luzifer als märchenonkel

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1 Horatio der Mulatte. Romantisches Drama in fünf Aufzügen. Nach H.C. Andersen, frei bearbeitet von Le Petit. Hamburg 1845. 2 Frederik Carl (Fritz) Petit, 1809–54. Fabula 46 (2005) Heft 1/2 © Walter de Gruyter Berlin " New York I. Aufsätze J o h a n d e M y l i u s , O d e n s e Luzifer als Märchenonkel Mit Hans Christian Andersens Märchen und Geschichten – er nannte sie bald Märchen, bald Geschichten, bald beides miteinander – ist es eine eigene Sache. Ursprünglich trugen sie den Untertitel „für Kinder erzählt“, später erschienen sie ohne diesen Hinweis auf ein Kinderpublikum, und alle haben sie zugleich – viele sogar ausschließlich – ein Publikum von erwachsenen Lesern oder Mit-Lesern vor Augen. Diese Doppelbödigkeit der Publikumsansprache spiegelt sich kaum in der tat- sächlichen Andersen-Rezeption wider, jedenfalls wenn man über die Grenzen seines Vaterlands hinausblickt, um sich einen Begriff von Andersens Stellung im literarischen Kreislauf zu bilden. Da ist Andersen meistens nur als Kinderautor und Märchenonkel zugegen, und er kann fast ausschließlich in dieser Eigenschaft das Jubeljahr 2005 begehen. Der so weltberühmte Andersen ist also für das ‚un- sterblich‘ geworden, was er eigentlich nicht sein wollte oder jedenfalls nicht so sein wollte. Mit dem Dichter Andersen verhält es sich wie mit dem gelehrten Mann in seiner Geschichte Skyggen (Der Schatten [1847]): Sein Schatten hat ihm das Leben genommen und die Prinzessin und das ganze Königreich gewonnen. Um den Dichter Andersen und das Ausmaß seines poetologischen Anspruchs auch in den Märchen und Geschichten als das zu erkennen, was sich darin als mitgestaltende Kraft verbirgt, kann man zentrale Aussagen aus anderen Werken Andersens heranziehen. Andersen war in vielen anderen Gattungen sehr produktiv, in Romanen, Reise- beschreibungen, in der Lyrik und im Drama. Unter seinen etwa dreißig Bühnen- arbeiten war Mulatten (Der Mulatte [verfaßt 1839, Erstaufführung und Druck 1840]) einer seiner größeren Erfolge. 1845 erschien dieses ‚romantische Drama‘, wie es im Untertitel hieß, in der deutschen Übersetzung 1 von Andersens Jugend- freund Fritz Petit 2 . Horatio, ein freigelassener Mulatte mit europäischer Bildung, aber – wie Andersen selbst – mit dem sozialen Zwiespalt als Geburtsmal, äußert sich im ersten Aufzug des Dramas (fünfter Auftritt) über den Dichter u.a. mit den folgenden Worten: Brought to you by | Heinrich Heine Universität Düsseldorf Authenticated | 93.180.53.211 Download Date | 12/13/13 4:43 AM

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1 Horatio der Mulatte. Romantisches Drama in fünf Aufzügen. Nach H.C. Andersen, freibearbeitet von Le Petit. Hamburg 1845.

2 Frederik Carl (Fritz) Petit, 1809–54.

Fabula 46 (2005) Heft 1/2© Walter de Gruyter Berlin " New York

I. Aufsätze

J o h a n d e M y l i u s , O d e n s e

Luzifer als Märchenonkel

Mit Hans Christian Andersens Märchen und Geschichten – er nannte sie baldMärchen, bald Geschichten, bald beides miteinander – ist es eine eigene Sache.Ursprünglich trugen sie den Untertitel „für Kinder erzählt“, später erschienen sieohne diesen Hinweis auf ein Kinderpublikum, und alle haben sie zugleich – vielesogar ausschließlich – ein Publikum von erwachsenen Lesern oder Mit-Lesern vorAugen.

Diese Doppelbödigkeit der Publikumsansprache spiegelt sich kaum in der tat-sächlichen Andersen-Rezeption wider, jedenfalls wenn man über die Grenzenseines Vaterlands hinausblickt, um sich einen Begriff von Andersens Stellung imliterarischen Kreislauf zu bilden. Da ist Andersen meistens nur als Kinderautorund Märchenonkel zugegen, und er kann fast ausschließlich in dieser Eigenschaftdas Jubeljahr 2005 begehen. Der so weltberühmte Andersen ist also für das ‚un-sterblich‘ geworden, was er eigentlich nicht sein wollte oder jedenfalls nicht sosein wollte. Mit dem Dichter Andersen verhält es sich wie mit dem gelehrtenMann in seiner Geschichte Skyggen (Der Schatten [1847]): Sein Schatten hat ihmdas Leben genommen und die Prinzessin und das ganze Königreich gewonnen.Um den Dichter Andersen und das Ausmaß seines poetologischen Anspruchsauch in den Märchen und Geschichten als das zu erkennen, was sich darin alsmitgestaltende Kraft verbirgt, kann man zentrale Aussagen aus anderen WerkenAndersens heranziehen.

Andersen war in vielen anderen Gattungen sehr produktiv, in Romanen, Reise-beschreibungen, in der Lyrik und im Drama. Unter seinen etwa dreißig Bühnen-arbeiten war Mulatten (Der Mulatte [verfaßt 1839, Erstaufführung und Druck1840]) einer seiner größeren Erfolge. 1845 erschien dieses ‚romantische Drama‘,wie es im Untertitel hieß, in der deutschen Übersetzung1 von Andersens Jugend-freund Fritz Petit2. Horatio, ein freigelassener Mulatte mit europäischer Bildung,aber – wie Andersen selbst – mit dem sozialen Zwiespalt als Geburtsmal, äußertsich im ersten Aufzug des Dramas (fünfter Auftritt) über den Dichter u.a. mit denfolgenden Worten:

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4 Johan de Mylius

3 „Der Mutter des Dichters J.L. Heiberg, der geistreichen, reichbegabten Frau Gyllem-bourg, bringe ich mit Hochachtung und Ergebenheit diese Märchen.“

4 Frau Gyllembourg starb 1856, Johan Ludvig Heiberg 1860.

„Des Haufens goldnes Kalb zu sein ist leicht,Bald wähnet der, es habe Dichter-Feuer,Wer Alltags-Szenen matt zusammenflickt,Das fade Alltagszeug, so hübsch vernünftig.Bald glaubt er gar, daß das Genie sich findeBei dem, der Äther will in Äther malen,Und nicht klar denken oder sprechen kann.Das Dunkle scheint der Weisheit tiefe Wurzel,Und sie verstehn, was selbst er nicht verstand.O, es ist leicht, Idol der Menge sein!Sie glauben, daß Genie bei dem recht strahlet,Wo Folianten sich durch Fleiß anhäufen?Für Offenbarung gilt die Pinselei,Ein echtes Bild der alten Ritterzeiten!Und glaubt mir, kehrten Todte hier zurück,Nicht einer würde sich darin erkennen,Viel weniger die Tage jener Zeit!Talent und Fleiß verschaffen einen Namen,Die Zukunft reicht ihm aber keine Kränze,Sein Ruf zerstiebt in Flocken und in Dunst.Man sei recht groß, sonst lieber niemals Künstler!Und glauben Sie, er steh’ im Sonnenschein?Die Pflugschaar seiner Zeit geht über ihn.Er spendet Licht und steht doch selbst im Schatten.“

Von diesem Zitat aus lassen sich vier Pfade in den Textbereich der Andersen-Märchen und -Geschichten verfolgen.

E r s t e n s wird hier ein Gegensatz von ‚mattem Zusammenflicken von All-tagsszenen‘ und angeblicher ‚ätherischer Genialität‘ entworfen. Beide Positionenwaren zu Andersens Zeit in der Literatur leicht erkennbar. Sein dänisches Publi-kum griff begeistert nach den sogenannten ‚Alltagsgeschichten‘ der Schriftstelle-rin Thomasine Gyllembourg, Mutter des führenden Ideologen und DramatikersJohan Ludvig Heiberg. Der Philosoph SÄren Kierkegaard war ein einverstandenerLeser der anonym erscheinenden Alltagsgeschichten, wie er es in der Einleitungzu seinem ersten Buch Af en endnu Levendes Papirer (Aus den Papieren einesnoch Lebendigen [1838]) und in der Schrift En literair Anmeldelse (Eine literari-sche Rezension [1846]) bezeugt hat. Andersen selbst hat Thomasine Gyllenbourgin der Widmung zu seinen Nye Eventyr (Neue Märchen [1847]) offiziell seineHuldigung dargebracht3, während er nach dem Tod von Mutter wie Sohn4 in dermetapoetischen Geschichte Lygtemzndene ere i Byen, sagde Mosekonen (DieIrrlichter sind in der Stadt, sagte die Moorfrau [1865]) diese ‚Kopenhagener-Suppe‘ boshaft kritisierte.

Demgegenüber wird im Zitat aus dem Mulatten das nur scheinbar Geniale inder ätherischen oder dunklen Poesie kritisiert, wobei Andersen auf zeitgenössi-

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5 Der Briefwechsel zwischen Hans Christian Andersen und Henriette Hanck wurde vonSvend Larsen herausgegeben und in der Jahresschrift „Anderseniana“ 1941–46 ge-

sche Phänomene der Romantik oder eher ihres Nachklangs (sowohl in Deutsch-land als auch in Dänemark oder gar Schweden) zielen könnte. Das hier eindeutigpositiv Bewertete, ‚klar denken oder sprechen‘, ist wohl kaum das, was man alsprogrammatische Forderung an das Werk eines Märchendichters stellt. Andersenhat sich aber zugunsten der Verbindung von Phantasie und Verstand geäußert.Am Schluß des Kapitels Jernbanen (Die Eisenbahn) in En Digters Bazar (EinesDichters Bazar [1842, deutsch 1843]) heißt es: „Im Reiche der Poesie sind nichtGefühl und Phantasie die allein Herrschenden, sie haben einen ebenso mächtigenBruder, er wird Verstand genannt, er verkündet das ewig Wahre, und darin liegtGröße und Poesie.“

Dem Alltagsrealismus gegenüber erhebt Andersen also die Forderung nachPoesie. Der Romantik und besonders dem Nachklang der Romantik gegenüberbehauptet er die Gleichwertigkeit von Verstand und Phantasie. Obwohl einersprudelnden Vorstellungskraft entsprungen, sind seine Märchen meistens in einerleicht wiedererkennbaren Wirklichkeit tief verwurzelt. Andersens Originalität alsMärchendichter liegt darin, daß er das Märchen der unbestimmten Vergangenheit(‚es war einmal‘) und dem tiefen, dunklen Wald oder dem Land hinter den blauenGlasbergen entrissen hat, um es in seine eigene Zeit zu verpflanzen. Programma-tisch heißt es am Eingang und Schluß der Geschichte Dryaden (Die Dryade[1868, eine Verwandlung von Den lille Havfrue (Die kleine Meerjungfrau, 1837)in eine Geschichte von der Weltausstellung in Paris 1867]): „Unsere Zeit ist diegroße Zeit des Märchens!“

Z w e i t e n s die Absage an die Mittelmäßigkeit und die darin enthaltene ulti-mative Forderung an den Künstler: „Man sei recht groß, sonst lieber niemalsKünstler!“ Ähnlich lautet es im Kapitel Liszt in Eines Dichters Bazar:

„Unsere Welt-Genies, wenn sie nicht blos[s] der Modeschaum aus der Brandung un-serer Zeitenentwicklung, sondern echte Geister sind, müssen die kritische Zerglie-derung aushalten können und sich hoch über das, was erlernt werden kann, erheben;sie müssen, jeder an seinem geistigen Platz, ihn nicht allein ausfüllen, sondern etwasmehr geben, – sie müssen wie die Corallen noch einen Ast dem Baume der Kunsthinzufügen, oder ihre Wirksamkeit ist keine!“

Dies ist nicht nur als eine Forderung an die Zeitgenossen zu verstehen. Es istvielmehr eine Forderung, die Andersen an seine eigene Kunst stellt. Als Roman-autor wollte er – in Dänemark – d e r E r s t e sein, wie er es in einem Briefvom 13. Mai 1836 der Odense-Freundin Henriette Hanck anvertraute:

„Ich will der erste [d.h. der beste] Romandichter in Dänemark sein! In meinem Kräh-winkel müssen die paar Seelen um mich herum erkennen, ich bin ein wahrer Dichter,wäre ich Französisch oder Englisch gewesen, dann würde die Welt meinen Namenhören; jetzt versterbe ich und meine Lieder mit mir, niemand [da draußen] hört sie imfernen, armen Dänemark.“5

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6 Johan de Mylius

druckt. Der zitierte Brief ist im Jahrgang 1942, S. 138–141 zu lesen. Das Zitat wurdevom Verfasser dieses Aufsatzes übersetzt.

6 So jedenfalls Georg Brandes in seinem Vorwort zur sogenannten ‚Weltausgabe‘ vonAndersens Märchen (1900); vgl. den Nachdruck in Bredsdorff, Elias: H.C. Andersen ogGeorg Brandes. KÄbenhavn 1994, 93–116, bes. 94–97.

7 Zu diesem Thema siehe de Mylius, Johan: Forvandlingens pris. H.C. Andersen og hanseventyr [Der Preis der Verwandlung. Hans Christian Andersen und seine Märchen].KÄbenhavn 2004.

8 3. Teil, Kap. 6. Das Zitat wurde von JdM übersetzt.

Man meint, Andersen hätte nur das eine Ziel gehabt, berühmt und gelobt zu wer-den6. Berühmt, allerdings, eher aber unsterblich, was einerseits in Verbindung mitseinem psychologisch-existentiellen Trieb nach Wiedergeburt7 zu sehen ist, ande-rerseits mit der Forderung, die im Bazar in Zusammenhang mit Franz Liszt undim Mulatten an die modernen Künstler überhaupt gestellt wird: etwas noch nieGesehenes zu leisten – oder das Recht, Künstler genannt zu werden, zu verlieren.

Man ahnt es wohl kaum da draußen in der großen Welt, wo Andersen aus-schließlich als Kinderautor berühmt ist, es verhält sich aber trotzdem so, daßebendiese künstlerische Ambition das stete Experimentieren an seinen Märchenund Geschichten vorantrieb. Nicht gleich von Anfang an, als er das Märchen-schreiben eher im Nebengeschäft betrieb. Bald aber wurde ihm das Einmalige inseinem persönlichen Zugang zu dieser Gattung bewußt, und besonders in denletzten Jahrzehnten seines Schaffens – nach 1850 – eröffnete sich ihm hier einwahres Experimentarium der Ausdrucksformen. In seinem Roman At vzre ellerikke vzre (Sein oder Nichtsein [1857]) läßt Andersen die Jüdin Esther sagen:

„Ich finde, daß die Märchen-Dichtung das weitgedehnteste Reich der Poesie ist [...]sie ist mir die Vertreterin aller Poesie, und wer es vermag, muß hier das Tragische,das Komische, das Naive, die Ironie und den Humor hineinlegen können und hat hiersowohl das Lyrische, das Kindlicherzählende als auch die Sprache des Naturbeschrei-bers zu seinen Diensten.“8

Wenn man nun dieses künstlerische Hoch- und über die Grenzen des schon Vor-handenen Hinausstreben als T h e m a in die Märchen und Geschichten hineinverfolgt, wird deutlich, daß für eine solche Selbstforderung ein Preis zu zahlenwar. Das Leben mit und für die Kunst erwies sich als ein Leben ohne Menschen-glück, ein Leben der Selbstopferung, des Selbstverbrennens oder gar des Selbst-verlusts. Nicht ohne wiederkehrendes Bedauern des nichtgelebten Lebens, aber zugleicher Zeit in offenem Bewußtsein der Unumgänglichkeit seiner Wahl.

Es läßt sich hier ein roter Faden von der Kleinen Meerjungfrau (1837) überPsychen (Die Psyche [1861]) bis zu Tante Tandpine (Tante Zahnweh [1872])ziehen. Das vieldeutige Märchen Die kleine Meerjungfrau – ein KunstmärchenAndersens, das teilweise von Fouqués Undine (1811) inspiriert ist – läßt sich u.a.als eine Darstellung des hinaufstrebenden Eros lesen (im Sinne von Platos Sympo-sion), ein Trieb in der Natur nach Seele, Unsterblichkeit, Vergeistigung. DieserTrieb aus der Tiefe nach dem Licht sublimiert die Sexualität, die er als Zündstoffzum Aufstieg benötigt. Die Meerjungfrau verwandelt sich zweimal, aus einem

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Luzifer als Märchenonkel 7

9 In einer Ausgabe Weimar 1912 ohne Angabe des Übersetzers.

vergänglichen Naturwesen in eine menschliche Person, aus Fleisch und Blut wie-derum in eine schwebende, geistige Gestalt. Für diese Verwandlungen ist aber einhoher Preis zu zahlen. Die erste Verwandlung kostet sie ihre Stimme; sie kannalso dem Prinzen, den sie liebt, ihre Identität, ihre Liebe und ihren Anteil anseiner Rettung aus dem Schiffbruch nicht erklären. Ihre innere Identität kann sichnur im Tanze äußern – sie hat den schwebenden Tanz einer Blase, die zugleichWasser und Luft ist, ihrem eigenen Doppelwesen und ihrem Lebensgang gleich.Der Liebesdrang muß aber stumm bleiben, und der Prinz wählt ein ihr vom Äuße-ren her ganz ähnliches Mädchen aus dem Kloster statt des Naturwesens aus derMeerestiefe. Schließlich opfert oder vielmehr tötet die Meerjungfrau ihre eigeneNatur (ihr wurde die Möglichkeit gegeben, in ihr ursprüngliches Element zurück-zukehren, dort 300 Jahre zu leben, um zuletzt als Schaum auf den Wellen zu ver-gehen), und durch den Tod erhebt sie sich dann ins Licht in einer neuen ätheri-schen Gestalt, um noch 300 Jahre dort weiterzustreben (ähnlich wie im Faust II,wo Fausts ‚Unsterbliches‘ sich dem Tod entreißt und in ein fortgesetztes Strebenerhoben wird, hier bei Andersen aber in romantisch-christlicher Umdeutung).

Unter vielen anderen Dingen läßt sich dieses Märchen als eine Geschichte überden Leidensweg des Künstlers verstehen. Auf Kosten des Menschenglücks wirdUnsterblichkeit angestrebt – ein bekanntes Thema in der Spät- oder ‚Post‘-Ro-mantik nach 1820. Eine nicht zuletzt in der Literatur des 20. Jahrhunderts bekann-te Variante dieses Themas findet man schon bei Andersen: den – hinter der la-chenden Maske – weinenden Clown. 1839 erschien eine Reihe von arabeskenhaftzusammengestellten Skizzen mit dem Titel Billedbog uden Billeder (Bilderbuchohne Bilder), in denen der Mond als Erzähler auftritt und jeden Abend dem armenjungen Maler im Dachzimmer von seinen Erlebnissen ringsum auf der Welt be-richtet. Der sechzehnte ‚Abend‘ des Bilderbuchs lautet wie folgt9:

„‚Ich kenne einen Polichinell‘, sagte der Mond, ‚das Publikum jubelt, sobald es ihnerblickt, jede seiner Bewegungen wird komisch, jede versetzt das ganze Haus in lau-tes Gelächter, und doch ist nichts darin berechnet, es ist wahre Natur. Als er noch alskleiner Junge mit den Knaben herumsprang, war er schon Polichinell; die Natur hatteihn dazu bestimmt und mit einem Höcker auf dem Rücken und einem Höcker auf derBrust versehen; sein Inneres dagegen, das Geistige, war reich ausgestattet. An Tiefedes Gefühls, an Elastizität des Geistes übertraf ihn niemand. Das Theater war dieWelt seiner Ideale. Hätte er einen schlanken und wohlgebauten Körper gehabt, sowäre er der erste Tragiker jeder Bühne geworden, das Heroische, das Große erfüllteseine Seele, und doch mußte er Polichinell werden. Selbst sein Schmerz und seineMelancholie vermehrten die komische Trockenheit seines scharfgezeichneten Ge-sichts und erregten das Gelächter des zahlreichen Publikums, welches seinem Lieb-ling Beifall spendete. Die liebliche Columbine war zwar freundlich und gut gegenihn, wollte aber doch am liebsten den Harlekin heiraten, es wäre doch gar zu lä-cherlich gewesen, wenn in der Wirklichkeit die Schönheit und die Häßlichkeit sichverbunden hätten.

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Wenn Polichinell recht verstimmt war, vermochte sie ihm ein Lächeln, ja sogar einherzliches Lachen abzuzwingen; zuerst war sie mit ihm so melancholisch, dann etwasruhiger, zuletzt aber von Heiterkeit erfüllt. „Ich weiß recht wohl, was Ihnen fehlt!“sagte sie, „ja! es ist Liebe“, – und er mußte lachen. „Ich und Liebe!“ rief er, „daswürde sich drollig ausnehmen! Wie das Publikum applaudieren würde!“ „Gewiß, esist die Liebe“, fuhr sie fort und fügte mit komischem Pathos hinzu: „Ich bin es, dieSie lieben!“ So etwas mag man wohl sagen, wenn man weiß, daß keine Rede davonsein kann. Der Polichinell sprang auch lachend hoch in die Höhe, nun war die Melan-cholie vergessen, und doch hatte sie nur die Wahrheit gesprochen. Er liebte sie, liebtesie heiß, wie er das Erhabene und Große in der Kunst liebte! An ihrem Hochzeitstagewar er die lustigste Figur, in der Nacht aber weinte er; hätte das Publikum das ver-zerrte Gesicht gesehen, es würde applaudiert haben. – Dieser Tage starb Columbine,am Begräbnistage wurde vom Harlekin nicht verlangt, daß er sich auf den Bretternzeigen sollte, – er war ja ein betrübter Witwer. Der Direktor mußte etwas recht Lusti-ges aufführen lassen, damit das Publikum nicht gar zu sehr die liebliche Columbineund den leichten Harlekin vermisse; deshalb mußte Polichinell doppelt ausgelassensein. Er tanzte und sprang mit Verzweiflung im Herzen, es wurde applaudiert und ge-jauchzt: bravo! bravissimo! Polichinell wurde herausgerufen. O! er war unvergleich-lich. – – Gestern Nacht wanderte der kleine Unhold allein zur Stadt hinaus nach demeinsamen Gottesacker. Der Blumenkranz auf Columbinens Grabe war schon ver-welkt; dort setzte er sich nieder – es war zum Malen – den Kopf auf die Hände ge-stützt, die Augen nach mir [dem Mond] gewandt; er nahm sich aus wie ein Monu-ment, ein Polichinell auf dem Grabe, originell und komisch! Hätte das Publikum sei-nen Liebling gesehen, gewiß würde es applaudiert haben: Bravo, Pulcinello, bravo!bravissimo!‘“

Das auf einmal Einverstandene und Distanzierte, Herzlose in der Schilderung desMondes ist die künstlerische Distanz Andersens zur eigenen Qual, die Qual, dieseine vielbewunderte und akklamierte Kunst als wohlverborgenen Zündstoff hat.Eine Frau, die zugleich Dichterin war, hat ihn durchschaut. Es war die Gräfin Idavon Hahn-Hahn, Autorin von Gedichten, Romanen und Reisebüchern, der er aufdem Rittergut Maxen in der Nähe von Dresden bei der Familie Serre begegnete.Eines Morgens während ihres gemeinsamen Aufenthalts auf Maxen schrieb sieihm die folgende Strophe, genannt Andersen, und datiert Dresden, den 14. Juli1844:

„Solch ein Gewimmel von Elfen und Feen,Blumen und Genien im fröhlichen Scherz;Aber darüber viel geistige Wehen,Aber darunter – ein trauriges Herz.“

Als vollgültige Kennzeichnung seiner Märchenwelt möchte man wohl kaum diebeiden ersten Zeilen dieser Strophe gelten lassen. Die beiden letzten aber – undüberhaupt die Gegenüberstellung von Scherz und Traurigkeit – sind ein scharf-sichtiges Porträt des Dichters Andersen. Nicht ohne Grund hat er die Strophe inseiner Autobiographie Das Märchen meines Lebens (1847) abgedruckt.

Das Thema, das wir hier als die zweite Spur verfolgen, das Thema der künstle-rischen Selbstforderung und deren Preis, klingt noch im Spätwerk Andersens mit.

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10 So in Thyra Dohrenburgs Übersetzung (Andersen, Hans Christian: Sämtliche Märchen1. Düsseldorf/Zürich: Artemis und Winkler Verlag, 61996). In der Manesse-Ausgabe(Andersen, H.C.: Gesammelte Märchen 1. Auf Grund älterer Übers.en hg. und z.T. neuübers. von Fl. Storrer-Madelung. Zürich: Manesse Verlag 71989) heißt die Geschichte„Das Heinzelmännchen beim Speckhöker“.

In der Sammlung Nye Eventyr og Historier (Neue Märchen und Geschichten[1861, mit der Jahreszahl 1862 auf dem Titelblatt]) findet man, was sich wohl ambesten als eine Novelle bezeichnen läßt, Die Psyche. Es ist die Geschichte voneinem jungen italienischen Künstler, einem talentierten armen Bildhauer, der sei-ne Schönheitsträume nie in eine endgültig befriedigende Form bringen kann.Immer zerstört er seine Entwürfe und fängt mit neuen Plänen und Versuchen wie-der von vorne an. Seine Freunde verspotten ihn für seine Träumerei und möchtenihn mit sich in den Strudel des Lebens und der heiteren Liebe ziehen. Erst als ersich in ein reiches und vornehmes junges Mädchen verliebt, gelingt es ihm, einWerk zu vollenden, eine Statue von ihr, die er ‚die Psyche‘ nennt. Er irrt sich aberverhängnisvoll in seinem Liebestraum, indem er das Mädchen und seine Kunstmiteinander verwechselt. Er weiß nicht – wie ‚der junge Mensch‘ in SÄren Kier-kegaards philosophischer Novelle Gjentagelsen (Die Wiederholung [1843]) –, daßsie nur ‚der Anlaß‘ ist und sein muß, ein Anlaß zur künstlerischen Selbstent-faltung. Statt dessen überrascht er das Mädchen mit Liebeserklärungen – und wirdschroff abgewiesen. Gleich danach möchte er die Statue zerschmettern, wird abervon seinen Freunden davon abgehalten. Sie ziehen ihn dann in ein lustiges Leben,wo er mit willigeren Frauen zusammengeführt wird – bis auch dies zerplatzt under in Ekel und Leere stürzt. Die Statue versenkt er dann in einen leeren Brunnen,worauf er sich selbst in einem Kloster als Mönch vergräbt. Aus seinen ganzenIrrungen und Wirrungen kommt nichts. Weder aus Kunst, Liebe noch aus demKlosterleben. Vielleicht doch zuletzt ein Funke von Glauben an die Unsterblich-keit, aber aus ihm selbst wird nach dem Tod, was immer war: eine Leere, die je-der Hoffnung spottet. Dann aber, mehrere hundert Jahre später, wird eine jungeNonne ebendort begraben, wo sich der Brunnen befand. Und als man ihre Grab-stätte bereitet, findet man im alten, längst verborgenen Brunnen die Statue: ‚diePsyche‘. Hier setzt schließlich die Verwandlung ein, die der junge Mann selbst alsSublimierung seines Liebestriebes hätte vollziehen sollen, das Absterben vom Le-ben und die Auferstehung in der Kunst. Ein Künstler, der wirklich einer sein will,muß einen hohen Preis bezahlen. Er bezahlt die Unsterblichkeit mit dem Lebenund mit der Liebe. Die Forderung an den Künstler ist also, daß er bereit sein muß,Leiden als unausweichliche Bedingung auf sich zu nehmen.

Je älter Andersen wurde, desto mehr verschärfte sich diese Grundforderung inseiner dichterischen Selbstreflexion. Sie kulminiert in einer seiner letzten, schonlängst nicht mehr als Märchen zu bezeichnenden Geschichten, die den Titel TanteZahnweh trägt. Schon zwanzig Jahre früher hatte sich Andersen mit dem wach-senden Materialismus der Zeit auseinandergesetzt, und zwar in der GeschichteNissen hos SpekhÄkeren (Der Wichtel beim Fettkrämer10 [1852]), in der der Krä-mer die Blätter aus dem Poesiealbum zum Einwickeln von Kaffeebohnen, Butter

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10 Johan de Mylius

11 Andersen 1996 (wie Anm. 10) 569.

und dergleichen benutzt. Der arme Student als Vertreter des Geistes rettet dasPoesiealbum. Das Licht, das aus dem Buch strahlt, macht großen Eindruck aufden kleinen Wichtel, der dann zwischen der Grütze beim Fettkrämer und derPoesie beim Studenten zu wählen hat. Und letzten Endes wählt er die Grütze:

„‚Ich werde mich zwischen beiden teilen!‘ sagte er [der Wichtel], ‚ich kann der Grüt-ze wegen den Fettkrämer nicht einfach aufgeben!‘ Und das war durchaus menschlich!– Wir anderen gehen auch zum Fettkrämer – der Grütze wegen.“11

In Tante Zahnweh greift Andersen nochmals dieses Motiv, den Umgang einesKrämers mit einem dichterischen Manuskript, auf und bettet es in ein anderesMotiv ein, das er schon 1829 in seinem ersten Prosabuch, Fodreise fra HolmensCanal til Dstpynten af Amager i Aarene 1828 og 1829 (Fußreise von HolmensKanal zur Ostspitze von Amager in den Jahren 1828 und 1829), benutzt hatte: derangehende junge Dichter, der von einer alten Tante bewundert und über alleMaßen ermutigt wird. Statt des Poesiealbums in der Geschichte vom Wichtel beimFettkrämer geht es hier um eine Selbstdarstellung des Studenten, eine Schilde-rung seines Alltags zwischen Kunst und Trivialität, eine Schilderung seiner herz-haften, aber zweideutigen Tante, seines unsicheren Wegs zur Dichtung – und sei-ner Flucht vor den Forderungen und Bedingungen, die an den wirklichen Dichtergestellt werden müssen und die in einer nächtlichen Vision der Kehrseite der süßlächelnden Tante Gestalt finden – sie erscheint ihm als eine Schreckgestalt, dieSatania infernalis oder Tante Zahnweh:

„Sie war es leibhaftig, Frau Zahnweh! ihre Fürchterlichkeit Satania infernalis, Gottbehüte und bewahre uns vor ihrem Besuch.

‚Hier ist gut sein!‘ summte sie; ‚die Gegend hier ist gut! sumpfiger Boden, Moor-boden. Hier haben die Mücken mit Gift im Stachel gesummt, nun habe ich den Sta-chel. Der muß an Menschenzähnen gewetzt werden. Sie schimmern bei dem da imBett so weiß. Sie haben Süßem wie Saurem getrotzt, Heißem und Kaltem, Nußscha-len und Pflaumenkernen! Aber ich werde an ihnen rucken und zerren, die Wurzel mitZugwind düngen, ihnen kalte Füße machen!‘

Es war eine entsetzliche Rede, ein entsetzlicher Gast.‚Aha, soso, du bist Dichter!‘ sagte sie, ‚ja, ich werde dich in alle Versmaße der

Qual hinaufdichten! Ich werde dir Eisen und Stahl in den Leib geben, an allen Ner-venfasern reißen!‘

Es war, als führe ein glühender Pfriem in den Backenknochen hinein; ich wand unddrehte mich.

‚Ausgezeichnete Zahnschmerzen!‘ sagte sie, ‚eine Orgel, auf der man spielen kann.Ein Mundharmonikakonzert, großartig, mit Pauken und Trompeten, der Pikkoloflöte,der Posaune am Weisheitszahn. Großer Poet, große Musik!‘

O ja, sie spielte auf, und furchtbar sah sie aus, wenn man auch nicht mehr von ihrsah als die Hand, die schattengraue, eiskalte Hand mit den langen, pfriemspitzen Fin-gern; jeder von ihnen war ein Martergerät: der Daumen und der Zeigefinger hattenKneifzange und Schraube, der Mittel-Zeigefinger lief in einen spitzen Pfriem aus, der

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Luzifer als Märchenonkel 11

12 Ebd., Bd. 2, 707–710.

Ringfinger war ein Bohrer und der kleine Finger eine Spritze mit Mückengift.‚Ich werde dich die Versmaße lehren!‘ sagte sie. ‚Großer Dichter muß großes

Zahnweh haben, kleiner Dichter kleines Zahnweh!‘‚Oh, laß mich ein kleiner sein!‘ bat ich. ‚Laß mich gar keiner sein! Und ich bin kein

Poet, ich habe nur Anfälle von Dichten, so wie Anfälle von Zahnweh! Geh! ach geh!‘‚Erkennst du es an, daß ich mächtiger bin als die Poesie, die Philosophie, die Ma-

thematik und die ganze Musik?‘ sagte sie. ‚Mächtiger als alle diese gemalten und inMarmor gehauenen Empfindungen? Ich bin älter als sie alle miteinander. Ich bindicht neben dem Paradiesgarten geboren, außerhalb, wo es windig war und diefeuchten Pilze wuchsen. Ich brachte Eva dazu, daß sie sich bei kaltem Wetter etwasanzog, und Adam ebenfalls. Du kannst glauben, im ersten Zahnweh lag Kraft!‘

‚Ich glaube alles!‘ sagte ich. ‚Geh! ach geh!‘‚Ja, willst du davon ablassen, Dichter zu sein, niemals Verse aufs Papier bringen,

auf die Tafel oder sonst welches Schreibmaterial, dann werde ich dich in Ruhe lassen,aber ich komme wieder, falls du dichtest!‘

‚Ich schwöre!‘ sagte ich. ‚Laß mich nur niemals mehr dich sehen oder spüren!‘‚Sehen wirst du mich, aber in einer fülligeren, einer dir lieberen Gestalt, als ich es

jetzt bin! Du wirst mich als Tante Mille sehen; und ich werde dir sagen: Dichte, meinlieber Junge! Du bist ein großer Dichter, der größte vielleicht, den wir haben! Aberglaubst du mir und fängst an zu dichten, dann setze ich deine Verse in Musik, spielesie auf deiner Mundharmonika! Du liebes Kind! – Denk an mich, wenn du TanteMille siehst!‘“12

Dann sinkt er in traumlosen Schlaf, alles aufgebend, das Dichten wie das alltäg-liche, triviale Leben. Nichts bleibt übrig, wenn er die Unsterblichkeit fahren las-sen muß. Er stirbt, und das unvollendete Manuskript mit Fragmenten seines Le-bens oder eben Nicht-Lebens endet im Mülleimer, dort, wo alles endet. Das istauch „das Ende der Geschichte – der Geschichte von Tante Zahnweh“.

Großer Dichter, großes Zahnweh, kleiner Dichter, kleines Zahnweh. Es ist einwiederkehrendes Thema bei Andersen, daß die Künstlerexistenz auf Kosten desmenschlichen Glücks gewonnen wird. Der Dichter zahlt mit persönlichem Lei-den. Die Meerjungfrau tanzt wie keine andere, schwebend wie eine Blase. Aberjeder Schritt schneidet ihre Füße wie scharfe Messer. Nur im Tanz kann sie sichausdrücken, sie kann kein Wort sprechen und verspielt deshalb die Möglichkeit,vom Prinzen als diejenige, die ihn einst gerettet hat, wiedererkannt zu werden undseine Liebe zu gewinnen. Ein Thema nicht nur bei Andersen, sondern auch beianderen Dichtern der Zeit, u.a. bei SÄren Kierkegaard, der als erstes Diapsalma inEnten – Eller (Entweder – Oder, Bd. 1 [1843]) den vom Publikum immer mißver-standenen Prozeß schildert, in dem inneres, verborgenes Leid in schön klingendeMusik verwandelt wird.

So ausdrücklich wie in Tante Zahnweh ist die Dämonie als Kehrseite der Hin-gabe an die Kunst nicht oft dargestellt. Dichtung als Selbstopferung ist jedoch vonAnfang an und bis ans Ende ein Merkmal von Andersens Selbstauffassung. Auchwenn es darum geht, seine Rolle in bezug auf die Zukunft der Dichtung überhauptzu bezeichnen. Und das ist hier ... d i e d r i t t e S p u r , die wir aus dem

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12 Johan de Mylius

13 Zitiert nach: Hans Christian Andersen. Märchen, Geschichten, Briefe. Hg. Johan deMylius. Übers. Ulrich Sonnenberg. Frankfurt am Main 1999, 335.

14 Andersen hatte früh, d.h. Mitte der 1840er Jahre, durch seinen Freund Franz Liszt Mu-sik von Wagner kennengelernt, besuchte 1855 Wagner in Zürich, und in seinem letztenRoman, „Lykke-Peer“ (Glückspeter [1870]), spielt Wagners Oper „Lohengrin“ eineRolle.

Monolog Horatios im Mulatten weiter in die Dichtung und das Denken An-dersens verfolgen wollen. Mit Horatios Worten heißt es da vom Dichter: „DiePflugschaar seiner Zeit geht über ihn.“ Was heißt das?

In einem Brief vom 15. Mai 1838 berichtet Andersen der Freundin HenrietteHanck in seiner Geburtsstadt Odense von seinen Gedanken über die Dichtung.Was ihm hier vorschwebt, ist eine noch nie gesehene Poesie, von der er hofft, daßer ihr wenigstens den Weg bereiten darf:

„Ich suche eine zu meinem Zeitalter passende und meinen Geist belehrende Dich-tung; ein ideales Bild schwebt mir vor, aber die Umrisse sind so unscharf, dass ich esselbst nicht deutlicher machen kann. Jeder große Dichter, so scheint mir, hat ein Or-gan, aber nicht mehr, zu diesem Riesenkörper gegeben. Unser Zeitalter hat seinenDichter noch nicht gefunden! Aber wann tritt er hervor? Und wo? Er muß die Naturso schildern, wie es Washington Irwing [sic] tut; die Zeitalter begreifen, wie WalterScott es konnte, singen wie Byron, und doch muß er unserer Zeit entsprungen seinwie Heine. Oh, wo wird dieser Messias der Poesie wohl geboren! Glücklich, wer seinJohannes werden darf.“13

Andersen späht hier eifrig nach einer noch nicht geborenen Dichtung, einer allesumfassenden Dichtung, die Ausdruck und Höhepunkt seiner Zeit sein soll. Erweiß wohl, daß er selbst nicht der erwartete Messias sein wird, läßt aber die Hoff-nung durchschimmern, daß er dessen Johannes der Täufer sein könnte. Dieser Ge-danke läßt ihn nicht los. Das Kapitel Liszt in Eines Dichters Bazar umreißt dieBedingungen einer Kunst in der modernen Zeit, d.h. im Zeitalter des Geldes, derGroßstädte und der Technik. Im Schlußkapitel seines poetischen Reisebuchs ISverrig (In Schweden [1851]) formuliert Andersen eine Zukunftsvision der Poesieunter dem Titel Das Kalifornien der Poesie (in Kalifornien fand damals ‚the gold-rush‘ statt – wo soll die Poesie ihrerseits das Gold ausgraben? das ist die Frage,die Andersen hier stellt und beantwortet).

Und dann im Jahre 1861, 23 Jahre nach dem zitierten Brief an Henriette Hanck,veröffentlicht er, was als eine ‚Geschichte‘ gilt, jedoch eher als ein lyrisch-musi-kalisches Essay aufgefaßt werden dürfte, Det nye Aarhundredes Musa (Die Musedes neuen Jahrhunderts). Da stellt er nochmals und eindringlicher als je zuvor dieFrage nach der Zukunftsdichtung (um an Richard Wagners Begriff ‚Zukunftsmu-sik‘ zu erinnern14), woher wird sie kommen, wie wird sie aussehen, welche Quali-täten muß sie haben? Lyrisch-ekstatisch schleudert er wiederholt die rhetorischenFragen hervor:

„Wann bricht das neue Jahrhundert der Poesie an? Wann läßt die Muse sich erken-nen? Wann läßt sie sich hören? / [...] / Wann leuchtet der Stern, der Stern auf der Mu-

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Luzifer als Märchenonkel 13

15 Andersen (wie Anm. 13) 348f.16 ebd., 345.17 ebd., 349f.

senstirn, die Blume, auf deren Blätter der Ausdruck des Schönen dieses Jahrhundertsin Form, Farbe und Duft geschrieben ist? / [...] / Wann wird die Fülle dieser Zeitkommen?“15

Das Messianische der poetologischen Zukunftsbeschwörung wird hier deutlich.Deutlich wird aber auch, daß Andersens leidenschaftliche Hoffnungen auf dieZukunft (hier wie auch auf anderen Gebieten) sich mit neuen und zweifelsvolle-ren Tönen vermischen. Die Gesellschaft entwickelt sich rasch in eine Richtung,die ihm Sorgen macht. Es ist eine geschäftige Zeit, in der die Poesie einem beina-he im Weg steht und man genau weiß, daß das ‚Unsterbliche‘, das die Gegen-wartspoeten schreiben, in Zukunft vielleicht nur noch wie Graffiti auf Gefängnis-mauern von einzelnen Neugierigen gesehen und gelesen wird16. Trotzdem fragtAndersen eschatologisch nach der ‚Fülle der Zeit‘ und antwortet selbst:

„Lange dauert es für uns, die wir noch hier zurück sind, kurz wird es sein für die,welche uns vorausflogen.

Bald fällt die chinesische Mauer; Europas Eisenbahnen erreichen Asiens verschlos-senes Kulturarchiv, – die beiden Kulturströme begegnen sich! Da erbraust vielleichtder Wasserfall mit seinem tiefen Klange, wir Alten der Gegenwart werden bei denstarken Tönen erbeben und darin einen Ragnarok, den Sturz der alten Götter verneh-men, vergessen, daß hienieden Zeiten und Völker verschwinden müssen und nur einkleines Bild von jedem, eingeschlossen in des Wortes Kapsel, auf dem Strome derEwigkeit als Lotosblume schwimmt und uns sagt, daß sie alle Fleisch von unseremFleische sind und waren, wenn auch in verschiedenem Gewande [...].

Sei gegrüßt, du Muse der Poesie des neuen Jahrhunderts! Unser Gruß erhebt sichund wird gehört, wie die Gedankenhymne des Wurmes gehört wird, des Wurmes, derunter der Pflugschar zerschnitten wird, während ein neuer Frühling leuchtet und derPflug Furchen schneidet, uns Würmer zerschneidet, damit der Segen für das neue,kommende Geschlecht wachsen kann.

Sei gegrüßt, du Muse des neuen Jahrhunderts!17“

Was sonst hier in diesem ekstatisch-lyrischen Essay als hohe Zukunftserwartungklingt, wird von Gegenstimmen gefärbt, die ihren pessimistischen Klang aus Neu-entwicklungen der Gesellschaft und des Zeitgeistes gewinnen: der ansteigendeMaterialismus, die Politisierung der Öffentlichkeit, die bürgerliche ‚Geschäftig-keit‘ (mit der sich auch SÄren Kierkegaard auseinandersetzt) und die daraus erfol-gende Gleichgültigkeit der Kunst und Poesie gegenüber. Darin begründet greiftAndersen hier auf das Bild zurück, das er schon 1840 im Mulatten, in Horatioshier zitierter Rede von dem Dichter oder Künstler, verwendet hatte: „Die Pflug-schaar seiner Zeit geht über ihn.“ Hatte er schon 1838 im Brief an HenrietteHanck einen stillen Zweifel daran, ob er selbst auch nur die Rolle des Vorläuferseines Messias der Poesie zu spielen hätte, hier 1861 stellt er sich als die Stimmedes Wurms in der Erde dar, des Wurms, der den Boden für das Kommende vorbe-

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14 Johan de Mylius

18 Wie Anm. 16.19 Als die beiden ersten Bände seiner Gesammelten Werke (Leipzig 1847–48) veröffent-

licht. Eine Jugendselbstbiographie, „Levnedsbogen“, wurde 1832 geschrieben, aber erst1926 wiederentdeckt und gedruckt (deutsch: Andersen, Hans Christian: Lebensbuch.Übers. Gisela Perlet. Düsseldorf/Köln 1993). Seine offizielle dänische Autobiographie,„Mit Livs Eventyr“ (Das Märchen meines Lebens), erschien 1855 in Kopenhagen.

reitet, selbst aber von der Pflugschar zerschnitten wird. Und von wem wird dieseStimme überhaupt gehört? Ist auch er einer von denen, deren Poesie „in Zukunftvielleicht nur noch wie die Kohleinschriften auf Gefängnismauern existiert, gese-hen und gelesen von einzelnen Neugierigen“?18 Zukunftsmusik – aber zugleichmit den düsteren Tönen einer poetischen Götterdämmerung, um es in der SpracheWagners auszudrücken.

Als Zusammenfassung von Andersens meta-dichterischen Überlegungen, diehier alle aus Horatios Monolog hergeleitet worden sind, bietet sich die Zeile an,die der mit den Worten von der ‚Pflugschar‘ vorangeht und die nun alsdie v i e r t e S p u r gelten darf: „Er spendet Licht und steht doch selbst imSchatten“ (in der dänischen Originalfassung: „Han spreder Lys og staaer dog selvi Skygge“). Dieser wichtige, aber in der Andersen-Forschung völlig unbeachteteSatz gilt dem Künstler und wird als Gegenstück zu der trivialromantischen Auf-fassung vorgeführt, der Dichter stehe im Sonnenglanz als Halbgott unter denSterblichen. „Er spendet Licht“ – diese dichterische Selbstspiegelung weist aufden Prometheus hin, der den Menschen das Feuer brachte, das er den Göttern ge-raubt hatte. Prometheus oder vielmehr: Luzifer, der Lichtbringer, nicht als mittel-alterlicher Teufel aufgefaßt, sondern als moderner Lichtgeist.

Hinzugefügt wird aber, er stehe selbst im Schatten. Physisch wohl eigentlichunmöglich, aber trotzdem ein beeindruckendes und suggestives Bild. Hier in die-sen wenigen Worten ist die ganze Modernität Andersens zu erkennen. Das Mes-sianische und zugleich das zutiefst Problematische der Stellung des Dichters –jenes Dichters, der wirklich einer ist, d.h. einer, der über die Grenzen des schonBekannten hinausgreift, der mitten in seiner Zeit steht, aber auf das noch nichtGesehene hinschaut – so wie sich Andersen selbst in seiner ersten öffentlichenSelbstbiographie Das Märchen meines Lebens ohne Dichtung (1847) darstellt19.Sein Aufstieg – ein Hauptthema dieser Selbstbiographie – erreicht den Höhepunktzum Schluß, wo er, ähnlich wie im Gemälde von Caspar David Friedrich, „DerWanderer über dem Nebelmeer“ (1818), in den Gebirgen von Vernet in die Zu-kunft oder vielmehr in das gelobte Land hinschaut.

In dem Reisebuch In Schweden beschwört Andersen im abschließenden KapitelDas Kalifornien der Poesie nochmals die Zukunft. Noch ohne jegliche Spur desPessimismus, der zehn Jahre später in der Muse des neuen Jahrhunderts seineStimme mitklingen läßt, aber unter Verwendung des Bildes vom Lichtboten, vomLuzifer. Hier stellt sich die Wahl zwischen den beiden Gestalten, Aberglaube(„die Stärkste im Reich der Romantik“) und Wissenschaft. Und von dem, was‚Wissenschaft‘ hier als verheißungsvollen Weg für den Dichter vorführt, wird zu-sammenfassend gesagt:

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Luzifer als Märchenonkel 15

20 Andersen, Hans Christian: Werke in Einzelausgaben: Reisebilder aus Schweden undEngland. Übers. Gisela Perlet. Hanau 1985, 158.

„So weit reicht dein Auge, so klar ist dein zeitlicher Horizont! Sohn der Zeit, wähle,wer dich begleiten soll. Hier ist deine neue Bahn! Mit den Größten, den Geschlech-tern deines Zeitalters fliegst du voran! Wie der funkelnde Luzifer leuchtest du in derMorgenröte der Zeit.“20

In vier Richtungen – die aber alle eng verbunden sind – läßt sich also aus Hora-tios Monolog im Mulatten ein anderes Bild von Andersen herleiten als das desgutmütigen Märchenonkels. Seine poetologische Selbstauffassung bietet ein tiefe-res Identifikationsbild dar, das des Lichtbringers, eines Luzifers der Zukunft. Vondem es aber zu Recht heißt: Er spendet Licht und steht doch selbst im Schatten.

Zusammenfassung

Hans Christian Andersens Stellung in der Weltliteratur, wie sie sich in der Aufnahme beimgroßen Publikum außerhalb Skandinaviens widerspiegelt, ist fast ausschließlich die desKinderautors oder sogar des harmlosen Märchenonkels. Aus Selbstäußerungen Andersenszu seinen literarischen Ambitionen und aus bekannten wie unbekannten Texten aus seinerProduktion auf dem Gebiet der sog. Märchen und Geschichten läßt sich aber eine messia-nische Poetologie herleiten, begleitet von Vorstellungen von Selbstopferung und nicht-kommunizierbarem Leiden: alles im Bild der Luzifer-Gestalt zusammengefaßt, des Licht-bringers, der selbst im Schatten steht. Darin werden Aufgabe des Künstlers und der Preis,den er zu zahlen hat, zugleich aber auch Zukunftserwartung und Untergangsstimmungausgedrückt, nicht zuletzt auch Andersens Hoffnung auf Grenzüberschreitung und Neu-geburt. Andersens Märchendichtung – und seine Auffassung der Dichtung überhaupt – hatdas romantisch-märchenhafte ‚Es war einmal‘ längst hinter sich gelassen und statt dessenden Blick auf Gegenwart und Zukunft gerichtet.

Abstract

Hans Christian Andersen’s position in world literature as perceived by the broad publicoutside Scandinavia is almost exclusively that of an author writing for children, even thatof a harmless storyteller. However, from Andersen’s own statements about his literaryambitions as well as from the ideas he expressed in well-known and lesser known textsfrom his production of so-called fairy tales and stories, a messianic poetology can be in-ferred, accompanied by conceptions of self-sacrifice and non-communicable suffering.This is summed up in the image of Lucifer the light bearer who remains in the shadowhimself, as a metaphor of the artist’s task and the price he has to pay, but also an expres-sion of future expectations and sentiments of decline, and not least Andersen’s hope forborder crossing and rebirth. Leaving behind the Romantic backward ‘Once upon a time’fairy tale setting, Andersen’s fairy tale poetry – and actually his conception of poetry ingeneral – instead looks to the present and the future.

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16 Johan de Mylius

Résumé

La position de Hans Christian Andersen dans la littérature universelle, telle qu’elle se re-flète dans sa réception chez le grand public en dehors de Scandinavie, est presque exclu-sivement celle d’un évrivain pour enfants, même d’un bonhomme qui conte. Pourtant, unepoétologie messianique, accompagnée par des idées d’auto-sacrifice et de souffrance noncommunicable découle des propres remarques d’Andersen sur ses ambitions littéraires ain-si que de textes connus et inconnus de sa production de contes et histoires. Tout se résumedans l’image de Lucifer, le porteur de lumière qui lui-même reste à l’ombre, métaphore dela tâche de l’artiste et le prix qu’il doit payer, mais qui reflète aussi une espérance d’aveniret un sentiment de déclin, et en fin de compte un espoir de passage de frontières et de re-naissance. Dans ses créations poétiques de contes – et sa conception de la poésie en géné-ral – Andersen a quitté depuis longtemps l’espace romantique et féerique d’un ‹Il y avaitune fois›. Au lieu, son regard se porte vers la présence et l’avenir.

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