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Stefan Lubienski Die polnische Volksseele und die Anthroposophie Stefan Lubienski Wer die stark bewegte Geschichte Polens und sein äußerst reiches Schrifttum durchforscht, fragt sich oft, wie es kommt, dass auf dem im Seelenleben anderer Völker so belangreichen Gebiet von Mythos und Legende in Polen nichts vorhanden ist. Sind doch jene Darstellungsformen schon seit dem 10. Jahrhundert aus der polnischen Kultur gleichsam ausgelöscht. Auf diese Frage sei in einem Gleichnis geantwortet: Man stelle sich ein dreijähriges Kind, noch voller Träume, vor, wie es irgendwo draußen in der schönen Natur lebt, dann aber plötzlich durchs Schicksal gezwungen wird, sich mitten in den Lebenskampf hineinzustellen. Sicher würde ein solches Kind all seinen Glauben, seine Vorstellungen von einer Gotteswelt, in der es vielleicht gelebt hatte, vergessen; es würde gezwungen sein, sich mit alltäglichen rohen und grausamen Dingen zu beschäftigen. So etwas geschah gegen Ende des 10. Jahrhunderts mit dem polnischen Volke, das von zwei Seiten zugleich angefallen wurde. Dies träumerische, sanfte und friedliche Volk wurde von außen her zum Kämpfen gezwungen, an die irdische Geschichte geknüpft, gewaltsam und ganz plötzlich wachgeschüttelt . Was waren das für zwingende Gestalten? Es waren Angriffe von Ost und West zugleich, durch die sich das Volk bereits in seiner Wiege zwischen zwei gegenpoligen Kulturen eingeklemmt fühlte - der der westlichen Nachbarn, die ihm das Christentum mit Feuer und Schwert brachten - und der anderen aus dem Osten, der rohen, chaotischen und vernichtenden Gewalten der Mongolen und Tartaren. Zwischen diesen zwei erzieherischen Mächten von Ost und West entstand das polnische Volk, das sich noch während seiner Reifezeit zum Widerstand gezwungen sah, um bestehen zu können. Vielleicht war das eine der Hauptursachen für das Verschwinden des reichen Mythen- und Sagenschatzes, der von nun an nur noch im Unterbewußtsein

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Stefan Lubienski

Die polnische Volksseele und die Anthroposophie

Stefan Lubienski

Wer die stark bewegte Geschichte Polens und sein äußerst reiches Schrifttum durchforscht, fragt sich oft, wie es kommt, dass auf dem im Seelenleben anderer Völker so belangreichen Gebiet von Mythos und Legende in Polen nichts vorhanden ist. Sind doch jene Darstellungsformen schon seit dem 10. Jahrhundert aus der polnischen Kultur gleichsam ausgelöscht.

Auf diese Frage sei in einem Gleichnis geantwortet: Man stelle sich ein dreijähriges Kind, noch voller Träume, vor, wie es irgendwo draußen in der schönen Natur lebt, dann aber plötzlich durchs Schicksal gezwungen wird, sich mitten in den Lebenskampf hineinzustellen. Sicher würde ein solches Kind all seinen Glauben, seine Vorstellungen von einer Gotteswelt, in der es vielleicht gelebt hatte, vergessen; es würde gezwungen sein, sich mit alltäglichen rohen und grausamen Dingen zu beschäftigen. So etwas geschah gegen Ende des 10. Jahrhunderts mit dem polnischen Volke, das von zwei Seiten zugleich angefallen wurde. Dies träumerische, sanfte und friedliche Volk wurde von außen her zum Kämpfen gezwungen, an die irdische Geschichte geknüpft, gewaltsam und ganz plötzlich wachgeschüttelt .

Was waren das für zwingende Gestalten?

Es waren Angriffe von Ost und West zugleich, durch die sich das Volk bereits in seiner Wiege zwischen zwei gegenpoligen Kulturen eingeklemmt fühlte - der der westlichen Nachbarn, die ihm das Christentum mit Feuer und Schwert brachten - und der anderen aus dem Osten, der rohen, chaotischen und vernichtenden Gewalten der Mongolen und Tartaren. Zwischen diesen zwei erzieherischen Mächten von Ost und West entstand das polnische Volk, das sich noch während seiner Reifezeit zum Widerstand gezwungen sah, um bestehen zu können. Vielleicht war das eine der Hauptursachen für das Verschwinden des reichen Mythen- und Sagenschatzes, der von nun an nur noch im Unterbewußtsein

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weiter lebte. Später jedoch kam er im Schrifttum in ganz anderer Gestalt wieder zum Vorschein, nicht mehr als Mythos, sondern in verschiedene Kunstschöpfungen und geschichtliche Antriebe verwandelt.

Bevor wir jedoch diese nach außen gewandte Seite der polnischen Seele näher umschreiben, müssen wir zum besseren Verständnis der eben erwähnten Antriebe einige Gedanken der verschwundenen Sagenwelt widmen, die nur noch von seltenen Schriftstücken her bekannt ist.

Trotz ihres kurzen Daseins im Volksbewußtsein war die mythische Welt sicher bedeutungsvoll genug, als ein unterirdischer Strom, der die Seele Polens gestaltete und dadurch auch auf die Geschichte seinen Einfluß ausübte.

Was diesen westslawischen Mythenschatz, das Gut aller Völker zwischen Elbe und Weichsel, am stärksten kennzeichnete, war die göttliche Trinität, die auf eigenartige Weise ganz anders als bei anderen Völkern zusammengestellt war: Sie bestand aus einem Gotte Bielbog , Weißer Gott, und seinem Gegensatze Czernybog , Schwarzer Gott; etwa wie der persische Ahura Mazda und Ahriman . Zwischen diesen beiden aber stand bemerkenswerter Weise eine dritte Gottheit, die das Gleichgewicht herstellen mußte . Ihr Name war " hamowac " = hemmen. Einer alten Überlieferung zufolge hatte dieser Gott seinen Tempel dort, wo jetzt Hamburg ( Hams-burg ) liegt. Dies war der westlichste Mysterienort der Westslawen. Hams Gemahlin hieß Dziewa (Jungfrau. stammt von der Wurzel " Deva ", "Deus") mit einem Tempel in Dziewin (Magdeburg). Ham hatte also zwei Aspekte: den männlichen und den weiblichen. Bielbogs sichtbare Erscheinung war Swiatowit , ein Sonnengott mit zwei Gesichtem , dessen Haupttempel auf Rügen lag. Czernybogs sinnfälligere Gestalt waren Drachen, Dämonen und Geister der Finsternis.

Skizzenhaft gaben wir hier die wesentlichen Züge der slawischen Mythologie wieder. Selbstverständlich ist es unmöglich, einen Glauben, fast so reich wie die griechische Götterwelt, in Kürze zu beschreiben. Zudem sind die vorhandenen Schriftdenkmäler, wie gesagt, spärlich, und es herrschen Meinungsverschiedenheiten in ihrer Auslegung.

Um nun zu verstehen, wie diese verschwundenen Mythen und Bilder nichts anderes waren als die Urtypen dessen, was heimlich in der polnischen Seele lebte und webte, müssen wir unseren Blick auf die Geschichte werfen.

Auch hier würde es in diesem Rahmen unmöglich sein, ein vollständiges Bild zu entwerfen; wohl aber ist es möglich, die Aufnierksamkeit auf gewisse wichtige Punkte hinzulenken, und zwar auf Erscheinungen, die sich rhythmisch wiederholen. Betrachtet mm nämlich die polnische Geschichte näher, so sieht man, wie jeder wichtige Zeitabschnitt mit einem Einschlag von oben her beginnt, - einer Art göttlicher Eingebung, einer Kraft aus einem übersinnlichen Reich, bis gewisse Könige und Helden zu Trägern dieser Kraft werden. Sie bemühen sich alsdann, die zur Aufgabe gewordene Eingebung zu verwirklichen, werden aber dabei schwer gehindert, doch auch geprüft und gestärkt durch Kräfte, die von Ost und West außerhalb Polens kommen, Kräfte, die jene geistigen Antriebe zu Reife und Selbstbewußtsein bringen.

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Anfänglich bleibt dieser Widerstand mehr physisch und wird von Führernaturen geleitet, die mit einem merkwürdigen intuitiven Blick für die jeweilige Situation begabt sind. Hat die Eingebung von oben eine Zeitlang gewirkt, so begegnet dieser himmlische Strom einem dunkleren, ungestalteren Lebensstrome, der sozusagen von unten her kommt. So entsteht der Zusammenstoß mit Leidenschaften und blinden Lebenskräften. Zuerst bringt dies stets eine chaotische Zerstückelung und Zersplitterung mit sich. Später tritt dann eine mehr gestaltende Kraft auf, in der Art, dass um die Mitte oder das Ende eines jeden Geschichtsabschnitts eine sehr starke, selbstbewußte Persönlichkeit in den Vordergrund tritt und alles zusammenfaßt , was bis dahin chaotisch wirkte.

Die erste, von oben stammende Strömung, die Polen so recht eigentlich zum Erwachen brachte, war das Christentum. Dieser neue Glaube kam nicht von Nordwesten her durch die deutschen Stämme, die ihn, wie gesagt, mit dem Schwerte brachten, sondem wurde durch König Mieszko I. eingeführt (966 n. Chr.) - etwas, was man einem Wunder gleichstellen kann: Nahm doch das Volk so schnell und willig das Christentum an, dass dies Geschehnis schwerlich mit rein praktisch-politischen Ursachen erklärt werden kann.

Sieben Könige folgten diesem ersten großen Antriebe, verwirklichten ihn anderthalb Jahrhunderte lang und wurden die Führer im Widerstand gegen die erwähnten Einfälle aus Ost und West: die Zwangsmaßnahmen des Deutschen sogenannten Teutonischen Ordens, und die vernichtende Kraft der Tartaren von Südosten her. Die Aufgabe dieser Könige war es, Polen so aufzubauen, dass es unbeschwert auf seinem Boden bestehen konnte. Der Widerstand gegen die Nachbarn war nicht mit Grausamkeit oder Haß gepaart, sondern mit Mut und Edelmut. Die Absicht dieser ersten Könige war nicht, andern Völkern etwas abzunehmen, sondern die Eigenart ihres Volkes zu erhalten. Gerade durch Selbstverteidigung sollte das Volk reifer werden, Es mußte zwischen Ost und West eine Richtschnur finden, und das war bis zum Beginn des 13. Jahrhunderts seine erste geistige Aufgabe. Doch menschliche Selbstsucht und Eifersucht, also Antriebe aus dem Unterbewußtsein , die wir die Unterströmung nannten, ließen nach anderthalb Jahrhunderten chaotische Zustände entstehen. Im Beginn des 13. Jahrhunderts wurde Polen in Fürstentümer aufgeteilt. Das Werk von sieben Königen zerfiel.

(Dergleichen sollte sich noch einige Male rhythmisch wiederholen; eine merkwürdige Erscheinung in der polnischen Geschichte: eine Art negativen "Nachtzustands", der mit seltsamer Regelmäßigkeit auf den positiven "Tagzustand' folgt. Dann aber taucht stets wieder - wie schon erwähnt - ein Retter auf und bringt die Aufgabe des jeweiligen Zeitabschnitts zur Gestaltung. Eine Entwicklung in stets drei Perioden.)

Im 14. Jahrhundert war König Kasimir der Große (1333-1370) der "Retter“, der also die historische Synthese verwirklichte. Er repräsentierte sozusagen die dritte aufbauende Periode des ersten großen Abschnitts der polnischen Geschichte: Was die sieben Könige unbewußt taten, aus der Inspiration von oben, gestaltete Kasimir voll bewußt . Er erließ ein Gesetzbuch, das für jene Zeit zum Verwundem menschlich war: "Statut" von Wislica im Jahre 1347. Die Todesstrafe (zum Beispiel) wurde abgeschafft usw. Beseelt durch den Polen kennzeichnenden Geist der Duldsamkeit, lud er Juden ins Land, um die Städte aufzubauen. Auch die Deutschen wurden eingeladen. Der Landwirtschaft stand er bei, er, der der Vater der Kaufleute und Bauern genannt wurde.

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Er war ein patriarchalischer Fürst, der aufrichtete, gliederte und zusammenfaßte , was im Keim bereits vorhanden, aber noch unsichtbar und verstreut webte und wirkte. Auch für das geistige Leben tat er viel. So stiftete er z. B. die Universität in Krakau (1372), die bedeutendste in diesem Teile Europas. Diese Universität war eine der wenigen, an denen z. B. erlaubt war, ernstlich und öffentlich Magie zu lehren, was ebenfalls einen für jene Zeit hohen Grad von Verträglichkeit andeutet. Außerdem waren die Spezialität dieser Universität die Rechtswissenschaft und die Beziehungen zwischen den Völkern, ja, die internationale Gerechtigkeit und Gleichheit. So endete mit dem 14. Jahrhundert der erste große Abschnitt.

Der zweite fängt wieder mit einem großen Einschlag "von oben" an. Die erste Aufgabe war die Verteidigung des Christentums gegen die Tartaren (Mitte des 13. Jahrhunderts) - Schlacht bei Liegnitz - gewesen. Die zweite Aufgabe war die Begründung einer Gesittung voll Verträglichkeit und Milde als Widerstand gegen den Machtwillen des Deutschen Ordens.

Jetzt mit dem 15. Jahrhundert kommt ein neuer, zweiter großer Zeitabschnitt mit - wie gesagt - einem neuen Einschlag "von oben“, nämlich mit dem persönlichen Opfer, das Königin Jadwiga, eine Heilige, ein schlichtes Mädchen, darbrachte, indem sie nicht ihren Verlobten, einen deutschen Prinzen, sondern den wilden, barbarischen litauischen Fürsten Wladislaw Jagiello heiratete. Die Folge hiervon war die Verbrüderung mit Litauen, das christianisiert wurde und nun mit Polen einen Staatenbund bildete: der erste Baustein zu einem wahrhaft freien Bund zwischen freien Ländern.

Um die Größe dieser Idee deutlicher zu zeigen, lassen wir nachstehend den Anfang des unvergleichlichen Schriftstückes folgen, das die Verbindung Polens mit Litauen formulierte: ( Horodlo-Union im Jahr 1413): "Im Namen unseres Herrn, Amen. Mögen diese Tat und dies Schriftstück für die Ewigkeit bewahrt bleiben. Es ist bekannt, dass kein Mensch mit Gott verbunden sein wird, wenn er nicht durch das Geheimnis der Liebe getragen wird, nichts Böses tut, das Gute ausstrahlt; wenn er die zu gemeinschaftlichem Werk bringt, die in Zwietracht leben; diejenigen vereint, die streiten; Haß zur Seite stellt; dem Neid ein Ende macht; allen das Labsal des Friedens bringt; die Gefallenen aufrichtet; unwegsame Pfade ebnet; böse in gute verändert. Durch die Liebe werden Gesetze gemacht, wird ein Reich regiert, kommen Städte zur Blüte, wird die Wohlfahrt des Staates zu ihrem höchsten Stand geführt. Unter den Tugenden ist die Liebe am höchsten zu schätzen, und wenn jemand sie mit Füßen tritt, so wird er sich selbst alles Glück rauben..."

Diese Aufgabe, Bände zu stiften, wirkte in der polnischen Seele fort und hatte weitere Verbindungen mit Kurland und Livland sowie mit einem Teil von Ruthenien (heute: Ukraine. A.W.). zur Folge. Sie endete aber um das Jahr 1600 bei der Möglichkeit einer Verbindung mit Rußland , die beinahe zustande gekommen wäre. Das Scheitern dieser wichtigen Union ist der Politik der damaligen Jesuiten zuzuschreiben. Sie wurde durch Frankreich und Italien beeinflußt , gar nicht im Sinne der Mission Polens. Rußland bot seine Krone Wladyslaw, dem Sohne des Königs Siegmund des Dritten von Polen an: doch Siegmund, unter dem Einfluß westlicher Unduldsamkeit und infolge kurzsichtiger politischer Schlauheit, stellte zur Bedingung, dass sich die orthodoxen Russen zum Katholizismus bekehren mußten . Der Bundesgedanke trat nun in der polnischen

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Volksseele nicht mehr in den Vordergrund, so dass Polen damals nur einen Teil der großen Aufgabe verwirklichte. Gerade das ist für das polnische Volk bezeichnend, dass es stets von einer großen Mission erfüllt ist, von der jedoch nur ein Teil in Wirklichkeit umgesetzt wird. Die Elite begreift die hohe Bedeutung des Zieles, während die übrigen sich widersetzen und so in die "Strömung von unten" geraten, die wir den dunkel unbewußten Antrieb blinder Lebenskräfte nannten - Kräfte, welche unmenschliche, ja untermenschliche Leidenschaften und Hader zum Vorschein bringen. Die Fürsten der einzelnen Gebiete strebten nach Macht und teilten sich bereits sehr früh in Gruppen und "Parteien", in denen persönlicher Ehrgeiz eine stets größere Rolle spielte.

Das Gesetzbuch, das mit seiner Duldsamkeit gegen Juden und nichtkatholische Christen bereits ein Grundstein der Gesinnung geworden war, wurde zum Zerrbild. Der Freiheitsgedanke entartete in seinen Gegensatz; der wahren Einheit wurde durch Selbstsucht und Willkür geschadet. So entstand der polnische Landtag, der den König ersetzte: der Landtag, welcher anfänglich der Idee der Duldsamkeit weiterfolgte, doch daran zugrunde ging, dass gewisse Menschen nicht imstande waren, diese Idee zu begreifen. Die Sachlage war die, dass die Klasse der kleineren Grundbesitzer, also der kleine Adel (" Szlachta “), sehr zahlreich war und auf die Regierung einen direkten Einfluß ausüben wollte, ohne dazu die nötige politische Reife zu haben.

Im 15. Jahrhundert gab es 54 Bezirkslandtage, die Vertreter zum allgemeinen zentralen Landtag sandten. Ohne diesen "Sejm“ war der König machtlos und konnte keine Beschlüsse fassen.

Der Theorie nach wurden die Beschlüsse des Sejm in der größtmöglichen Freiheit gefaßt . Man folgerte nämlich: In geistigen Angelegenheiten ist Einstimmigkeit das Wichtigste, weil oft die Minderheit etwas vorbringen kann, was vollkommen richtig ist, doch von einer tieferstehenden Mehrheit noch nicht begriffen werden kann. Also muß ein jeder die Freiheit besitzen, seine Meinung zu äußern, und auch die Möglichkeit haben, gegen Beschlüsse der Mehrheit Einspruch zu erheben. So km das „ liberum veto " zustande.

Solange sich dasselbe in den Händen ehrlicher Menschen befand, die sich für ihre Gedanken und Taten verantwortlich fühlten, war es eine prachtvolle Einrichtung. Doch war es ein Ideal, das damals noch nicht ganz zu verwirklichen war: Polen hatte sich wieder einmal eine Aufgabe gestellt: die ideale Welt einer vollkommeneren menschlichen Gemeinschaft der Zukunft zu schaffen, eine Aufgabe, die es nicht aufrecht erhalten konnte und die darum zur Unordnung entartete. Wenn z. B. ein Gesetz zustande kommen sollte, durch das die finanzielle Unterstützung des Heeres gesichert werden sollte, So wollte wohl ein jeder in seinem Vaterlande Herr und unabhängig sein, aber keine finanziellen Opfer bringen. So besaß Polen große, aber leider unpraktische Ideen, es nahm die Zukunft vorweg, aber die Verwirklichung glückte ihm nicht.

Wie im ersten Zeitabschnitt König Kasimir der Große der Retter

gewesen war, der die bisher zerstreuten Kräfte zum großen Teil in einheitliche Form goß , so war es im folgenden Zeitalter eine Gruppe von Männern, besonders König Batory , der von 1576 bis 1586 regierte, und der Kanzler Jan Zamoyski , die damals danach strebten, den gefährdeten Bau zu retten und den Aufbau so weit als möglich zu vervvirklichen .

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Damals war die gesamte polnische Gesellschaft eine Zeitlang erfüllt mit Ehrerbietung vor der Freiheit auf dem Gebiete des geistigen Lebens. Am stärksten äußerte sich das in dem Verhältnis des polnischen Volkes zur religiösen Reformation. So sagte z. B. Zamoyski in Gegenwart des Königs im Senat:

"Ich wollte die Hälfte meines Lebens hingeben, auf dass so viel Menschen als möglich zum katholischen Glauben übergingen; doch wollte ich lieber mein ganzes Leben verlieren, als dass ein einziger Mensch dadurch leiden müßte ."

Einige Jahre zuvor schrieb Sigismund I. an den Papst:

" Laß mich so wie der Schafe, auch König der Böcke sein!" Und ums Ende des XVI. Jahrhunderts sprach König Batory : „Ich bin der Meinung, dass man den Glauben niemals durch Verfolgung oder Blutvergießen ausbreiten darf, und dass das menschliche Gewissen niemals mit Gewalt gezwungen werden kann."

Doch wurde dies Ideal der menschlichen Geistesfreiheit, das in Polens Blütezeit teilweise bereits verwirklicht worden war, wieder um durch den Strom von unten untergraben, der für die polnische Geschichte so kennzeichnend ist. So zerbröckelte die großartige Idee und wurde zum Zerrbild.

Hierauf aber folgte eine Genesung, die auf eine unglückselige “Nachtperiode“ zurückging: Gegen Mitte des XVIL Jahrhunderts, unmittelbar nach dem Dreißigjährigen Kriege (1618-1648), trat eine Verdunkelung des polnischen Staates ein. Von Nordwesten her kamen die Schweden, von Südosten die Kosaken und besetzten das Land. Wie eine Sturmflut kamen sie über Polen und löschten es aus. Selbst der König mußte flüchten.

Nur ein Kloster in der kleinen Stadt Czenstochau (in dem sich ein Wunderlbild der Madonna befand) blieb übrig. Dort hatte ein einziger Mann, ein schwacher, alter Priester mit Namen Kordecki . den Mut, sich zu verteidigen. Er wußte die Stadt so lange mit diesem Mut zu beseelen und sie Hunger und Entbehrung ertragen zu lassen, bis Czenstochau befreit wurde. Der König kehrte zurück; Czarnecki , ein mutiger Feldherr, verteidigte Krakau. Wieder erlebte Polen, nach dieser schweren, ja nötigen Prüfung, ebenso wie nach seiner Aufteilung in schwache Fürstentümer um die Mitte des XIV. Jahrhunderts, eine Auferstehung. Nach der kurzen Verdunkelung. nach der "Nacht“, kommt die Erhellung - der "Tag". Diesmal jedoch offenbart sich das Positive auf einer anderen Ebene. Die Aufgabe, die Polen jetzt erhält, ist anders, etwas weiter, mit dem Schicksal Europas stärker verbunden: ein Kampf für fremde Ideale, um andere Völker zu verteidigen oder sie zu befruchten.

1683 geht König Jan Sobieski mit Truppen politischer Freiwilliger nach Wien, um diese Stadt von den belagernden Türken zu entsetzen. Nichts verlangt er als Gegenleistung, was uns heutzutage als eine politische Torheit anmutet, aber tiefer besehen, den Keim einer übermenschlich großen Idee in sich enthält. Es ist ein Kampf des Westens für das Christentum und gegen die zerstörerischen Mächte aus dem Osten.

Noch ein anderer Mensch, der die europäische Gesittung mit christlichen Freiheitsidealen befruchtet, ragt aus der polnischen Geschichte dieses dritten großen Abschnittes empor:

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Kosciuszko , der 1770 im amerikanischen Freiheitskriege mitstreitet , dem man in den USA ein Denkmal errichtete und den man dort als einen nationalen Helden verehrt.

Für andere kämpfen, für neue, den anderen noch nicht voll bewußte Ideale sich einsetzen, ist die geistige Aufgabe dieser dritten Epoche. Wiederum etwas übermenschlich Großes, aber wieder zu weit in die Zukunft vorausgegriffen , denn während dieser Taten bricht Polen zusammen. Während es von außen strahlt, verfault es von innen. Die mutwillige Machtgier der Fürsten des ersten Abschnittes der polnischen Geschichte, die Selbstsucht der " Szlachta ", des kleinen Adels, Willkür statt Freiheit, geäußert im " liberum veto ", diese Dämonen der mehr unbewußten polnischen Seele steigern sich jetzt zu Nachlässigkeit und Bequemlichkeit und bringen Schwächen hervor. Außerdem hat man schon lange die Zusammenarbeit mit dem Kaufmannsstande vernachlässigt. Außer Kopemikus hat das städtische Leben in Polen bis zum 18. Jahrhundert keine großen Gestalten hervorgebracht, die das Denken befruchtet hätten. Polen begriff nicht die Stadt und ihre Bestimmung für die Gesittung, und dadurch entstand eine breite Lücke. So konnte denn der "untere" Strom der trägen, dunklen Seele ungehindert den "oberen' Strom zum Stillstand bringen; richtige, normale Kristallisation fand im Grunde nicht mehr statt.

Und doch hat sich noch einmal alles Aufbauende und Zielbewußte zu einer reifen Frucht konzentriert in einem Dokument, das man zurecht Polens Testament nennt. Dieses Dokument ist die Verfassung vom 3. Mai 1791.

Mit Recht wird dieser Tag etwa 150 Jahre lang als nationaler Festtag gefeiert. Mit dem Einbruch des Bolschewismus (1945) wurde dieser Festtag verboten. In für Polen gefahrvoller tragischer Zeit kamen damals (179 1) ein Dutzend Männer, hochstehend an Charakter und Kultur, zusammen: Malachowski , Kollataj u. a. und schufen die neue polnische Verfassung. Es wurden verschiedene Gesetze angenommen, die das freiwillig, ohne Revolution zur Ausführung brachten, wovon Rousseau und Lafayette träumten, und

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was in Frankreich nur nach viel Blutvergießen zustande kam. Ein kennzeichnendes Vorbild für die polnische Verträglichkeit. Eine Revolution war in Polen nicht möglich. Würde sie vielleicht jetzt eher möglich? Ich glaube nicht! Polens Seele wählt stets den ruhigeren Weg, aus einem gesunden Verstand heraus. Das polnische Volk liebt die Gewalt nicht, es ist von Natur aus mild. Wohl um seine Freiheit zu verteidigen, in der Verzweiflung, kann es desperat kämpfen. Damals am Ende des 18. Jahrhunderts war dieser Kampf wirklich auch ohne Aussicht: die etwa 20 000 Mann starke freiwillige Armee Polens gegen einige Hunderttausend gut trainierte russische, preußische und österreichische Soldaten!

Welche Umstände führten zu Polens Teilung und zum Verschwinden des polnischen Staates?

Natürlich kam man sagen, weil es kein Heer und keinen gut organisierten Landtag besaß. Es ist sicher nicht zu leugnen, und doch war die eigentliche, tiefere Ursache eine andere.

Während in Polen der Mensch und seine geistige Freiheit das Hauptziel bildeten und der Staat nur ein Mittel, war der Staat für die Preußen und die Russen das Hauptprinzip und der Mensch ihm völlig unterworfen.

Zwischen zwei so gegensätzlichen Geisteshaltungen konnte Polen als Staat nicht existieren.

Ich sage: Preußen, nicht Deutschland; Russisches Imperium und nicht: Russisches Volk. Beide Nachbarn Polens haben leider in der Geschichte stets ihre Schatten Polen zugewendet.

Um jedoch zwischen zwei Schatten zu stehen in einer selbstbewussten, ruhigen Geisteshaltung, war Polen mit seinem Ideal zu schwach, zu schwebend, zu kindisch. Erst in seiner letzten Stunde schuf es sich seine Verfassung und Kosciuszkos ergänzendes Manifest, das noch weiter als die Konstitution vom 3. Mai 1791 (die Abschaffung der Sklaverei!) ging. Doch es war zu spät. Das Ende der dritten Welle der Geschichte Polens war das Austilgen des polnischen Staates durch die Teilungen in den Jahren 1772, 1793 und 1795.

In den hier kurz geschilderten drei großen Zeitabschnitten unternahm Polen drei Versuche, etwas Hohes zu verwirklichen und etwas Niedriges zu überwinden. Äußerlich sind sie gescheiten.

Mit den polnischen großen Emigranten (der Westen kennt leider nur Chopin) zu Beginn des 19. Jahrhunderts erfolgte der vierte Versuch. Es blieb nämlich die Aufgabe: Polens Seele hinauszurragen und so andere Völker sichtbar und unsichtbar zu .“ befruchten“ mit der Idee: Es ist nicht genug, dass Christus in den individuellen Herzen seine Wohnung findet. Er sollte in den Beziehungen zwischen Völkern sich offenbaren; die Seelen der Völker haben als höchste Aufgabe, Christusträger zu werden. Etwas von diesem Messianismus kennt der Westen wie die großen Russen (Solowjoff z. B., auch Dostojewski u. a.). Die polnischen Dichter und Philosophen waren in dieser Hinsicht konsequenter und viel deutlicher. Es ist unmöglich, an dieser Stelle ausführlicher auf die drei Titanen der Dichtkunst einzugehen: Adam Mickiewicz, Juliusz Slowacki und Graf Zygmunt Krasinski und

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auch auf den großen Inspirator , den großen liebenden und so sehr im Geiste und auf der Erde aktiven christlichen Moralisten und Philosophen Andrzej Towianski . Würde man Frederic Chopin nicht nur als Musiker ansehen - er könnte als fünfter Prophet des Polentums gelten.

Adam Mickiewicz (1798 - 1855) kann man mit einem altjüdischeu Propheten vergleichen, der sein Volk mit einer übermenschlichen Stimme warnt und ihm die Wahrheit verkündet. Die Dramen und Gedichte dieser mächtigen Willensgestalt sind von der Stimme des Gewissens durchdrungen, mit der er sein Volk wachrütteln, will. In seinen "Büchern für polnische Pilger“ (die Pilger waren diejenigen Polen, welche nach Polens Fall ins Ausland, hauptsächlich nach Paris auswanderten) ermahnte er es, sein Ideal geistiger Kraft hier auf Erden zu suchen und mutig durchs Tal der Dunkelheit und der Schatten vorwärts zu schreiten. Er warnte seine Landsleute, weil sie zu viel in Traumgefilden umherirrten. Nur wenn sie hiervon abließen, würden sie eine Rolle in der Welt spielen können, ein neues Element, einen neuen christlichen Antrieb unter den Völkern darstellen. Mickiewicz sagt, der christliche Antrieb habe den Einzelmenschen bereits früher ergriffen, jedoch die Völker sind Heiden geblieben und müssen nun ihrerseits diesen Antrieb übernehmen. Es ist die Bestimmung der Völker, Leiden zu durchstehen und dadurch zum christlichen Antrieb zu gelangen. Polen ist das erste Opfer; es ist das erste Land, welches diesen Impuls verwirklichen und danach anderen Völkern in ihrer schwierigen Aufgabe beistehen muß. Gegen 1840 war Mickiewicz Professor für slawisches Schrifttum in Paris, wurde jedoch genötigt, von dort fortzugehen . Nun geht er zur Tat über und ruft Kampfscharen ins Leben. Ein aufs Irdische gerichteter Prophet war er, voll Liebe für die Menschen, einer, der die Gewissen weckt und zu Taten zwingt.

Juliusz Slowacki (1809 - 1849) war nicht so sozial engagiert wie Mickiewicz. Letzterer fühlte für Millionen, Slowacki war ein Einsamer, doch ein großer Seher dabei, so groß wie sonst niemand im ganzen Schrifttum der moderneren Welt. In einer dichterischen Schöpfung: „Genesis aus dem Geiste" spricht er über Mensch und Kosmos: wie der Mensch im All entstand, wie die Geburt des Geistes erfolgte, auch des bösen Geistes, wie die Verwandlungen der menschlichen Ur-Evolution, wie die feurige Liebe zu Freiheit antreibt. Slowacki , Prometheus des Polentums, wagte die Schwelle der geistigen Welt zu durchschreiten und die Tat in solche Worte zu kleiden, in solche Schönheit und Harmonie, dass der Leser es in voller Freiheit und Ruhe annehmen oder nicht annehmen konnte. Slowacki offenbart den Gedanken der Rückkehr des menschlichen Geistes zu einem neuen Leib nach seinem Tode, keine automatische Lebensrückkehr, sondern ein gemeinschaftlich gefaßter Entschluß freier Geister, die Erde nicht zu verlassen, bis sie zur Reife kommt, in voller Verantwortung also für die Zukunft unter der Leitung Christi. Slowacki unternahm viele Reisen. Man könnte ihn den Chopin der Dichtkunst nennen.

Zygmunt Krasinski (1812 - 1859), der feine Aristokrat, war ein Denker. Er schilderte die Zukunft der Menschheit und den drohenden Klassenstreit in seiner "Ungöttlichen Komödie". Er zeigt darin zwei Charaktere in ihrem Gegensatz: Graf Henryk , der die herzlose Phantasie verkörpert, und Pankratius, den Volksführer, einen herzlosen Denker (er denkt stofflich und zerlegend - siehe später den Marxismus). Krasinski sagt hier die Zukunft voraus, in der der Haß eine der wesentlichsten Triebfedern sein wird, bis er mit

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den Schlußworten dieses seherischen Dramas überwunden sein wird: "Du hast gesiegt- Galiläer!"

Wie am Schluß der "Ungöttlichen Komödie" Christus triumphiert, so zeigt Krasinski in drei großen Gedichten über Glaube, Hoffnung und Liebe, dass die menschliche Seele durch die Glut der göttlichen Liebe siegen kann und also das Böse zum Guten gekehrt wird. Sehr hohe Ideen sind es, die (ohne jeden Didaktismus ) in den Werken dieses großen polnischen Dichters aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hervortreten. In seinen denkerischen Werken wird Krasinski befruchtet von dem Hegelschen Gedanken der Dreieinigkeit der Kräfte von Gott, dem Vater, dem Sohn und dem Heiligen Geist - drei große Perioden der Geschichte. Krasinski hat jedoch den Geistbau Hegels mit Seelenwärme durchglüht.

So versuchten denn drei große Dichterpropheten Polens, die drei wesentlichsten Kräfte des Menschen zu erneuern: Mickiewicz den Willen, Slowacki das Sehertum im Fühlen (ohne Mystik!) und Krasinski das Denken.

Jedoch der große Geist, der alle drei mit hoher, bewußter Kraft erfüllte, war Andrzej Towianski . Von 1816 bis 1818 studierte er Philosophie in Wilna. Als Besitzer großer Ländereien befreite er die leibeigenen Bauern und leitete sie als weiser Erzieher brüderlich und väterlich. So gelangte er nach Aufgabe all seiner Besitzungen gegen 1840 nach Paris, um dort dem polnischen Emigrantentum eine geistige Botschaft von großer Tragweite zu vermitteln. Am 27. September 1841 sprach er nach einer Messe in Notre Dame von der Kanzel aus zu allen Polen. Zwar war er kein Priester, jedoch ein Mensch von solchem Format, dass die Kirche bei Towianskis Anknüpfung an den katholischen Glauben sich nicht sofort vorstellen konnte, dass die Lehre dieses bescheidenen, doch so weisen Mannes tiefer ging als der mehr naive Massenglaube und weitherziger war, als die damaligen theologischen Systeme. Mit seinen nächsten Schülern sprach Towianski über das Wirken der Hierarchien, von den Engeln und Erzengeln bis zu den Seraphim. Er sprach auch über die Aufgabe des Bösen, das den Menschen heimsucht, und welches das freie menschliche

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Ich mit Christi Hilfe in das Gute umsetzen muß. Auch sprach er über die Stufen der sittlichen Erfahrungen des Menschen, über den langen Kreislauf durch viele Geburten und Tode hin, den mühsamen Weg über stets erneute Fleischwerdungen (Opfer, dem Weg Christi folgend) bis zum Tage der Auferstehung. Dann erst würde sich der Menschengeist ein seiner würdiges Werkzeug, einen wieder auferstandenen, unvergänglichen Leib erschaffen können. Vor allem aber sprach er über die Mission des Alltäglichen, der Pflicht, der Liebe zu der schlichten Tat und auch über alle Formen der Liebe. Towianski hat diese Mysterien außer in intimen Gesprächen und Briefen nirgends sonst mitgeteilt. Er sagte: "Die Zeiten sind noch nicht so weit, dass man über Geheimnisse, der Masse unbegreiflich, ohne Schleier sprechen und schreiben könnte". Vieles ist aber später durch seine Schüler und Freunde im Druck erschienen.

Schon König Kasimir der Große hatte gegen Ende des 14. Jahrhunderts in seinem großen, in Friedsamkeit gegründeten und begründenden Gesetzbuch Kräfte zusammengefaßt , die in den folgenden vier Jahrhunderten Polens Führer inspirierten. So hat auch Towianski alle sittlichen und geistigen Antriebe, die den polnischen Charakter bis dahin unbewußter und unbestimmter erfüllt hatten, in Einheit und Gestalt gegossen. Er hat den göttlichen Strom, der seit dem 10. Jahrhundert zu verschiedenen Malen in die polnische Seele herabgeflossen war, weiter nach unten durchgeleitet und ihm ein festes Bett geschaffen. Er hat den Menschen mit seinen Aufgaben hier auf Erden versöhnen und ihm das Verständnis für seine auch noch so kleinen Alltagspflichten mm Bewußtsein bringen wollen. Die Erde wird einmal Gottes Garten, Gottes Leib werden, aber nur durch beständige Anspannung und Opfer der Menschen. Der menschliche Leib ist ein unersetzliches, wertvolles Werkzeug seines Geistes und Hülle seiner Seele, darf also nicht durch Askese geschwächt werden. Böse und blinde Leidenschaften müssen mit liebevoller Geduld allmählich in gute umgesetzt und nicht widerwillig und grausam unterdrückt und so vernichtet werden. Das Hohe muß dem Niedrigen dienen, so wie Christus-Jesus bei der Fußwaschung den Aposteln. Dieser dienende Liebesstrom von oben nach unten muß mit der ebenen Linie des brüderlich-menschlichen Verhältnisses und der Gemeinschaftsarbeit ins Gleichgewicht gebracht werden. Dieser sittliche Grundsatz bildet den Grundstein von Towianskis Lehre. Man kann ihn sich auch in der Form eines Kreuzes vorstellen, als zwei Ströme. die einander kreuzen mit dem Kreuzpunkt in der Mitte als Sinnbild der ins Gleichgewicht gebrachten menschlichen Seele. Der Brennpunkt ist das Ich: „…doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir .." (Paulus, Gal. 2/20)

Towianskis Weisheit und Sittenlehre sind erfüllt von Mäßigung, Unbeugsamkeit, Ehrfurcht vor der Freiheit und Liebe in ihren höchsten Äußerungen. Man darf von ihm sagen. dass er in einer für seine Zeit vollendeten Form in seiner Lehre das vertrat, was die eigentliche Aufgabe des polnischen Geistes allzeit gewesen ist und noch stets ist: die Ausgestaltung des Kreuzes.

(Fortsetzung in Teil II)

Stefan Lubienski

Die polnische Volksseele und die Anthroposophie

Teil 2

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Andrzej Towianski

Towianski lebte von 1799 bis 1878; er wirkte noch, als die großen Philosophen Polens ihre Werke schrieben:

August Cieszkowski (1814-1894), mit seinem Hauptwerk „Das Vater-Unser“(1), Hoene-Wronski(1778-1855), Ferdinand Trentowski(1808-1869), Karol Libelt (1807-1875) und andere.

August Cieszkowski

Sigismund von Gleich schreibt, Walter Kühne zitierend, über diese Philosophen das folgende: “Das Denken vermittels Meditation zu verdichten zu geistiger Anschauung oder Imagination und Intuition, oder zu steigern in religiöser Gefühls-Exaltation zur Inspiration, und hierdurch mit den kosmisch-hierarchischen Wesenheiten der Geisteswelt in Verbindung zu kommen, das ist immer wieder das höchste Streben der bedeutendsten polnischen Geister gewesen. Aber es ist ein Unterschied, ob diese Begeisterung die Folge des unmittelbaren Gefühles oder der bewußten Vernunft ist. In beiden Fällen kann ihr derselbe Inhalt zu Grunde liegen, das Höchste, das Absolute, Gott; aber es ist die Frage, von welcher Seite er zu helleren Anschauungen kommt. Von zwei Arten dieser Exaltation, der poetischen und der philosophischen, ist die letztere die besonnenere. Diese Seite der Begeisterung ist zwar in der neuen Philosophie nicht anerkannt, Cieszkowski aber ist es, der sie annimmt, nachdem auch Schelling sie als Anschauung, als eine angeborene Gabe, die nicht jedermann haben könne, behauptet hatte. Der Vorzug aber philosophischer Intuition ist es, dass man den lebendigen Inhalt mit der Vernunft erfaßt und somit denselben zu einem Werk, wirklich zu einem Evangelienbuch umgestalten kann. Die führenden der polnischen Philosophen wollten die Einseitigkeiten des Hegelschen Denkens dadurch überwinden, dass sie in das Denken den Willen hineinschickten, wodurch es zur Meditation wird und zuletzt zur `mystisch-aktiven Intuition´. Diese geistige Intuition vertrat eben Cieszkowski und auch Trentowski. Libelt dagegen versuchte eine `Philosophie der gestaltbildenden Vorstellungskraft oder Imagination´ aufzubauen und tastete sich sogar zur Inspiration vor. Der bloße Gedanke verdichtet sich zur inneren Geist-Wahrnehmung; aber hinter dieser `Imagination´ waltet als treibende Kraft die geistige

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Inspiration; indem sie mit ihrem `himmlischen Feuer´ die menschliche Vorstellungskraft berührt, verwandelt sich diese. Die Inspiration, sagt Libelt, ist das `Herabsteigen des Schöpfergeistes auf den menschlichen Geist´. Alle Liebe, alle Einweihung, alles Tun fließen aus ihr. Durch sie erleuchten sich alle Wahrheiten und erglänzen die Ideale der göttlichen Vollkommenheit. Darum ist Inspiration in der Religion, in der Wissenschaft, in der Geschichte das Prinzipielle. `Das polnische Volk´- schreibt Libelt - `war niemals zugänglich für die Abstraktion, für diese Gestaltlosigkeit der reinen Vernunft, welcher sich mit solcher Liebe der kontemplative Geist der Deutschen hingibt. In unserem Volke hatte immer das Gefühl für die Welt des mehr konkreten Schauens die Oberhand, so dass der Volksgeist Polens nicht zur Reflexion neigte. Wo auch immer die Tätigkeit des Geistes hervortrat, mußte sie plastischen Charakter haben´.“ Soweit Sigismund von Gleich.

Um Leid und Schwäche als Ausfluß der Uneinigkeit um das Jahrhundertende noch deutlicher aufzuzeigen, kam als letzter einer Zeit der Finsternis noch ein Prophet: der Maler und Dichter S.Wyspianski (1869-1907). Sein Werk bildete eine Warnung vor Mutlosigkeit und moralischer Spaltung. Er kam, den Geist seines Vaterlandes wachzurütteln. Er schrieb zahlreiche Dramen, darunter „Hochzeit“, das hunderte Male in Polen bis heute aufgeführt wurde, auch im Ausland: Wien, Paris u.s.w.

Der Dichter heiratet eine einfache Bäuerin (so fängt dieses Drama an). Alle möglichen Menschen sind eingeladen. Jeder kommt mit einem anderen Gefühl, oft mit kritischen Gedanken und mit Spott, bis sich aus den Gesprächen und dramatischen Verwicklungen etwas Drohendes kristallisiert: eine Gewissensstimme gegen den Schlamm der Alltäglichkeit und der Kleinlichkeit. Auch geistige Gestalten aus der Geschichte Polens kommen mit der vorwurfsvollen Frage: “Was tut ihr da? Warum so willenlos? Eure Seele liegt in tiefem Schlaf versunken.“ Endlich kommt als unerwarteter Gast eine Strohpuppe herein: Chochol. Um diese sehr wichtige Figur besser zu charakterisieren, werde ich Jerzy Braun zitieren, einen großen Denker und Schriftsteller der Jahre 1930-1940.

„Der Chochol ist eine Strohgarbe ausgedroschenen Getreides, die das polnische Landvolk auf seinen Hütten an den Giebeln der Strohdächer zu deren Schutz und Zierde aufsetzt. In solche Strohgarben werden im Winter auch Bäume und Sträucher zum Schutz gegen die Kälte gehüllt. In der Auffassung Wyspianskis repräsentiert der `Chochol´ das Element der Vergangenheit und der seelischen Erstarrung, - etwas, was bereits lebensunfähig ist und vernichtet, überwunden werden muß, um einer neuen schöpferischen Kraft Platz zu machen, sonst schleicht sich dort das Böse hinein und führt das Volk ins Verderben. Jene Garbe Stroh symbolisiert einmal das Leben (beim Erntefest), das andere Mal den Tod (ausgedroschen, leer). Neben dem `Chochol´, mit ihm im Streit, der junge ritterliche Jasiek, der ... mit seinem goldenen Horn das Volk zum Aufstand ruft. (eine trunkene Illusion dieser Hochzeit, ein Traum). So stehen im Gegensatz: das berüchtigte polnische `Strohfeuer´ und der dämonische Strohwisch, der den Bauern auf einer `gebrochenen falschen Geige´ vorspielt und sich gespensterhaft im Kreise herumdreht (alle sind wie bezaubert). Der Chochol singt:

`Du hattest, Tropf, ein gold`nes Horn,

Du hattest, Tropf, den Federhut,

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Dein Horn erschallt im fernen Wald,

Den Hut entriß der Sturm dir bald,

Der Strick blieb dir als einz`ges Gut!´

Umsonst verkündet der Hahnenschrei die Morgenröte, umsonst auch läuten die Glocken. - Auf der Bühne spielt sich das Mysterium der nationalen Verleugnung ab. ... Das Volk wird seiner historischen Sendung untreu, zu der es auserkoren war. Die Hölle Polens ist kein Flammenmeer: In schlaftrunkener Stille und Erstarrung ... funkeln die Augen der Pfauenfedern des `Bauernhelden´ Jasiek und sein Horn: Übermut-Strohfeuer und ... sein Gegensatz, sein Schatten: Trägheit, Mumifizierung! Das sind zwei Hauptsünden der polnischen Volksseele, die Wyspianski in allen seinen gewaltigen Bühnenspielen schildert. Übermut und Hochmut (Strohfeuer, sinnlose Bravour und Opfersucht) führt letzten Endes zu Anarchie, Trägheit ist die Quelle der Apathie, die in krassem Gegensatz zu dem angeborenen Triebe der Polen zur sozialen Betätigung steht. Durch Tätigkeit und Ordnung allein kann das polnische Volk seine Mission erfüllen: die Affirmation des ewig schöpferischen Lebens. Gegen diese Ideale eben spitzt der Teufel - als Dämon oder Chochol in den Tiefen der Volksseele verborgen - seine Hörner, während mehr im wachen Bewußtsein Jasiek sein Horn wohl spielt, doch läßt er den Wind dieses Horn samt dem Pfauenfederhut sich entreißen, so dass er in der kindischen Seele nur den Strick behält.“

Nach dem Ersten Weltkrieg, im November 1918, wurde Polen als selbständiger Staat befreit. Fand dadurch auch die wirkliche Befreiung statt, oder ist vielleicht nicht, zusammen mit dem polnischen Volksgeist, aus dem Grabe auch der polnische Dämon erstanden? - Der Dämon mit den zwei Gesichtern? -

Was kennzeichnet nun Polens Geist und Seele am meisten? Wie ist die Volksseele Polens wirklich beschaffen? Welches sind ihre Schattenseiten, ihre Schwächen?

„Wenn jemand an einen Polen die Frage richtete;“ schreibt Jerzy Braun, „welches die Zentralidee des Polentums sei, die alle Triebfedern des individuellen und Gesamtlebens der Polen in Bewegung setzt, so würde dieser gewiß antworten: die Freiheit.“ Tatsächlich ist die Freiheitsliebe in Polen bis ins Äußerste getrieben. Falls sie eine Besessenheit durch die Freiheitsidee wird, nimmt sie übertriebene Formen an, wird in Willkür entstellt und verursacht Anarchie. Die tiefe Intuition der polnischen Volksseele sucht eine Korrektur dieser übertriebenen Freiheitsidee in zwei Richtungen: Religion und Gemeinschaft.

Kennzeichnend nämlich für die polnische Psyche ist die Vereinigung persönlicher Freiheitsliebe mit tiefer Religiosität, die nicht nur dem Glauben, sondern auch der Gewißheit bezüglich der persönlichen Existenz Gottes entströmt. Der Pole strebt zur Freiheit deshalb, weil in ihm das Bewußtsein des Menschentums sehr stark entwickelt ist. Es lebt in ihm die Idee des nach dem Ebenbilde Gottes geschaffenen „ewigen Menschen“. So ist die Liebe für die Freiheit mit Selbstrespekt, mit Respekt für den andern und mit der Würde verbunden und ist dann nicht aus dem Punkt des „Ich“ erlebt, sondern aus dem Umkreis der idealen freien Gemeinschaft. Diese zu stiften unter Führung einer weisen Persönlichkeit war die schwierige Aufgabe Polens.

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Die großen Rechtswissenschaftler und sozialen Reformatoren (und Polen besaß deren viele) haben die Zusammenhänge gesucht: Freiheit verbunden mit Recht und bedingt durch Verantwortlichkeit. Sie haben sich auch gefragt, welche Bürden die Freiheit dem individuellen Menschen auferlegt, damit die Ordnung gesichert bleibt.

Adam Mickiewicz schreibt: “Nirgends in der Welt gab es Beispiele einer derartigen Sicherung

der persönlichen Freiheit. Die Konstitution Polens stellte sich aber von vornherein in eine

schwere Lage: sie forderte von den Staatsbürgern ununterbrochene und unerhörte

moralische Kraftanstrengungen, sie schien nur mit Menschen zu rechnen, die stets

großherzig wären oder sich um die Klugheit bewarben, die sich stets aufopferten oder zu

Opfern bereit wären.“

In allen Formen dieser idealen Verfassung des polnischen Staates kam der ganze polnische Individualismus zum Vorschein, der in jedem Akte der königlichen Gewalt (später des Präsidenten samt Parlament) ein Attentat auf sein Ich und seine Rechte zu sehen glaubte. Die Furcht vor einem „absolutum dominium“ verwandelte sich allmählich in die eifersüchtige Bewachung der Reinheit und Unverletzbarkeit dieser idealen Ordnung, die um ein Haar an Anarchie grenzte. Die in die Millionen gehende Masse des Adels kämpfte wie ein Löwe um diesen „Augapfel der Freiheit“ (Jerzy Braun), bereit, sich mit jedem Nachbarstaat gegen den eigenen König zu verbünden, wobei der Unterschied zwischen Rechtmäßigkeit und Hochverrat oft verkannt wurde.

Und die schöpferische Kraft, die dieses ideale System ins Leben gerufen hatte, versiegte (schreibt Jerzy Braun 1939), als alle ursprünglichen Tugenden durch Eigennutz, Hoffart, Mißbrauch, Gleichgültigkeit gegen das Schicksal des Staates und einen gedankenlosen Hedonismus ersetzt wurde. Es schlich sich der alte Dämon der polnischen Volksseele, die Anarchie und Trägheit in das bewußte Seelenleben und die Geistwirksamkeit Polens und ... bemächtigte sich des „Königtums der Mutter Gottes“, um es ins Verderben zu ziehen.

Umsonst erscholl (Mitte des 17.Jahrhunderts) die Stimme des begeisterten Predigers Piotr Skarga:“O du unzüchtiges Reich, dein Untergang ist nahe.“

Das Polen, welches allmählich in Unwissenheit und in allen Hauptsünden der Sachsenherrschaft versank (Mitte des 18. Jahrhunderts regierte in Polen die Dynastie der sächsischen Prinzen), ging rettungslos der Katastrophe seiner Teilungen entgegen.

Der europäische Westen blickte in staunender Erstarrung auf dieses beispiellose Schauspiel der polnischen Anarchie. Da er die inneren geistigen Triebfedern dieses Vorganges nicht erkannte, glaubte er, ihn mit Recht rücksichtslos verdammen zu können. Dafür mußte er aber die hier offenbarten Rechtsbegriffe (schon hier und dort erfaßt und verwirklicht in Polen) späterhin bei sich als den Grundsatz der Rechte des freien Menschen und Staatsbürgers unter den blutigsten Revolutionen von neuem gebären. War aber die Trinität Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit in der französischen Revolution verwirklicht? Trat sie dort nicht erst als ein Zerrbild auf? Und in Rußland? ...

Der politische Realismus Europas gebot, diese „ekstatische Katalepsie des polnischen Volkes“ erst zu vernichten, um sie später auszunützen. Die mächtigsten Nachbarn, drei große Staaten, warfen sich Ende des 18.Jahrhunderts von drei Seiten über das Land und

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rissen es in Stücke. Es sei hier wohl bemerkt (sagt Braun), dass diese blutige Kommunion ihnen aber nicht zum Guten gereichte.

Hat sich jedoch diese Tat nicht in einer Metamorphose wiederholt? Am 23.August des Jahres 1939: der Molotow-Ribbentrop-Pakt. Gemäß diesem Akte hat die russische Armee Stalins am 16.September 1939 die polnische Grenze überschritten (hinter dem Rücken des polnischen Heeres) und Adolf Hitler geholfen. So war Polen wieder geteilt, jetzt nicht in drei, sondern in 2 Teile und später (1945) durch das Verschieben von Grenzen (von Ost nach West) gezwungen, an der Teilung Deutschlands mitzuwirken.

Die Struktur der polnischen Seele ist von einer eigenartigen Polarität. Und ihr Streben ist das Suchen einer Waage (Gleichgewicht).

Vielleicht lebt sich kein Volk so polar aus wie das polnische. Nirgends in West- und Mitteleuropa verläuft die Geschichte in solchen plötzlichen Sprüngen. Stets aufs neue entsteht erst etwas wie ein Wunder, eine Eingebung von oben, die nach einer Weile der Auswirkung in einen Sumpf von Leidenschaft und Zwietracht versinkt. Ein Weg vom Übersinnlichsten zum Stofflichsten und Alltäglichsten. Und dies Spiel der zwei Gegensätze erscheint rhythmisch-periodisch stets aufs neue wie ein Wellenspiel des historischen Schicksals. Wieder und wieder kommen neue Sprünge, denn jeder neue Rhythmus, jede neue Welle setzt sozusagen mit einem Sprunge ein.

Diesen Verlauf, dies Spiel von Kontrasten kann man in allen möglichen Erscheinungen der polnischen Gesittung verfolgen, vor allem auch in den Früchten und Schöpfungen.

Bereits die einfachen Volkslieder bewegen sich zwischen zwei Gegensätzen: getragen, seherisch, schwermütig im ersten Teil, gehen diese Lieder und Tänze im zweiten Teil plötzlich in einen überschwenglichen Rhythmus, einen Strom von brausendem Leben über. Dabei sind die Gegensätze nicht nur Menschenschmerz und Menschenfreude, sondern wahre Mystik und irdischer Rausch.

Das Temperament der Polen ist auch eine Vereinigung von Gegensätzen: Feurigkeit und Verschwommenheit. Ein Übergewicht der Feurigkeit gibt Frohsinn und Heiterkeit, kindisches, schlichtes Gemüt; dagegen erzeugt das Umgekehrte Trauer und Schwermut. Ungeachtet der Heiterkeit (sie kommt eher in Tänzen und Liedern vor) ist das Leitmotiv der Kunst (auch Dichtkunst und Drama) nicht der Sonnenaufgang, sondern der Sonnenuntergang; auch nicht Lenz, sondern Herbst: November. Alle Schwellen-Entscheidungen des polnischen historischen Schicksals fallen mit dem Herbst zusammen.

Zwischen den zwei „senkrechten“ Strömen, dem von oben, der Begeisterung, und dem andern, dem von unten, dem Strom der unbewußteren Urkräfte und blinden Antriebe - zwischen ihnen liegt in der polnischen Seele eine Art von Leerraum, charakteristisch für die slawische Seele überhaupt. Doch ist dieser nicht etwa so groß wie bei den Russen.

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Adam Mickiewicz

Bei den Russen ist der Einschlag von oben, die erste sinkende Linie, eine Art gewaltiger Blitz, und das, was von unten dieser Linie entgegenkommt, eine wahrhaft blinde Urkraft. In der Mitte, in welcher sich diese beiden Linien begegnen müssen, befindet sich eine so riesige Leere, dass sie fast dem Nichts gleicht. Von „oben“ inspirieren die Russen mächtige, schwer zu erfassende Urideen; von „unten“ werden diese großen, übermenschlichen Ideen durch eine chaotische, blinde, grausame Urkraft untergraben, während - wie gesagt - in der Mitte vollständige Leere herrscht.

Um diese Leere auszufüllen, entlehnen die Russen dem Auslande alle möglichen Kulturformen, Systeme und Ideologien; stellen sie, sozusagen, in diesen Leerraum ihrer Volksseele als eine Art vorübergehendes Bindemittel oder Ersatz, der aber der russischen Volksart fremd bleibt, obwohl er zeitlich das Wachbewußtsein füllt.

Die Polarität, welche die polnische Seele mehr oder minder zerreißt, besitzt mildere Seiten, mehr ineinanderfließende Linien. Auch kommt es, wie wir das bereits darzustellen versuchten, in der polnischen Geschichte von Zeit zu Zeit zu Augenblicken echter und harmonischer Synthese, ja, zu geistiger Gestaltwerdung. Die übersinnliche, göttliche Inspiration wirkt sich in der polnischen Seele nicht so allhaft, großartig wie in Rußland aus (Solowjeff, Dostojewski). Sie tritt in Polen wie durch ein seelisches, milderndes Medium auf; das sonst blendende Geisteslicht scheint hier mehr durch eine Art Schleier; spiegelt sich in und äußert sich durch die Verstandesseele, die zugleich die Gemütsseele ist (Vgl. Rudolf Steiner). Darum vielleicht ist die Rückwirkung, der Widerstand des unteren Menschen, der niederen menschlichen Natur in Polen nicht so finster wie in Rußland; der gesunde Verstand hält das Unterbewußtsein im Zaum.

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Um jedoch die höhere, inspirierende Kraft besser zu charakterisieren, müssen wir hier noch die Aufmerksamkeit auf ein sehr eigenartiges Kennzeichen des polnischen Glaubenslebens lenken.

Wie zu Anfang bemerkt, war Polen im 10.Jahrhundert noch in seinen Kinderschuhen plötzlich aufgezwungen worden, sich inmitten eines recht grausamen und schwierigen Lebens zurechtzufinden und also seine himmlischen Träume von sich abzuschütteln. Dies junge Polen nahm dann das Christentum nicht als einen Antrieb auf, der von seinem göttlichen Stifter Jesus Christus stammte, sondern vielmehr sozusagen aus der „Hand“ seiner Mutter, der Madonna, die es vor dem allzu starken Lichte mit ihrem weißblauen Mantel beschirmte. Ein Kind unter den Völkern hatte noch lange eine Mutter nötig; Maria, an der Wiege des polnischen Volkes stehend, nahm in dessen Gefühl die Stelle eines Schutzengels ein, eine fast so bedeutsame Stelle wie Christus selbst.

Schon die erste dichterisch-musikalische Schöpfung aus dem ersten Jahrhundert des polnischen Reiches ist ein Hymnus an die Madonna, Bogarodzica, der dann die ganze Geschichte hindurch diesem Volke ein treuer Begleiter zu vielen seiner geschichtlichen Taten wurde. Die ersten Ritter und Heere Polens traten mit diesem Preislied auf die Jungfrau dem Feinde entgegen. Als im Jahre 1683 Sobieski mit seinen Eisenreitern wie ein Adler vom Kahlen Berg bei Wien auf den muselmanischen Halbmond, auf das große türkische Heer rings um Wien niederstieß, sangen alle polnischen Ritter und Krieger die „Bagarodzica“, das ewig-große Lied an die Heilige Jungfrau. Doch stand dies Lied nicht allein: Maria ist die Heldin unendlich vieler Lieder, Legenden und anderer Schöpfungen.

Der Madonna waren verschiedene Heiligtümer geweiht, an erster Stelle die Wunderbilder zu Czenstochau und im Ostrabrama-Dom zu Wilna. Mit einem kleinen Abbild dieser Maria von Wilna auf der Brust starb Marschall Pilsudski. Die Jungfrau, so denken Abermillionen von Polen, hat Polen so manches Mal aus der größten Gefahr wie durch ein Wunder gerettet, so zum Beispiel im Jahre 1656 bei Czenstochaus heldenmütigem Widerstand gegen den schwedischen Einfall, und im August 1920 bei dem Einfall des großen bolschewistischen Heeres. In der Litanei wird Maria in Polen nicht nur Königin der Engel, sondern auch der polnischen „Krone“ genannt. Im Monat Mai, der der Jungfrau geweiht ist, versammeln sich die Bauern nach Sonnenuntergang unter einem Marienbilde inmitten der Felder und Wiesen und singen unter der seltsamen Begleitung der gesamten Mai-Sinfonie der Natur - die Litanei der Maria.

So sieht man, wie das polnische Volk bis in die Tiefe seiner Seele mit dem Marienimpuls verbunden ist, aber ganz anders als die spanische oder italienische. In Spanien ist sie wie von Holz geschnitten, etwas straff, den Kultus impulsierend und die Kunst. In Italien ist sie die Mutter mit dem Kinde; eine himmlische Erscheinung in einem weiblichen Körper. In Polen ist sie die alle Seelen umhüllende göttliche Kraft. Hat sie etwas von der Pistis-Sophia der Gnostiker oder vom Ewig-Weiblichen (Goethe:“Faust“)? Ja, und nein!

So wie die Zukunftsaufgabe Rußlands ist, die Brücke zu dem Geistselbst zu schaffen - die Mission Polens würde den Lebensgeist, also das Leben schenkende Geistige, das aus der Sphärenharmonie wirkende, sich neigende Göttliche bis in die Verstandesseele sich spiegeln lassen, das Gemüt dieser Seele belebend und segnend. Da aber die Spannung

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zwischen Lebensgeist und Verstandesseele sehr groß ist, entsteht die Gefahr eines Kurzschlusses.

Eine aber geistgerichtete und zugleich tief in der Materie wurzelnde Frömmigkeit der Seele kann diese vor dem Kurzschluß schützen und ihr eine nötige Substanz des Geistigen geben. Die Schenkerin dieser Substanz ist eben die Königin der Engel, die Trägerin des Gottes-Wortes.

Die polnische Madonna ist also nicht nur eine Madonna der russischen Ikonen, eine „Mater Dolorosa“ der Tiefen; auch nicht die Vertreterin des Heiligen Geistes (Sophia des Solowjeff), sondern sie bringt aus den höchsten Höhen der Sterne, aus der Welt der Liebe einen Teil des Logos, aber nur so viel, als das individuelle Ich des Menschen in Freiheit aufnehmen und durch die menschliche Gemeinschaft realisieren kann, auch in voller Ungezwungenheit.

So füllt diese polnische Madonna das, was noch leer ist in der Volksseele. Sie hilft sozusagen dieser Seele, mutig im Zeichen der Geißelung zu stehen, zwischen einem Impuls aus dem Westen und einem anderen aus dem Osten, aber gleichzeitig auch im Zeichen der Kreuzigung, im Brennpunkt des Ich, zwischen „oben“ und „unten“, zwischen Himmel und Erde.

Zu Beginn dieser Arbeit bemerkten wir, dass die Dreieinigkeit in der westslawischen Götterwelt sich dadurch auszeichnet, dass in ihr zwischen den Gegenpolen: Weiß und Schwarz (der altpersischen Dualität), also zwischen Bielbog und Czernybog, der Gott der Mitte: Ham steht. Dieser bedeutet wörtlich „der Hemmende“, auch der Gott der Waage, des geistigen Gleichgewichts. Hinter diesem Bilde verbirgt sich aber viel mehr. Braun schreibt in seinem Aufsatz u.a.:

„Die intuitive Grundlage der polnischen Weltanschauung ist weder ein hinduistischer oder semitischer Monismus noch ein persischer Dualismus, sondern der Trialismus: die Polarisation und das Gleichgewichtssuchen.“

In der sozialen Philosophie ist das die gesuchte Brücke zwischen Idealismus und Realismus (Pilsudski spricht in seinen vielen Reden vom „idealistischen Realismus“). Es ist auch der Grundstein der polnischen Philosophie, die in der letzten Zeit sehr nüchtern ist und doch nicht materialistisch.(2)

Der polnische Glaube an die Unvernichtbarkeit des Lebens drückt sich keineswegs in Kontemplationen und der Flucht vor jeglicher Aktivität aus.

Die Welt erscheint dem Polen nicht als ein Trugbild. Im Gegenteil: als Motiv und Objekt seines schöpferischen Willens, als das reale und konkrete Gebiet seiner sozialen Tätigkeit und als Speise für seinen Verstand. Dem intensiven Gefühl seines „Ich“ entfließt das Bedürfnis seiner Geltendmachung im Leben, zugleich aber auch der Achtung jeglicher fremden Persönlichkeit und fremden Anschauung, was die Quelle der sprichwörtlichen Toleranz der Polen ist. Von da ist der Weg zu einem universalen Humanismus, der eben dem Polen eigen ist, nicht mehr weit. Der polnische Katholizismus ist frei von jeglichem

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Fanatismus und mystisch-ekstatischen Schwärmereien; er ist von Grund auf human, tolerant, allmenschlich („katholikos“).

Man meint, der polnische sogenannte Messianismus sei eine Reaktion der Volksseele auf die Katastrophe der Teilungen Polens. Diese Anschauung ist in gewissem Maße begründet. Jene gewaltige Erschütterung brachte aber nur solche Elemente der polnischen Psyche an die Oberfläche, die bereits in ihr vorhanden waren. Polen träumte nie von einer Weltherrschaft, dafür besaß es aber seit Urzeiten eine tiefe Sehnsucht nach einer Gemeinschaft des Geistes, nach dem Reiche Gottes auf Erden, verwirklicht durch Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit.

Da das polnische Volk keine Menschenherde, keine organisierte Masse, sondern eine freiwillige Gemeinschaft autonomer Individuen darstellen wollte, hat sein schöpferischer Gedanke weder den Homunkulus eines „Erdenparadieses“ noch das Golem-Monstrum des bolschewistischen Kollektivs, auch nicht einen Kasernenstaat mit absoluter Führerschaft zur Welt bringen können. Die Idee des „sozialen Vertrages“ eines Rousseau erschien ihm ebenfalls eine lügenhafte, einseitige Vorspiegelung, da sie das Gottesrecht aus dem Völkergesetz verbannte. Ebenso abstoßend wirkte auf die Polen die Idee eines sozialen Fortschritts durch revolutionäre Blutbäder. Die Intuition des mit der Göttlichkeit in Einklang gebrachten Menschentums, mittels der Mission einer Zusammenarbeit mit Gott auf Erden, das war und ist Polens Seele, in welcher Gottes Geist seinen Wohnsitz haben kann, wenn die brüderlich verbundenen Menschen Ihn frei, ungezwungen aufnehmen und versuchen zu verwirklichen.

Wir alle, Menschen der Gegenwart, sind Zeugen der Geburtswehen, in welchen die Menschheit liegt. Das „Kind“, das zur Welt kommen will, ist die wahre menschliche Gemeinschaft. Sie ist in erster Linie der Traum aller slawischen Völker. Jedesmal aber, wenn dieser Traum sich realisieren will, findet eine Mißgeburt statt - die Gemeinschaft wird als Zerrbild geboren.

Grab von August Cieszkowski

Nur freie Träger des „Logos“, des göttlichen Wortes, können die wahre Gemeinschaft in Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit verwirklichen.

Anmerkungen des Herausgebers:

(1) siehe dazu: Walter Kühne: „ Erlebnisse eines Polonisten “. Lohengrin-Verlag, Rendsburg (jetzt Tellingstedt)1995.

(2) siehe: Zbigniew Kantorowicz: Das philosophische Ideengut Polens . Bonn 1988.

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Schriften von Stefan Lubienski in holländischer Sprache:

De Evolutie van de Materie. 117 Seiten

Mens en Kosmos. 172 Seiten.

Erhältlich über

Stichting Stefan Lubeinski; Watersnip 11; NL-3755 Eemnes