lászló bernáth siebzehn war die rettung ein zeitmosaik

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László Bernáth SIEBZEHN WAR DIE RETTUNG Ein Zeitmosaik

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László Bernáth

SIEBZEHN WAR DIE RETTUNGEin Zeitmosaik

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László Bernáth

SIEBZEHN WARDIE RETTUNG

Ein Zeitmosaik

SCHENK VERLAG Passau

Deutsch vonKarlheinz Schweitzer

ISBN 978-3-939337-29-4

© Schenk Verlag GmbH, Passau, 2007

Titel der ungarischen Originalausgabe: Idõmozaik.Coldwell Könyvek, Budapest 2006

Deutsche Übersetzung: Karlheinz SchweitzerUmschlaggestaltung: István Fillenz

Satz: László Kõrösi

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. JedeVerwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohneZustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für

Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherungund Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Printed in Hungary

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikationin der Deutschen Nationalbibliographie;

detaillierte bibliographische Daten sind im Internetüber http://dnb.ddb.de abrufbar.

Veröffentlichtmit Unterstützung des Kulturprogramms

„Ungarischer Akzent“

Für Lia und Bea

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Der Schlüssel steckte vorne über der Sechs in derWanduhr. Kein Pendel, keine Gewichte. Der großeZeiger war am Schlüssel hängen geblieben, und des-halb zeigte die Uhr halb zwei. Aufgezogen war sieschnell, aber die genaue Uhrzeit wussten die Jungennicht. In einem unbeobachteten Moment hatten siedie Uhr abgehängt. Von dem Drahtzaun, an den sie,wohl wegen des Umzugs, gehängt worden war. Ame-rikanische Soldaten schleppten Möbel aus dem Hausauf den Hof. Von der Straßenseite gegenüber beob-achteten sie, wie Schränke, Stühle und ein Tisch zu-erst rausgestellt und dann wieder zurückgeschlepptwurden, scheinbar von einem Zimmer in ein ande-res. Später stellte sich heraus, dass die Amerikanerin dem Haus des reichen alten Bauern eine ArtMilitärkommandantur eingerichtet hatten. Der Haus-herr ließ sich gelegentlich, verschüchtert und sehrhilfsbereit, auf der Veranda sehen. Die Frauen blie-ben im Verborgenen. Einer der Soldaten war schwarzwie Ebenholz. Ihn betrachtete der Bauer, der seinLebtag noch keinen schwarzen Menschen gesehenhatte, mit besonderer Zurückhaltung. Der korpulenteHofbesitzer bemühte sich, dass die Türen, die Stein-säulen der Veranda und auch die Möbel heil blieben.Ständig versuchte er so zu stehen, dass er die Möbelfassen und die Ecken schützen konnte. Die Uhr hat-te der Schwarze an den Zaun gehängt. Sicher war siedrinnen im Weg gewesen.

Die beiden warteten auf einen Augenblick, indem weder die Soldaten noch der Bauer auf der Ve-

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randa oder dem Hof sein würden. Mehrfach hattesich schon die Gelegenheit geboten, aber sie hattensich nicht an den Zaun getraut. Schließlich lief dergrößere Junge los, so schnell er in seinen holz-besohlten Leinenschuhen und mit seinen kraftlosenMuskeln nur konnte, nahm die Uhr vom Zaun undeilte weiter, um am Nachbarhaus Deckung vor denBlicken der Soldaten und des Bauern zu suchen.

Der Junge trug die zu große kakifarbeneSteppjacke, die er sich am Morgen besorgt hatte.Darunter nichts. Für seine knapp fünfzehn Jahre warer recht hochgewachsen, dennoch reichte ihm dieSteppjacke bis zu den Knien, und jetzt, wo er sie amBauch raffte und die Uhr darunter versteckte, ähnel-te er von Weitem einer Karikatur. Mit seinen dün-nen Beinen, seinem großen Wattemantel, seinem lan-gen Hals und seinem geschorenen länglichen Schädel.Er war nicht ratzekahl geschoren. Kahl war nur einStreifen zwischen den kurzen Haaren von der Stirnbis in den Nacken. Eine Art Scheitel von der Breiteder Haarschneidemaschine, den die Deutschen Läuse-straße nannten. Die Läusestraße sollte natürlichFlüchtlinge entlarven. Falls jemand aus dem Lagerfliehen sollte.

Mit seinem Freund, der kleiner war als er unduntersetzt, außerdem ein Jahr älter, also schon ganzesechzehn, irrte er zwischen den Flugzeugen umherund suchte den Weg zurück. Ursprünglich hatten sieauch nicht weiter gehen wollen. Dem schlaksigenJungen war eingefallen, dass der Personenkraftwa-gen der Marke Adler seines Vaters am Armaturen-brett, unter den vielen Zeigern, auch eine solche ge-habt hatte, die die Zeit anzeigte. Diese Uhr hatte ergern aufgezogen. Man musste den geriffelten Rand,

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der aus dem Armaturenbrett herausragte, mehrmalsbis zum Anschlag drehen.

Wenn schon ein gewöhnliches Auto über eineUhr verfügt, dann die kleinen Maschinen erst recht,hatte er kombiniert. Der Flugplatz lag hinter demZaun in Richtung Dorf. In den letzten Tagen hattensie keine einzige Maschine mehr aufsteigen sehen,aber sie standen noch dort, mit der Nase zu ihnen,zum Lager.

Seit er wieder aufstehen konnte, kam er oft hier-her und betrachtete die seltsamen kleinen Maschinendurch den Zaun. Er meinte, sie könnten keine Mili-tärflugzeuge sein und dienten wohl eher Unterrichts-zwecken.

In dem Augenblick, als die Amerikaner eine tür-große Öffnung in den Drahtzaun vor den Maschi-nen schnitten, fiel ihm sofort die Uhr ein. Auch wennsie nicht der Luftwaffe gehörten, mussten sie Uhrenhaben. Allerdings hatte er um sie herum immer nurSoldaten gesehen.

»Komm, wir besorgen uns eine Uhr!«, sagte erzu seinem Freund. Der stellte keine Fragen und folg-te ihm einfach. Den Doppelzaun, der nie Strom ge-führt hatte, ließen sie hinter sich und hielten vor demHolzwachtturm an. Von dort spähten keine bewaff-neten Wächter mehr herunter. Sie brauchten keinWort darüber zu verlieren, sie wussten, dass sie bei-de das Gleiche dachten. Nach langen Monaten, nachfast einem Jahr, passierten sie zum ersten Mal denDrahtzaun ohne Eskorte bewaffneter Soldaten. Ne-ben ihnen lief niemand.

In einer der Maschinen fanden sie dann eine ArtUhr. Jedenfalls trug das Zifferblatt die Zahlen voneins bis zwölf. Die Fassung war jedoch unbeweglich,

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ließ sich weder aufziehen noch mit bloßen Händenhinten herausziehen. Werkzeug hatten sie ja nicht.

Schließlich schlug der Lange vor, sie sollten indas Dorf hinübergehen, das sie bisher nur von Wei-tem gesehen hatten. Von dort waren am Vormittagauch die amerikanischen Soldaten gekommen. Ja,zuerst waren die Panzer am Lager vorbeigefahren.Sie hatten fassungslos gewartet. Ob man sie wohlvergessen würde? Endlich bog doch ein kleines offe-nes Auto – ein Jeep, wie sie bald gelernt hatten –zum Drahtzaun ein, und zwei Soldaten stiegen aus.Einer von ihnen hatte eine Drahtschere. Schön ak-kurat schnitten sie eine rechteckige Öffnung zuerstin den äußeren, dann in den inneren Draht, gut zweiMeter hoch.

Auf dem Rückweg von den Maschinen fandensie schnell diese Öffnung und brachten die Uhr tri-umphierend in die Baracke. Sie zeigten sie zuerst demOnkel Doktor. Der fragte nur, wo sie die Uhr auf-hängen würden.

Der große Junge musterte die Decke und ent-deckte an einem Balken einen langen Nagel.

Den Kranken, in raue Decken gewickelt, ging esso schlecht, dass sie sich nicht von ihren Lagern ausstrohgefüllten Papiersäcken erheben konnten. Ob sieetwas zu essen gefunden hatten, fragte sie einer.

»Eine Uhr haben sie mitgebracht«, fertigte ihnein Leidensgenosse, dem es schon besser ging, kurzab. Viele von ihnen lagen in ihren gestreiften Kla-motten unter den Decken. Die Leinenschuhe mit denHolzsohlen behielten sie unter dem Kopf, unter demStrohsack, damit sie in der Nacht nicht geklaut wur-den. Manchen von ihnen hatten die Pfleger ihreschmutzige Kleidung weggenommen. Auch dem Jun-

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gen hatte man die Kleider abgenommen, weil er sei-ne Verdauung nicht unter Kontrolle gehabt hatte. DenDurchfall hatte er sich als Küchenhilfe zugezogen.Am Morgen hatte auch er daher nackt unter derDecke gelegen. Später hatte er die Wattejacke ent-deckt, den in die Ecke geworfenen Nachlass eineswahrscheinlich am Vortag Verstorbenen, und hattesie angezogen.

Nun stand er ratlos, die aufgezogene Uhr in derHand, unter dem Balken mit dem Nagel. Er wolltedie genaue Zeit einstellen, aber niemand hatte eineUhr. Selbst der Onkel Doktor nicht. Seinen Rang undseine Profession zeigte nur der weiße Kittel an, dener über der gestreiften Kleidung trug.

Sie schauten nach dem Stand der Sonne undratschlagten, wie spät es sein mochte. Bei diesemStand der Sonne im Mai. Der Junge stellte schließ-lich die Zeiger genau auf fünf. Mit Müh und Nothoben sie die Uhr hoch. Mit seinen Einmeterachtzigwog der Lange kaum mehr als fünfzig Kilo. Dannhing die viereckige Uhr mit dem weißen Zifferblattund den römischen Zahlen. Er hantierte noch einwenig an ihr herum. Versuchte die Unterkante derUhr mit dem Balken in eine Linie zu bringen. Danngab er es auf.

Stille trat plötzlich ein. Wer weiß, ob sie alle dasGleiche dachten. Dass dies ein wichtiger Augenblickwar, spürten sie alle. Von nun an war es gut, wennman wusste, was die Stunde geschlagen hatte. Demgroßen Jungen ging durch den Kopf, dass sie jetztwieder in die Zeit zurückgekehrt waren.

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Er konnte kaum erwarten, dass das Brot ausgeteiltwurde. Er hatte das Gefühl, es müssten Stunden ver-gangen sein, seit er im Morgengrauen aufgewacht war.Es war noch dunkel, und als er sich auf seinem Lagerumdrehte, berührte sein Gesicht eine Hand. Einekalte Hand. Das konnte nur die Hand des Polen sein.Das wusste er. Sie lagen nebeneinander auf der obers-ten Pritsche. Auf Deutsch konnten sie ein paar Wor-te miteinander wechseln. Schon vor Tagen war demJungen aufgefallen, dass der Pole krank war. Gesternfrüh hatte der Mann ihn gebeten, seine Brotrationentgegenzunehmen, weil er sich nicht auf den Knienans Bettende kauern konnte. Nach kurzem Hin undHer bekam er das Brot des Polen und reichte es ihmsofort. Der Pole zerkleinerte es und steckte sich dieBrösel einzeln in den Mund. Das war die üblicheTechnik, damit die Ration länger vorhielt.

Am Abend, als er vom Brennnesselpflücken zu-rückkam und auf die Pritsche hochkletterte, lag seinBettnachbar dort, als habe er sich seit dem Morgennicht von der Stelle gerührt. Der Mann regte sich nicht.Er beugte sich dicht über das Gesicht des Polen undspürte seinen Atem. Der Junge dachte, er schliefe nur.

Als er im Morgengrauen die Hand berührte, dieauf seinen Teil des Bettes herüberreichte, erschrak erzuerst. Er hatte in der Lazarettbaracke, die man Re-vier nannte, schon genug Tote gesehen. Von dort hatteer sich freiwillig zur Arbeit weggemeldet. Diese Lei-che jedoch – es war ihm jetzt sofort klar, dass er nichtmehr lebte – war irgendwie anders. Persönlicher.

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Er versuchte die Hand zurückzubiegen, doch siewar schon steif und schlug förmlich wieder zu ihmzurück. Im Dunkeln betastete er das Gesicht des To-ten, beugte sich über ihn, um seines Todes sicher zusein. Der Pole atmete wirklich nicht mehr. Dass sei-ne Hand steif war, bedeutete, dass er vielleicht schonin der Nacht gestorben war. Der Junge wartete jetztnur auf die morgendliche Brotration. Er hatte be-schlossen, die Ration des Toten wie gestern in Emp-fang zu nehmen und schnell aufzuessen. Dann wür-de er arbeiten gehen und wenn sie feststellten, dasssein Nachbar nicht mehr lebte, würden sie glauben,er hätte seine Ration am Morgen noch verzehrt.

Die Zeit verging nicht. Bei jedem Geräuschschreckte er auf. Das war nur ein kurzes Stöhnen oderein Seufzer. Manchmal ächzten auch die Holzbetten,wenn sich jemand auf die andere Seite warf.

Wenn absolute Stille herrschte, beschäftigte sichder Junge mit den Erinnerungen an den vergangenen– glücklichen – Tag. Das Krankenrevier hatte er ver-lassen, weil er gehört hatte, dass man aus den Kin-dern seines Alters, von vierzehn bis sechzehn, Bri-gaden zum Brennnesselpflücken aufstellte. Diegroßen runden Tragekörbe hatten seine Mithäftlingein einem engen Winkel hockend geflochten. Ur-sprünglich waren sie für die Küche gedacht gewesen,aber sie entsprachen nicht den Vorstellungen des Auf-traggebers, eines SS-Soldaten.

Je zwei junge Gefangene stellten sie im Morgen-grauen neben die fünf Körbe. Zu zehnt machten siesich mit einem bewaffneten Wächter zu den Bauern-höfen in der Umgebung des Lagers auf. Die großenHöfe lagen dicht beieinander, und die Stadt war nichtweit. Von hier sah man schon die Kirchtürme.

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Wenn die Bauern ihre Traktoren durch die gro-ßen Tore fuhren, konnte man in die Höfe hinein-sehen, wo gewöhnlich noch ein Traktor oder ein ih-nen unbekanntes Gerät stand. Die Bauern in dieserGegend Bayerns waren wohlhabend. Auf den Höfenerblickten sie offene Scheunen, in denen sich Stroh-ballen türmten. In die Häuser konnte man seltenschauen. Das verhinderte die hohe Steinmauer, unddie Veranda, die Zimmertüren konnten sie von au-ßen auch dann nicht erkennen, wenn sie ganz dichtan die offenen Tore kamen.

Der Wächter ging hinein und ließ sie allein. Erwusste, dass sie mit ihren gestreiften Kleidern und denLäusestraßen auf den Köpfen ohnehin nicht fliehenkonnten. Er ging in fast jedes Haus. Ihre Aufgabe wares unterdessen, an den Grabenrändern und an denMauern die Körbe mit Brennnesseln zu füllen.

Anfangs waren sie ungeschickt zu Werk gegan-gen, die Brennnesseln verbrannten ihre Hände, aberbald hatten sie heraus, dass nur die Blätter brennen.Wenn man das Gewächs unten am Stiel fasste undgeschickt ausriss, hinterließ es keine Spuren auf demHandrücken. Es gab viele Brennnesseln. Die Körbezu füllen, bereitete keine Schwierigkeiten. Sie drück-ten die Brennnesseln sogar zusammen, damit mehrhineinpasste.

Wenn der Wächter auf einen Hof ging, hörtensie sofort auf zu pflücken, damit es nicht zu bald zu-rück ins Lager ging. Die Küche erwartete sie ohne-hin erst am Nachmittag zurück. Das abendlicheHauptgericht bestand immer öfter aus Brennnesseln.Ein tschechischer Koch – aus irgendeinem Grundarbeiteten nur Tschechen in der Küche – sagte wie-derholt, das Gewächs sei ebenso nahrhaft wie Spinat

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oder Sauerampfer. Den richtigen Spinat oder Sauer-ampfer hatten sie zu Hause in Ungarn natürlich mitetwas Fett, Einbrenne und Gewürzen gekocht, hiergaben sie außer Salz nichts zu den Brennnesseln indie großen Kochkessel mit brodelndem Wasser. Nachder Meinung der Gefangenen schmeckten sie wieSauerampfer. Außerdem erwähnte einer ihrer Gefähr-ten, ein ehemaliger Biologielehrer, dass sie hier seitMonaten nichts Grünes bekommen hatten und dassdie Brennnesseln, auch gekocht, wichtige Nährstoffeenthielten. Sie schlürften also den grünen Brei, denman ihnen abends in großen Henkeleimern in dieBaracken brachte.

Der Wächter, der die Brennnesselsammler beglei-tete, ging auch wegen Lebensmitteln auf die Bauern-höfe. Die Wächter bekamen zwar keine Brennnesselnzum Abendessen, für sie kochten in einer gesonder-ten Küche Wehrmachtsköche, aber im Frühjahr 1945schrumpften auch ihre Portionen, und selbstKartoffelgemüse ohne Fleisch galt als gutes Abend-essen.

Auf den Bauerhöfen litt man sie scheinbar gut,manchmal brachte ihnen ein Kind oder eine Magdeinen Suppenknochen. Große Rinderknochen warendas. Es schien, als ob man auf allen Höfen nur Rind-fleisch zu Mittag kochte, aber ein paar Fasern Fleischwaren noch dran. Dann teilten sie brüderlich undrechneten genau aus, wem wie viel zusteht.

Einmal kam ein alter Bauer mit einem ganzenTopf Suppenknochen zu ihnen – die Männer in denbesten Jahren waren alle Soldaten –, und fragte sie,was sie angestellt hatten, dass sie so jung in gestreifteKleider gesteckt worden waren. Zuerst starrte manihn verständnislos an, dann erklärte ihr Gefährte, der

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Deutsch sprach: »Wir sind Juden!« Er fügte hinzu,dass sie weder Verbrecher noch politische Gefange-ne waren. »Sehen Sie das gelbe Dreieck auf unserenKleidern? Das zeigt, dass wir Juden sind. Wäre daein anderes, rotes Dreieck, würde das bedeuten, dasswir Politische sind, und ein grünes Dreieck würdebedeuten, wir sind Verbrecher.«

Der Bauer verstand die Erklärung nicht und ver-wechselte auch die Dreiecke. Er drängte sie zuzuge-ben, dass sie was geklaut hatten. Sie mussten doch ein-fach etwas angestellt haben, um ins Gefängnis zukommen. Bald ließ er sie allein und schlurfte, den Topfin seiner Hand schwenkend, ins Haus zurück. Sofortbrach ein Streit unter denen aus, die gerade den Mundfrei hatten. War es möglich, dass der Bauer von denSoldaten, die bei ihm drin saßen, nicht gehört hatte,dass in dem etwa drei Kilometer entfernten Lager keineVerbrecher saßen? Obwohl es auch unter deutschenKapos welche gab, die ein grünes Dreieck trugen. Unddas Anfang April des vierten Kriegsjahres?

Der Bauer war dem Jungen den ganzen gestrigenTag, an dem sie wirklich satt hinter den Zaun zu-rückkehrten, durch den Kopf gegangen. Aber jetztlenkte er ihn nur ein paar Sekunden ab. Er begriffnicht, warum der Morgen noch nicht angebrochenwar. Schon mindestens zum zehnten Mal meinte erzu hören, wie der Blockälteste die sicher verschlos-sene Tür seines Zimmers öffnete, um Brot holen zugehen. Jetzt polterte es, die große Barackentür knarr-te, und die Schuhe des Blockältesten klackten, als eraus seinem Zimmer kam. Wieder schien die Zeit still-zustehen. Dann hörte man wieder Knarren und dasSchlagen der Zimmertür. Jetzt legte er das Kommiss-brot auf den Tisch und teilte es in Portionen auf.

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Normalerweise durfte niemand diese wichtigeHandlung sehen – wie er mit einem langen Metzger-messer das feste, fast kaffeebraune Brot in Scheibenschnitt, das irgendwo außerhalb des Lagers, vielleichtin der benachbarten Stadt, gebacken wurde. Angeb-lich gab es in seinem Schrank auch eine Küchenwaa-ge mit Kupferschalen, damit er von Zeit zu Zeit kon-trollieren konnte, ob er die Scheiben gleich dickgeschnitten hatte. Doch wahrscheinlich benutzte erdiese Waage nie.

Die etwa 200 Gramm schweren Scheiben sahenvollkommen gleich aus, wenn aber jemand daranzweifelte, wagte er das nicht auszusprechen, weil derlitauische Blockälteste einen langen harten Knüppelhatte. Auch der Junge fürchtete sich vor dem Knüp-pel. Als der Blockchef mit dem Brot, das sein unter-täniger Günstling neben ihm in einem kleinen Korbtrug, an sein Bett gelangte, machte er Zeichen, ihmauch die Portion des Polen zu geben, wie am Vortag.

Er wollte gerade vom Bett herunterklettern, alsder Litauer zurückkam. Er fand es verdächtig, dassim Bett des Polen solche Stille herrschte und sichnichts bewegte, obwohl gewöhnlich, bis auf ein paarGefangene, die sich mit Sparsamkeit quälten, alle ihreTagesration schnell verschlangen.

Er trat auf den Rand des unteren Bettes und blick-te in das Gesicht des spindeldürren Polen, mit demer sich früher gut verstanden hatte. Er sah, dass ersich nicht bewegte. Dann kletterte er ganz hoch aufdas Bett des Toten und fasste seine steife Hand an,dann den Hals.

»Wo ist seine Ration?«, fuhr er den Jungen an,der stotternd zu erklären versuchte, sein Nachbarhabe sie noch aufgegessen.

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»Der? Du verdammter Scheißkerl. Du ungari-sches Schwein, du dreckiger Dieb, der ist doch schonseit Stunden tot!«, und neben dem Toten kniend ver-drosch er ihn mit dem Gummiknüppel. Der Jungeschützte seinen Kopf und das Gesicht mit dem Arm.Er versuchte sich wegzudrehen, damit nur sein Rü-cken die Schläge abbekam, beruhigte sich dabei abermit verstörter Freude, dass sie gar nicht richtig weh-taten. Er wusste natürlich, wann und wo der Gum-miknüppel seinen Kopf, die Schultern, die Ellenbo-gen vor dem Gesicht traf, aber er spürte keinenstärkeren Schmerz, als wenn er mit der Hand oderdem Gesicht zufällig gegen das Holz der Pritscheschlug. Innerlich kicherte er fast: »Der Idiot tobt hier,aber das Brot kann er mir nicht mehr wegnehmen.Das habe ich mir einverleibt!« Unterdessen setzte esSchläge. Endlich war der Litauer müde und kletterterunter, drohte ihm aber noch an, dass die Abrech-nung weitergehen würde, wenn der Junge von derArbeit zurückkäme. Als der Junge sich vor der Türunter die Ausrückenden einreihte, neben seinen Bett-genossen von ganz unten, flüsterte der: »Du Rind-vieh, weißt du nicht, dass ihm die Tagesration derToten zusteht?«

Der Junge antwortete nicht. Er wollte nicht ver-raten, dass er keinen Schmerz gespürt und währendder Schläge daran gedacht hatte, dass er am Abendbeim Doktor, der ihn dort im Krankenhaus davonhatte abbringen wollen, hinauszugehen, versuchenwürde, unter irgendeinem Vorwand wieder aufge-nommen zu werden. Bis dahin musste er aberBrennnesseln pflücken. Der Tag war noch recht lang.

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