezbārdis in Dunkele 1990, 31)

ein Volkslied sei, sondern vornehmlich das „kurze vierzeilige Lied“

(Dunklele 1990, 31). Diese Meinung wird von K. Barons fortan geteilt.

Er etikettiert die Vierzeiler in seiner Ausgabe lettischer Volkslieder

mit „Dainas“. Dunkele ordnet das Volkslied zu Beginn des 20.

Jahrhunderts zwischen dem Populärlied und dem Kirchenlied an und

stellt die Dainas in eine Entwicklung vom „dziesma“, dem Volkslied

im 17. Jahrhundert über das „tautas dziesma“ (Volkslied) im 19.

Jahrhundert zum Daina, angesiedelt zwischen langen Liedern

(ziĦăes) und den Liedketten (dziesmu virknes), als Ergebnis einer

stärkeren Verzweigung im 18. und 19. Jahrhundert.

3.4. Die Sammlung und Veröffentlichung der Dainas i m 19.

Jahrhundert insbesondere bei Krišj ānis Barons

„Wer sich auf Lettland einläßt, sollte bei Barons und den Dainas

beginnen. Ihre Geschichte ist eine jener unendlichen Geschichten

des baltischen Raums, deren Anfänge sich in grauer Vorzeit

verlieren, deren Sujets ewig sind und deren vielfältige Wirkung weit

über die Gegenwart hinausreicht.“ (Butenschön 1992, 107)

Lettische Volkslieder werden seit dem 12. Jahrhundert vereinzelt

erwähnt. Das älteste bekannte Lied mit der Datierung 1584 ist aus

Aufzeichnungen eines Hexenprozesses entstanden. Aus dem Jahr

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1632 stammt das älteste gedruckte Lied von Menius, Professor der

Universität in Tartu. Der Form und dem Typus nach entstammt es

einer mündlichen Überlieferung. Im Jahr 1610 äußert sich der

Chronist Dionysos Fabricius in der „Livonicae historiae compendiosa

series“ zur typischen Form und inhaltlichen Logik der lettischen

Vierzeiler. Die Veröffentlichungen einzelner Lieder erscheinen seit

dem 17. Jahrhundert.

Lettgallische Folklore wird in den Chroniken von Nestor, Novgorod

und in der „Livländischen Reimchronik“ vereinzelt erwähnt.

Sammlungstätigkeiten in den Jahren 1840 – 1880 werden durch

Vertreter der Aufklärung, als auch durch wissenschaftliche

Akademien initiiert. Zu ersteren gehören J. MaciĜevičs, G. Manteifels

und C. Plātere, zu den letzteren die Russische Geographische

Gesellschaft, die Moskauer Gesellschaft der Freunde der

Naturwissenschaften, der Anthropologie und der Ethnographie mit F.

Brīvzemnieks, die Krakower Akademie der Wissenschaften und die

Lettisch=Litärarische Gesellschaft A. Bielensteins. Zudem werden

handgeschriebene Sammlungen angefertigt. Eine nationalistische

Wendung nimmt die Folkloreforschung ab den 1880er Jahren an, als

sich durch höhere Bildung eine Schicht intellektueller Theologen in

Lettgallen ausbildet, zu denen F. Trasuns, J. VišĦevskis, P. SmeĜters

und andere gehören. SmeĜters Sammlungsergebnisse werden in

einem Buch „Tautas dzīsmsu, posoku, meikĜu un parunu voceleite“

veröffentlicht.

3.4.1 Die Baron’sche Dainasammlung

Die ersten Sammlungen werden seit Anfang des 19. Jahrhunderts

verlegt, diese mehren sich mit Verlauf des Jahrhunderts47 und

47 Wie schon erwähnt, veröffentlichen Pastor G. Bergmann (1749 – 1814) 1807 und 1808 mit der „Sammlung ächt lettischer Sinngedichte“ und „Zweyte Sammlung lettischer Sinn- und Stehgreifs-Gedichte“und zur gleichen Zeit Pastor F. D. Wahr (1771 – 1827) mit „Palzmareeschu Dseesmu Krahjums“ („Eine Sammlung von Liedern der Leute von Palzmar“) lettische Lieder. J. G. Büttner (1779 – 1862), Pastor in Kabile, bringt 1844 eine Sammlung von 2854 Liedern heraus. 1868 publiziert der Bibliothekar J. Sprogis in Vilnius 1857 lettische Lieder. Die erste Ausgabe von systematisch geordneten und erforschten Liedern, stammt 1873 von J. Cimze (1814 – 1881) mit dem Titel „Dziesmu rota“ (Carpenter 1980, 20/ 21). A. Bielenstein publiziert 1874/ 75 zu dem Anlass des 50- jährigen Bestehens der Lettisch=Literärischen Gesellschaft 4793 Lieder in den zugehörigen Periodika, als auch zwei Aufsätze über das lettische Volkslied. Der Popularisierung lettischer Volkslieder zum Vorteil ist eine Veröffentlichung des Journalisten A. Arons 1888 mit 2067 mit dem Titel „Muhsu Tautas dseesmas“

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konzentrieren sich in der Ausgabe der von K. Barons48 und H.

Vīzendorfs49 systematisch geordneten und in sechs Bänden

zusammengefassten lettischen „Latwju Dainas“ zwischen 1994 und

1915 mit einem Gesamtumfang von 36000 Grundliedern und 182000

Varianten. Die erste Ausgabe der „Latwju Dainas. Chansons

nationales latviennes“, („Lettische Dainas. Die lettischen

Nationallieder“) welche 1894 in Jelgava (Mitau) erscheint, umfasst

35000 Originale und 182000 Varianten.

In den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts vermehrt sich das Interesse

russischer akademischer Gesellschaften an Materialien

ethnographischer und geographischer Natur. 1866 wird ein

Wettbewerb durch die Moskauer Universitätsgesellschaft für

Naturkunde, Anthropologie und Ethnographie ausgeschrieben, einen

Bericht anzufertigen, der eine „ethnographischen Beschreibung eines

Volkes des russischen Kaiserreichs“ (Infantjevs 1990, 155) beinhalte.

K. Barons, Mathematiker und Astronom und seit dem Dorpater

Studium Aktivist der nationalen Bewegung um die Jungletten, hält

sich zu dieser Zeit in Petersburg als Redakteur der „Peterburgas

avīzes“ („Petersburger Nachrichten“) auf und wird durch K.

Valdemārs angeregt, am Wettbewerb teilzunehmen. Er leistet einen

Beitrag zur Erforschung der „Bibliographie historischer und

ethnographischer Quellen“ (Ebd. 1990, 155) mit dem Werk

„Verzeichnis der Artikel über die einheimischen Bewohner des zum

baltischen Meer angrenzenden Gebietes“50 , welches in den

Nachrichten der Geographischen Gesellschaft zu Petersburg

veröffentlicht wird. In den 70er und 80er Jahren nimmt Barons Teil an

der Forschungstätigkeit von Fricis Brīvzemnieks, der sich als Dichter,

(„Unsere Volkslieder“), veranlasst durch das 3. Liederfest. Näheres zur Sammlungsgeschichte findet sich auf den Seiten 157 – 168 in Literaturen des Baltikums (1990) von Friedrich Scholz. 48 Barons ist die Erneuerung der lettischen Rechtschreibung auf Grundlage der tschechischen Orthographie zu verdanken. Er modernisierte die Orthographie aus dem pragmatischen Ansinnen, seine Sammlung in Moskau drucken zu lassen. Die Moskauer Druckereinen waren aber nicht mit gothischen Buchstaben ausgestattet. (Infantjevs 1990, 156) 49 Henrijs Vīzendorfs/ Heinrich Wissendorf, eigentlich Indriėis Ėipparts, finanziert aus eigenen Mitteln den Druck des Ersten Bandes der „Latvju Dainas“. Er betreibt „Studien zur Vorgeschichte, Mythologie und Ethnographie Lettlands“ (Scholz 1990, 164) und setzt sich als Mitglied der Duma zum Beispiel gegen das Druckverbot in Lettgallen durch und für Reformen im Bibliotheks- und Schulwesen. 50 Der Aufsatz ist in russischer Sprache verfasst. Die Übersetzung konnte ich Boriss Infantjevs entnehmen.

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Lehrer und Herausgeber von Sprichwörtern und Rätseln betätigt.

Brīvzemnieks wird 1869 von der Moskauer Gesellschaft der Freunde

der Naturwissenschaften, der Anthropologie und der Ethnographie

beauftragt, lettische Folkloretexte zu sammeln und unternimmt zu

diesem Zweck Exkursionen in Lettland 1869 und 1870. Er kann 1873

in kyrillischen Lettern 1118 Volkslieder veröffentlichen. In die

Sammeltätigkeit werden Barons als auch Mitstreiter von

Brīvzemnieks einbezogen. Das gesamte Material wird 1878 an

Barons, inzwischen Mitglied der Moskauer Gesellschaft für

Naturkunde, Anthropologie und Ethnographie, übergeben. Dieser

beginnt, alle handschriftlichen Materialen und über Druckerzeugnisse

zugängliche Texte systematisch zu ordnen und in einer Kartei

zusammenzufassen. Barons als auch Brīvzemnieks veröffentlichen

fortlaufend Aufrufe in Zeitungen, die lettischen Lieder zu sammeln

und einzuschicken. Barons erhält 218000 Lieder (Kokare 1985, 507).

Die Druckkosten ab dem zweiten Band übernimmt die Kaiserliche

Akademie. Das Werk verdient Anerkennung in der russischen

Presse.

E. Kokare beurteilt den Prozess der Sammlung der „Latvju Dainas“

als „Massenbewegung in der Erschließung, Erhaltung und

Weitergestaltung der Kultur des Volkes“ (Kokare 1985, 507), da er

zwar durch die Intelligenz angeregt, aber durch Einbeziehung der

gewöhnlichen Bevölkerung – „im Volk Hunderte“ (Ebd. 1985, 507) -

durchgeführt wird. Kokare führt dessen Wert als Kulturarbeit anhand

eines Dankesschreibens, von einer Sammlerin verfasst, an

Brīvzemnieks an: durch ihn sei sie ermutigt worden, „schreiben zu

lernen, damit auch sie ihr Liedgut einschicken könnte“ (Ebd. 1985,

507). Durch die Mobilisierung der Bevölkerung, indem die Bewohner

der ländlichen Gebiete in die „systematisch organisierte

Sammelarbeit“ (Loit 1985, 73) und Überlieferung der

Folklorematerialien seit den 1860er Jahren einbezogen werden, wird

die „Entwicklung eines Nationalbewusstseins“ (Ebd. 1985, 73)

verstärkt gefördert. Der Bewusstmachungsprozess kann noch

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intensiviert werden durch die Veröffentlichung der

Sammlungsergebnisse in Volksausgaben.

3.4.2 Barons Methode der Systematisierung

Die wissenschaftliche Aufbereitung der Materialien stellt Barons vor

die Probleme der Klassifizierung und der Systematisierung der

zahlreichen Varianten eines Themas. Zu diesem Zweck studiert

Barons Konzepte der russischen, ukrainischen und weißrussischen

Volkskunde. Barons entwickelt ein Klassifizierungsprinzip von

Brīvzemnieks weiter, welches jener in dem 1861 erschienen Werk

„Historische Artikel aus russischer Literatur und Kunst“ (Übersetzung

Infantjevs) von Buslajevs entdeckt hatte und welches sich seiner

Meinung nach auf die lettischen Volkslieder anwenden ließe, wie es

bereits G. Büttner in seiner Sammlung zeigt (Scholz 1990, 165). In

diesem System sind die Lieder nach dem menschlichen Lebenslauf

angeordnet51. Die Umschreibung, welche Barons dafür im Vorwort

seiner „Latvju Dainas“ gebraucht, „Von der Wiege bis zum Grabe“

respektive „Von der Wiege bis zur Bahre“ ist eine oft verwendete

Redewendung in der populären und populärwissenschaftlichen

Literatur über lettische Volkspoesie52.

Bukajevs Prinzip wird dahingehend erweitert, dass Barons die Lieder

mit „nationalen und sozialen Erscheinungen“ (Infantjevs 1990, 157)

in Verbindung bringt. „Er zeigt dabei den Menschen nicht nur als

Familienmitglied, sondern auch als Mitglied der Gesellschaft; zeigt

auch seine Beziehungen zur Arbeit, zu den Gesellschaftsschichten

und dem Staat.“ (Kokare 1985, 508) Nach Kokare, zur Zeit der

Veröffentlichung des Aufsatzes Abgesandte der Akademie der

Wissenschaften der Lettischen SSR, ergebe sich die Baron’sche 51 Bei Frau Viėe-Viėe-Freiberga habe ich den Hinweis gefunden, dass eine zweite Kategorie der Klassifizierung das kalendarische Jahr mit begangenen Feiern und Festlichkeiten darstellt. Sie schlägt vor, diese Klassifizierung noch zu erweitern mit einer Kategorie, welche Arbeit und Tätigkeiten aus dem bäuerlichen Umfeld beinhalteten sowie einer Kategorie über das Singen an sich. (Viėe-Freiberga 1973, 31) M. Knoll schlägt folgende Hauptkategorien vor: Erstens, „Das Dasein des Menschen „von der Wiege zur Bahre““ (Knoll 2003 [2000], 2), Zweitens, der Jahreslauf, drittens, „der kosmisch-mythologische Bereich“ (Ebd. 2003 [2000], 2). Einen guten Überblick über die thematischen Einteilungsversuche in den Ausgaben lettischer Volkslieder bietet Dunkele. Sie fasst diese in drei zeitlich aufeinander folgene Richtungen zusammen: „der Mensch, das Leben des Menschen und die Gemeinschaft im Zentrum“ (Dunkele 1984, 54). 52 M. Butenschön führt das „geniale Prinzip“ (Butenschön 1992, 110) auf Barons Bildung als Mathematiker zurück.

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Anordnung aus dem „Wesen der Lieder“ (Ebd. 1985, 508), denn so

seien „Inhalt und Funktion der Lieder im jahrhundertelangen Leben

des Volkes“ (Kokare 1985, 508) widergespiegelt.53 Die thematischen

Bereiche sind in Abteilungen und Unterabteilungen gegliedert.

Letztere reihen sich in Abschnitte auf, deren Lieder nach den

Anfangswörtern alphabetisch geordnet sind. Barons verzeichnet

außerdem präzise die Herkunft der Lieder.

Indem Barons die Lieder in thematischen Gruppen entlang des

Lebenslaufes an ordnet, evoziert er das Bild, das Leben würde

wirklichkeitsgemäß beschrieben. Er suggeriert so, dass das lettische

Leben vollständig dargestellt würde, und attestiert den Liedern eine

universelle Geltung im lettischen Volksleben (Huelmann 1996, 289).

Diese Annahme lässt sich, so Huelmann nicht erhalten, weil das Bild

einer Wirklichkeit erst im Hörer oder Leser angeregt werde. Die

Rezipienten werden eingeladen, die Welt mit den Augen des Autors

wahrzunehmen und es werden Verbindungen zwischen Leser und

Autor hergestellt. Die Bilder sind abhängig von den Assoziationen

und dem Verständnis der Leser und deren Vorstellungskraft. „In a

sense, the song which is based in the poetic world view is not really

about anything, it cannot be said that it discloses the world, nor does

it add up to a statement or doctrine about the world.” (KrēsliĦš 1980,

230)

Nach den heutigen Ansprüchen an Ethnographie, weist die

Baron’sche Sammlung Mängel auf. Diese ergeben sich, so Scholz,

aus Barons romantischer Auffassung im Umgang mit den Liedern. Es

sind programmatische Bearbeitungen der Lieder, um sie zu

standardisieren und ein Bild von der typischen Gestalt der Dainas zu

produzieren. Barons verfährt nach der den damaligen Forschern

gängigen Methode: kraft des eigenen Urteilungsvermögen die 53 „Die Titel der Hauptabteilungen lauten in dem am Ende des 5. Bandes befindlichen Inhaltsverzeichnis in deutscher Sprache folgendermaßen: I. Lieder und Gesang. II. Des Menschen Lebenslauf, Familie und Verwandtschaft. III. Die Beschäftigungen des Menschen, Ackerbau und Gewerbe. (Diese Abteilung umfaßt den größten Teil von Band I und die Bände II, III, 1-3 und weist unzählige Unterabteilungen auf.) IV. Die gesellschaftliche Ordnung in weiteren Kreisen und die verschiedenen Stände. V. Die internationale Lage; die Verteidigung des Vaterlandes und des Staates gegen äußere Feinde. VI. Die Jahresfeste und andere Feiertage. VII. Mythische Lieder. Die Gottheiten des Himmels. Personification und Vergötterung von Naturgegenständen und Naturerscheinungen. VIII. Abergläubische Gebräuche. IX. Vermischtes. X. Anstößige, pikante und zotige Lieder, Rätsel, Sprüche und Redensarten.“ (Scholz 1990, 166)

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„vollkommensten und schönsten Lieder“ (Scholz 1990, 166)

auszuwählen und zu entscheiden, „welche [Lieder] ursprüngliche

Einheiten bildeten oder welche Verse ursprünglich zu welchen

Liedern gehörten“ (Ebd. 1990, 166). Wie Barons selbst in der

Einleitung des ersten Bandes schreibt, sei er bestrebt gewesen, „den

räudigen Liedern die Räude auszutreiben, was bedeutet, dass

„anstößige Lieder“ aus Rücksicht vor dem Publikum aussortiert

werden54, „absichtlich gefälschte und in jüngerer Zeit verfaßte Lieder“

als auch „Lieder, die durch Nachfragen verdorben“ seien, nicht oder

bedingt Aufnahme finden (Barons in Scholz 1990, 165). Barons

standardisiert die Sprache der ihm vorliegenden Texte „ohne sich um

die phonetischen Eigentümlichkeiten des örtlichen Dialekts

besonders zu kümmern“ (Grinbergs 1967, 24/ 25). Neben

sprachlichen Veränderungen nimmt Barons Umgestaltungen vor,

damit die Lieder Barons Auffassung von der „Grundgestaltung“

(Kessler 2001, 459) des lettischen Volksliedes entsprächen55. Lieder

größeren Umfangs werden in Vierzeiler unterteilt, Liederreihen

werden zerpflückt, um die einzelnen Vierzeiler in verschiedenen

thematischen Abteilungen unterzubringen, Zeilen werden

hinzugefügt oder weggelassen (Scholz 1990, 166). Obwohl der

Eindruck entsteht, das gesamte lettische bäuerliche Leben sei

repräsentiert, sind die Lieder nur ein Ausschnitt der oralen

Kulturtradition aller Regionen Lettlands. Von 526 Kreisen die das

Gebiet Lettlands umfassen, reichen 218 Kreise keine Lieder ein

(Carpenter 1980, 22). Die Einteilung der Lieder in „Originallieder“ und

chronisch geordnete „Varianten“, welche Barons vornimmt, um die

Lieder zu klassifizieren, scheint ebenfalls willkürlich und unterliegt

wahrscheinlich ästhetischen Vorstellungen (Biezais 1970, 57).

Barons gibt keine Kennzeichen vor, welche die Lieder als

Grundtypen qualifizieren (Ebd. 1970, 57f).56 Folkloristisch

54 Die zotigen Lieder erscheinen erst mit Lockerung der Zensur während des ersten Weltkrieges in einem separaten Band, versehen mit einem „mittels eines kleinen Schlüssels verschließbaren Verschluß“ (Scholz 1990, 165) 55 Baron nimmt folgende Grundgestalt an: Eine „Strophe zu vier ungereimten Versen mit je vier Hebungen und einer Dihärese nach dem Schema: x´x x´x / x´x x´x“ (Kessler 2001, 459) 56 Hinweise auf diese Einteilung erhielt Barons aus russischer (Kirejevsky) und ukrainischer (Tschubinsky) Volkskunde (Infantjevs 1990, 157)

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Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

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nachvollziehbar sei die Zuordnung der Lieder zu Liedtypen, nicht

jedoch die Bestimmung, welche Lieder „Originallieder“ seien und

welche Varianten57 dieser (Ebd. 1970, 58).

Das Typologisierungssystem, nach welchem sich „alle sprachlichen,

poetischen und inhaltlichen Schattierungen“ (Kokare 1985, 509)

rationell darstellen lassen, ermöglicht Barons eine wissenschaftliche

Perspektive auf die Lieder zu eröffnen, welche fortgesetzt wird durch

die Übernahme der Baron’schen Prinzipien in Liedsammlungen des

20. Jahrhunderts58. Die Kontinuität der Typisierungsprinzipien

ermöglicht es der Forschung, Lieder, die in jüngerer Zeit gesammelt

werden mit denen zu vergleichen, die Barons verwendet. Solch eine

Kontinuität ermöglicht es aber auch, die Zuschreibungen, die Barons

anhand seiner Klassifizierungsmethode und Gestaltung vornimmt,

beständig zu festigen, weil sie mit jeder neuen Veröffentlichung

reproduziert werden.

3.4.3 Die Nationalisierung der Dainas mit Hilfe

wissenschaftlicher Erkenntnisse

Barons kann mit Hilfe seiner Methode wissenschaftliche Schlüsse

aus den Dainas ziehen, die der nationalen Konstruktion zuarbeiten.

Oder anders betrachtet, die Ideen, die zur Zeit Barons über die

Beschaffenheit der Nation und der nationalen Kultur kursieren,

beeinflussen Barons wissenschaftliches Interesse an den Dainas.

Barons gelangt durch Vergleich mit slawischen Volksliedern zu der

Annahme, dass „sowohl lettische Volkslieder, als auch slavische,

keine Bruchstücke mythischer Heldengedichte seien, sondern

vollständig selbständige Kunsterzeugnisse“ (Infantjevs 1990, 157).

Das nationalromantische Interesse in Europa fördert in einigen

Ländern das Epos zutage. Epen, erzählende Dichtungen, dienen 57 Die Variierung eines Liedes sei nach A. Ozols auf seine Verbreitung zurückzuführen, welche Veränderungen der Form, jedoch nicht der inhaltlichen Aussage mit sich brächten (Biezais 1970, 58). „Es ist nur die Frage, wie groß die Veränderungen sind und welche Bedeutung sie haben.“ (Biezais 1970, 609) Biezais rät in der wissenschaftlichen Erforschung die einzelnen Lieder, Texte als „selbständige Einheiten“ (Biezais 1970, 65) zu betrachten, deren Bedeutung sich jedoch aus einer Vielzahl von so genannten „Varianten“ erschließen lasse. 58 Danach lassen sich Schlüsse auf die Lied- und Verbreitungsgeschichte ziehen. Schlussfolgerungen

betreffen die typologische Entwicklung, „Gesetzmäßigkeiten der Veränderungen der poetischen Struktur“, das Liedareal, die Popularität des Liedes oder Entwicklungstendenzen der Dialekte (Kokare 1985, 509/ 511)

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Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

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dazu, die Geschichte einer Nation oder eines Volkes zu belegen. Sie

wurden erschaffen, um von der Tat eines Helden zu berichten,

dessen Stärke und Mut in dieser Form gelobt und weiter getragen

wird. Sie handeln oft von Kriegen und Schlachten und haben, im

Vergleich zum privaten, nach Innen gerichteten poetischen Blick in

der Lyrik einen darstellenden, beschreibenden Blick auf das Außen.

Als Epen im 19. Jahrhundert in großen Teilen Europas geborgen

werden, werden Vermutungen angestellt, diese epischen Dichtungen

seien Fragmente von größeren Erzählungen. Indem Barons nun die

Dainas als eigenständige, lyrische Werke repräsentiert, kann er sie

klar der lettischen Nation und nicht einer anderen Nation, deren

Geschichte die Lieder vervollständigen, zuordnen. Der Beweis der

Eigenständigkeit ist im Kontext der nationalen Legitimation

bedeutsam. Die Eigenständigkeit der Nation demonstriert sich im

kulturellen Substrat der Dainas. Die kurze vierzeilige, prägnant

regelmäßige Form lettischer Dainas, vermag keine andere Nation

aufweisen. Sie sind der vollendete Ausdruck einer eigenen

kulturellen Entwicklung (Ebd. 1990, 157).

Die Eigenarten des lettischen Volksliedes, seine lyrische Form und

seine charakteristische Kürze, lassen sich unter dem Blickwinkel der

Romantik betrachten. Die subjektive Ichbezogenheit der lyrischen

Dichtung wird unter romantischen Parametern einer weiblichen

Sichtweise zugeschrieben. Diese Ansicht korrespondiert mit der weit

verbreiteten Auffassung, dass die Dainas hauptsächlich von Frauen

erdichtet wurden. Sie sind Ausdrücke einer gewissen

Wahrnehmungsweise der Welt, die kein direktes Abbild von der

Realität ergibt, sondern eine gewisse Stimmung vermittelt, die den

Blick des Rezipienten auf die Realität färben soll. Die Frauen

erdichteten nun Dainas, wenn sie ein gesellschaftliches Ereignis

besingen wollten, das ihr Innerstes berührt. Die Gabe der

Empfindsamkeit wird eben als weibliches Charakteristikum

festgelegt. Männern sei es eigen, Sachen und Ereignisse zu

beschreiben, weshalb ihr dichterisches Medium das Epos darstelle.

Männer ziehen in den Krieg und berichten von Heldentaten, Frauen

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Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

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verarbeiten die Heldentaten, die durch andere Krieger direkt oder

indirekt an ihnen begangen werden, lyrisch. So seien im litauischen

Dainos, die den lettischen Dainas ähnlich sind, metaphorisch

verkleidete Hinweise auf die Vergewaltigungen der Frauen während

des Angriffes durch die Schweden zu finden (Maceina 1955, 31).

Frauen würden die gesellschaftlichen und politischen Ereignisse, die

ihr Leben berühren, subjektivieren, also nach innen kehren und in

Form des Liedes wieder veräußern. Nach Maceina stellen also die

Volkslieder die objektivierte Seele des Volkes dar (Ebd. 1955, 7). Alle

geschichtlichen Ereignisse, die das Leben der Frauen tangierten,

würden so in die Lieder Eingang und später wieder in ihrer liedhaften

Form Zugang zur Gesellschaft finden, da das Volkslied integrierende

Funktionen besitzt. Die Romantik entdeckt das Private. Die Welt

würde nicht veräußert, anhand objektiver Erkenntnisse, sondern

durch eine Hinwendung nach Innen - in der Sphäre der Emotionen

und Empfindungen - erklärt und erkannt werden. Die Hinwendung

zum Lyrischen und die Entdeckung des Liedes als kulturelle

Ausdrucksform und geschichtliches Zeugnis, begleiten das

romantische Programm der Innerlichkeit. Aus diesem Grund wird

auch die Idee der Nation im Bewusstsein des Menschen verankert,

weil die private Wahrnehmung von der Nation, diese im Außen bilde.

Das Frauenbild der Romantik, das verantwortlich ist für die

Etikettierung der lyrischen Dichtung als weiblich, schreibt den Frauen

eine, von Natur aus gegebene, Hinwendung zur Nachtseite und zum

Dunklen zu. Die Frau trüge mit dem Bewusstsein, Leben gebären zu

können, auch das Bewusstsein, dass dieses Leben wieder ein Ende

hätte, tief in sich (Ebd. 1955, 38). In dieser Auffassung zeigt sich die

romantische Hinwendung zur Natur, als die Bestimmung über

Geburt, Wachstum und Tod, als auch die Vorstellung von einem

Ursprung, der nicht durch Wissen aufgehellt und aufgeklärt werden

könne. Das Lied, das die Frau kreiert, ist daher angereichert mit

einem intuitiven, natürlichen Wissen. Das Volkslied, das im Volk

mündlich überliefert wird, enthält somit geschichtliche Ereignisse und

Erlebnisse des Volkes, die in ihrer Erschaffung von der Frau

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Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

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subjektiviert und durch ihre Anwendung in der Gesellschaft

fortlaufend gestaltet und erneuert werden. „Indem das Volk seine

Lieder singt, erweckt es seine Vergangenheit zu neuem Leben,

verbindet sie mit der Gegenwart und schafft sich somit das

Bewußtsein der Zeit, das zum Wesen der Geschichtlichkeit gehört.“

(Ebd. 1955, 39). Das Lied ist demnach ein geschichtlicher Faktor,

weil es die Vergangenheit und die Gegenwart verbindet. Das

Bewusstsein davon, dass Zeit in einer bestimmten Weise eine

Gemeinschaft von Menschen durch gemeinsame Ereignisse und

Erlebnisse produziert, bildet zugleich das Bewusstsein für die

Existenz dieser historischen Gemeinschaft aus.

Durch die Propagierung des Volksliedes als geschichtliches Zeugnis

werden so auch die geschichtliche Gemeinschaft und das Interesse

an der gemeinschaftlichen Vergangenheit propagiert.

Auch die erwähnte Annahme vom Universalismus der lettischen

Volkslieder wird weiterhin durch die wissenschaftliche Rezeption

verbreitet59. Aus den Liedern ließen sich vorhistorische Bräuche

ablesen, so Šmits (auch Schmidt) 1930. Inzwischen ist die zweite

Ausgabe der „Latvju Dainas“ erschienen, und die Wissenschaftler

der Zeit, unter ihnen Šmits, nehmen sich der Dainaforschung unter

den Bedingungen des freien lettischen Staates an. Einige

Forschungsergebnisse des 19. Jahrhunderts werden kritisch

betrachtet, die romantische Forschungsperspektive wird aber, um

Tradition zu erzeugen, nicht vollständig revidiert (Kessler 2001, 456).

Šmits versucht, anhand der in den Dainas benannten Gegenstände,

anhand der Baum- und Blumen- und Gemüsearten, der

Haushaltsutensilien, anhand des Bieres, der Währung, dem

Schmuck oder anhand von Verben, die bestimmte Tätigkeiten

kennzeichnen,60 in den „alten und echten Volksliedern“ (Schmidt

59 Im Großteil der sprachwissenschaftlichen und kulturwissenschaftlichen Literatur, die ich verwendet habe, findet sich die Vollständigkeitsthese nicht. In der populären Literatur, insbesondere aus dem Bereich der Tourismusführer, die Anfang der 1990er Jahre erscheinen, wird die These, das menschliche Leben würde von Beginn bis Ende von den Liedern begleitet oder durch sie geschildert häufig aufgestellt. (Henning 1995, 37; Marenbach 1997, 251; Bette – Wenngatz 1993, 38; Höh 1992, 352; Klemens 1992, 109) 60 „līst“, was „kriechen“ bedeutet: wenn im Daina „kriechen“ im Zusammenhang mit Betreten des Hauses verwendet wird, so ließe das darauf schließen, dass die Oberschwelle niedrig und die Unterschwelle zwei Balken hoch ist, der Eingang also klein. Ein mythischer Grund dafür wäre das

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1930, 317) auf die „früheren Lebensumstände“ (Ebd. 1930, 317) der

Letten zu schließen. Dem voraus geht eine Auflistung von Zitaten

aus Otto Böckels „Psychologie der Volksdichtung“, die erwähnen,

wie gern und beharrlich der Lette singt. „Die grosse Menge der

lettischen Volkslieder mit ihren fast unzählbaren Varianten besingt

den ganzen Lebenslauf des Menschen von der Geburt bis zum

Grabe und schildert alte Sitten, Gebräuche und Lebensverhältnisse,

die längst entschwunden sind (…).“ (Ebd. 1930, 321) Sie seien in der

wissenschaftlichen Forschung vernachlässigt worden, „weil man ja

historische Erinnerungen hauptsächlich nur in epischen Liedern zu

finden glaubt“ (Ebd. 1930, 321).

Die nationale Geschichte, welche in der epischen Dichtung Zeugnis

ablegt, wird so verlagert in das Gesamtwerk der Volkslieder. In einer

1985 in der DDR verlegten Ausgabe übersetzter lettischer

Volkslieder regt der „Volksdichter der SSR“ (Seehaus 1985, 122)

Peters an, die Dainas als ein Epos zu betrachten. „Ordnet man

nämlich diesen reichen Liederschatz nach dem Ablauf des

menschlichen Lebens an, so verwandelt er sich in eine Erzählung

über den Menschen aus jenen fernen Tagen, als die Dainas

entstanden.“ (Peters in Seehaus 1985, 122f)

Indem Šmits die, in den Dainas erscheinenden Gegenstände

auflistet, soll nicht nur der Beweis, dass die Dainas das Leben

beschrieben, sondern auch der Beleg ihres historischen Datums

erbracht werden. Barons geht davon aus, dass die Dainas in

vorgeschichtlichen, also mythischen Zeiten entstanden sind. Er

vertritt die These, dass manche Dainas einem lettischen Urvolk

entstammen würden, wie ebenfalls deutsche Gelehrte wie J.

Lauterbach oder A. Bielenstein anhand der mythischen Inhalte der

Dainas belegten (Schmidt 1930, 313). Das entspricht noch den

Paradigmen der nationalen Romantik. Je älter das kulturelle Objekt

ist, desto stärker sei die Geschichtlichkeit der Nation nachgewiesen

worden. Die Auffassung von der mythischen Zeit, in der die Dainas Abwehren von bösen Geistern, die von Wuchs klein waren und Probleme beim Übertreten der Schwelle hätten und das Beschützen der Schicksalsgöttin Laima, welche sich gewöhnlich hinter der Schwelle aufhielt (Schmidt 1930, 320)

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geschöpft worden seien, arbeitet außerdem dem Bild einer

harmonischen Volksgemeinschaft, aus der sich die lettische Nation

formte, zu. Da die Dainas an die bäuerliche Kultur und Lebenswelt

geknüpft sind, könnten sich die Bauern als auch die

Stadtbevölkerung so auf einen Ursprungsmythos berufen. Dieser

Mythos könnte die emotionale Kraft erzeugen, für die Einigung der

Letten in Form des Nationalstaates in Zukunft zu kämpfen. Den

widrigen Lebensumständen würde mit dem Wissen von einer

harmonischen ursprünglichen Gemeinschaft getrotzt werden. Diese

These wird etwa bis zur Jahrhundertwende verfochten. Sie wird

jedoch von den Philologen der 1920er Jahre nicht mehr getragen.

Die mythischen Inhalte der Dainas bewiesen nur, dass die Mythen

selbst existierten und mittels der Dainas überliefert wurden. Durch

ihre mündliche Überlieferung seien sie also mit der Zeit auch

verändert worden und zeugten nicht mehr direkt von der

vorgeschichtlichen Zeit (Ebd. 1930, 315). Šmits unternimmt keinen

Versuch, dass Alter der Dainas zu erklären, er versucht jedoch, eine

Blütezeit ihrer Entstehung durch die Realia und Themen der Lieder

nachzuweisen. Er kommt zu dem Schluss, die Dainas wären

verstärkt zwischen dem 13. und 16. Jahrhundert produziert worden

(Ebd. 1930, 315ff). Das arbeitet dem Paradigma zu, dass die

lettische Kultur durch die deutsche Herrschaft im Baltikum

unterdrückt wurde. Ab dem 16. Jahrhundert befinden sich die

lettischen Bauern in der Abhängigkeit der Leibeigenschaft. Mit der

Bestimmung einer Blütezeit davor impliziert Šmits, die

Leibeigenschaft hätte die kulturelle Entwicklung der Letten behindert.

Die deutschen Herrschaftsformen hätten die lettische

Kulturentwicklung stagnieren lassen.

Das Alter der Volkslieder ist wissenschaftlich nicht belegbar

(Oberländer 2001, 336). Der Bestimmung des Alters liegen heute

drei Annahmen zugrunde: Die Dainas seien erst zur Zeit ihrer

Aufzeichnung im 19. Jahrhundert entstanden. Diese These leuchtet

ein, da die Verschriftlichung ihrerseits selbst ein Zeitzeugnis darstellt.

Zudem wird in den Aufrufen, die Dainas zu sammeln, bereits ihre

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Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

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nationale Bedeutung propagiert. Es hätte also der Nation durch das

Produzieren der Dainas zugearbeitet werden können. Eine zweite

These siedelt die Blütezeit ihrer Entstehung zwischen dem 13. und

dem 16. Jahrhundert an, so wie es in den 1920-er Jahren vermutet

wird. Barons und andere behaupteten, die Dainas entstammen der

Zeit vor dem 12. Jahrhundert, also aus der Zeit vor der Besetzung

des lettischen Gebietes durch den deutschen Orden.

Die Dainas stellen keine historische Quelle dar. Sie beziehen sich in

ihren Inhalten weder auf konkrete geschichtliche Ereignisse, noch

auf historische Personen (Ebd 2001, 336). Eine andere

Herangehensweise besteht darin, die Dainas nicht als

Geschichtsquelle, sondern als Zustandsdokumente zu betrachten.

Nach Nollendorfs können die Dainas selbst als ahistorisch

gekennzeichnet werden: das in den Liedern demonstrierte Leben

könne als örtlich gebunden und, als ob die Gegenwart lang gezogen

wäre, empfunden werden (Ebd. 2001, 236). Mit dieser Perspektive

kann sich ein Bildnis von der zeitlosen bäuerlichen Gemeinschaft

abzeichnen. Es ist aber gleichzeitig die Perspektive der poetischen

Wahrnehmung von der Welt, die das Daina festhält und für die

Zukunft generiert.

„Wenn das kleine lettische Volk mit seinen ungünstigen

ethnographischen Grenzen von seinen grossen Nachbarvölkern nicht

vollständig absorbiert worden ist, so hat es dieses gewissermaßen

auch seinen Volksliedern zu verdanken. Jedenfalls ist es nicht leicht,

eine andere Tatsache zu finden, die die Einigkeit des Volkes mehr

gefördert haben könnte.“ (Schmidt 1930, 313)

4. Fazit

4.1. Die nationalen Funktionen der Dainas

Es ist ein Kennzeichen der Volkskultur, auf äußere Faktoren zu

reagieren oder sich dem gesellschaftlichen Wandel anzupassen. Mit

der Industrialisierung und Verbürgerlichung der Gesellschaft, mit

ihrer Bildung und Nationalisierung verändert sich deren Charakter in

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Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

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der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts61. Die Lieder treten aus ihrer

Funktionsgebundenheit heraus und nehmen eine unterhaltende und

integrierende Funktion als Gesellschaftslieder in einer urbanisierten

Gesellschaft ein (Dunkele 1984, 145). Mit der Verbürgerlichung der

Volkslieder entstehen neue Genres. Diese Wandlung ist bedingt

durch die Popularisierung anderer Liedtypen, wie ziĦăes oder

Kunstlieder und dem wechselseitigen Einfluss zwischen den neuen

Typen und den bisherigen Volksliedtypen. Es ist anzunehmen, dass

mit der Ausformung und Differenzierung der populären Musik in

Lettland ab dem 19. Jahrhundert die heute als typisch erachtete

Grundgestalt der lettischen Dainas ein Ergebnis dieser

Spezialisierung darstellt. Die Standardisierung der Dainas wird

gefördert durch die Selektion und Systematisierung, die Sammler

und Herausgeber von Volksliedern vornehmen. Sie übertragen dabei

bestimmte romantisch geprägte ästhetische Vorstellungen auf die

Volkslieder. Die Beliebtheit bestimmter Lieder wird durch

Liedausgaben, durch Bearbeitungen für Chor und durch

Aufführungen bei Liederfesten unterstützt.

Die Volkslieder nehmen eine Ideen stiftende Funktion an, indem sie

in neuen Kulturformen reproduziert werden. Liedmotive werden

eingebettet, Kunstliederkomponisten und Dichter bedienen sich der

einfachen Mittel der Volkslieder, um sie den Volksliedern

anzugleichen, oder, wie es Herder intendierte, als „Korrektiv für die

Sprache und Formgebung der schönen Literatur“ (Kessler 2001,

443).

Die Funktion der Dainas für die bäuerliche Kultur wird mit der

Modernisierung der lettischen Gesellschaft zu einem großen Teil

obsolet. Folklore wird als Nationalkultur entdeckt und schriftlich

fixiert. Damit wird die Funktion der Wissenstradierung aufgehoben,

61Ich gehe davon aus, dass diese Prozesse des Wandels nicht auf allen Ebenen und in allen Regionen Lettlands mit derselben Dynamik verlaufen. Das Wirkungsgebiet der Städte ist größer als ihr territorialer Umfang, Wandel ist abhängig vom Zugang zu Information und Kommunikation, davon, wie sehr das Gebiet in die Infrastruktur des Landes eingebunden ist, die Mobilität der Ideen ist abhängig von der Mobilität der Ideenträger und -verbreiter. Es ist von Bedeutung, wie tief die bisherigen Erfahrungen von Wandel und Stabilität in der Wahrnehmung der Menschen wurzeln, welche persönlichen Auswirkungen mit ihm zusammenhängen. Erhöht der Wandel den Wohlstand, so ist es wahrscheinlicher, dass er mitgetragen wird, verringert er jenen, so kann es schnell in Konservativismus umschlagen.

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zu Gunsten anderer Funktionen. Das den Volksliedern implizite

Wissen wird schriftlich fixiert und damit veräußert als Zeugnis der

Eigentümlichkeit eines bestimmten Kulturkreises. Damit fungieren die

Lieder als Identitätsangebot innerhalb des Kulturkreises, der durch

den gesellschaftlichen Wandel neu bestimmt ist oder konstruiert wird.

Mit der schriftlichen Fixierung der Volkskultur, nimmt diese

unveränderbare Gestalt an. Eine ihr nun obliegende Funktion ist die

Repräsentation einer lettischen Gemeinschaft, durch den Beweis

genuiner lettischer Kultur. Die Verschriftlichung dient dem Nachweis

dieser eigentümlichen Kultur. Kontinuität wird erzeugt durch die

wiederholte Fixierung in der Praxis: durch Lehrpläne, in

Folklorevereinen, durch konzertante Darbietungen, in

Liederausgaben oder in der „Alltagskultur“ (Bula 1999) – „in

Geburtstagskarten, in Hochzeits- und Todesanzeigen“ (Ebd. 1999).

Grundlegend ist der Mechanismus, dass eine Wechselwirksamkeit

zwischen nationaler Kultur und Volkskultur initiiert wird, einschließlich

der Einbindung der Bevölkerung in Sammlungsaktivitäten oder in

folkloristische Organisationen, der die Volkskultur beeinflusst durch

Vorgaben, was kulturell bewahrenswert und wertvoll sei. Somit wird

das bäuerliche Bewusstsein geformt.

Für die romantische Idee der Nation, die sich in einer nationalen

Kultur findet, ist der Blick in die Vergangenheit kennzeichnend. Um

diesen Anforderungen an eine nationale Kultur zu entsprechen,

nutzen die lettischen Intellektuellen die Dainas, da diese

Hauptbestandteil einer lettischsprachigen Kultur sind. Bevor sich die

Dainas in einen Austausch mit anderen europäischen Kulturformen

begeben, werden sie als Nationalkultur eingebunden und inszeniert.

Sie werden als kulturelle Besonderheit hervorgehoben. Die

Inszenierung besteht also darin, die Dainas in das nationale Licht zu

setzen. Es ist nicht klar nachzuweisen, ob diese kulturelle Eigenart

der lettischen Nation erst im 19. Jahrhundert produziert wird, oder ob

sie so zu sagen, gewachsen ist. Die Dainas stellen inzwischen

zumindest geschichtlich, ein kulturelles Zeugnis des 19.

Jahrhunderts dar und sind in ihrer heutigen Gestalt eigentümliche

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Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

88

Kulturprodukte. Während der Zeit des nationalen Erwachens bis zur

Eigenstaatlichkeit Lettlands erfüllen sie die Funktionen, etwas

national Eigenständiges sowie eine Geschichte zu repräsentieren.

Heute bilden sie den Hintergrund einer kulturellen Identität. In der

dazwischen liegenden Zeit werden sie symbolisch genutzt. Während

der Zeit der staatlichen Unabhängigkeit soll ihre vollkommene,

lyrische Gestalt die Vollkommenheit der lettischen Republik sichtbar

machen. Während der Zeit der Lettischen SSR haben die Dainas die

Aufgabe, die Heterogenität der Völker der, in der Union

homogenisierten Staaten, zu beweisen. In der Exilbewegung bilden

die Dainas einen Halt für die Exilanten an eine sichere

Vergangenheit im unsicheren Zustand des Exils sowie einen

bestimmten Konsens an Erfahrung und kulturellem Verständnis.

Während der Periode der Singenden Revolution wird die nationale

kulturelle Identität der Letten durch das Singen der Dainas reaktiviert

und mobilisiert. Sie symbolisieren die Lebendigkeit der lettischen

Nation, vermitteln ein Zugehörigkeitsgefühl und verstärkten es noch

emotional.

Die Konstruktion der Nation ist die Reaktion auf europäische

Prozesse. Die Modernisierung der lettischen Gesellschaft ist Folge

und Phänomen der gesamteuropäischen Entwicklung. Sie ist

begleitet von einer Welle der kulturellen Produktion, insbesondere

auf dem Gebiet der Literatur. Als diskursive Form bleiben die Dainas

bestehen. Auf den Gebieten der Kultur, der Wissenschaft und der

Wirtschaft erfüllen sie weiterhin den Zweck, bestimmtes Wissen in

bestimmten Formen, der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

4.2. Die aktuelle lettische kulturelle Identität

Als Grundlage der nationalen Identität wäre anzunehmen, dass in

allen kulturellen Äußerungen die Lettland vornimmt, um im

Bewusstsein der Europäer zu erscheinen, ein wenig Volkskultur zu

finden wäre. Der Auftritt, mit der Lettland den siebenundvierzigsten

Eurovision Song Contest 2002 gewinnt, zeugt davon jedoch nicht.

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Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

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Das Lied I wanna wird von der Sängerin Maria Naumova, die unter

dem Künstlernamen Marie N. auftritt, dargeboten. Das Moment der

Darbietung scheint Ausschlag gebend für ihren Sieg. Die 30-jährige

Sängerin gehört der russischsprachigen ethnischen Minderheit in

Lettland an und konnte bisher erfolgreich mehrere Tonträger - der

letzte enthält Interpretationen französischer Chansons -

veröffentlichen. Das Lied ist in einem tanzbaren

lateinamerikanischen Rhythmus verfasst. Naumova wird von

mehreren Tänzern begleitet und verwandelt so zu sagen während

ihres Auftritts ihre Identität. Sie trägt zu Beginn des Liedes einen

weißen Anzug und Hut, am Ende steht sie mit einem roten

Abendkleid auf der Bühne. Die Verwandlung erscheint sehr flüssig

und tänzelnd.

Die Ausbildung eines europäischen Bewusstseins über die

Funktionen der Europäischen Union als wirtschaftlicher und

politischer Verbund hinaus, vollzieht sich in erfundenen Traditionen

wie dem Europatag oder dem Eurovision Song Contest. Durch sie

können dem Bündnis emotionale Werte eingeschrieben werden. Die

Einigkeit der europäischen Nationen, die formal durch die

wirtschaftliche, politische und institutionelle Homogenisierung

produziert wird, kann durch das Moment des friedlichen Wettbewerbs

im Singen repräsentiert werden. Es präsentiert sich zudem die

kulturelle Vielfalt der europäischen Mitgliedsstaaten. Lettland erzeugt

durch seinen Auftritt 2002 nicht das Bild der, an die Volkskultur

gebundenen, nordischen, ländlichen Gemeinschaft. Durch die

Insignien des Pop vermittelt es Weltläufigkeit, Internationalität und

Offenheit für den Wandel.

Für die derzeitige Kommunikation Lettlands kurz vor dem Eintritt in

die Europäische Union stellt das nationalisierte Volkslied kein

Problem dar. Es befindet sich mitten in der Synthese aus dem

Lokalkolorit der kulturellen nationalen Identität und der globalen

Färbung des Pop, mit dem sich die ganze Welt identifizieren kann.

Das Bild der geschlossenen bäuerlichen Kultur in der Gestalt des

Liedes und der Singenden, das die Einheit und natürliche

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Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

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Gewachsenheit der Schicksalsgemeinschaft repräsentiert, ist unter

den bestimmten gesellschaftlichen Umständen Lettlands vor der

Nationalstaatenbildung wirksam. Als Symbol der Zugehörigkeit zur

lettischen Nation kann es in den Zeiten der nationalen kulturellen

Bedrohung mobilisiert werden. Derzeit wird in Lettland spielerisch mit

diesem Bild umgegangen, da die lettische Nation weltweit anerkannt

ist. Es besitzt einen gewissen Wert auf dem globalen Markt. Etwas

Eigenes wird unter der Vielfalt der kulturellen Produkte für das Außen

angeboten. Nach innen besitzt es einen Wiedererkennungseffekt.

Die Provinzialität, die hinter dem Bild der harmonischen Folklore

vermutete werden kann, wird durch genügend Internationalität à la I

wanna wieder aufgewogen. Das Problem, sich provinziell zu

verschließen, besteht für Lettland nicht. Die glokalisierte Form der

nationalen kulturellen Identität Lettlands wird von Ziedonis als eine

Synthese monologischer und dialogischer Werte (Ziedonis 2000, 2)

umschrieben.

4.3. Kritische Schlussbemerkungen

Wenn ich den Begriff Letten benutze, so meine ich die auf dem

heutigen Gebiet Lettlands lebenden Menschen ungeachtet ihrer

ethnischen oder sozialen Herkunft. Ich verwende diesen Begriff nicht

in seiner historischen Bedeutung. Auf die Unterschiede der

verschiedenen Regionen Lettlands nehme ich bis auf die Region

Lettgallen, soweit mir Literatur zur Verfügung stand, keine Rücksicht.

Der Genauigkeit bleibe ich damit insofern schuldig, dass ich mich

auch mit dem Phänomen der Homogenisierung von Institutionen und

Erfahrungen, welche die Moderne produziert, beschäftige und

gleichzeitig einen Eindruck der Einheitlichkeit verbreiten mag. In der

Geschichtsliteratur über das Baltikum gibt es zwei Strategien,

Gemeinsamkeiten und Unterschiede für diesen Raum festzulegen.

Die erste Strategie argumentiert mit der historisch bedingten

Gemeinsamkeit der Letten und Esten, die im so genannten

Einflussgebiet deutscher Kultur standen im Vergleich zu Litauen,

welches unter polnischem Einfluss stand. Die zweite Strategie

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Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

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argumentiert vorgeschichtlich auf der Ebene der Sprache.

Demzufolge gehörten Litauer und Letten dem baltischen

Sprachzweig der indo-europäischen Sprachgruppe an, Esten sowie

zum Beispiel eine in Lettland lebende Minderheit, die Liven, zählen

zu der finno-ugrischen Sprachgruppe. Es liegt nahe, die Frage zu

erörtern, warum aufgrund tatsächlicher oder vermeintlicher

Gemeinsamkeiten die drei Nationen im Baltikum nicht eine Nation

beziehungsweise einen Nationalstaat gebildet hätten. Diese Frage

tangiere ich aber nicht. Ich komme nicht umher, die Begriffe Nation,

Volk, Letten, welche in ihrer bestimmten Bedeutungsmenge

konstruiert sind, zu verwenden. Einerseits weiß ich es nicht besser,

zum anderen aus Gründen der Bequemlichkeit.

Die Problematisierung ethnischer Unterschiede und die

Kulturalisierung sozialer Widersprüche, wie sie von W. Kaschuba

oder E. T. Hall als Diskursstrategien nachgewiesen werden, werden

nicht ausgeführt. Diese Diskurse sind Produkte der im letzten

Jahrhundert erschaffenen Konzepte der Nation und des Volkes. Aber

es obliegt dem Sachverständnis der Kulturwissenschaftler und

Ethnologen, sie ins rechte Licht zu stellen. Mit Kenntnis der

deutschen Vergangenheit wissen wir von der Funktionalisierung von

wissenschaftlichen Paradigmen. Fragen der Völkerkunde in

Verbindung mit der Biologie des ausgehenden 19. Jahrhunderts,

mündeten in die Rassenleere und im Blut und Boden – Mythos der

Nationalsozialisten. Das echte Deutschtum wurde zum Objekt der

Wissenschaft. Es besteht die Gefahr, Diskurswissen durch

Verwissenschaftlichung zu legitimieren und damit die politische

Verwendungsfähigkeit dieses Wissens zu stärken. Insofern bin ich

mit dieser Arbeit ein Schreibtischtäter. Die Interpretationen und die

Auswahl der Materialien, die Deutung und Zusammenstellung der

Fakten für diese Arbeit folgten aus dem Wissens- und

Erkenntnisstand des Kulturarbeiters. Ich laufe Gefahr, in Unkenntnis

der Methoden der Wissenschaftsbereiche, die außerhalb des

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Yvonne Chaddé Lettland zwischen Dainas und I wanna

92

Kulturarbeitereinzugsgebietes liegen, die falschen Schlüsse

gezogen, verallgemeinert oder nicht präzise gearbeitet zu haben.

Trotz ihrer Konstruiertheit sind Lettland, Letten, Volk und Nation

Begriffe, welche eine Wirklichkeit besitzen, da sie gebraucht werden;

sei es das Selbstverständnis der Medien, der politische Jargon, das

Lehrbuch im Geschichtsunterricht oder die Alltagssprache. Wenn in

den Geisteswissenschaften die Methode der Dekonstruktion, ein

Konstrukt in dessen einzelne Teile zu zerlegen und diese für sich

und in ihrer Funktion für das Konstrukt zu analysieren, geübt wird, so

mag diese Methode außerhalb der so genannten Intelligenz noch

keine Anwendung gefunden haben. Der Erfolg der Idee der Nation

liegt gerade im Selbstverständnis ihres Gebrauchs, in der

Inkorporierung in die Menschen. Ein Mittel die Nation auszubilden, ist

sie als Idee in das Bewusstsein der Menschen zu verpflanzen, so

dass sie selbstverständlich würde und bis in die Bereiche der

menschlichen Handlung erwachse. Der Erfolg lässt sich bestätigen.

Literatur

Wissenschaftliche Literatur

G. Apals (1998): Einwirkung der Neuletten auf die Herausbildung der

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