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Märchen der Minangkabau Aus dem Indonesischen und dem Minangkabau-Dialekt von K.H. Neven

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Märchen der Minangkabau

Aus dem Indonesischen und dem Minangkabau-Dialekt

von

K.H. Neven

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Inhaltsverzeichnis

Einführung 5

Prinzessin Ganilai 19

Si Basus 37

Der Herr mit dem weißen Blut 61

Der goldene Drachen 78

Das rebellische Kind 109

Die Himmelsleiter 117

Saribunian und Alamsudin 127

Udin und die Meerjungfrau 148

Das Meer des Feuers 158

Die Prinzessin und der Palastwächter 172

Der Zauberfisch 181

Die Stadt der Götter 201

Scheich Abdul Rauf 216

Wie der Vulkan Maninjau zum See wurde 228

Die Geschichte von Malin Kundang 230

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Einführung

Dies ist eine Auswahl von Märchen aus der Welt der Minangkabau. Das Volk der Minangkabau ist vorwiegend in der Provinz West-Sumatra beheimatet. Es hat seine eigene Kultur und soziale Ordnung und genießt innerhalb des indonesischen Staates Sonderrechte. Das Leben wird noch nachhaltig vom Adat bestimmt, dem ungeschriebenen Gesetz der Sitten und Gebräuche. Eines der Hauptmerkmale dieses Adat ist das matrilineare System und die herausragende Stellung der Mutter. Der Besitz steht unter der Verwaltung der Mutter, und dieses Recht der Verwaltung wird auf die Tochter vererbt. Dadurch hat die Frau bei den Minangkabau einen ungewöhnlich großen Einfluss in der islamischen Welt. Mit fortschreitender Globalisierung verliert jedoch sowohl der Adat als auch die Religion zunehmend an Bedeutung.

Die Minang selber erzählen folgende Geschichte, wie sie zu dem Namen Minangkabau kamen: Einst wollte der

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König von Java Sumatra erobern, das damals für seinen Reichtum an Gold bekannt war. Er schickte seinen Sohn Adityawarman nach West-Sumatra, um dort den neuen Außenposten des mächtigen Madjapahit-Königreiches zu errichten. Den Bewohnern von West-Sumatra war schnell klar, dass sie gegen diese Armee keine Chance hatten, und schlugen deshalb Adityawarman einen Büffelkampf vor, um Menschenleben zu schonen. Das Duell der Wasserbüffel sollte den Sieger ermitteln.

Adityawarman ging auf den Vorschlag ein, besaß er doch einen Büffel, der viel größer und stärker war als jeder andere Büffel. Die Minang aber dachten sich eine List aus. Sie schickten ein junges Kalb in den Kampf, das drei Tage lang nicht gesäugt worden war, und dessen Hornstümpfe mit scharfen Eisendornen versehen waren. Der javanische Büffel erkannte das Kalb gar nicht als Gegner, während das kleine Kalb heißhungrig die Euter des Büffels suchte und dabei seinen Bauch aufschlitzte. Obwohl die Bewohner

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von West-Sumatra Adityawarman schließlich doch als ihren König akzeptierten, weil er ihren Adat respektierte, nannten sie sich stolz über ihre List und ihren Sieg „Minangkabau”, was übersetzt bedeutet: siegreicher Büffel!

Woher das Volk der Minangkabau ursprünglich stammt, ist nicht eindeutig bewiesen. Sehr wahrscheinlich stammen sie aber von jenen Menschen ab, die im Neolithikum von China aus ihre Spuren in Burma, Thailand, Laos, Kambodscha, Vietnam und Indonesien hinterließen. Diese Menschen segelten mit ihren „perahus” durch die Straße von Malakka und nach West-Sumatra. Sie waren exzellente Holzschnitzer, und von ihnen stammt wohl die charakteristische Form des Langhauses, das an ein „perahu” erinnert. Sie verehrten ihre Ahnen und die Göttin der Erde. Viel später erst geriet West-Sumatra unter hinduistischen, buddhistischen und durch arabische Händler unter islamischen Einfluss. Jedoch schaffte es keine dieser Religionen, die alte animistische Kultur gänzlich zu

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beseitigen, was am deutlichsten am matrilinearen System wird. Kaum ein Minang aber weiß heutzutage noch von einer Erdgöttin, weil sich diese Verehrung immer weiter sublimiert hat.

Viele Figuren in diesem Buch sind historische. Die wenigsten sind jedoch wissenschaftlich belegt, weil Geschichte früher nur mündlich überliefert und erst ab ungefähr dem 16.Jhdt. schriftlich festgehalten wurde. Eine Form dieser mündlichen Überlieferung war und ist das Saluang, bei dem Geschichten in Reimen und Sprechgesang vorgetragen werden. Dabei wird der Sänger gegebenenfalls von Flöte, Rabab (einem zweisaitigen Streichinstrument) oder von Trommel begleitet. In früherer Zeit reisten auch Geschichtenerzähler durchs Land, die die Geschichten den gespannten Hörern vortrugen, nachdem sie Weihrauch verbrannt und Mantras gemurmelt hatten.

Zu einem besseren Verständnis soll hier nun auf die Geschichte der Minangkabau aus Sicht derselben eingegangen werden.

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Vor langer Zeit lebte in Pagarruyung, der Hauptstadt der Minangkabau auf der Insel des Goldes, Suwarnadwipa, das ist Sumatra, eine Königin. Sie hieß Bundo Kanduang und war einst zusammen mit dem Universum erschaffen worden. Eines Tages entwickelte sie ein starkes Verlangen nach der elfenbeinernen Kokosnuss. So schickte sie ihren königlichen Diener Salamaik, den Vater von Cindur Mato, auf die Suche. Nach vielen Abenteuern fand der sie und brachte sie Bundo Kanduang. Die Königin teilte die Kokosnuss mit Salamaiks Frau, Kembang Bendahari. Nachdem die Königin von der Nuss getrunken hatte, träumte sie von einem alten Mann mit langen Bart und weißer Kleidung, der ihr sagte, dass ihr ein Sohn geboren werde, der Stellvertreter Gottes auf Erden, ein heiliger Mann, dem Ehre gebühre in der Welt der Minangkabau.

Dang Tuanku hatte keinen menschlichen Vater. Er war der Sohn von „Indo Djati”, dem göttlichen Prinzip.

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Bundo Kanduang blieb Jungfrau, da kein Mensch ihrer würdig war.

Cindur Mato hingegen war ein mehr menschliches Wesen. Er führte Dang Tuankus Wünsche aus und hatte seine eigene menschliche Form, aber er und Dang Tuanku teilten sich eine Seele.

Während Dang Tuanku über Fragen des Adat beriet, ging Cindur Mato zum Markt. Dort hörte er, dass Prinzessin Bungsu, Dang Tuankus Verlobte, einen rivalisierenden König heiraten sollte. Dieser König hieß Imbang Djajo und lebte in den östlichen Außengebieten. Dieser König hatte das Gerücht in die Luft gesetzt, Dang Tuanku lebte isoliert, weil er an einer bösartigen Krankheit litte. Diese Lügengeschichte war für Cindur Mato eine Beleidigung gegen den „Rajo Alam”, den König der Welt. Schnell kehrte er nach Pagarruyung zurück und erstattete Dang Tuanku und Bundo Kanduang Bericht.

Während sich die empörte Königin mit ihren Ministern beriet, die ihr zur Besonnenheit rieten, schmiedeten Dang

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Tuanku und Cindur Mato einen Plan, wie sie Puti Bungsu entführen könnten. Auf seinem Zauberpferd Sigumarang reitend und begleitet von Sibinuang, dem magischen Wasserbüffel, machte sich Cindur Mato auf nach Sungai Ngiang. Auf seinem Weg fand er verstreute menschliche Gebeine. Nachdem Cindur Mato verschiedene Zauberformeln gesprochen hatte, erzählten ihm die Schädel, dass sie einst Händler gewesen und von Banditen ermordet worden waren. Sie rieten Cindur Mato, seine Reise nicht weiter fortzusetzen. Dieser hörte jedoch nicht auf sie und wurde bald darauf tatsächlich von Banditen angegriffen. Aber mit Hilfe des magischen Wasserbüffels besiegte Cindur Mato sie. Die Banditen sagten ihm, dass der König Imbang Djajo selbst sie angestellt hatte, um sich zu bereichern und die Außengebiete vom Kernland abzuschneiden, und so seine Heirat mit Puti Bungsu zu sichern.

Durch Zauberei stiftete Cindur Mato auf der Hochzeitsfeier Verwirrung und

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entführte die Prinzessin. Auf der Flucht teilte er ihr mit, dass er sie nach Pagarruyung brächte, wo sie Dang Tuanku heiraten sollte.

Nachdem Imbang Djajo von der Hochzeit erfahren hatte, griff er Pagarruyung an und zerstörte einen großen Teil dieser Stadt mit Hilfe seines magischen Spiegels, bis dieser von Cindur Matos Pfeil zerbrochen wurde. Während sich Imbang Djajo auf einen neuen Angriff vorbereitete, schickten Bundo Kanduang und Dang Tuanku Cindur Mato nach Inderapura, einem anderen Teil des Königreiches, um Imbang Djajo keinen weiteren Grund zu geben, Pagarruyung anzugreifen. Dieser wandte sich nun an die Könige der zwei Sitze (König des Adat und König der Religion) und die vier Minister und forderte Gerechtigkeit. Doch gegen seine Erwartung verurteilten diese Führer Imbang Djajo selbst wegen Hochverrates am König der Welt zum Tod.

Als der Vater Imbang Djajos, Tiang Bungkuak, hörte, dass sein Sohn

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hingerichtet worden war, schwor er Rache. Dang Tuangku befahl Cindur Mato, gegen Tiang Bungkuak zu kämpfen. Sollte er ihn nicht besiegen können, müsste er sich ihm als Sklave ausliefern, damit Pagarruyung verschont bliebe.

Während sie auf den Angriff warteten, träumte Dang Tuanku von einem Engel, der vom Himmel herabschwebte und ihn anwies, zusammen mit Bundo Kanduang und Puti Bungsu diese Welt der Pestilenz und Mühsal zu verlassen. Dang Tuanku teilte diesen Traum Bundo Kanduang mit, und gemeinsam bestimmten sie Cindur Mato zum neuen Verwalter des Königreiches.

Am Tag der Schlacht konnte Cindur Mato den alten Krieger nicht besiegen und musste sich ihm als Sklave ausliefern. Im gleichen Moment sah man ein Boot zum Himmel aufsteigen, das die königliche Familie in das unbekannte Land trug.

Später gelang es Cindur Mato jedoch, Tiang Bungkuak zu bezaubern, indem er dessen großen Zeh mit sieben Knoten und

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sieben Kokosstöcken knebelte. Während Tiang Bungkuak in Trance war, offenbarte er, dass er nur mit Hilfe seines eigenen Krises getötet werden könnte. Und dieser Kris befände sich über dem mittleren Pfeiler des Hauses. Cindur Mato stahl den Kris und tötete Tiang Bungkuak. So wurde er Herrscher über das ganze Minangkabau-Land samt aller Außengebiete.

Währenddessen war Bundo Kanduang im siebten Himmel gestorben und betrat das Paradies. Dang Tuanku und Puti Bungsu hatten zwei Kinder, einen Jungen und ein Mädchen. Eines Tages kam ein Papagei mit Neuigkeiten aus dem Paradies. Die Kinder sollten wieder auf der Erde leben, denn Cindur Mato wäre inzwischen gestorben, und der Sohn, Sutan Alam Dunia, sollte der neue Herrscher der Minangkabau werden, während die Tochter, Puti Sri Dunia, die Königin von Rao werden sollte, einem Außengebiet des Minangkabau-Landes.

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Wohl kaum ein Europäer würde diese Geschichte als historische Tatsache gelten lassen wollen, sondern sie in das Reich der Sagen und Legenden verweisen. Aber diese Sagen sind auf Sumatra noch lebendig.

In diesem Buch wird zum Beispiel öfters der Name Mutter Rubiah erwähnt. Es heißt, der Geist der Erdgöttin Bundo Kanduang besetze Körper ihrer Nachkommen. Mutter Rubiah ist ein Nachfahre aus der königlichen Familie, in dem der Geist Bundo Kanduangs weilen soll. Noch heute gibt es in einem Dorf namens Lunang eine solche Mutter Rubiah.

Desweiteren sollen noch viele der in diesen Märchen kurz erwähnten magischen Praktiken bis heute angewandt werden. Und kaum ein Indonesier würde wohl die Welt der Dschinn (die Welt der Geister, Elfen, Feen…) leugnen, zumal ihre Existenz ja im Koran bezeugt wird. Es soll auf Sumatra Kampftechniken geben, die mit den Dschinn arbeiten, um

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beispielsweise einem Gegner Stöße aus größerer Entfernung zu verpassen.

Es wird also klar, dass im Gegensatz zum normalen Europäer, der Märchen vielleicht etwas Wahres oder einen tieferen Sinn zugesteht, für den Minang es wahre Begebenheiten sind, denen vielleicht im Laufe der Zeit etwas Unwahres hinzugefügt wurde. Dabei kann die Geschichte auch auf symbolischer Ebene wahr sein oder Prozesse des Unterbewussten widerspiegeln. Interessant sind dann natürlich Parallelen zu europäischen Märchen, wie zum Beispiel das Unverwundbarwerden nach einem Bad in Drachenblut sowohl bei Si Basus als auch bei der Siegfried Sage.

Doch auch in Indonesien schreitet die „rationale Entzauberung der Welt” mit großen Schritten weiter fort. Knatternde Hondas und Plastikmüll dringen selbst in die entlegensten Gebiete. Auch in Indonesien vernichtet der sogenannte Fortschritt unvorstellbare Schätze. Nicht nur die Urwälder brennen. Nicht nur viele

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Tierarten sterben aus. Hier gehen Welten zugrunde, wie sie für die menschliche Seele lebensnotwendig sind! Welten des Geistes, der Phantasie, des Unbewussten und Unterbewussten, des Magischen, des Rätselhaften, des Göttlichen! Schlüssel zur Selbstfindung gehen verloren, tiefes Wissen um psychische Vorgänge, Zugänge zu Ebenen, auf denen eins plus eins nicht unbedingt zwei ist, wo Traum und Wirklichkeit ineinander übergehen.

Wenige Minang wissen heutzutage noch um das komplizierte System des Adat. Und fragt man jüngere Leute nach Bundo Kanduang, werden die allermeisten nur mit den Achseln zucken. Genauso wie die traditionellen Häuser verfallen, verfällt auch die Kultur der Minang. Stattdessen halten Zement, Suzuki, Coca-Cola und Marlboro Einzug. Die Geschichten der Minangkabau, von denen die allerwenigsten in schriftlicher Form festgehalten wurden, fallen dem Satellitenfernsehen und Tom & Jerry zum Opfer.

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Prinzessin Ganilai

König Tua war mit Prinzessin Tamarah vermählt. Sie hatten einen Sohn, der hieß Ujang. Eines Tages sprach der König zur Prinzessin: „O mein Herz, Tamarah. Wir sind nun schon alt. Wenn wir sterben, wie wird es Ujang verkraften, wo er doch keine Schwester hat? Bitte gehe zum Ufer des Flusses, o meine Gemahlin, dorthin, wo aus den Bambusrohren das Wasser herausfließt. Nimm Puder und Limone mit und nimm dort ein Bad. Anschließend reibe dich mit den Limonen ein und bepudere dich. Dann kehre zurück zur Empore des Palastes.”

Die Prinzessin tat wie ihr geheißen und nahm ein Bad am Fluss. Nachdem sie sich mit den Limonen eingerieben und sich gepudert hatte, bestieg sie die Empore des Palastes. Dort verbrannte sie Weihrauch, und als ihr ganzer Körper in Rauch gehüllt war, betete sie zu Gott: „Oh Allah! Wenn ich wirklich eine Prinzessin bin und von guten Menschen abstamme, dann gewähre mir bitte eine Tochter.”

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Daraufhin legte sie sich schlafen.

Während sie schlief träumte sie, wie ein Scheich aus Mekka sich ihr näherte. Er trug einen langen Bart und weiße wallende Gewänder. In seiner Hand trug er eine wunderschöne duftende Blume. Eine Sehnsucht ergriff die Prinzessin, und sie nahm die Blume und aß sie auf. Die Blume schmeckte gar wunderlich, und ein sonderbares Gefühl durchströmte ihren ganzen Körper. Kurz darauf erwachte sie. Sie eilte zum König und erzählte ihm diesen sonderbaren Traum. Der König nickte zufrieden und meinte, der Traum wäre ein gutes Zeichen.

Bald schon wurde die Prinzessin schwanger und gebar schließlich ein Kind. Das Kind fiel bei der Geburt auf die Diele, und die Diele zerbarst. Es fiel auf den Dielenbalken, und der Balken zersplitterte. Es fiel auf die Erde, und die Erde sank ein. Dem Kind wurde sofort der Name Ganilai gegeben. Ihre Mutter hob es vom Boden auf, brachte es hinauf ins Haus und gab ihm eine siebenlagige Windel.

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Die Geburt war auch deshalb keine normale gewesen, weil das Kind mit Hemd und Hose, goldenem Schmuck und Ohrringen zur Welt kam. Und in den darauffolgenden Nächten leuchtete der Palast in einem hellen Lichte.

Nach zwei Wochen hörte König Aniaya die Nachricht, dass die Prinzessin Tamarah eine Tochter geboren hatte, und zwar mit Hemd, Hose und goldenem Schmuck. Er machte sich auf zum Palaste König Tuas, wo er erst mal vor Aufregung ein, zwei Zigaretten rauchte. Reis und Süßigkeiten wurden aufgetragen. König Aniaya nahm ein, zwei Happen, mit dem dritten hatte er bereits genug. So war es eben bei Königen Sitte. Dann rauchte er wieder und sprach: „O mein König Tua, vermählt mit Prinzessin Tamarah! Ich kam nicht ohne Absicht zu Euch. Ich habe die Neuigkeit von der Geburt Eurer Tochter erhalten. Ich habe auch gehört, dass Eure Tochter bereits mit Hemd, Hose und goldenem Schmuck zur Welt kam.”

„Jawohl, König Aniaya sind bestens informiert”, sagte König Tua.

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„Wenn es wirklich so ist, dann wird Euch vielleicht ein Unheil von diesem Kinde zugefügt. Der Palast wird vielleicht von Efeu überwuchert werden, der Reisspeicher stürzt vielleicht ein, und die Enten und Hühner werden vielleicht in alle Winde zerstreut werden. Deswegen dürft Ihr dieses Kind nicht leben lassen. Ihr müsst es aussetzen, wenn Ihr nicht elend werden wollt!” sagte König Aniaya und verabschiedete sich.

Nachdem König Aniaya gegangen war, fragte König Tua seine Gemahlin: „Was haltet Ihr von diesem Ratschlag? Wenn er recht hat, und die Geburt war nun wirklich außergewöhnlich, werden wir am Ende elend werden. Was tun wir jetzt?”

„Das habt Ihr zu entscheiden, mein König”, antwortete die Prinzessin.

Also nahm der König das Kind und brachte es in den Wald. Dort legte er es auf einen Elefantenpfad und deckte es mit Blättern zu. Dann kehrte er wieder zum Palast zurück.

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Bald darauf kam bereits ein Elefant den Pfad entlang gestapft. Aber einen knappen Meter vor dem versteckten Kind konnte er seinen Fuß nicht mehr heben. Die Prinzessin hörte den Elefanten kommen und rief ihm zu: „O alter Bruder! Bitte hilf mir und trete auf mich, damit ich sterbe. Ich bin ein Kind des Unglücks, sagen meine Eltern. Sie haben Angst, ich könnte ihnen Unheil bringen. Also bitte hilf uns und zertrete mich!”

Da sagte der Elefant: „O kleine Ganilai! Du bist ein mit Zauberkräften begabtes Kind. Ich kann dich nicht zertreten, selbst wenn ich es wollte, denn ich kann meinen Fuß nicht mehr heben.”

Und dann hob der Elefant das Kind behutsam mit seinem Rüssel auf und legte es an den Rand des Pfades. Ab und zu kam mal ein Elefant vorbei, der sich dann wunderte, dass hier so ein kleines Menschenkind friedlich vor sich hinschlummerte.

Am folgenden Tag kam Ujang nach Hause. Er hatte mit gleichaltrigen

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Freunden gespielt und wollte nun nach seinem Schwesterchen schauen. Aber das war nicht mehr da! So lief Ujang los, geradewegs in den Wald und den Elefantenpfad entlang. Und dort lag sein Schwesterchen, das ihn schon erwartet hatte und ihm freudig entgegenlachte. Ujang nahm sein Schwesterchen auf den Arm und trug es zurück zum Palast. Dort legte er es in seine Wiege und ging dann wieder zu seinen Freunden, um zu spielen.

Am nächsten Tag nahm der König erneut sein Kind und brachte es zu einem See, damit Ganilai von Krokodilen gefressen werde. Aber er legte es nicht einfach ans Ufer, weil er fürchtete, Ujang könnte wieder vorbeikommen und sein Schwesterchen finden. Stattdessen nahm er einen Stein, band ihn an den Hals von Ganilai fest und warf beide in den See. Dann kehrte er zum Palast zurück.

Kaum war Ganilai ins Wasser geworfen worden, kam auch schon ein Krokodil herbeigeschwommen. Doch statt das Kind zu fressen, biss es nur das Seil durch, mit

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dem der Stein am Halse von Ganilai befestigt war, und brachte das Kind wohlbehalten zurück ans Ufer. Wieder bat Ganilai, doch bitte getötet zu werden, aber das Krokodil wollte sie nicht fressen und gab vor, es hätte Angst, sich an ihren Knochen zu verschlucken.

Am folgenden Tag kam Ujang nach Hause. Er hatte mit gleichaltrigen Freunden gespielt und wollte nun nach seinem Schwesterchen schauen. Aber das war nicht mehr da! So lief Ujang los, geradewegs zum See. Und dort lag sein Schwesterchen, das ihn schon erwartet hatte und ihm freudig entgegenlachte. Ujang nahm sein Schwesterchen auf den Arm und trug es zurück zum Palast. Dort legte er es in seine Wiege und ging dann wieder zu seinen Freunden, um zu spielen.

König Tua war fassungslos. Legte er Ganilai auf den Elefantenpfad, wurde sie von seinem Bruder gefunden. Warf er Ganilai in den See, wurde sie auch von ihm gefunden! Nun rief er sein Volk zusammen, damit es Holz sammelte. Das

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Volk sammelte soviel Holz, dass der Stapel so hoch wurde wie eine Palme. Unter diesen Stapel legte König Tua die kleine Ganilai und zündete dann das Holz an. Es gab ein riesiges Feuer, und nur ein großer Haufen Glut blieb von dem Holz übrig.

Während der Haufen noch glühte, kehrte Ujang zurück nach Hause. Er hatte mit gleichaltrigen Freunden gespielt und wollte nun nach seinem Schwesterchen schauen. Aber das war nicht mehr da! So lief Ujang los, geradewegs zum Gluthaufen, und fing an, mit der Hacke in der Glut zu graben. Und dort lag sein Schwesterchen, das ihn schon erwartet hatte und ihm freudig entgegenlachte. Ujang nahm sein Schwesterchen auf den Arm und trug es zurück zum Palast. Dann sprach er zu seinem Vater und seiner Mutter: „Wenn ihr wirklich meine Schwester los werden wollt, so säugt sie erst sieben Tage lang, denn seit ihrer Geburt ist sie noch nie gesäugt worden. Später werde ich sie dann wegbringen, damit sie nicht mehr zurückkehrt.”

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Nach sieben Tagen sprach er: „Nehmt sieben Bananen und bindet sie zu einem Floss zusammen. Nehmt Reis und formt aus ihm sieben Klumpen.”

Man tat, wie er geheißen.

„Nun tragt meine Schwester zusammen mit diesen Sachen zur Meeresküste. Dort wartet, bis ich komme.”

Man tat, wie er geheißen.

Ujang holte noch seinen Kris und ein dreilagiges Tragetuch, bevor er den Leuten und seinen Eltern zum Strand folgte. Dort angekommen setzte er Ganilai auf das Bananenfloß, schwang sich selber auch hinauf und stieß von der Küste ab. Das Volk schaute ihnen noch eine Weile hinterher, bis ein jeder in sein Haus zurückkehrte. Auch König Tua und Prinzessin Tamarah gingen nachdenklich nach hause. Im Palast angekommen gingen beide schweigend in ihr Zimmer und blickten von dort noch lange auf das Meer. Doch Ujang war bereits mit seiner Schwester weit fort und nicht mehr zu sehen.

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Am nächsten Tag gab Ujang der Schwester einen Klumpen Reis und eine Banane zu essen. Am folgenden Tag gab Ujang der Schwester wieder einen Klumpen Reis und eine Banane zu essen. Und so fort, bis schließlich am siebten Tag alle Bananen aufgebraucht waren, und er Ganilai mit dem Tragetuch auf seinen Rücken band. Mit dem Kris erlegte er die Fische, die vor seinem Mund vorbeischwammen. Das war nun lange Zeit ihre einzige Nahrung.

Immer weiter und weiter schwamm Ujang. Monat wechselte mit Monat, Jahre mit Jahren, bis Ganilai allmählich zu schwer für Ujang wurde. Aber dann stieß er auf einmal mit dem Fuß an Korallenriff und wusste, dass es nun nicht mehr weit bis zur Küste sein konnte.

Schließlich erreichten sie wirklich Land, aber kein Mensch war dort zu sehen, sondern nur ein dichter Wald. Ujang und Ganilai ruhten sich erst einmal auf einen am Strand liegenden Baumstamm aus. So lange waren sie schon unterwegs gewesen, dass Ganilai inzwischen laufen

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konnte. Ujang war natürlich sehr erschöpft von der langen Reise und legte sich deshalb auf den Baumstamm, um zu schlafen.

Als er wieder erwachte, war seine Schwester nicht mehr zu sehen. Ganilai war vor lauter Freude, dass sie nun laufen konnte, immer weiter den Strand entlanggeschlendert. Plötzlich war ein großer Drachen aufgetaucht, der die Prinzessin sofort in einem Happen verschlungen hatte. Davon wusste Ujang natürlich nichts, und so lief er in den Wald hinein, um seine Schwester zu suchen. Einen Monat suchte er im Wald und vielleicht noch etwas länger, als er eines Tages das Krähen eines Hahnes vernahm. Er ging in Richtung dieses Krähens, bis er in dem Hof von Mutter Rubiah stand. Das aufgeregte Blöken und Meckern des Viehs weckte Mutter Rubiah, die gerade ein Nickerchen gehalten hatte. Im Hof sah sie dann diesen Jüngling, den sie, ohne lange zu überlegen, ins Haus bat. Dort gab sie ihm zu essen und zu trinken, und Ujang lebte fortan bei Mutter Rubiah.

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Einige Jahre später ging der Feldhüter des Königs Haron im Wald Hirsche jagen. Er ließ seinen Hund los, um die Hirsche aufzustöbern, aber obwohl er lange Zeit wartete, kam sein Hund nicht mehr zu ihm zurück. Da machte sich der Feldhüter auf die Suche nach dem Hund und fand ihn schließlich in der Mitte des Waldes, wie er eine wunderschöne Blume anbellte. Der Feldhüter wollte diese Blume pflücken, um seiner Frau ein schönes Geschenk machen zu können. Doch als er die Hand ausstreckte, wuchs die Blume plötzlich schnell in die Höhe und entzog sich seinem Griff. Den ganzen Tag versuchte der Feldhüter, die Blume zu erwischen, aber es wollte einfach nicht gelingen. Verdrießlich kehrte er heim und berichtete seinem König von dem Vorfall: „Der Hund ist wegen der Blume schon verrückt geworden. Immer wenn man sie pflücken wollte, wuchs sie in die Höhe, um hernach wieder einzuschrumpfen.”

Neugierig geworden zog der König los, um sich diese seltsame Blume zu betrachten. Es war wirklich eine

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wunderschöne Blume und ließ sich von ihm auch ohne Probleme pflücken. Er trug sie zum Palast und stellte sie an das Kopfende seines Bettes in eine große Vase.

Nachts, als der König schlief und süße Träume hatte, schlüpfte aus der Blume ein Menschenkind. Es lief in die Küche, fing an zu kochen und servierte danach die Speise vor dem Bett des Königs.

Der König war sehr erstaunt, als er am Morgen die Speisen entdeckte. Unmöglich, dass seine Frau die Sachen gekocht hatte, denn der König besaß gar keine Frau! Wie er so die herrlich angerichteten Dinge vor sich ausgebreitet sah, überkam ihn ein großer Appetit, und er schlug sich mächtig den Bauch voll.

Am darauffolgenden Morgen fand er schon wieder Speisen vor, ohne dass er gewusst hätte, woher sie gekommen waren. Also legte er sich in der dritten Nacht ins Bett und tat so, als ob er schliefe. In Wirklichkeit spähte er unter der Bettdecke hervor, und in der Mitte der Nacht sah er dann, wie sich die Blume

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öffnete und ein Menschenkind herausstieg. Als dieses zur Küche ging, um zu kochen, versteckte der König die Blume. Die Prinzessin konnte sich nun nicht mehr in der Blume verbergen. Sie blieb beim König ein, zwei Tage, und nach einer Woche heirateten sie.

Nachdem sie einen Monat verheiratet waren, wollten die Dorfbewohner eine Brücke aus einem Balken bauen. Aber der Balken ließ sich von den Leuten nicht ziehen, obwohl hunderte Menschen gleichzeitig daran zogen. Nicht einen Zentimeter ließ er sich bewegen! In der Nacht träumte man, dass man den Balken ziehen könnte, wenn man einen Menschen als Unterlage benutzte. Auf einem Menschen ließe sich der Balken bewegen.

Als der König von diesem Traume hörte, befahl er sofort, einen Fremden zu suchen, auf dem der Balken gezogen werden könnte. Die Leute strömten aus, auf der Suche nach einem Fremden, und kamen schließlich zum Haus von Mutter Rubiah, wo sie Ujang trafen. „Das ist der Fremde, den wir gesucht haben”,

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sprachen sie und brachten ihn vor den König, wo Ujang mitgeteilt wurde, dass er als Unterlage für einen Balken zu dienen habe.

„Gut, wenn ich eine Unterlage für einen Balken werden soll, dann bitte ich um Aufschub bis morgen früh”, sagte Ujang, und alle nickten zufrieden. Man brachte ihn aber trotz der morgigen Verabredung ins Verlies des Palastes, damit er es sich nicht doch noch einmal anders überlegte und flüchtete.

In der Nacht betete Ujang: „Oh Allah, wenn ich wirklich ein Königssohn bin und von guten Menschen abstamme, dann hebe bitte den Balken an seinen gewünschten Platz.”

Bitte ausgesprochen, Bitte erfüllt! In der Nacht hob sich der Balken an seinen vorgesehenen Platz und wurde eine Brücke. Das berichteten am nächsten Morgen die Dorfbewohner ihrem König, und der rief Ujang herbei und fragte ihn, woher er käme und wer seine Eltern wären.

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„Ich kam mit meiner jüngeren Schwester ins Land”, antwortete Ujang. „Wir wurden beide ins Meer ausgesetzt, weil der König Aniaya meine Eltern aufhetzte. Meine Schwester heißt Ganilai, und ich bin Prinz Ujang.”

Als die Gemahlin des Königs diese Geschichte hörte, fing sie herzlichst an zu weinen. Denn sie war niemand anderes als die verschollene Schwester, Prinzessin Ganilai! So lange war sie schon von ihrem Bruder getrennt gewesen! Prinz Ujang durfte deswegen den Palast gar nicht mehr verlassen und musste nun als Gast des Königs dort wohnen.

Nach zwei Monaten heiratete Prinz Ujang die Schwester des Königs, Prinzessin Terus Mata. Nach zwei weiteren Monaten sprach dann die Prinzessin Terus Mata zu ihrem Gemahl: „Wir sind nun schon einige Zeit verheiratet, desgleichen auch deine Schwester mit meinem Bruder. Gewöhnlich müssen doch die Schwiegereltern davon in Kenntnis gesetzt werden!”

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„Meine Eltern leben vielleicht gar nicht mehr”, antwortete Ujang.

Aber Prinzessin Terus Mata behauptete fest, seine Eltern lebten noch, denn sie könnte über das Meer blicken. Deswegen hieße sie ja Terus Mata, was soviel bedeutet wie ‚Gutes Auge’! So berieten sie sich mit dem König und Prinzessin Ganilai und kamen mit ihnen überein, die Eltern besuchen zu gehen.

Der König ließ sein bestes Schiff klarmachen, das hundertdreißig Meter lang und unsinkbar war. Er machte deshalb sein größtes Schiff klar, weil er seine Soldaten und Feldhüter mitnehmen wollte.

Am nächsten Tag schon stachen sie in See. Ungefähr fünfzehn Tage segelten sie, bis sie die heimatlichen Gestade von Ujang und Ganilai erreichten. Doch nur der König, der Prinz und die Prinzessinnen gingen an Land, die Soldaten blieben auf dem Schiff. Als sie die Veranda des Palastes erreichten, sagte Ujang: „Ich werde mit meiner Schwester alleine

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vorgehen. Ihr beiden anderen wartet solange hier.”

Der Palast war inzwischen mit Efeu überwuchert, der Reisspeicher war eingestürzt, und die Enten und Hühner waren in alle Winde zerstreut. Mutter und Vater klebten mit dem Kinn auf der Fensterbank.

Schnell trugen die beiden ihre Eltern zum Flussufer und badeten sie. Dann baten sie Gott, ihnen Güter zu erschaffen. Ein großes Haus mit allem Drum und Dran, mit Hühnern, Gänsen und anderem Vieh, das war alles, was sie sich wünschten.

Bitte ausgesprochen, Bitte erfüllt! Schon war alles an seinem Platz, und man holte den König und die Prinzessin Terus Mata, die bereits ungeduldig auf der Veranda gewartet hatten. Im Hause angekommen, wurde erst einmal ein Festmahl vorbereitet. Ein, zwei Tage feierten sie, und die Eltern kamen langsam wieder zu Kräften. Ujang wurde zum König gekrönt und blieb mit seiner Gemahlin Prinzessin

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Terus Mata bei den Eltern, während König Haron und Prinzessin Ganilai nach einem Monat wieder abreisten, zurück zu dem Land, aus dem sie gekommen waren.

Si Basus

Es war einmal ein armer Knabe namens Si Basus. Der lebte mit seiner Mutter in einer Hütte am Waldesrand. Jeden Tag ging er mit seiner Mutter Feuerholz suchen, und mit dem damit verdienten Geld ließ es sich mehr schlecht als recht auskommen. Eines Tages jedoch wurde die Mutter krank und konnte nicht mehr mit in den Wald. Si Basus musste nun alleine Holz suchen gehen und für zwei schuften.

Während er so in seine Arbeit vertieft war, hörte er auf einmal eine angsteinflössende Stimme: „Basus, kehre schnell heim! Deiner Mutter wird ein Unrecht getan!”

Erschrocken schaute Basus nach links und rechts, konnte aber außer großen

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Hölzern in dem Wäldchen nichts entdecken. Er stellte sich vor, seiner Mutter geschähe wirklich ein Leid, und eilig schnürte er sein Holz und machte sich auf den Heimweg. Sein Herz klopfte bis zum Halse, und fast flog er zurück zu seiner Hütte.

Von weitem sah er ein paar Männer, die auf dem Hof der Hütte standen. Sie sahen so aus, als ob sie auf ihn warteten. Als sich Basus sich ihnen genähert hatte, und er gerade fragen wollte, was sie hier zu suchen hätten, wurde er plötzlich ohne Vorwarnung von einem der Männer getreten, sodass Basus stürzte und das gesammelte Feuerholz über den Boden verstreut wurde. Mit all seiner Kraft versuchte er, wieder auf die Beine zu kommen, aber kaum stand er, als ihn erneut der Fuß des Mannes traf und ihn in den Staub warf. Aus seinem Mund quoll Blut hervor.

Während Basus sich das Blut wegwischte, stöhnte er: „Was haben wir getan, warum tut ihr uns das an?”

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„Wo habt ihr eure Schätze versteckt, rück schon heraus mit der Sprache”, schnauzte ihn der Mann an.

„Wir besitzen keine Schätze”, antwortete Basus. „Ihr wisst doch, dass wir arme Leute sind. Mit dem Erlös des Holzes können wir nur das Nötigste für den Tag kaufen.”

„Lüg’ uns nicht an! Ich habe deine Mutter gestern auf dem Markt Holz verkaufen sehen”, sagte der Mann und verließ zusammen mit den anderen Basus, der sich aufraffte und ins Haus eilte. Die Matratze und das Kissen waren zerrissen, und seine Mutter lag bewusstlos am Boden.

Die Banditen, die gekommen waren, um Basus und seine Mutter auszurauben, waren Leute, die jeden Tag um Geld spielten. Ihr Anführer hieß Pak Bawang. Allein sein Name flößte den Menschen im Dorf Angst ein. Er verkaufte Land, das ihm gar nicht gehörte, und verspielte hernach das Geld. Die Leute wussten zwar, dass es gar nicht sein Land war, das

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dort verkauft wurde, aber sie konnten nichts dagegen machen, denn wenn die Betroffenen das Land nicht kaufen wollten, bedrohte Pak Bawang sie. Kam ein Neuer ins Dorf, musste er Bawang Geld zahlen. Dieses Geld verspielte Bawang sofort wieder. Zahlten die Leute nicht, wurden sie kurzerhand von Bawangs Truppe zusammengeschlagen.

Es stimmte, Basus und seine Mutter hatten wirklich keine Schätze. Aber an diesem Tage, als Basus gerade in den Wald gegangen war, lief die Mutter zum Markt, um in ihrer Not einen Ring zu verkaufen. Der Ring war das einzige, was der Vater von Basus hinterlassen hatte, und es war das einzig Nennenswerte, was die Mutter besaß. Fälschlich hatte Bawang angenommen, die Mutter besäße noch eine Menge anderer wertvoller Dinge.

Drei Tage lang gingen weder Basus noch seine Mutter in den Wald, um Holz zu suchen, obwohl sie keine Vorräte besaßen. Gekochte junge Bananen waren ihre einzige Kost in dieser Zeit. Als Basus sich dann wieder etwas erholt hatte, ging

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er zum Laden von Mak Suma, einer guten Freundin der Mutter, um dort Reis oder etwas Geld zu borgen.

Gewöhnlich herrschte im Laden von Mak Suma reges Treiben. Aber heute war niemand zu sehen. Niemand saß dort und trank Kaffee, und die Türe war geschlossen. Basus klopfte, aber kein Mensch öffnete ihm. Als er durch ein Loch in der Wand spähte, sah er zwei blutverschmierte Körper in der Mitte des Ladens liegen. Aufgeregt berichtete er davon Vorübergehenden, und bald waren viele Dorfbewohner herbeigeströmt.

Als ein Mann aus der Nachbarschaft berichtete, er hätte in der Nacht Hilferufe gehört, hätte sich aber nicht vor die Türe getraut, weil er Männer von Pak Bawang vor seinem Haus gesehen hätte, brach man eiligst die Türe auf. Mak Suma und ihr Mann waren erschlagen worden und ihr Laden ausgeraubt.

Mit traurigen Herzen kehrte Basus zu seiner Hütte zurück. Er fühlte seine eigene Misshandlung immer noch, und nun war

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auch Mak Suma ein Opfer geworden. „Wie grausam die Taten von Pak Bawang sind!” sagte er sich und überlegte, auf welche Weise man diesen Grausamkeiten begegnen könnte.

Während er so im heißen Licht der späten Morgensonne dahinschlenderte, hörte er in der Ferne plötzlich eine Frauenstimme, die um Hilfe schrie. Basus rannte in die Richtung, aus der die Stimme kam. Nicht allzu weit entfernt entdeckte er hinter einem Gebüsch eine Frau, die gerade von Männern Pak Bawangs belästigt wurde.

Die Frau war Basus bekannt. Es war eine Witwe, die eine goldene Halskette und goldene Armreifen besaß. Diesen Schmuck trug sie stets, wohin auch immer sie ging. Und über diesen Schmuck fielen gerade die Männer her. Unter ihnen war auch der Mann, der vor drei Tagen Basus niedergetreten hatte.

„Wie gemein die Taten dieser Männer sind!” dachte Basus. „Ich muss der Frau

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helfen, auch wenn ich dabei sterben sollte!”

Heimlich näherte er sich den Banditen und sprang einen von ihnen von hinten an. Aber der wischte sich nur den Schweiß ab und sah Basus verächtlich an, während die anderen Basus umzingelten.

„Wie mutig, Basus, dass du dich in unsere Angelegenheiten einmischst”, sagte der Mann und sprang auf Basus zu, der jedoch so etwas schon erwartet hatte und rechtzeitig auswich, sodass der Mann nur noch in Luft stieß. Nun packten aber dessen Gefährten Basus jeweils an einer Hand, während der Bandit ihm in den Bauch trat, bis Basus verzweifelt und voller Angst nach seiner Mutter schrie. Die Witwe hatte die Gelegenheit jedoch genutzt und war fortgelaufen. Immer weiter prügelten die Banditen auf Basus ein, bis der schließlich blutüberströmt am Boden lag.

„Warum mischst du dich auch ein, Basus? Das hier ist nicht dein Geschäft”, sagte einer der Männer.

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„Natürlich habe ich mich eingemischt. Ihr seid alle Schurken! Ihr seid schlimmer als Tiere!” gab Basus mutig trotz seiner Schmerzen zurück.

Als das die Männer hörten, wurden sie nur noch wütender und zeigten nun gar kein Mitleid mehr. Sie schlugen immer fester zu und traten auf ihn ein, bis Basus schwer atmend mit dem Gesicht auf dem Boden lag und sein Bewusstsein verlor. Endlich ließen die Männer von ihm ab und machten sich von dannen.

Während Basus immer noch ohne Bewusstsein dalag, näherte sich ihm ein alter Mann, der mit einem weißen Hemd und einer weißen Hose bekleidet war, und der zu Basus sprach: „Habe Geduld, Basus. Irgendwann werden wir es ihnen heimzahlen. Aber jetzt stehe auf und nimm die Flasche mit Öl, die rechts neben dir unter der Palme steht, und reibe deinen ganzen Körper mit dem Öl ein.”

Dann verschwand der Mann wieder.

Basus kam langsam wieder zu Bewusstsein. Sein Bauch schmerzte

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fürchterlich, und er hatte das Gefühl, keinen einzigen Zahn mehr im Munde zu haben. Schemenhaft fiel ihm der alte Mann ein, der so freundlich mit ihm geredet hatte, und als er nach rechts blickte, sah er wirklich eine Palme. Mühsam raffte sich Basus auf und schwankte zu dem Baum. Wie erstaunt war er, als er dort wirklich eine kleine Flasche mit Öl fand! Und wie ihm vom Alten aufgetragen, rieb er seinen ganzen Körper mit dem seltsam duftenden Öl ein. Dann lehnte er sich an den Stamm der Palme und schloss die Augen, um weiter auszuruhen. Dabei hatte er das wunderbare Gefühl, seinem geschundenen Körper werde seine alte Kraft zurückgegeben. Bald schon erhob er sich und machte sich erfrischt auf den Heimweg.

Als er seine Hütte erreichte, fragte seine Mutter: „Wo warst du denn nur, Junge? Seit dem Morgen bist du unterwegs, warum kommst du erst jetzt?”

Basus hatte Angst, mit der Sprache herauszurücken, und sagte seiner besorgten Mutter, er käme geradewegs

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vom Hause Mak Sumas. Aber als er so sprach, schaute sie an und bemerkte, dass er nur noch ein paar Zähne im Mund hatte.

„Oh, Basus! Was ist mit dir geschehen?”

„Ach, Mutter! Ist nicht so schlimm! Ich bin von einem Rind auf die Hörner genommen worden, als ich auf den Heimweg war.”

„Mein Sohn, bitte lüge mich nicht an!”

„Nein, nein, Mutter! Es ist wahr! Ein Rind hat mich angegriffen, als ich von Mak Suma kam. Aber Mutter, etwas Schreckliches ist geschehen! Mak Suma und ihr Mann wurden ermordet, und ihr Laden ausgeraubt!”

„Was? Mak Suma ist tot?” stammelte die Mutter. „Das war bestimmt die abscheuliche Tat von Pak Bawang!”

„Ja, Mutter! Es war Pak Bawang! Aber warte nur, irgendwann werden wir es ihm schon heimzahlen!”

„Sohn, wünsche dir bloß nicht, die Sonne herauszufordern! Pak Bawang ist

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ein furchtloser Mann. Es gibt niemanden im Dorf, der sich ihm entgegenstellen könnte. Dein Vater hat sich das gleiche wie du gewünscht. Und er hat seine Freunde aufgefordert, ihm zu helfen. Bis jetzt ist er nicht mehr wiedergekehrt. Wer weiß, wo man ihn getötet hat! Nun wünschst du dir das gleiche wie er! Tue das bloß nicht! Wenn auch du stirbst, wer bleibt denn dann deiner armen Mutter noch?”

„Was? Vater wurde auch von diesen Banditen ermordet?” rief Basus empört. „Ich werde seinen Tod rächen und kämpfen, bis wieder Wahrheit und Gerechtigkeit in diesem Dorf herrschen! Fürchte dich nicht, Mutter! Glaube mir, wenn wir für die Gerechtigkeit kämpfen, wird Gott uns beschützen! Gott ist mit uns! Glaube es mir, Mutter!”

Aber die Mutter sagte nichts, sondern fischte nur weinend die Bananen aus dem kochenden Wasser.

Am frühen Morgen ging Basus in den Wald, um wie gewohnt Brennholz zu suchen. Auf seinem Weg traf er einen alten

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Mann, der vor Schmerzen stöhnte. Ein großes Geschwür war am Bein des Mannes zu sehen, und Würmer hatten sich bereits in der Wunde eingenistet.

Basus wurde von Mitleid erfasst, als er dies sah. Ohne lange zu überlegen verließ er den Mann, um Wasser zu suchen, mit dem er die Wunde reinigen könnte. Nicht weit entfernt fand er Wasser in einem Loch und füllte seinen Hut damit. Damit kehrte er zu dem Alten zurück und säuberte die Wunde. Dann verband er sie mit seinem Hemd und fragte den Alten, wie er überhaupt in diesen Wald gekommen wäre.

„Ich komme aus dem Dorf Barulak”, antwortete der Alte. „Ich bin bis hierher geflüchtet, weil mich Leute verfolgten, die mich töten wollten. Mein Bein wurde verletzt, als ich mit ihnen kämpfte. Seitdem habe ich das Dorf verlassen.”

„Haben Sie keine Familie mehr in ihrem Dorf?” fragte Basus.

„Nein, ich habe keinen einzigen Angehörigen mehr.”

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„Wenn das so ist, wollen Sie vielleicht in meiner Hütte wohnen?”

„Ist nicht nötig, Kind. Vielen Dank. Lass den Vater nur hier. Bin schon alt genug geworden. Lass mich ruhig sterben.”

„Aber Sie werden von wilden Tieren getötet werden, wenn Sie hier bleiben”, gab Basus zu bedenken, und eine Weile versuchte er, den Alten zu überreden. Doch der Alte blieb fest in seinem Entschluss, sodass Basus schließlich traurig den Alten verließ.

Er war noch nicht weit gegangen, da fiel ihm ein, dass er seinen Hut, mit dem er dem Alten Wasser gebracht hatte, liegengelassen hatte. Er kehrte also wieder um, fand den Platz jedoch verlassen vor. An der Stelle, an dem der Alte gesessen hatte, wuchs nun eine wunderschöne, stark duftende Blume. Und unterhalb dieser Blume lag sein Hut.

Basus wurde recht sonderbar zumute. War diese Blume etwa der Alte gewesen, den er behandelt hatte?

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Während Basus nun damit beschäftigt war, Holz zu sammeln, hörte er plötzlich das Brüllen eines Tieres. Erschreckt schaute sich Basus um, konnte jedoch nichts entdecken. Also sammelte er weiter Holz, bis er das schreckliche Brüllen wieder vernahm, diesmal schon näher als vorher.

Vorsichtig spähte Basus hinter das Gebüsch, aus dessen Richtung das Gebrüll gekommen war. Zu seinem Entsetzen sah er einen großen Tiger, der geradewegs auf ihn zueilte. Basus wich zurück und rannte los, so schnell er konnte. Aber so schnell er rannte, der Tiger verfolgte ihn immer weiter, bis Basus schließlich eine Höhle erreichte. In diese Höhle flüchtete er, um sich in ihr zu verstecken.

Damit ihn der Tiger nicht finden könnte, kletterte Basus auf einen Felsen im Inneren der Höhle. Doch noch ehe er begriff, was passierte, fing der Fels an sich zu bewegen und rutschte immer tiefer in die Höhle hinein. Basus war so erstaunt, dass er vergaß, von dem Felsen herunterzuspringen, der erst wieder zum

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Stehen kam, als er sich in unzähligen Spinnenweben verfangen hatte. Und plötzlich wurde aus dem Felsen ein Stuhl!

Basus glaubte zu träumen!

Und nun stand auch noch ein Riese vor ihm! Die Form seiner Zähne war ekelerregend, die Augen blinzelten abscheulich, und der Mundgeruch des Riesen nahm Basus fast den Atem. Zusätzlich grinste ihn der Riese auch noch hundsgemein an, als er Basus sah. Er ergriff Basus und öffnete dann weit seinen Mund, um Basus zu verschlingen.

Aber geistesgegenwärtig stach Basus mit dem Hackmesser, mit dem er normalerweise das Feuerholz spaltete, dem Riesen in den Mund. Der Riese schrie vor Schmerz laut auf und ließ Basus los. Aber gleich darauf versuchte er wieder, Basus zu packen, doch der entwischte ihm. Wütend griff der Riese erneut zu, aber sooft er auch versuchte, Basus zu ergreifen, er fasste jedes Mal nur in Luft, und der flinke Basus konnte jedes Mal dem Angriff des Riesen ausweichen.

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Bei dem Kampf fiel der Hut von Basus auf den Boden, auf den der Riese versehentlich trat. Und plötzlich verwandelte sich der Riese in den großen Tiger, der Basus ja schon verfolgt hatte.

Basus wusste selbst nicht, wie er es schaffte, dem Tiger jedes Mal aus den Klauen zu entwischen, und wie er es schaffte, die Kehle des Tigers zu packen. Doch wie er so die Kehle des Tigers gepackt hielt, verwandelte sich der Tiger auf einmal in ein großes Stück Holz.

Fassungslos ließ Basus das Holz los und ruhte sich erst einmal eine Weile vom Kampf und seiner Verwirrung aus. „Das gibt’s doch nicht, das gibt’s doch nicht!” kreiste es ständig in seinem Kopf herum. Als er sich dann ein wenig erholt hatte, machte er sich auf zum Ausgang der Höhle. Der Weg, den er gekommen war, schien aber nun in eine ganz andere Richtung zu führen. Und plötzlich sah er vor sich einen großen Drachen, der Feuer aus seinem Maul spie.

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Basus wich zurück und lief in den Gang, aus dem er gerade gekommen war, kam jedoch nicht weit, weil dieser Gang jetzt von einem Felsblocken versperrt wurde. Basus blieb nichts anderes übrig, als sich dem Drachen zu stellen. Mit seinem Hackmesser in der Hand und allen seinen Mut zusammennehmend, griff er den Drachen an. Es gab einen heftigen Kampf, aus dem aber Basus als Sieger hervorging. Der Drache lag tot im Staub.

Eine Stimme war zu hören, deren Klang Basus irgendwie bekannt vorkam: „Basus, öffne den Kopf des Drachen und bade in seinem Blut. Das Blut wird dich gegen jede Waffe unverwundbar machen.”

Basus gehorchte und versuchte, den Kopf des Drachen mit seinem Messer zu öffnen. Als er seinen ganzen Körper mit dem Blut eingerieben hatte, stand plötzlich ein alter Mann mit weißen Kleidern vor ihm, der ihn anlächelte und sprach: „Nun kehre heim, Basus. Deine Mutter ist in Gefahr. Benutze das Können, das du hier erworben hast, um die Gerechtigkeit wieder aufzurichten. Nimm

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diesen Stab, der dort in der Ecke lehnt und gebrauche ihn, wenn du von deinen Feinden umzingelt bist. Verwende ihn niemals, um anderen Unrecht zu tun.”

„In Ordnung, Vater! Ich werde alles nur gebrauchen, um der Gerechtigkeit zu dienen.”

„Gut! Dann reibe an dem Ring, den ich dir vorher gegeben habe. Erinnere dich, dies ist der Ring, den dir der Mann gegeben hat, den du behandelt hast.”

Und als der Alte dies gesagt hatte, verschwand er so plötzlich wie er gekommen war.

Basus schaute auf seine Hände, und wie erstaunt war er, als er an einem Finger wirklich einen Ring entdeckte. Er rieb den Ring an seinem Hemd, und auf einmal stieg Rauch aus dem Ringe auf. In seinem Herzen hatte Basus bereits den Entschluss gefasst, nach Hause zurückzukehren, und als der Rauch verschwand, stand Basus schon im Hof seiner Hütte. Er rannte ins Haus und in die Küche, wo niemand zu sehen war, aber wo Töpfe und Pfannen

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wie Kraut und Rüben durcheinander lagen, und das Werkzeug verstreut war. Basus überlegte einen Moment und lief dann zu Pak Bawangs Anwesen.

Von ferne sah man schon eine Menge Leute, die vor dem Haus Karten spielten, würfelten oder Hähne miteinander kämpfen ließen. Pak Bawang stand, mit den Händen auf die Hüfte gestützt, an dem Platz, wo gerade zwei Hähne kämpften. Basus mischte sich in die Menge und beobachtete Pak Bawang, der ganz in den Kampf vertieft schien. Als der Hahn von Pak Bawang schließlich den Bauch seines Gegners zerriss, und Pak Bawang voller Genugtuung sein gewonnenes Geld einstrich, sprach Basus: „Ganz schön mutig, dieser langfederige schwarze Hahn! Gibt es solchen Mut auch unter Männern?”

Als Pak Bawang dies hörte, drehte er sich in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Alle Augen richteten sich auf Basus. Für Pak Bawang war es nicht schwer zu erraten, mit wem er es zu tun hatte.

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„Ah, Basus! Du bist ja auch schon ganz schön mutig geworden! Oder sollte ich sagen übermutig?”

„Nicht gerade mutig! Aber hier scheint es ein paar Leute zu geben, die Lust auf ein wenig Körperertüchtigung haben!”

Langsam wurde Pak Bawang sauer. Auch die Umstehenden guckten bereits böse Basus an, der wusste, dass sie fast alle zu Bawangs Bande gehörten.

„Es lohnt sich nicht, dir zu antworten! Es reicht, wenn ich stattdessen diesem Stein antworte”, sprach Pak Bawang und versetzte einem großen Stein einen Fußtritt.

Als Basus sah, dass der Stein unter dem Tritt zu Staub zerbröselt war, sagte er: „Warum diesen wehrlosen Stein treten, wenn es auch etwas Beseeltes zum Erproben gibt?”

Pak Bawang befahl jetzt seinen Leuten, Basus einmal kurz durchzuprügeln, damit der Manieren erlernte und seine vorlaute Klappe hielt. Aber als sich die Männer auf Basus stürzten, warf der seinen Stab, der

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sich in ein Seil verwandelte und drei Männer gleichzeitig zusammenband.

Ein Mann zog seinen Kris und stach auf Basus ein, aber der Kris faltete sich und verschwand in Basus Körper, wo man nur noch ein metallisches Klingeln vernahm. Basus beobachtete den Mann aus seinen Augenwinkeln. Der Mann griff ihn mit einer speziellen Kampftechnik an, die Lintau-Silat genannt wurde. Basus wehrte geschickt den Angriff ab, und als der Mann nun mit seinem Bein zum Tritt ausholte, wich er ein wenig zur Seite, sodass der Mann vorbeitrat und durch die Wucht des Trittes selbst zu Boden stürzte. Basus bearbeitete ihn jetzt seinerseits mit seinem Fuß, bis der Mann in seiner Verzweiflung nach seiner Mutter rief.

Dieser Mann war der mutigste aus der ganzen Bande Pak Bawangs, aber wie man sah, konnte er gegen Basus nichts ausrichten. Pak Bawang, dem klar wurde, dass Basus über geheimes Wissen verfügte, versuchte nun auch Magie anzuwenden. Er streckte seine Hand

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gegen Basus aus, solange, bis Basus Blut aus jedem seiner Haare treten sah.

„Er hat einen Fernzauber benutzt”, dachte Basus mit Schrecken, während Pak Bawang in schallendes Gelächter ausbrach.

„Hast wohl doch noch nicht genug Wissen gesammelt, was?” lachte Pak Bawang.

Basus fing an zu zittern, wobei sein Hut zu Boden fiel. Kaum hatte jedoch der Hut den Boden berührt, sprühte er Wasser, und sobald der Körper von Basus nass geworden war, hörten die Haare auf zu bluten. Stattdessen fingen nun die Haare von Pak Bawang an, Blut zu verspritzen.

Pak Bawang schrie auf vor Wut, und alle Männer stürzten gleichzeitig auf Basus, hieben und stachen auf ihn ein. Aber jedes Messer, das den Körper von Basus traf, zerbrach. Jeder Stein, der geworfen wurde, zerging an Basus Haut zu Staub.

Pak Bawang rannte ins Haus, wo er die Mutter von Basus gefangen hielt. Er zerrte

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sie in die Mitte der Türe und jubelte Basus zu: „Na, soll ich nun deine Mutter leben lassen oder sie töten?” Er hielt seinen Kris an die Kehle der Mutter und sagte: „Gib dich geschlagen, sonst töte ich sie!”

Basus stand aufrecht da. Die Menge war vor ihm zurückgewichen. Manche waren bereits geflohen, andere warteten noch auf das, was weiter geschehen würde.

„Geh, Basus! Rette dich!” rief die Mutter.

Aber Basus sprach: „In Ordnung, ich ergebe mich!”

Pak Bawang befahl dem Schiedsrichter des Hahnenkampfes, Basus zu fesseln. Als Basus gefesselt war, kam Pak Bawang lächelnd herbei. Aber er war noch keine fünf Schritte gegangen, als der Schiedsrichter plötzlich aufschrie und zu Boden stürzte. Sein ganzer Körper war schwarz, wie von Feuer verbrannt. Und Bawang wusste nun keinen Zauber mehr, mit dem er hätte Basus begegnen können.

Oh weh, Pak Bawang! Basus schlug hart zu, sodass Pak Bawang mit verdrehten

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Augen ausgestreckt auf den Boden fiel. Schnell zog Basus sein Messer und zerteilte den Körper Pak Bawangs in zwei Hälften. Dann rannte er zu seiner Mutter und schloss sie in die Arme.

Auch andere Leute befreite Basus, die sich bei ihm bedankten, dass er sie von solcher Angst befreit hatte. Und seit dieser Geschichte ist Pagarruyung ein sicherer Ort.

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Der Herr mit dem weißen Blut

Vor langer Zeit gab es einen Jungen, der gerade vierzehn Jahre alt geworden war. Der lebte zusammen mit seiner Mutter Puti Lenggogeni in Pagarruyng.

Eines Tages saß der Junge mit seiner Mutter auf der Terrasse ihres Hauses und fragte: „Mutter?”

„Was gibt’s, Buyung?”

„Es ist so, Mutter. Ich wollte dich wirklich schon seit langem etwas gefragt haben. Aber ich hatte bisher Angst davor gehabt. Nun kann ich mich aber nicht mehr länger gedulden. Darf ich also fragen?”

„Sage mir ruhig, was du wissen willst, Yung. Und wenn ich dir antworten kann, werde ich es tun.”

„Mutter, ich bin nun schon groß. Vierzehn Jahre alt bin ich schon. Aber ich habe noch nie meinen Vater getroffen. Habe ich einen Vater, und wenn ja, wo ist er?”

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„Wenn es das ist, was du wissen willst, so wisse: Dein Vater lebt noch. Er heißt Cindur Mato und ist ein weiser Mann. Er stammt aus Tanah Datar und ist ein Sohn von Kembang Bendahari und Si Salamaik, dem königlichen Diener von Bundo Kanduang.

Das Land der Minangkabau ist seit langem nicht mehr sicher und wird terrorisiert von Imbang Djajo, dem König von Sungai Ngiang. Dein Vater verließ Pagarruyng unter anderem, um Wissen zu suchen, mit dem er sich Imbang Djajo entgegenstellen könnte. Du warst zu dieser Zeit noch im Bauche deiner Mutter. Damals ließ dein Vater eine Botschaft zurück.”

„Was für eine Botschaft, Mutter?”

„Es ist folgende: Wenn unser Kind schon groß geworden ist und nach seinem Vater fragt, dann schicke man ihn, seinen Vater zu suchen. Lasst ihn den Strand Richtung Süden absuchen.”

„Wenn das so ist, ich suche ihn gerne. Er sucht Wissen, um sich Imbang Djajo zu

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stellen, und man hat schon vierzehn Jahre nichts von ihm gehört? Bitte, Mutter, erlaube mir, morgen Vater suchen zu gehen. Ich brenne darauf, ihn zu treffen. Lass mich nur den langen Strand Richtung Süden folgen, wie es Vater gewünscht hat.”

Doch die Mutter schwieg, und so zog Buyung am frühen Morgen los, ohne eine Genehmigung der Mutter erhalten zu haben.

Er wurde von einem schwarzen Tiger bis zum Strand gebracht. Dann begann er seinen Marsch entlang des Meeres. Als er einige Zeit nach Süden gelaufen war und die Mündung eines großen Flusses erreichte, warteten dort seiner bereits zwei Krokodile, ein weißes und ein gestreiftes. Ohne Angst zu haben stieg Buyung auf ihren Rücken und wurde von ihnen ans andere Ufer gebracht. Dann lief Buyung immer weiter den Strand entlang, und als er schon weit gelaufen war und an die Mündung des Flusses Gedang gelangt war, traf er eine alte Frau, die Fische in

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einer Reuse fing. Die fragte Buyung: „Großmutter, darf ich etwas fragen?”

„Darfst du, mein Sohn. Frage, was du willsr, und sage mir auch, woher du kommst und was dich hierher verschlagen hat.”

„Ich komme aus Pagarruyung, Großmutter. Ich suche meinen Vater Cindur Mato.”

„Soweit ich weiß, gibt es hier niemanden mit diesem Namen. Aber wenn du deinen Vater wirklich suchen willst, versuche den langen Strand weiter zu folgen, denn dort beginnt irgendwo ein fremdes Land, wo du mal fragen solltest.”

Buyung bedankte sich und setzte seinen Weg mit den beiden Krokodilen weiter fort. Die beiden Krokodile, das weiße und das gestreifte, halfen Buyung oft auf seiner Reise. Und schließlich kamen sie in dieses fremde Land, das den Namen Urai trug. Dort sprach Buyung direkt beim König vor und sagte: „Ich bitte tausendmal um Entschuldigung, mein Herr, dass ich hier vor Ihnen erscheine. Darf ich Sie fragen, ob

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in Ihrem Lande ein Mann namens Cindur Mato wohnt? Ich bin nämlich sein Sohn und suche ihn.”

„Ich muss dir leider sagen, dass es in diesem Lande niemanden gibt mit diesem Namen”, sprach der König. „Aber ich hörte, dass Cindur Mato ein enger Freund des Königs jenseits der See sein soll. Wenn du also dieses Meer überquerst, wirst du in ein Land kommen, dessen König Sakino heißt. Dort frage, wo Cindur Mato sich jetzt befindet.”

„Vielen Dank für Ihren großherzigen Rat, mein Herr. Ich werde mich sofort aufmachen und ihrem Wort folgen.”

Am nächsten Morgen, noch vor dem ersten Hahnenschrei, verließ Buyung das Land Urai. Er ging zum Strand, wo die treuen Krokodile schon auf ihn gewartet hatten, um ihn ins Land jenseits des Meeres zu bringen. Er bestieg den Rücken des weißen Krokodils, und wenn das müde wurde, wechselte er einfach zum gestreiften über. So reiste er tage- und nächtelang auf der Mitte des Meeres ohne

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jegliche Störung. Dann kam er ins Land, das von dem König Sakino beherrscht wurde.

Nachdem er an Land gegangen war, sprach er den ersten Mann an, auf den er traf: „Vater, darf ich etwas fragen?”

„Sicher darfst du das. Frage, was du fragen willst. Du scheinst neu in diesem Lande zu sein, also sage mir doch, wie du heißt und warum du nach hier gekommen bist.”

„Man nennt mich einfach nur Buyung. Ich komme von jenseits des Meeres aus dem Distrikt Tanah Datar, aus der Stadt Pagarruyung. Ich kam hierher, um den König Sakino zu treffen.”

„Wenn es das ist, was du wissen wolltest, so wisse: Sakino ist unser König.”

„Darf ich denn den Vater zum König begleiten?”

„Ja, folge mir einfach nur.”

Der Mann brachte Buyung direkt zum König.

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Buyung huldigte dem König und sagte: „Ich bitte tausendmal um Entschuldigung, mein Herr, dass ich hier vor Ihnen erscheine. Ich hoffte, sie zu treffen, weil ich sie nach meinem Vater Cindur Mato befragen wollte.”

„Du bist also der Sohn von Cindur Mato”, sagte der König wohlwollend. „Dann sollst du wissen, dass dein Vater und ich enge Freunde sind. Als er mich zuletzt verließ, hinterließ er mir eine Botschaft.”

„Was für eine Botschaft, bitte?” fragte Buyung.

„Es ist folgende: Wenn mein Sohn mich suchen oder nach mir fragen sollte, so schicke man ihn über das Meer. Erreicht er den Strand, so soll er ihm nach Norden folgen. Er soll folgende Dinge mit sich führen:

Erstens: Zwei glasierte Krüge von gleicher Form und gleichem Gewicht, den einen mit Wasser gefüllt, den anderen leer. Der leere Krug soll als Maß dienen, um Wasser aus den Flüssen zu wiegen, an

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denen mein Sohn vorbeikommen wird. Wenn er einen Fluss erreicht, soll er den leeren Krug mit dem Wasser des Flusses füllen und messen, welcher Krug schwerer ist. Sollten die beiden Krüge gleich schwer sein, dann bedeutet dies, dass ich mich am Oberlauf dieses Flusses befinde.

Zweitens: Man soll meinem Sohn sechs Männer als Hilfe mitgeben.

Dies ist die Botschaft deines Vaters. Die Krüge verwahre ich immer noch für dich, und die Männer, die dich begleiten sollen, stehen auch schon lange bereit. Wir haben nur auf dich gewartet! Selbst ein Boot haben wir, um dich über das Meer zu bringen.”

Dies waren die Erläuterungen von König Sakino.

Bereits nach wenigen Tagen brach Buyung mit dem Boot, den zwei Krügen und den sechs Männern auf. Unter den Männern waren zwei, die den Titel „Oberster Gam Sati” trugen, denn sie

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sollten Buyung als Führer dienen. Und einer trug den Titel „Ehrenwerter Pati”.

Als in der Mitte des Meeres das Trinkwasser aufgebraucht war, und sich nur noch in dem einen glasierten Krug Wasser befand, das man aber ja nicht trinken durfte, weil es als Maß dienen sollte, warf der „Ehrenwerte Pati” einen, an einem Seil befestigten Eimer ins Meer. Als er ihn dann wieder heraufzog, war dieser mit Trinkwasser gefüllt!

Anfangs konnten seine Freunde gar nicht glauben, dass man das Wasser trinken konnte, denn Seewasser ist dafür normalerweise zu salzig. Aber durch die Zauberkräfte des „Ehrenwerten Pati” wurde es wirklich entsalzen und trinkbar. Seit dieser Zeit nannten ihn seine Freunde nur noch „Ehrenwerter Pati des trinkbaren Seewassers”.

Schließlich erreichte Buyungs Gruppe das Land Urai. Alle Sachen aus dem Boot wurden an Land gebracht, damit sie auf der Reise entlang des Strandes mitgenommen werden konnten.

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Erreichten sie die Mündung eines Flusses, begann Buyung, die Anweisungen des Königs Sakino auszuführen und füllte den leeren Krug mit dem Wasser des Flusses. Dann wog er ihn und verglich sein Gewicht mit dem bereits gefüllten Krug. Aber so oft sie auf einen weiteren Fluss stießen und die Probe machten, nie wogen die beiden Küge gleich schwer.

So erreichte die Gruppe schließlich Ujung Tanjung, wo sie wieder auf die Mündung eines Flusses trafen. Und als sie nun die beiden Krüge wogen, war der eine nur ein wenig schwerer als der andere! Alle waren hocherfreut über dieses Ergebnis, bedeutete es doch, dass sie sich schon in der Nähe des gewünschten Gebietes befanden. Frohen Herzens zogen sie weiter, und als sie auf einen Fluss mit dem Namen Ayii Puro trafen und dort erneut die Krüge wogen, waren sie ganz genau gleich schwer! Das hieß, dass der Vater Buyungs, Cindur Mato, am Oberlauf dieses Flusses sein musste! Nachdem die Gruppe zu diesem Resultat gekommen

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war, bauten sie sich Hütten, um dort von ihrer langen Reise auszuruhen.

An dem Platze, wo die Männer die Hütten bauten, gab es bereits ein Dorf, das sogar so viele Bewohner besaß, dass es von vier Stammesführern regiert wurde. Einer dieser vier Stammesführer hieß Singo Dilaut. Mit dem Kommen der Gruppe Buyungs gab es nun bereits zehn Stammesführer.

Nachdem die Gruppe Buyungs länger dort geblieben war und gute Beziehungen zu den Bewohnern des Dorfes aufgebaut hatte, wurden der Sohn Singo Dilauts und Buyung Freunde. Sie waren beide gleichen Alters. Buyung bewunderte die Fertigkeit seines Freundes, mit einer Reuse Fische zu fangen, und wollte auch lernen, so eine Reuse zu bauen. Während er nun Geäst zurechtschnitt, aus dem er eine Reuse bauen wollte, verletzte er sich den Finger mit seinem Messer. Es blutete ein wenig, aber das Erstaunliche war, dass das Blut, das aus der Wunde tropfte, nicht rot, sondern weiß wie Kokosmilch war!

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Sein Freund, der Sohn von Singo Dilaut, fragte verblüfft: „Hast du dich verletzt? Aber warum ist dein Blut weiß? Wenn ich mich in den Finger schneide, kommt rotes Blut aus der Wunde. Das ist wirklich sehr sonderbar!”

Und diese sonderbare Sache erzählte er seinem Vater. Der kam sofort herbeigeeilt, um Zeuge des Vorfalles zu werden, und als er nun tatsächlich das weiße Blut sah, erinnerte er sich der Anordnung eines Königs, der hier vormals regiert hatte: „Derjenige soll nach mir König werden, der weißes Blut besitzt!”

„Du bist jener, auf den wir gewartet haben”, sprach Singo Dilaut. „Du sollst König dieses Gebietes werden! Und wir dürfen nicht zögerlich sein, sondern müssen bald eine Versammlung abhalten, um dich zu krönen!”

Um jedoch eine Krönung durchführen zu können, mussten mindestens zwanzig Stammesführer versammelt werden. Zehn Stammesführer waren ja bereits in der Nähe, also mussten noch zehn weitere

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gesucht werden. Und in Hulu Air gab es noch fünf Führer, und in Hilir gab es auch einen, sodass es nun bereits sechzehn Stammesführer gab, um eine Krönungszeremonie am Strand des Flusses Ayii Puro durchzuführen.

Während sie noch berieten, wie sie die zwanzig Führer zusammenbekämen, sahen sie plötzlich einen schwelenden Baumstamm den Fluss hinabtreiben. Die versammelten Männer waren erstaunt, war dies doch der Beweis, dass am Oberlauf des Flusses Menschen lebten. Und sie nahmen sich vor, den Oberlauf des Flusses zu erkunden. Schon bald bestiegen sie ihre Boote und ruderten los.

Nachdem sie einige Zeit unterwegs waren, trafen sie nicht weit vom See Jawi-Jawi vier Männer, die gerade einen ins Wasser hängenden Ast eines Feigenbaumes abschnitten, damit sie ihren Weg weiter flussabwärts fortsetzen konnten. Die beiden Gruppen näherten sich einander und riefen sich gegenseitig zu, wie es Leute im Wald tun: „Datuk, seid ihr dort…?”

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Die Leute vom Oberlauf antworteten: „Ja, wir sind hier. Rang Kayo, seid ihr es…?”

„Ja, wir kommen von der Mündung des Flusses!”

Dies war das erste Mal, dass sich Bewohner von Inderapura und Tapan trafen. Und seit dieser Begegnung werden die Leute aus Tapan von den Leuten aus Inderapura „Rang Kayo” gerufen, und die Leute aus Inderapura von den Leuten aus Tapan „Datuk”, und dies bis auf den heutigen Tag.

Nachdem sich beide Gruppen an das Ufer des Flusses begeben hatten, erklärte die Gruppe, die von der Mündung kam, der anderen, warum sie sich auf den Weg gemacht hatten. Nämlich, um die nötige Anzahl Stammesführer zu versammeln, die nötig wären, um den Herrn mit dem weißen Blut krönen zu können. Die Gruppe vom Oberlauf tat hingegen kund, sie suchten einen Verwandten des Richters von Pagarruyung. Deswegen wären sie in diese Gegend gekommen. Einer aus ihrer

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Gruppe wäre ursprünglich aus Tanah Datar. Sein Sohn wäre schon seit langem von Pagarruyung aufgebrochen, und bis auf den heutigen Tag wüsste niemand, wo er geblieben wäre.

Und nun stellte sich heraus, dass der Gesuchte niemand anderes war als Buyung, der zum König gekrönt werden sollte, und dass sich sein Vater Cindur Mato unter der Gruppe vom Oberlauf befand! Glücklicherweise waren alle vier Männer dieser Gruppe Stammesführer, sodass nun die nötige Anzahl von zwanzig Stammesführern komplett war. So konnte Buyung schließlich zum König von Ayii Puro gekrönt werden.

Er wurde ein sehr weiser König, und sein Königreich wurde ein sehr wohlhabendes und sicheres. Seine Untertanen liebten und respektierten ihn. War unter ihnen trotzdem einmal jemand, der ihm nicht den nötigen Respekt entgegenbrachte, fühlte derjenige in seinem Herzen ein Unwohlsein, das ihn schließlich dazu trieb, zum König zu gehen und ihn um Vergebung zu bitten.

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Jedoch erreichte er den König selber nie, sondern nur die Treppe des Palastes, wo sich ein besonderer Stein befand. Trat der Mann dann auf diesen Stein, sprühte Wasser aus dem Stein hervor und reinigte den Mann. Und wenn der Mann dann aus einem inneren Bedürfnis heraus von diesem Wasser trank, füllte sich sein Herz mit Wonne und Seligkeit.

So verfuhr der König mit denjenigen, die ihm den nötigen Respekt schuldig blieben. Aber wie erst, wenn er einen Übertreter des Gesetzes vor sich hatte? Der Übeltäter konnte sich vom Ort der Straftat nicht mehr fortbewegen! Unsichtbare Kräfte hielten ihn dort fest, und er konnte sich erst wieder bewegen, wenn er die Vergebung des Königs erhielt. So wagte nach einer Weile niemand mehr aus dem Volke, etwas Böses zu begehen.

Drang ein Dieb in den Palast ein, konnte er zwar sein Diebesgut sammeln, aber er fand dann keinen Ausgang mehr! Alle Türen waren unsichtbar geworden! Erst wenn der König erschien, wurde wieder ein Ausgang sichtbar! Und bis in die

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heutige Zeit gibt es Leute in Inderapura, die dieses Wissen bewahrt haben und es einem Dieb unmöglich machen können, ihr Haus zu verlassen.

Der Herr mit dem weißen Blut hinterließ an seine Ahnen einiges von seinem Zauberwissen. Sein Grab liegt auf der weißen Insel. Das Grab seiner Hoheit ist zwölf Meter lang. Es wurde zu einer Andachtsstelle, eben wegen der besonderen magischen Kraft seiner Eminenz. Doch wird man sein Grab nicht finden, denn es ist unsichtbar. Es reicht jedoch, wenn man seine Andacht an dem Ort hält, wo man meint, dort befände sich das Grab. Und bis auf den heutigen Tag gibt es Leute, die am Grab von dem Herrn mit dem weißen Blut Andacht halten.

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Der goldene Drachen

Wie man weiß, stammte Prinz Badurekan aus Tanjung Medan. Er war der Sohn der Prinzessin Lindung Bulan und des Königs Muda.

Als Prinz Badurekan noch klein war, starben seine Eltern, und er lebte fortan bei seinem Onkel Lebai Panjang Jenggot. Weil Lebai Panjang Jenggot nur einen Neffen besaß, wachte er über ihn von morgens bis abends, wobei er hoffte, dass sein Neffe rasch groß werde. Das wurde er auch, denn er wurde so gut behütet, dass er schon bald alleine spielen gehen konnte.

Irgendwann ging er mit der Erlaubnis seines Oheims zum Markt Periangan und sah dort Leute, die gerade Drachen steigen ließen. Ihm gefiel das so gut, dass er sich selber so einen Drachen wünschte, und stracks lief er heim. Dort fragte ihn sein Onkel: “Von woher kommst du, mein Herzenskind? Seit du vom Spielen kamst, ist der Reis noch nicht angerührt und auch das Wasser nicht getrunken. Warum nicht? Hast du etwa mit anderen Streit

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angefangen, oder hast du dich gar geprügelt? Versuche es, deinem Onkel zu erklären, damit wir gemeinsam darüber nachdenken können.”

Aber Badurekan alberte nur herum, sodass sein Onkel bemerkte: „Oh mein Neffe, wenn du so herumalberst, wirst du sicher krank werden! Und erst der Verstand deines Onkels! Wo du doch sein einzigster Neffe bist! Was also gibt es?”

Badurekan antwortete: „Oh mein allergeliebtester Onkel! Vorhin ging ich auf den Markt und sah eine Menge Leute dort Drachen steigen lassen. Es hat mir sehr gefallen! Wenn ich Euch um etwas bitten darf, so macht mir doch auch einen solchen Drachen.”

Als Lebai Panjang Jenggot hörte, was sein Neffe sich von ihm wünschte, sprudelte plötzlich Liebe aus seinem Herzen hervor, wie Wasser aus einem Brunnen. Gold, Silber, Vieh, dies alles besaß er in solcher Fülle, dass niemand es hätte verbrauchen können.

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„Dein Wunsch sei dir erfüllt”, sprach er also, „wenn es einen Meister gibt, der Drachen baut, werden wir ihn rufen! Aber warum einen Drachen aus Löschpapier? Wir werden einen Drachen aus Gold bauen! Die Schnur machen wir aus Silber, und sie soll 140 Meter lang sein! Schmücken werden wir den Drachen mit Diamanten! Na, ist mein Neffe nun zufrieden?”

Natürlich war Prinz Badurekan zufrieden! Sein Oheim rief den Meister Bungkuk und erklärte ihm, was sie sich wünschten und fragte, wie viel sie wohl dafür bezahlen müssten. Sieben Tage brauchte Meister Bungkuk, um alles fertigzustellen. Und als es dann endlich soweit war, fragte Prinz Badurekan seinen Oheim, wo sie den Drachen nun steigen lassen sollten.

„Wenn wir uns angenehm die Zeit vertreiben wollen, dann lass uns zum Markt Periangan gehen. Dort herrscht guter Wind. Viele Leute sind bereits dort. Manche haben schon ihren Drachen steigen lassen, andere noch nicht.”

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So gingen sie zum Markt und packten dort ihren Drachen aus. Aber als Prinz Badurekan versuchte, den Drachen steigen zu lassen, wollte sich dieser nicht in die Lüfte erheben. Badurekan rannte zwar, bis ihm der Schweiß herunterlief, aber der Drachen war wohl zu schwer. Badurekan fragte seinen Onkel, ob der es mal ausprobieren wollte, und dieser nahm die Schnur und versuchte es ebenfalls. Jedoch war das Ergebnis das gleiche wie bei Badurekan.

Nun fing Badurekan an zu beten: „Oh Allah, wenn ich wirklich ein Kind von König Muda sein sollte, König von Königen, und auch ich ein Prinz in dieser Folge, so lass bitte einen fürchterlichen Wind herabfahren, der diesen Drachen emporhebt.”

Seine Bitte wurde erhört, und schon bald brach ein Sturm los. Der aufbrausende Wind hob den Drachen plötzlich mit einem Krachen empor, immer höher, bis es unmöglich wurde, die Schnur zu halten. Als der Onkel die Schnur fahren ließ, verwickelte sie sich um

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den Körper Badurekans, der sich nun ebenfalls in die Lüfte erhob, gezogen von dem goldenen Drachen. Der Onkel rannte schreiend hinterher, doch sein einzigster Neffe war schon bald aller Augen entschwunden, sodass Labai Panjang Jenggot in Tränen ausbrach und weinte, bis er das Bewusstsein verlor. Die Leute vom Markt liefen herbei, kümmerten sich um ihn und sagten ihm, als er wieder zu sich kam, er sollte sich nicht beunruhigen. Dort, wo Prinz Badurekan wieder herunterfiele, gingen sie ihn suchen.

Ja, aber der stieg immer höher und höher in die Lüfte empor. Durst bekam er und irgendwann auch noch Hunger, sodass er wieder zu Gott betete: „Oh Allah, bitte lass den Wind sich legen und lass mich herunterschweben. Wo immer ich auch landen werde, ich werde es akzeptieren.”

Und wieder wurde sein Gebet erhört. Der Drachen senkte sich, und mit ihm Badurekan, der in Teluk Medan Aceh landete. Auch der Drachen war bereits gelandet und die Schnur hatte sich

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entknäult. Doch Badurekan kümmerte sich erst einmal nicht um den Drachen, sondern ging auf die Suche nach Wasser, um seinen schrecklichen Durst zu löschen. Nicht weit von seinem Landeplatz fand sich eine Badestelle, wo Badurekan zwei große Schlucke Wasser nahm. Erst als der Durst gelöscht war und der Körper erfrischt, rollte Badurekan die Drachenschnur auf.

Während Badurekan die Schnur aufwickelte, ging Mutter Rubiah gerade durch ihren Blumengarten. Sie lebte allein in ihrem Anwesen, denn sie besaß keine Kinder. Weil es heiße Mittagszeit war, gefiel es ihr, zu ihrem Badeplatz zu gehen. Wie erstaunt war sie, als sie am Brunnen ein Kind sah, das gerade damit beschäftigt war, eine silberne Schnur aufzurollen! Sie schaute sich um, um zu sehen, wer ein solch hübsches Kind besaß, konnte aber sonst niemanden entdecken, und auch den Drachen bemerkte sie nicht. Da fragte Mutter Rubiah: „Schönes Kind, sage mir doch, woher du kommst und wer deine Eltern sind. Es müssen ja Fürsten sein! Ich

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lebe schon lange in diesem Land, aber noch nie habe ich so ein reizendes Wesen wie dich hier erblickt. Also bitte, antworte der Mutter.”

„Ja, liebe Mutter. Wenn es das ist, was Sie wissen möchten, mein Name ist Badurekan. Ich komme aus dem Land Tanjung Medan. Meine Mutter ist die Prinzessin Lindung Bulan und mein Vater König Muda, jedoch sind beide bereits tot. Ich lebe bei meinem Onkel Lebai Panjang Jenggot. Dieser böse Drachen hat mich bis nach hier getragen, aber durch die gütige Vorsehung Allahs flaute der Wind ab, und ich fiel in diesen Garten. Wo also bin hier gelandet, Mutter?”

„Wenn du wirklich Badurekan heißt und aus Tanjung Medan kommst, dann bist du nun weit in die Fremde verschlagen, denn hier bist du im Lande Teluk Medan Aceh, das von König Ampang Kilang Besi regiert wird, dem Bräutigam der Prinzessin Alam Cangkir. Dieses Land ist sehr gefährlich. Der König hat verboten, den Namen seiner Braut zu nennen. Wer es tut, muss eine Strafe

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zahlen. Die Prinzessin will den König nämlich nicht heiraten, weil er ein Ungläubiger ist! Wenn es keinen Büffel mehr im Stall gibt, keinen Reisspeicher mehr im Hof, gibt es auch keinen Grund mehr für König Kilang Besi vorbeizuschauen. Hahnenkampf und Würfelspiel Tag um Tag! Hat ein Mann morgens noch einen lebendigen Hahn, ist er abends bereits tot! Seit zwei Jahren geht es nun schon so! Viele Prinzen und Grafen sind wegen der Prinzessin ins Land gekommen. Alle hat der König aus Eifersucht ermorden lassen. Auch meinen Sohn Khatib Palembang hat er getötet! Nun lass uns aber ins Haus gehen, wir stehen schon zu lange hier draußen.”

„Wenn das so ist, Mutter, wenn dieses Land wirklich so gefährlich ist, dann ist es wohl das Beste, wenn ich gehe!”

„Ja, aber wenn ich das Kind nicht bereitwillig aufnehme, ist es vielleicht unglücklich. Sollte es zum Hause der Mutter folgen, wird ihm sicherlich kein Haar gekrümmt. Doch wenn es nicht freiwillig mitkommen will, die Mutter

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wird es gewiss nicht zwingen. Geht es jedoch alleine zum Markt, wird es vielleicht vom König ermordet. Es herrscht viel Aufruhr in der Stadt, weil die Leute unzufrieden sind. Die Prinzessin wird den König niemals freiwillig heiraten wollen, denn er hat sich das Reich unrechtmäßig und durch Gewalt angeeignet. Es gab auch schon Jünglinge, die der Prinzessin gefallen hatten, aber sie wurden alle von König Besi ermordet. Wenn mein Kind dort so schneidig auftaucht, erregt es sicherlich die Eifersucht des Königs!”

Da dachte sich Prinz Badurekan, dass dies wirklich ein ganz anderes Land wäre, als sein eigenes: „Dieser König weiß das Unrechte nicht vom Rechten zu unterscheiden!”

„Ja, so ist es! Und meinem Herzenskind wird vielleicht von ihm ein Leid getan!”

„Es ist wirklich das Beste, wenn ich gehe. Aber bevor wir hier Streit bekommen, weil Mutter mich nicht gehen

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lassen will, also gut, bleibe ich eine Weile. Es ist ja auch schon Nachmittag.”

Mutter Rubiah freute sich und füllte nur noch schnell ihren Wassereimer. Badurekan fragte derweil, was denn mit diesem verschlissenen Drachen geschehen sollte. Erst jetzt bemerkte Mutter Rubiah, dass der Drachen aus Gold und Diamanten gemacht war.

„Wir tragen ihn ins Haus und verstauen ihn auf dem Dachboden”, sagte sie.

Badurekan blieb ein, zwei, drei Tage im Haus von Mutter Rubiah, bis ihm nach drei Wochen einfiel, mal in die Stadt zu gehen. Deshalb sprach er: „Oh, Mutter! Ich würde gerne spazieren gehen, weil ich nun schon drei Wochen in diesem Hause weile. Ich würde gerne zum Markt gehen, um die Sitten und Gebräuche des Landes kennenzulernen. Bitte erlaubt es mir mit reinem Herzen und heiterem Gesicht.”

„Wenn das Kind zum Markt gehen möchte, werde ich es ihm nicht verbieten”, antwortete Mutter Rubiah, „aber hier geht alles etwas anders zu, als bei euch. Kommt

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jemand von außerhalb, sind die Leute sehr argwöhnisch. Halte dich bescheiden und senke deine Stimme. Nimm nicht am Gerede der Leute teil und denke daran, dass es verboten ist, den Namen der Prinzessin zu nennen, damit du nicht von den Männern des Königs ergriffen wirst.”

Dann holte die Mutter noch einen Ringgit hervor und gab ihn ihrem Herzenskind.

Badurekan ging zum Markt, setzte sich dort in einen Warung und bestellte ein Getränk. Die Leute waren alle sehr erstaunt, als sie diesen Fremden sahen, und als Badurekan schließlich sein Getränk bezahlen wollte, fragte ihn der Ladenbesitzer: „Woher kommst du, Sohn? Ich habe dich noch nie hier gesehen!”

Da antwortete Badurekan: „Ich wohne im Haus von Mutter Rubiah am Blumengarten. Sie hatte einst einen Sohn, Sutan Palembang hieß er wohl, aber der wurde von König Ampang Kilang Besi getötet. Möglicherweise sehe ich ihm

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ähnlich, aber ich bin kein Kind von Mutter Rubiah.”

Als Badurekan wieder nach hause kam, fragte er Mutter Rubiah: „Meinst du, Mutter, ich könnte mir den Kampfplatz des Königs anschauen gehen?”

„Oh weh, mein Sohn! Sprich diesen Gedanken nicht aus, sonst wird mir zum zweiten Male meine Stütze genommen. Mein einer Sohn wurde schon vom König ermordet. Nun habe ich ein neues Kind, und auch das soll mir genommen werden. Natürlich werde ich dem nicht zustimmen!”

„Wenn die Mutter mir nicht erlaubt zu gehen, heißt das, dass sie mich dumm und nur im Hause halten will!”

„Du strebst nur nach dem Tod!”

„Viele Leute gehen dorthin, und ich bin schon bei den Leuten bekannt. Ich schäme mich sehr vor ihnen, wie ein Mädchen, das immer nur zu Hause bleiben darf!”

Schließlich gab Mutter Rubiah nach: „Gut, wenn du unbedingt gehen willst.

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Aber ich werde mit dir eine Probe machen, bevor du zur Arena gehst.”

„Was für eine Probe, Mutter?”

„Versuche das Pferd von Palembang durch dieses Reisfeld zu reiten. Wenn nicht ein einziges Korn von den Halmen fällt, werde ich dir meine Erlaubnis geben.”

„Gut, ich werde es probieren”, sprach Badurekan und führte das Pferd aus dem Stall. Aber das Pferd scheute und wollte sich nicht reiten lassen. Badurekan rief Mutter Rubiah und fragte, warum sich das Pferd nicht besteigen lassen wollte.

„Sein Herr ist ja bereits tot”, sagte Mutter Rubiah und öffnete das Halfter. Dann streichelte sie das Pferd und sagte ihm, dass sein neuer Herr jetzt dieser gute Junge wäre. Sie legte ihm das Geschirr an, und Badurekan konnte nun aufsteigen.

Badurekan ritt das Pferd zum Reisfeld, auf dem der Reis schon gelb und reif auf die Ernte wartete. Weil Badurekan so ein frommer Junge war und stets von Gott geführt wurde, geschah es, dass sein Pferd

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nur auf Luft lief, ohne den Reis auch bloß zu streifen. Badurekan schirrte es wieder ab, während Mutter Rubiah verwundert das Feld betrachtete. Es war tatsächlich kein einziges Korn zu Boden gefallen!

„Na, wenn es so steht, dann gehe meinetwegen zum Kampfplatz. Aber nimm dieses Huhn mit. Es ist eine Hinterlassenschaft von Palembang und heißt Sanggo Nani. Nachts ist es Freund mit der Zibetkatze, tagsüber Freund des Menschen. Es bebrütet drei Eier. Aus dem einen schlüpft eine Zibetkatze, aus dem zweiten ein Falke und aus dem dritten ebenfalls ein Sanggo Nani.”

„Wo ist dieses Huhn? Ich sehe keinen Stall.”

„Morgen werde ich es rufen. Es ist etwas größer als eine Wachtel und etwas kleiner als eine Wildtaube. Es ist rotgelb und passt in deine Hemdtasche.”

Am nächsten Tag gab Mutter Rubiah Badurekan das Huhn zusammen mit zehn Rupien, und der ging geradewegs zur Arena von König Ampang Kilang Besi.

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Eine Menge Leute war dort versammelt, die alle erstaunt guckten, als er dort auftauchte.

„So einen haben wir ja seit zwei Jahren nicht mehr hier gesehen”, meinte der Schiedsrichter des Hauses.

Nach einer Weile wurden die Menschen gebeten, Platz zu nehmen, und die Kämpfe begannen. Man begann mit einer Art Schaukampf, der anstatt mit Fäusten mit Füssen ausgetragen wurde. Da dies noch ein Spiel und kein richtiger Kampf war, sprang Badurekan auf und kämpfte mit. Alle waren verwundert über seine Kraft und Geschicklichkeit, wo er doch nur ein Junge war!

Nachdem er gekämpft hatte, setzte sich Badurekan in einen Warung und bestellte Tee. Der Schiedsrichter kam und sprach zu ihm: „Ich bin von König Ampang Kilang Besi geschickt, um Euch einzuladen und zu fragen, ob Euer Huhn zu verkaufen ist oder ob Ihr mit ihm kämpfen wollt oder ob Ihr einfach nur zum Spiele herkamt.”

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Darauf antwortete Badurekan: „Nach dem Willen meiner Mutter soll dieses Huhn nicht verkauft werden. Es soll kämpfen, aber mit kleinem Einsatz, wenn es einen Gegner gibt.”

Der Schiedsrichter kehrte zum König zurück und erzählte, es wäre ein neuer Prinz gekommen, der ein Huhn kämpfen lassen wollte, und zwar mit einem Hahn des Königs.

Als der König dies hörte, wurde er zornig. Wer wagte es, ihn herauszufordern? Seit zwei Jahren herrschte in der Arena reges Treiben, aber bis jetzt hatte das noch niemand gewagt!

Badurekan wurde gerufen, und der König fragte: „Willst du mich wirklich zum Hahnenkampf herausfordern?”

„Nun, ich habe nicht die Absicht, den König herauszufordern. Aber wenn der König einen Hahn mit meinem Huhn kämpfen lassen möchte, wäre ich dazu bei kleinem Einsatz bereit.”

Da stimmte der König zu, und der Kampf wurde beschlossen. Der Hahn des

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Königs Ampang Kilang Besi war ein riesiger goldgelber Hahn, der Metallsporne trug so groß wie Säbel. Bevor sie nun die beiden Tiere aufeinanderhetzten, musste erst der Einsatz vorgelegt werden. Als aber der König die zehn Rupien von Badurekan erblickte, sprach er: „Wenn dies dein Einsatz ist, Prinz, dann kehre erst einmal heim. So kämpfen wir nicht! Morgen werden wir es noch einmal wiederholen, aber mit der Regel, dass der Prinz meinen Einsatz erwidern muss. Andernfalls werde ich ihn suchen, wo immer er sich auch befinden mag, denn der Kampf ist nun beschlossene Sache!”

So musste Badurekan wieder nach hause zurückkehren, aber vorher versprechen, um neun Uhr morgens wieder auf dem Platze zu sein.

„Wie geht es meinem Kind”, fragte Mutter Rubiah, als sie Badurekan mit dem Huhn zurückkehren sah.

Daraufhin antwortete Badurekan: „Wirklich überheblich und anmaßend ist

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dieser König! Den Vögeln waren schon die Sporne angebunden, und ich legte meine zehn Rupien vor, als der König anfing, mich zu verhöhnen: ‚Wenn dies dein ganzer Einsatz ist, bist du ganz schön mutig, hier mit deinem Gockel aufzutauchen. Aber jetzt Spaß beiseite. Du kehrst nun erst einmal heim. Wenn du morgen meinen Einsatz nicht erwidern kannst, werde ich dich töten lassen.’ ”

Und dann bat Badurekan die Mutter Rubiah, die Flügel des Drachen zu holen, auf das man sie morgen zum Kampfplatz mitnehmen könnte. Aber Mutter Rubiah folgte nicht, sondern sprach stattdessen: „Tue das bloß nicht! Wenn du gewinnst, wirst du keinen Gewinn erhalten, denn der König zahlt niemals, auch wenn er geschlagen wurde. Nur wenn er selbst gewinnt, hält er sich an die Regeln!”

„Das brauchst du mir nicht zu sagen. Und ich suche hier gewiss keine Feinde. Aber wenn ich welche treffe, darf ich ihnen auch nicht ausweichen. Ich bin nicht aus Tanjung Medan aufgebrochen, um Feinde zu suchen, aber nun habe ich

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bereits einen getroffen. Sicher werde ich nicht vor ihm kneifen! Deswegen hoffe ich, dass Mutter jetzt die Flügel des Drachen holt, die Diamanten von den Flügeln abmacht und sie in eine Flasche füllt.”

Mutter Rubiah sagte nichts, ging aber auf den Dachboden und holte den Drachen. Wie sich herausstellte, füllten die Diamanten eines Flügels fünf Flaschen!

Schon am frühen Morgen zog Badurekan mit dem Diener Selamat, der das Huhn unter den Arm nahm, in Richtung Kampfplatz. Punkt neun Uhr trafen sie dort ein. Der Schiedsrichter, der sie als erster kommen sah, bemerkte: „Anscheinend ist der Prinz bereits erschienen!”

„Ist er!” antwortete Badurekan. „Ein Versprechen muss man auch halten, wenn man ein gläubiger Mensch ist. Und nun ruft den König Ampang Kilang Besi, denn dieser hat auch versprochen, um neun Uhr hier zu sein, und es wird schon spät!”

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Der Schiedsrichter lief eilig zum König und sprach: „Mein Herr, Ihr hattet Euch gestern mit dem Prinzen verabredet, und der ist bereits erschienen.”

„Er ist bereits da?” fragte König Ampang Kilang Besi.

„Ja, ist er bereits!” antwortete der Schiedsrichter.

Der König eilte zum Kampfplatz, um den Prinzen zu treffen, und sagte: „Ihr habt also Euer Versprechen erfüllt!”

„Ja, das ist ein Zeichen der Menschen. Wenn jemand ein Gläubiger ist, muss er seine Versprechen erfüllen!” antwortete Badurekan.

Der König sprach: „Dies ist unser Hahn!”

Der Diener sprach: „Dies ist unser Huhn!”

Nachdem man den Vögeln Metallsporne angelegt hatte, legte Badurekan seinen Einsatz vor: eine Flasche Diamanten! Der König nickte und legte einen gleichwertigen Wetteinsatz

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vor, woraufhin Badurekan gleich noch eine Flasche hervorholte. Das machte den König sichtlich nervös, und er musste sich hier und dort erst einmal etwas borgen, um gleichziehen zu können.

Da zog Badurekan erneut eine Flasche hervor, wobei er gelangweilt bemerkte: „Dies ist die letzte, denn es ist schon spät, und wir wollen heimkehren!”

Aber der König besaß jetzt nichts mehr, was er hätte setzen können, und blickte verlegen vor sich hin.

„Der König kann nicht gleichziehen, obwohl er das gestern von mir gefordert hatte? Sagt, wie seid Ihr ein großer Mann geworden?”

Der König antwortete grimmig: „Als Einsatz ist es vorerst genug. Lasst uns erst den Kampf austragen. Wenn ich gewinne, können wir noch einmal wiederholen!”

„Nein, so nicht! Wenn ich mein Huhn kämpfen lassen soll, müsst Ihr meinen Einsatz erwidern!”

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„Wenn ich nichts entgegenzusetzen vermag, was dann?” fragte König Kilang Besi.

„Wenn mein Herr nichts entgegensetzen kann, wüsste ich eine Möglichkeit. Bringt Eure Braut als Pfand für eine kurze Weile herbei.”

Da rief der König einen Diener, um nach der Prinzessin Alam Cangkir zu schicken. Der Diener sagte der Prinzessin, sie sollte für kürze Zeit hinunterkommen, weil sie der König als Wetteinsatz brauchte. Die Prinzessin tat entsetzt, auch wenn sie sich innerlich freute: „Was, ich soll dem König als Spieleinsatz dienen? Angenommen, der Fremde gewinnt! Sicher muss ich ihm dann alleine folgen!”

„Davon weiß ich nichts”, druckste der Diener herum, „das Wichtige ist im Moment nur, dass ihr hinunterkommt.”

Also folgte die Prinzessin dem Diener hinab zur Arena. Sie wollte nur zu gerne den Prinzen sehen, der es wagte, den König herauszufordern!

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Sobald sie vor den König trat, verneigte sie sich und sprach: „Wenn der Gebieter ruft, folgt seine Dienerin sofort! Weswegen habt Ihr mich rufen lassen?”

„Ich will mit diesem Prinzen einen Hahnenkampf austragen”, sprach der König. „Er hat drei Flaschen mit Diamanten als Wetteinsatz gegeben, von denen ich nur zwei erwidern kann. Deswegen sollt Ihr mir für einen Augenblick als Pfand dienen. Wir können gar nicht verlieren, denn seht, das Huhn des Prinzen ist bloß so groß wie eine Wachtel! Es ist bereits so gut wie tot! Also, was denkt Ihr?”

„Das liegt bei Euch, mein Herr. Aber angenommen, der fremde Prinz sollte doch gewinnen, sicher wird er den Wetteinsatz fordern!”

„Da seid mal ganz beruhigt”, flüsterte der König. „Ich bin es, der König Ampang Kilang Besi heißt! Es gibt auf jeden Fall nur einen, der zahlt, und das ist der Prinz! Wenn die Prinzessin nun als Pfand dienen möchte, stelle sie sich bitte dorthin!”

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Die Prinzessin folgte der Anweisung des Königs anmutigen Schrittes. Da bemerkte Badurekan: „Wenn die Prinzessin wirklich als Pfand dienen soll, komme sie doch etwas näher!”

Dem König fuhr es heiß durch die Adern, aber er sagte: „Geh ruhig, Prinzessin!”

Da näherte sich die Prinzessin Alam Cangkir dem Prinzen Badurekan noch etwas, und nun konnte der Kampf beginnen.

Am Anfang wurde das Huhn Badurekans vom riesigen Hahn des Königs einfach niedergetreten. Die Menge fing schon an zu johlen, glaubte sie doch, das Huhn wäre bereits tot. Doch dieses hielt sich nur still. Es war ein Huhn mit Zauberkräften, und Badurekan erinnerte sich der Erläuterungen Mutter Rubiahs, dass dem Huhn zur Zeit des Mittaggebetes von der Zibetkatze und dem Falken geholfen würde.

Und wirklich! Kurze Zeit später schrie die Zibetkatze auf, und das Huhn stand

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alsbald auf, so als ob es neue Energien bekommen hätte. Gerade als es aufrecht dastand, erschien Badurekan die Totenseele seines Vaters König Muda, die ihm sagte: „Mein Kind, wenn du gezwungen wirst zu kämpfen, habe keine Angst. Wisse, die Seele deines Vaters wird dir immer helfen!”

Auch der Falke kreischte nun auf, und die Zibetkatze erschien, jedoch unsichtbar für König Ampang Kilang Besi. Für ihn sah es so aus, als ob der Hahn und das Huhn kämpften. In Wirklichkeit stürzte jetzt der Falke auf den Hahn und zerriss ihn zusammen mit der Zibetkatze in zwei Hälften. Die eine Hälfte trug der Falke davon, in die andere hatte sich die Zibetkatze verbissen. Und aus war es mit dem Hahn von König Ampang Kilang Besi!

Da sprach Badurekan: „Der Hahn seiner Majestät ist tot. Befragen wir es, wer gewonnen und wer verloren hat.”

Als der König dies hörte, antwortete er: „Auch wenn der Prinz gewonnen hat,

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wird der Sieg nicht akzeptiert werden! Und auch wenn ich verloren habe, ist es mir verboten zu zahlen, denn ich bin König Ampang Kilang Besi!”

„Weswegen ist es verboten?” fragte Badurekan, als ob er schlecht gehört hätte, und fügte hinzu: „Ich suche keine Feinde, aber wir haben gewettet, und ich habe gewonnen! Also, wie steht’s? Es wird schon Nachmittag, und ich wohne weit von hier!”

Lange weigerte sich der König zu zahlen. Schließlich sagte er: „Bevor wir uns länger streiten, Prinz, nimm das Gold und das Silber. Aber die Prinzessin lässt du mir!”

„Gold und Silber brauche ich nicht. Doch die Prinzessin, die Seine Majestät nicht hergeben will, gefällt mir schon. Ich möchte sie ins Haus meiner Mutter bringen, damit sie meine Freundin wird!”

Das hörte die Prinzessin gern. Sie wollte nichts lieber, als mit diesem Prinzen gehen! Wo immer er auch hinwollte, sie würde ihm folgen!

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Der König bemerkte, dass die Prinzessin den Prinzen ganz verliebt anschaute, und das Blut stieg ihm in den Kopf. „Niemals werde ich die Prinzessin gehen lassen”, schrie er und warf sich auf den Prinzen. Sie schlugen aufeinander ein, aber es gelang dem König nicht, den flinken Prinzen ernsthaft zu verletzen. Mit der Zeit wurde der König müde und ließen seine Kräfte nach, weil Badurekan stets von Allah geholfen wurde. Da sprach der Prinz: „Einen Augenblick, König. Seid bitte nicht voreilig!”

Dann nahm er das Huhn und sprach zu ihm: „Jetzt kehre heim, mein liebes Huhn. Wenn die Mutter fragen sollte, wo denn Badurekan bliebe, so sage ihr, dass wir hier unser Problem noch nicht geklärt haben.”

Da flog das Huhn zum Hause der Mutter und ließ Prinz Badurekan alleine zurück, damit der sein Problem mit dem König klären konnte. Zum Hause zurückgekehrt, ließ es sich auf den Tisch in der Küche nieder. Mutter Rubiah war erschrocken, weil sie meinte, ihrem Kinde

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wäre ein Unglück zugestoßen, da das Huhn alleine zurückkehrte. „Oh weh!” rief sie aus. „Wie es scheint, habe ich zum zweiten Male meine Stütze verloren!” Dann fragte sie das Huhn: „Wo ist dein Herr geblieben? Warum kommst du allein?”

Weil das Huhn aber nicht antwortete, gab sie ihm zu essen, und das gesellte sich hernach zur Zibetkatze.

Unterdessen prügelten sich der Prinz und der König immer noch. Und während sie gerade so aufeinander eindroschen, erschien die Totenseele von König Muda, die ihrem Kind zu Hilfe eilte. Sie gab dem Prinzen besondere Kraft, sodass Prinz Badurekan den König bei der Hüfte nehmen und so lange und so derbe zusammendrücken konnte, bis der König starb.

Nach dem Tod des Königs ergriff die Leute in der Arena Furcht, und nur der Schiedsrichter hatte den Mut, sich dem Prinzen zu nähern: „Verzeiht uns, Herr

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Prinz. Obwohl der König jetzt tot ist, bitte tut uns kein Unrecht.”

Und die Prinzessin Alam Cangkir kam und nahm Prinz Badurekan bei der Hand. Stimmen erhoben sich, die meinten, der Prinz sollte nun der neue Herrscher von Teluk Medan Aceh werden.

Der Leichnam König Besis wurde auf einem Feld begraben, ohne Leichentuch, also wie ein Tier. Während dieser Schurke regierte, wurden die Gebetshäuser zu Hurenhäusern, und die Imame und Gelehrten zum Glücksspiel gezwungen. So war das gesamte Volk froh über den Tod des Königs. Der Wesir kam, und nachdem er bei Prinz Badurekan um Verzeihung gebeten hatte, rief er eine Versammlung ein, um den Prinzen zum König zu krönen. Badurekan wurde also der König von Teluk Medan Aceh. Außerdem wurde auf der Versammlung die Heirat von König Badurekan mit der Prinzessin Alam Cangkir beschlossen und auch gleich zusammen mit der Krönung durchgeführt.

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Nachdem sie verheiratet waren, bat Badurekan die Prinzessin um die Erlaubnis, Mutter Rubiah besuchen gehen zu dürfen. Die Prinzessin gab ihm die Erlaubnis, doch sollte er dort nicht zu lange bleiben und sie warten lassen. Am liebsten wäre sie mitgekommen, aber das wollte Badurekan nicht, weil er fürchtete, die Mutter wäre zornig, da er sie bei der Hochzeit nicht um ihr Einverständnis gefragt hatte. So ging Badurekan alleine zum Hause von Mutter Rubiah.

Als er dort ankam, war niemand zu sehen. Die Türen und Fensterläden waren geschlossen, und auf dem Hof wucherte schon das Gras. Badurekan rief nach Mutter Rubiah, erhielt aber keine Antwort. Doch Mutter Rubiah war im Haus! Sie hörte nur vor lauter Traurigkeit die Stimme Badurekans nicht! Seit Badurekan fort war, hatte sie nicht gegessen und auch nicht getrunken, und nur an das Schicksal ihres Herzenskindes gedacht. Sie hatte um das Leben Badurekans gebangt, seit das Huhn alleine zurückgekehrt war. Eigentlich war sie

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bereits sicher, Badurekan hätte ein ähnliches Unglück ereilt, wie ihrem Sohn Palembang.

Aber Badurekan rief ein weiteres Mal, diesmal noch lauter als vorhin, und dann noch einmal. Endlich hatte es Mutter Rubiah gehört und kam freudig aus dem Hause geeilt. Wie glücklich war sie über diese ganzen guten Neuigkeiten! Natürlich verzieh sie Badurekan, dass er sie bei der Hochzeit nicht um Erlaubnis gefragt hatte, und dann sagte sie: „Nun hat mein Kind einen Stamm im Wasser errichtet. Der Betelpfeffer ist bereits im Lagerhaus, und der Betelbaum ist zum Blütenkelche heimgekehrt.”

Aber was Mutter Rubiah genau damit meinte, wusste selbst Badurekan nicht.

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Das rebellische Kind

Es gab einmal eine junge Frau mit Namen Siti Rabiatun. Die war gerade zwei Monate verheiratet. Zu dieser Zeit war das Leben sehr schwierig. Die Reisfelder wurden nicht bewässert, und der Reis gedieh nicht, weil die Trockenzeit zu lange anhielt. Viele Menschen litten Hunger.

Auch das Leben der Familie Siti Rabiatuns wurde mit jedem Tag schwerer. Bis es ihr Mann nicht mehr länger in dem Dorfe aushielt. Er fasste den Entschluss, in der Fremde sein Glück zu suchen. In der Nacht teilte er diesen Entschluss seiner jungen Frau mit. Traurigen Herzens stimmte sie zu und hoffte, der Mann möge bald ein Auskommen finden. Und so ging der Mann in die Fremde und ließ Siti Rabiatun und ihre Mutter im Dorf zurück.

Das Leben wurde dadurch natürlich auch nicht leichter, aber anderen Leuten im Dorf ging es sogar noch schlechter. Viele konnten nur einmal am Tag eine dürftige Mahlzeit zu sich nehmen, und mussten ihr Essen mit Mais strecken, der

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eigentlich für die Hühner gedacht war. Aber die Hühner waren sowieso schon alle aufgegessen worden.

Eines Tages nahm sich die Mutter vor, nach Sopan zu gehen. Dort lebte ein reicher Mann. Sein Vorrat an Reis reichte auf Jahre. Viele Leute gingen dort etwas leihen. Und das wollte auch die Mutter Siti Rabiatuns versuchen. Sie teilte diesen Entschluss ihrer Tochter mit, und diese wollte die Mutter begleiten, hatte aber nur schmutzige alte Kleider.

„Ich bin doch gerade erst frisch verheiratet”, sagte sie zu ihrer Mutter. „Wie ungehobelt, mit diesen Kleidern zum Hause dieses Mannes zu gehen!”

Also ging die Mutter erst einmal zu anderen Leuten und lieh dort Kleider, und zwar solche hübschen, wie sie frisch Verheiratete anziehen. Dann gingen sie nach Sopan. Weil die Mutter unterwegs noch von einem Bekannten aufgehalten und in ein Gespräch verwickelt wurde, ging Siti Rabiatun schon mal alleine vor.

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Der Reiche war erstaunt, als er Siti Rabiatun den Hof seines Hauses betreten sah. „Wer ist diese Frau, die alleine ohne Begleitung hier erscheint”, fragte er sich.

Nachdem sie sich begrüßt hatten, lud er Siti Rabiatun ins Haus. Gerade in diesem Moment kam auch die Mutter mit ihrem geflickten Kleid in den Hof. Der reiche Mann fragte Siti Rabiatun, als er die alte Frau erblickte, wer dies wäre und sagte: „Wenn es deine Mutter ist, bitte sie ins Haus.”

„Ach, es reicht, wenn sie im Hof wartet. Ist nicht nötig, dass sie ebenfalls hineinkommt”, sagte Siti Rabiatun.

„Bitte sie ins Haus. Es ist nicht gut, wenn sie dort im Hof steht”, sprach der Reiche daraufhin.

Doch Siti Rabiatun war es sehr peinlich, und sie wollte wirklich nicht, dass die alte hunzelige Frau mit den geflickten Kleidern ins Haus kam. Also sagte der Mann schließlich: „Dann lass sie sich wenigstens auf den Platz dort setzen.”

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In früheren Zeiten gab es meist bei größeren Häusern vor der Türe einen besonderen Platz, wo gewöhnlich der Wachhund schlief. Auf diesen Platz wurde die Mutter gebeten! Es wurde sich eine zeitlang höflich unterhalten, bis der reiche Mann schließlich wissen wollte, wer diese alte Frau wäre.

„Ach, das ist unsere Dienerin. Sie putzt für uns und hilft im Haushalt.”

Dies alles hörte die Mutter an ihrem Platz. Sie war tief betroffen, aber führte die Anweisungen ihrer Tochter aus, um sie nicht vor dem Reichen zu beschämen, und auch, damit der nicht über die Lügerei zornig wurde und sie ohne Nahrungsmittel davon wies. Aber in ihrem Herzen regte sich bereits eine tiefe Abneigung gegen dieses ihr Kind.

Als der Reiche Siti Rabiatun einen Tee anbot, erinnerte er sich der Alten im Hof. Er rief sie ins Haus, damit sie auch etwas zu sich nähme, aber Siti Rabiatun sprang schnell auf und sagte hastig: „Ruft sie

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nicht ins Haus! Gebt ihr einfach nur dort etwas zu trinken.”

Da klingelte der Mann nach seinem Hausmädchen, die der Mutter das Getränk brachte und neben den Hundeschüsseln niederstellte. Aber die Hundeschüsseln fielen der Tochter gar nicht auf, so hing sie mit ihrer Aufmerksamkeit an dem Reichen. Wie peinlich wäre es ihr gewesen, wenn herausgekommen wäre, dass die alte Frau in den zerlumpten Kleidern ihre Mutter war!

Nachdem sie getrunken und Kuchen gegessen hatten, wollte der Mann endlich wissen, warum sie hergekommen waren.

„Der Grund, warum wir hierher kamen, ist der: Wir wollten Sie um Hilfe bitten. Die Lage in unserem Dorf ist wegen der Trockenheit sehr schlimm. Und wir hörten, dass Sie ein gütiger Mensch sind und auch schon anderen Leuten geholfen haben.”

Der reiche Mann war wirklich ein gütiger Mensch und ließ alsbald einen

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großen Sack mit Reis herbeibringen. Den musste sich nun die alte Mutter auf den Kopf setzen und nach hause tragen, während sich die Tochter vornehm bedankte und sich verabschiedete.

Es war an diesem Tag fürchterlich heiß, und die Mutter stöhnte unter dem Gewicht des großen Sackes. Aber erst, als ihr Dorf schon in Sichtweite war, kam Siti Rabiatun der Gedanke, auch mal den Sack zu tragen, denn erst einmal ging es ihr zu langsam, und zweitens dachte sie, es machte bei den Leuten im Dorf keinen guten Eindruck, wenn sie die alte Mutter den Sack tragen ließ. Die Mutter tat zuerst so, als ob sie ihr den Sack nicht geben wollte. „Dein Haarzopf wird in Unordnung geraten”, sagte sie.

„Ach, das ist nicht so schlimm”, meinte Siti Rabiatun und setzte sich den Sack auf den Kopf. Nun erst merkte sie, wie schwer der Sack in Wirklichkeit war, und wie heiß die Sonne herunterbrannte! Bald schon schmerzte der ganze Körper, und lange hielt sie es nicht aus. Als sie das Ufer eines Sees erreichten, ließ sie erschöpft den Sack

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fallen und sank neben dem Wasser zu Boden. Sie schöpfte mit der Hand das Wasser, aber hier am Ufer war es sehr schmutzig. So sprang sie nach kurzem Besinnen auf einen großen Stein, der nicht weit vom Ufer aus dem See ragte, denn an dieser Stelle schien das Wasser sauber zu sein. Kaum hatte sie jedoch den Stein berührt, bewegte der sich zur Mitte des Sees. Erschreckt wollte Siti Rabiatun wieder zurückspringen, war dafür aber bereits zu weit vom Ufer entfernt. Und nun fing der Stein langsam an zu sinken! Voller Angst schrie Siti Rabiatun nach ihrer Mutter, konnte sie doch nicht schwimmen!

„Einen Augenblick, Tochter. Zieh zuerst den Rock aus. Wir haben ihn doch nur geborgt. Mit was können wir ihn bezahlen, wenn er ruiniert wird?” rief die Mutter vom Ufer.

Die Tochter öffnete schnell den Rock, sank aber daraufhin sofort bis zur Hüfte ins Wasser. Sie öffnete auch die Bluse, aber sofort versank sie auch noch bis zur Kehle in dem See.

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„Das ist die Strafe Gottes für ein solches Kind”, dachte die Mutter und sah ohne großes Bedauern zu, wie der Kopf ihrer Tochter in den Fluten verschwand. Die Kleider trieben ans Ufer, und da die Mutter sonst nichts mehr tun konnte, sammelte sie sie ein, nahm den Sack Reis und machte sich auf den Heimweg.

Im Dorf erzählte sie den Bewohnern diese Geschichte, und viele zogen daraufhin los zu dem Platz, an dem Siti Rabiatun ertrunken war. An einer Stelle des Sees blubberte das Wasser, als ob es kochte. Und das tut es bis auf den heutigen Tag. Aber wenn man mit der Hand das Wasser fühlt, ist es nicht heiß, sondern nur so warm, wie ganz normales Wasser.

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Die Himmelsleiter

Der Ort der sieben Wasserspender liegt im Bezirk Kalumbuk Kenegerian Pauh Sembilan Padang Luar Kota Kabupaten Padang Pariaman. Dieser Ort wurde vor langer Zeit von sieben Prinzessinen besucht. Sie stammten von Göttern ab und flogen jeden Donnerstagabend vom Himmel zur Erde hinab, um an den Wasserspendern ein Bad zu nehmen und sich mit Limonen einzureiben.

Eines Abends kamen sie wieder zur Erde heruntergeschwebt. Sie wechselten ihre Kleider mit Badekleidern und legten sie sorgfältig auf einen Baumstamm, denn bei diesen Kleidern befanden sich auch ihre Flughemden, mit denen sie zur Erde flogen. Dann gingen sie in fröhlicher Laune zu den Wasserspendern, nahmen ihr Bad und rieben sich anschließend wie gewohnt mit Limone ein. Die Limonen-Schalen trieben den Bach hinab zur Mündung des Meeres und am Dorf Ulak Karang vorbei, das unter der Herrschaft von König Nanggalo stand. In diesem

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Dorf lebte ein Mann namens Malin Demam. Der ging an jenem Tage fischen und sah im Fluss die Limonenschalen vorbeitreiben. Als er eine von ihnen aus dem Wasser fischte, stellte er fest, dass an der Limone Haare hafteten. Er lief den Fluss hinauf und sah noch, wie die Prinzessinnen gerade ihre Flughemden überstreiften und sich in die Lüfte schwangen. Wie wunderschön waren diese Prinzessinnen! Malin Demam wartete Tag für Tag in der Hoffnung, dass die schönen Prinzessinnen wiederkehrten.

Und wirklich, eine Woche später kamen die sieben wieder zur Erde geschwebt und wechselten ihre Kleider, um an den sieben Wasserspendern ein Bad zu nehmen. Die schönste unter den sieben war die Prinzessin Bungsu. Malin Demam war sofort leidenschaftlich in sie verliebt, als er sie sah, und nahm sich vor, sie für sich zu erobern. Er beobachtete hinter einem Baum versteckt, wo die Prinzessinnen ihre Kleider ablegten, und als die Prinzessinnen zu den Wasserspendern gegangen waren, stahl er das Flughemd

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der Prinzessin Bungsu und verbarg es hinter einem Stein. Dann setzte er sich auf einen Felsen und sang ein Lied, dessen Text ungefähr so lautete:

Andere Leute fischen auf ‘nem Schiff,

doch Malin Demam fischt auf ‘nem Stein.

Andere Leute fangen Fische vor dem Riff,

doch Malin Demam fängt Kleider, oh wie fein!

Wie gewöhnlich rieben sich die Prinzessinnen nach dem Bad mit Limonen ein und kehrten dann zu dem Platz zurück, an dem sie ihre Kleider abgelegt hatten. Aber wie erschreckt war Puti Bungsu, als sie ihr Flughemd nicht mehr vorfand! Verzweifelt suchte sie die nähere Umgebung ab, und auch ihre Schwestern halfen ihr bei der Suche. Doch als sie nach einer Stunde immer noch nicht das Flughemd gefunden hatten, flogen die sechs Schwestern alleine los, damit sie noch rechtzeitig den Himmel erreichten, bevor das Himmelstor geschlossen wurde. Traurig blieb Puti Bungsu alleine zurück.

Da näherte sich ihr Malin Demam, der sie fragte, woher sie käme und warum sie

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weinte. Unter Tränen erzählte Puti Bungsu ihm die Geschichte und fragte Malin, was sie nun tun könnte. Denn auf der Erde kannte sie sich nicht aus.

Malin lud sie in das Haus seiner Eltern ein, und sie nahm die Einladung an. Gemeinsam gingen sie ins Dorf Ulak Karang und stellten die Prinzessin den Eltern vor. Einige Zeit blieb Puti Bungsu dort und freundete sich immer mehr mit Malin an. Ihre Schwestern kehrten jedoch niemals mehr zu den Wasserspendern zurück. Vielleicht hatten sie einen anderen Ort zum Baden gesucht, weil ihnen der alte nicht mehr sicher genug erschien. Vergeblich wartete Bungsu an vielen Donnerstagabenden dort auf sie.

Mit der Zeit kam es unter den Dorfbewohnern von Ulak Karang zum Gerede. Sie fürchteten wohl, Malin hätte eine uneheliche Liebesbeziehung mit der schönen Prinzessin. Da berieten sich Malin und Puti Bungsu mit den Eltern und stimmten schließlich darin überein, dass es das Beste wäre, wenn die beiden heirateten. So gründeten die beiden einen

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Haushalt, zur großen Freude der Eltern, die stolz auf die schöne Schwiegertochter waren. Bald schon gebar Puti Bungsu Malin einen Sohn, den sie den Namen Duano gaben. Sein Gesicht war außerordentlich schön, und er war sehr gescheit. Wie wurde er von seinen Eltern geliebt! Und die Schwiegereltern hatten großes Vergnügen, mit ihrem Enkel zu spielen.

Aber irgendwann drehte der Wind und auch die Ansichten. Malin ging oft von zuhause fort und ließ Bungsu alleine zurück. Die Verwandtschaft war eifersüchtig, und ihre Verleumdungen wurden von Tag zu Tag verletzender. Auch keimte bei Bungsu langsam der Verdacht auf, dass es Malin gewesen war, der das Flughemd gestohlen hatte. Und ihr wurde klar, dass sie ihn eigentlich nur geheiratet hatte, weil er mitleidig mit ihr gewesen war, und um dem Gerede der Leute zu entgehen. Eine tiefe Sehnsucht nach dem Himmel hatte sie erfasst, und am liebsten wäre sie sofort davon geflogen.

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Eines Tages, als die Mutter von Malin gewaschen und die Wäsche zum Trocknen aufgehängt hatte, rief sie die Prinzessin und bat sie, sie zu lausen. Damals war es üblich unter Frauen, dass man sich gegenseitig zur Entspannung lauste und dabei ein Schwätzchen hielt. Und während die Mutter sich entspannt zurücklehnte und sich behaglich lausen ließ, fragte Bungsu arglos, wo denn das Flughemd verstaut wäre. Achtlos in ihrem Wohlbehagen erklärte die Mutter, das Flughemd läge auf dem Dachboden.

„Ah, dort liegt es”, sagte Bungsu. „Wenn es dort oben liegt, dann holt es doch bitte herunter, damit ich Duano das Fliegen beibringe.”

„Wenn du mich noch ein Weilchen laust, werde ich es dir holen”, versprach die Mutter, die selber gerne mal ihren Enkel fliegen sehen wollte. Also lauste die Prinzessin ihre Schwiegermutter noch eine Weile, und die holte dann wirklich das Flughemd vom Dachboden.

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Bungsu zog Duano das Flughemd an und lehrte ihm das Fliegen. Am Anfang flog Duano nur bis zu den Wipfeln der Kokospalmen. Dann lehrte ihm seine Mutter verschiedene Flugmanöver, und sie probierten, ob sie auch zusammen fliegen könnten, oder ob sie dafür zu schwer wären. Es funktionierte! Zusammen kreisten sie über dem blättergedeckten Dach der Großmutter.

Als sie zur Landung ansetzten, kam gerade Malin nach Hause. Der war natürlich erschrocken, als er die beiden durch die Luft heranschweben sah. Wie peinlich war es ihm, dass die Prinzessin ihr Flughemd gefunden hatte, und er jetzt als Dieb vor ihr stand! So ließ er sich auch schnell überreden, als Bungsu ihn um die Erlaubnis bat, mit ihrem Sohn ihre Familie und Freunde im Himmel besuchen zu gehen, die sie ja so lange nicht gesehen hatte.

„Wenn mein Gatte Sehnsucht nach seinem Kind bekommt, so gehe er nach Cermin Toran. Cermin Toran liegt am Fuße des Berges Nago im Bezirk Limau

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Manis. Dort lebt die Prinzessin Batapatih, die eine Leiter zu den Himmeln besitzt. Frage sie geschickt, ob du ihre Leiter leihen darfst, aber verlobe dich nicht mit ihr. Wenn du dich mit ihr verlobst, werde ich sicher einen anderen heiraten!” sprach Puti Bungsu und erhob sich mit Duano in die Lüfte. Immer höher und höher stiegen sie, bis sie irgendwann den Augen des gedemütigten Malins außer Sicht gerieten.

Malin hielt es alleine gerade mal einen Monat aus. Da hatte er schon den Entschluss gefasst, sich nach Cermin Toran aufzumachen. Er bat seine Mutter um die Erlaubnis und brach bereits am nächsten Morgen auf.

Drei Monate reiste er, bis er schließlich Cermin Toran erreichte und die Prinzessin Santan Batapatih traf. Er sprach: „Verehrte Prinzessin Batapatih! Ich komme von weit her. Mein Name ist Malin Demam, und ich stamme aus dem Dorf Ulak Karang, aus dem Lande Batang Mua. Ich kam mit großer Hoffnung im Herzen zu dir, denn ich hörte, du besässest eine Himmelsleiter, die ich mir von dir borgen wollte.”

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Der Prinzessin Santan Batapatih gefiel die Rede von Malin. Und ihr gefiel nicht nur die Rede Malins, sondern auch Malin selbst! Deshalb sprach sie: „Gerne werde ich dir die Himmelsleiter geben, lieber Malin. Aber du musst mir vorher versprechen, mich zu heiraten, wenn du vom Himmel zurückkehrst.”

Malin dachte sich, dass ihn ein Versprechen allein ja noch nicht viel kosten würde. Hauptsache, er durfte die Himmelsleiter benutzen! Und so verlobte er sich mit Santan Batapatih, die ihm daraufhin die Leiter holte.

Höher und höher stieg Malin, obwohl ihm schon bald schwindelig wurde, wie er die Welt unter sich immer kleiner werden sah. Eine Woche lang kletterte er, sodass ihm bereits gehörig die Arme schmerzten. Aber die Sehnsucht trieb ihn immer weiter, und schließlich erreichte er den Himmel, wo er wirklich Prinzessin Bungsu und seinen Sohn Duano antraf. Doch wie unglücklich war er, als er erfuhr, dass die Prinzessin gerade einen Mann namens Medan Kiali geheiratet hatte!

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Siedendheiß fiel ihm ein, dass Prinzessin Bungsu ihn ja extra vorher noch gewarnt hatte, sich mit der Prinzessin Santan Batapatih zu verloben! Wie hatte er das nur vergessen können?

Und nun blieb Malin Demam nichts weiter mehr übrig, als mit elendem Herzen wieder zu Erde zurückzukehren!

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Saribunian und Alamsudin

Es gab einmal im Bezirk Kampung Dalam einen Herrscher, der besaß unvorstellbare Reichtümer und war Fremden gegenüber sehr wohlgesinnt. Ihm wurden von seiner Gemahlin Prinzessin Nalani zwei Kinder geschenkt, ein Knabe und ein Mädchen. Und seitdem war sein Land sicher, und sein Volk wohlhabend und einmütig.

Eines Tages dachte der Herrscher über das Schicksal seiner Kinder nach und sprach zu seiner Gemahlin: „Mein Herz Nalani! Seit wir Kinder haben, ist unser Land sicher und unser Volk wohlhabend und einmütig. Wäre es nicht gut, das zukünftige Schicksal unserer Kinder zu erfahren?”

„Sicherlich wäre es das, mein Gebieter”, antwortete Prinzessin Nalani.

Der Herrscher rief seinen Diener Selamat und gab ihm den Auftrag, ins Land Sungai Ngolo zu gehen und Inyik mit dem langen Bart einzuladen. Da ging

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der Diener auf Befehl des Herrschers Uta ins Land Sungai Ngolo, das von König Silang Kanas regiert wurde. Als er das Haus von Inyik mit dem langen Bart erreichte, teilte er Inyik die Einladung König Utas mit. Inyik mit dem langen Bart war auch sofort bereit, der Einladung zu folgen, wollte aber vorher noch bei König Silang Kanas um Erlaubnis bitten, weil ehemals die beiden Könige verfeindet waren. Selamat musste in der Eingangshalle des Palastes warten, während Inyik mit dem langen Bart eine Audienz bei König Silang Kanas hatte.

„König Uta will also das Schicksal seiner Kinder erfahren”, sprach König Kanas. „Ich hoffe, dass du ihm ein gutes Schicksal prophezeist, wenn du schlechte Zeichen siehst, und ein böses, wenn du ein gutes Omen siehst. Und ich hoffe, Inyik, du wirst meinem Auftrag folgen.”

„Natürlich, mein König!” beeilte sich Inyik mit dem langen Bart zu sagen und machte sich mit dem Diener Selamat auf zum Lande Kampung Dalam und zu König Uta. Am Palast angekommen

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meldete Selamat, dass Inyik mit dem langen Bart erschienen wäre. Sofort wurde Inyik vor den König geführt.

„O verehrter Inyik mit dem langen Bart”, sprach der König, „warum ich Euch rufen ließ ist folgendes: Ich will das Schicksal meiner Kinder erfahren. Seit sie geboren wurden, ist das Land sicher und das Volk wohlhabend und einmütig. Nun sagt mir doch, ist ihr Schicksal ein gutes oder schlechtes?”

Da antwortete Inyik mit dem langen Bart: „Gerne werde ich das Omen befragen, mein König. Noch vor dem Nachmittag werde ich meine Arbeit beginnen.”

Inyik wurde in einen Raum geleitet, in dem er ungestört arbeiten konnte, und der nahm Limone und Weihrauch und beräucherte die Limone mit dem Weihrauch. Dann sprach er über der Limone Zauberformeln, brach sie auf und legte die beiden Hälften in eine mit Wasser gefüllte Schüssel. Aus den Limonenhälften konnte Inyik mit dem

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langen Bart nun das Schicksal der beiden Königskinder herauslesen.

Das Omen verhieß Gutes: Beide würden einmal große Könige werden! Aber Inyik erinnerte sich an die Weisung von König Silang Kanas, ein schlechtes Schicksal vorherzusagen, wenn er ein gutes Omen sehen sollte. Deshalb sprach er zu König Uta: „O verehrter König Uta! Ich habe jetzt das Omen befragt und das Horoskop gedeutet.”

„Und, was sagt es?” fragte der König aufgeregt.

„O König Uta! Ihr habt Kinder des Unglücks! Wenn sie am Leben bleiben, wird Euer Königreich von einem anderen Herrscher erobert werden! Wenn Ihr dieses schreckliche Unheil nicht erleiden wollt, müsst ihr Eure Kinder im Urwald aussetzen. Setzt Ihr aber Eure Kinder im Urwald aus, kann nichts Schlimmes Euch widerfahren!”

Der König war erfreut, dass er das Schicksal gedeutet bekommen hatte, wusste er doch nun, was er zu tun hatte,

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um ein schreckliches Unheil abzuwenden! Er gab Inyik mit dem langen Bart ein großzügiges Honorar, und als dieser gegangen war, rief er die Prinzessin Nalani. Er berichtete ihr, was was Inyik mit dem langen Bart gesagt hatte: Man bräuchte nur die Kinder im Urwald aussetzen, um ein schreckliches Unheil abzuwenden! Die Prinzessin fing an zu weinen, wagte es jedoch nicht, sich dem Beschluss des Königs zu widersetzen.

Am nächsten Tag wurden die beiden Kinder gerufen, und der König sagte ihnen: „Meine lieben Kinder! Ich ließ euch rufen, um mit euch einen Ausflug zu machen. Packt eure Spielsachen und etwas Proviant in eure Taschen und macht euch fertig.”

Da antwortete Alamsudin: „Gut, wir werden sofort kommen. Lasst uns jedoch vorher noch unsere Mutter um Erlaubnis bitten.”

Alamsudin und Saribunian gingen zu ihrer Mutter und baten sie um die

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Erlaubnis, mit ihrem Vater einen Ausflug machen zu dürfen.

„Meine lieben Kinder”, sagte die Mutter, „wenn ihr geht, passt gut auf euch auf und beherzigt folgenden Ratschlag: Obwohl ihr Königskinder seid, haltet euch immer bescheiden. Seid niemals überheblich dem einfachen Volke gegenüber!”

„Das versprechen wir”, sagten die beiden und verließen dann ihre Mutter, um ihre Taschen zu packen. Dann zogen sie mit dem König los, zu einem unbekannten Ziel.

Immer weiter gingen sie in den Wald hinein, vorbei an Schluchten und Bergen, an Flüssen und Seen. Soweit gingen sie, dass den Kindern schon die Füße und Beine schmerzten, und sie sehr müde wurden. Als sie wieder einmal eine Pause machten und dabei ihre letzten Vorräte aufaßen, sagte der König zu seinen beiden Kindern: „Kinder, euer Vater will diesen Hügel dort ersteigen, um von dort die Aussicht über den Wald zu genießen.

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Wartet doch bitte so lange hier und ruht euch aus, bis ich wiederkomme. Geht nicht alleine irgendwohin, bis ich wieder da bin!”

Der König machte sich auf und ließ die Kinder alleine zurück. Anstatt aber den Hügel zu ersteigen, um die schöne Aussicht zu genießen, kehrte er zurück zu seinem Palast und war sich dabei sicher, dass die Kinder den Weg von sich aus nicht mehr zurückfänden.

Unterdessen hatten sich Saribunian und Alamsudin schlafen gelegt, weil sie so erschöpft waren. Als sie erwachten, war ihr Vater noch immer nicht zurückgekehrt. Allmählich bekamen sie Hunger, aber ihr Proviant war ja bereits aufgebraucht. Da sah Saribunian auf einem Baume einen Vogel sitzen und sprach zu Alamsudin: „Ich bin sehr hungrig, lieber Bruder. Fange doch diesen Vogel dort auf dem Baum, damit wir etwas zu essen haben.”

Alamsudin lud daraufhin sein Blasrohr und schoss den Vogel geradewegs vom

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Baum herunter, denn er war ein guter Schütze, und Gott half ihm. Er brachte den Vogel Saribunian, und die rupfte dem Vogel die Federn und säuberte ihn. Aber womit sollten sie ihn nun braten, hatten sie doch gar kein Feuer dabei?

Alamsudin überlegte eine Weile und erkletterte dann einen hohen Baum, damit er von dort irgendwo Rauch erspähen konnte. Und wirklich, in weiter Ferne sah er Rauch aufsteigen! Schnell kletterte er wieder vom Baum herunter und berichtete seiner Schwester von seiner Beobachtung: „Das Beste ist, Schwester: Ich gehe von dort Feuer holen, und du wartest solange hier auf mich.”

„Aber ich fürchte mich alleine im Wald”, erwiderte die Schwester.

„Ja, aber wenn unser Vater zurückkehrt, sind wir beide verschwunden. Besser ist, du wartest hier. Ich werde mich auch beeilen”, versprach Alamsudin und lief schon fort in die Richtung, in der er den Rauch erspäht hatte. Er durchquerte eine Schlucht, lief an einem Berg vorbei, sprang

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über einen Bach und stand schließlich vor der blättergedeckten Hütte eines Bauern. Doch kein Mensch war zu sehen, und auch als Alamsudin rief, erschien niemand, um ihn zu fragen, was sein Begehr wäre. Da öffnete Alamsudin einfach die Hütte, ging zum Kamin und nahm sich einen brennenden Ast, den er nun zu seiner Schwester tragen wollte.

Wir wechseln jetzt den Ort der Handlung und betrachten uns den Bauern, dem die Hütte gehörte. Der war auf sein Feld gegangen und hatte dort am Feldesrand einen Mann gesehen, der Holz fällte. Voll Argwohn beobachtete der Bauer den Mann, denn ihm wurde seit einiger Zeit von einem Unbekannten die Ernte gestohlen. Er näherte sich dem Mann und sprach: „Sicherlich bist du derjenige, welcher mir immer mein Gemüse klaut!”

Aber der Mann leugnete, obwohl es wirklich der Dieb war.

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„Wenn du nicht der Dieb bist”, fragte der Bauer, „wer dann? Hier in dieser Gegend lebt ja sonst niemand!”

Aber der Mann leugnete, obwohl es wirklich der Dieb war.

„Nun gut”, sprach der Bauer, „wir werden nun zu meiner Hütte gehen. Wenn wir dort niemanden treffen, werde ich annehmen, dass du der Dieb bist und dir deinen Lohn geben!”

Widerstrebend folgte der Dieb dem Bauern, doch wie freute er sich, als sie die Hütte erreichten und dort einen Knaben sahen, der sich gerade mit einem brennenden Ast davonmachen wollte!

„Das ist sicher der Dieb, den du suchst”, sprach der Dieb. „Lass ihn uns fesseln und ihm seine gerechte Strafe geben!”

„Hallo werter Freund!” rief der Bauer Alamsudin an. „Was hast du denn hier zu suchen? Erst klaust du mir die Gurken und das andere Gemüse, und nun schaust du auch noch in meiner Hütte nach, was du sonst noch gebrauchen kannst, was?”

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Erschrocken erwiderte Alamsudin: „Nein, werter Bauer! Ich habe niemals Gurken geklaut! Ich habe nur etwas Glut gesucht, damit ich einen Vogel braten kann. Ich habe vorhin gerufen, aber als mir niemand geantwortet hat, habe ich mir erlaubt, diesen Ast zu nehmen. Bitte gestattet mir, nun aufzubrechen.”

Aber daran dachte der wütende Bauer am allerwenigsten. Stattdessen schlug er auf Alamsudin ein, bis jener das Bewusstsein verlor. Dann fesselte er ihn an einen Baumstamm, trug ihn zum Strand und warf ihn samt Baumstamm ins Meer. Schon bald war Alamsudin weit von der Küste fortgetrieben, ohne das Bewusstsein wiedererlangt zu haben.

Wir wechseln nun den Ort der Handlung und betrachten uns einen jungen König, der bereits seit Wochen eine innere Unrast verspürte. Deswegen bat er seine Mutter um die Erlaubnis, im Wald jagen gehen zu dürfen. Nachdem er die Erlaubnis erhalten hatte, suchte er seinen Freund Juara Tembak, der ein Meister im Schießen und Laufen war. Gemeinsam

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gingen sie in den Wald, kletterten Berge hinauf und kletterten Berge hinunter, stiegen Schluchten hinab und stiegen Schluchten wieder hinauf. Schließlich stöberten sie einen Hirsch auf, und der König schoss einen Pfeil auf ihn ab. Aber der Hirsch war nur angeschossen und floh verwundet in den Wald hinein, verfolgt von den beiden Jägern. Lange Zeit rannten sie hinter dem Hirsch her, bis sie plötzlich auf einem Stein die Prinzessin Saribunian sitzen sahen. Der König rieb sich die Augen und fragte: „Bist du ein Dschinn oder ein Mensch? Wenn du ein Dschinn bist, hebe dich hinweg! Wenn du ein Mensch bist, so sage mir, was du hier tust!”

„Ich bin ein Mensch und kein Dschinn”, antwortete die Prinzessin. „Mein Bruder sucht Feuer, damit wir diesen Vogel hier braten können, aber bis jetzt ist er noch nicht wiedergekehrt.”

„Gut, du bist also ein Menschenkind!” stellte der König fest. “Aber es nicht gut, dass wir lange in diesem Wald verweilen, denn es will bald dunkel werden. Lasst

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uns zum Hause meiner Mutter gehen, die wird sich bestimmt freuen, dich kennenzulernen.”

Aber Saribunian wollte nicht mitgehen, wartete sie doch noch immer auf ihren Vater und ihren Bruder, der Feuer suchen gegangen war. Doch schließlich ließ sie sich überreden, weil ihr der König klarmachte, es wäre sehr gefährlich für sie alleine in diesem Wald, und weil ihr Vater und ihr Bruder ja schon gar zu lange fort geblieben waren. Es war außerdem eine schreckliche Vorstellung für sie, die Nacht über hier bleiben zu müssen.

So folgte sie dem König und dessen Freund zum Palast, wo sie der Königsmutter vorgestellt wurde. Saribunian verstand sich ausgezeichnet mit der Mutter, deshalb blieb sie erst einmal im Palast. Und die Mutter hatte jetzt endlich jemanden gefunden, mit dem sie ein Schwätzchen halten konnte.

Wir wechseln nun den Ort der Handlung und betrachten uns die Prinzessin Adamsuri, die von einem

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schrecklichen Riesen gefangengehalten wurde. Monatelang lebte sie jetzt schon auf der Insel des Riesen und war dabei sehr unglücklich. So unglücklich, wie eine kleine Prinzessin nur sein kann, die irgendwann einem bösen Riesen als Abendessen dienen soll!

Eines Tages ging sie am Strand spielen. Immer weiter ging sie den Strand entlang, und wie erstaunt war sie, als sie plötzlich einen angeschwemmten Baumstamm entdeckte, auf der ein Junge festgebunden war! Der Junge sah sehr erschöpft aus und murmelte, als er die Prinzessin sah: „Liebe Schwester Saribunian, gib mir doch bitte Wasser, ich bin so durstig.”

„Ich heiße nicht Saribunian, ich heiße Adamsuri!” antwortete die Prinzessin. „Aber Wasser kann ich dir trotzdem geben.”

Dann öffnete sie die Knoten des Seiles, mit dem Alamsudin an den Stamm festgebunden war, und brachte ihn zum Haus des Riesen. Dort wusch sie ihn und gab ihm zu essen und zu trinken, während

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Alamsudin die Geschichte erzählte, wie er nach hier verschlagen wurde. Gerade als er mit seiner Geschichte zuende war, hörten sie den Riesen heranstampfen. Schnell versteckte die Prinzessin Alamsudin unter einer großen Pfanne, und schon kam der Riese zur Türe hereingepoltert. Der sprach: „Hallo mein süßes Käfighühnchen! Wo ist der Mensch, den ich hier rieche? Ich habe schon großen Appetit auf Menschenfleisch!”

„Hier gibt es niemanden außer mir. Wenn du Menschenfleisch fressen willst, musst du mit mir vorlieb nehmen”, antwortete Adamsuri tapfer.

Aber die Prinzessin war dem Riesen noch zu klein und zu mager, die wollte er lieber noch ein Weilchen mästen. Stattdessen fraß er eine Ziege, die die Prinzessin dem Riesen über dem Feuer braten musste.

Am nächsten Tag zog der Riese wieder von dannen, um auf der Insel jagen zu gehen. Da kam Alamsudin unter der Pfanne hervorgekrochen, und gemeinsam

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mit der Prinzessin ging er zum Strand, um dort nach einer Möglichkeit zu suchen, wie sie die Insel verlassen könnten.

Während sie so am Strand saßen und über ihre missliche Lage nachgrübelten, sahen sie auf einmal ein Schiff, das an der Insel vorbeisegelte. Alamsudin fing an zu winken und zu rufen, und sie hatten Glück: Das Schiff drehte bei und nahm Kurs auf den Strand! Ein Beiboot wurde ausgesetzt und brachte die beiden an Bord des Schiffes.

Nachdem sie eine Weile gesegelt waren, wurden sie vor den Kapitän des Schiffes geführt, der fragte: „Na, mein junges Volk! Wohin des Weges?”

„Wo immer ihr hinsegelt, wir werden gerne mitfahren”, antwortete Adamsuri.

„Nicht sehr fein, ein so hübsches Mädchen in die Fremde zu führen”, sagte der Kapitän barsch zu Alamsudin und gab ihm einen Fußtritt. Der wusste gar nicht, wie ihm geschah, als die Matrosen anfingen, auf ihn einzuprügeln und ihn schließlich über Bord warfen. Fassungslos

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und weinend stand Adamsuri an der Reling und wäre vielleicht Alamsudin hinterher-gesprungen, wenn sie nicht vom Kapitän festgehalten worden wäre.

Kaum war Alamsudin ins Meer gefallen, als auch schon ein gewaltiger Hai angeschwommen kam, der Alamsudin in einem Happen verschlang. Aber Alamsudin lag dem Hai sehr schwer im Magen, sodass der Hai sich schließlich nicht anders zu helfen wusste, als zur Küste zu schwimmen und sich an den Strand zu legen.

Zufällig kam Mutter Rubiah den Strand entlanggeschlendert, die sprach der Hai an: „O Frau, bitte hilf mir! Ich halte diese Bauchschmerzen nicht mehr länger aus!”

Mutter Rubiah ließ sich nicht lange bitten und schnitt mit einem Messer den Bauch des Haies auf, und heraus kam Alamsudin. Der Hai bedankte sich bei Mutter Rubiah und schwamm dann wieder davon, während Mutter Rubiah sich verwundert diesen schönen Knaben betrachtete. Dann brachte sie ihn in ihr

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Haus, kleidete ihn neu ein und gab ihm zu speisen. Nach ein paar Tagen schon hatte sich Alamsudin wieder völlig erholt, und Mutter Rubiah sprach zu ihm: „Morgen werden wir zum Palst des Königs dieses Landes gehen. Er will morgen heiraten und hat auch mich eingeladen. Sicher wird er nichts dagegen haben, wenn ich dich mitbringe.”

Wir wechseln nun den Ort der Handlung und betrachten uns den Kapitän des Schiffes, der mit Adamsuri zum Land des jungen Königs segelte. Im Hafen wurde er aufgefordert, mit seiner ganzen Schiffsbesatzung zum Palaste des Königs zu kommen. Alle Fremden wären zur Hochzeit des Königs eingeladen, und der Herrscher wäre sehr zornig, wenn sie nicht kämen. Also ging der Kapitän mit seiner ganzen Mannschaft zum Palast, sperrte aber vorher Adamsuri in eine Kabine ein, damit sie nicht entwischte.

Die großen Palasttrommeln wurden geschlagen, um jeden, der sie hörte kundzutun, dass nun die Hochzeitsfeierlichkeiten des Königs und

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der Prinzessin Saribunian begannen. Sieben Tage und Nächte dauerte das Fest, und sieben Büffel wurden dafür geschlachtet. Während der Feier musste der König Saribunian versprechen, nach der Hochzeit ihren verschollenen Bruder suchen zu gehen, der aber bereits unerkannt unter der Menge der Festbesucher weilte. Wie klopfte Alamsudins Herz, als er Saribunian wiedererkannte! Heimlich schlich er sich in ihre Privatgemächer, um sie dort zu erwarten, wurde aber dabei von Juara Tembak erwischt, der ihn vor den König zerrte.

„Dieser hier wollte sich in Eure Gemächer einschleichen, wohl um dort Übles zu begehen”, sagte Juara Tembak zum König.

„Ach, das ist doch der Dieb, der mir meine Gurken geklaut hat”, rief da der Bauer, der auch unter den Hochzeitsgästen war. Und auch der Kapitän kam herbei und sagte: „Dieser hat ein junges Mädchen entführt und auf eine einsame Insel verschleppt.”

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Zornig blickte der König auf diesen ungebetenen Hochzeitsgast, doch da erkannte Saribunian ihren Bruder und fiel ihm um den Hals.

„Das ist mein verschollener Bruder”, sagte sie freudestrahlend zum König.

Und nun musste Alamsudin die ganze Geschichte erzählen, wie er endlich seine Schwester wiedergefunden hatte. Während er erzählte, wurde sowohl dem Bauern als auch dem Kapitän immer unbehaglicher zumute. Aber entwischen konnten sie nicht, weil hinter ihnen dichtgedrängt die staunende Menge der Gäste stand, die mit großen Augen der seltsamen Geschichte Alamsudins lauschte. Und dann wurden die beiden festgenommen, und Juara Tembak zum Schiff des Kapitäns geschickt, wo er Prinzessin Adamsuri befreite. Der Bauer erhielt hundert Stockhiebe auf die blanken Fußsohlen, aber der Kapitän wurde an der Rahe seines eigenen Schiffes aufgeknüpft.

Es wurden noch sieben weitere Büffel geschlachtet, weil jetzt auch die Hochzeit

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von Prinz Alamsudin und der Prinzessin Adamsuri gefeiert werden musste. Und es wurde die größte, schönste und fröhlichste Feier, die dieses Land je gesehen hatte!

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Udin und die Meerjungfrau

Es gab einmal im Dorf Kandang Jawi einen jungen Mann namens Udin. Er war Fischer und lebte mit seiner Mutter in einer Hütte am Strand. Jeden Nachmittag fuhr er zum Fischen hinaus auf die See und kehrte gewöhnlich erst am nächsten Morgen zur Zeit der Dämmerung wieder zurück.

Eines Tages war der Himmel wolkenverhangen. Viele Leute rieten Udin ab, heute hinaus aufs Meer zu segeln, und auch seine Mutter wollte es ihm verbieten, aber er sagte nur: „Vor dem Tod ist das Sterben verboten!”

Mit seinem kleinen Einbaum segelte er hinaus aufs Meer. Normalerweise sah man in der Nacht die Lampen vieler Boote auf dem Wasser, aber in dieser Nacht leuchtete einzig Udins Lampe. In der Mitte der Nacht brach dann ein fürchterlicher Sturm los, der den Einbaum Udins zum Kentern brachte.

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Am nächsten Morgen liefen die Einwohner des Dorfes zum Strand und hielten nach Udin Ausschau, aber nur die weite See und kein Udin waren zu sehen. Sie diskutierten über den Vorfall und kamen zu dem Schluss, Udin wäre bestimmt ertrunken. Nur Udins Mutter gab die Hoffnung nicht auf und betete zu Gott, dass Er ihren Sohn wieder heil an Land brächte.

Währenddessen trieb Udin immer noch auf dem Meer. Er hatte sich an ein Stück seines gekenterten Bootes geklammert und sagte sich immer wieder, dass es verboten wäre, vor dem Tod zu sterben, um nicht zu verzweifeln. So weit man sehen konnte, war außer Wasser und Himmel nichts zu sehen, und er hörte nur das Rauschen der Dünung.

Plötzlich fühlte er unter sich den Rücken eines großen Fisches. Ehe er noch recht begriff was geschah, hatte er das Stück Holz losgelassen und ritt auf dem Rücken des Fisches. Lange Zeit schwamm der Fisch immer weiter auf’s offene Meer hinaus. Dann auf einmal tauchte er, und

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Udin fiel nichts anderes ein, als sich am Rücken des Fisches festzuklammern und mitzutauchen. Immer und tiefer tauchte der Fisch, und Udin stellte verwundert fest, dass er hier unter Wasser atmen konnte.

Am Grunde des Meeres angekommen, traf er eine wunderschöne Meerjungfrau. Die saß vor einer Art Palast und stellte sich mit Duyung vor. Und dann kam eine ganze Schar von Wassernixen herbeigeschwommen, die für Udin einen Begrüßungstanz aufführten. Der wusste gar nicht, wie ihm geschah und glaubte zu träumen. Er ahnte nicht, dass all dies zum Plan der Prinzessin gehörte, um Udin zum Dableiben zu überreden.

„Schon lange lebe ich in diesem Palast und habe nur diese Hoffräuleins als Freunde. Sonst gibt es niemanden, mit dem ich reden oder die Zeit verbringen könnte. Nun endlich treffe ich jemanden von der Küste! Wenn du bei mir bleiben möchtest und in meinem Palast leben, werde ich dir alle meine Reichtümer zu Füssen legen”, sprach die Prinzessin zu

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Udin. Doch der antwortete: „Wenn ich lange hier bleibe, was wird dann aus meiner Mutter? Sie hat sonst niemanden, der sich um sie kümmert.”

„Wenn es das ist, was dir Sorgen bereitet, so werde ich jemanden schicken, der sie mit allem versorgt, was sie braucht.”

So blieb Udin bei der Prinzessin Duyung, während seine Mutter noch jeden Tag um ihn weinte, obwohl viele Nachbarn versuchten, sie zu trösten. Seltsamerweise fand sie jeden Morgen eine große Schüssel mit Reis und Fisch in einer Ecke ihres Zimmers. Sie erzählte davon den Dorfbewohnern, aber niemand wusste, wer derjenige war, der die Sachen dort hinstellte.

Eines Tages erzählte eine Dienerin der Prinzessin, dass die Mutter Udins schwer erkrankt wäre. Zu dieser Zeit saß Udin in seinem Zimmer, umgeben von tanzenden Wassernixen, die ihm die Zeit vertreiben sollten. Als die Prinzessin das Zimmer betrat, verschwanden sie auf einen Wink

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Duyungs. Dann sprach die Prinzessin: „Schon lange weilst du bei mir im Palast, lieber Udin. Aber du musst nun zurück zur Küste, denn deine Mutter ist schwer erkrankt. Nimm diesen Ring und diese Flasche mit Öl. Mit dem Öl reibe den Körper deiner Mutter ein, auf dass sie genese. Wenn es keine Fische mehr geben sollte, blase Rauch auf den Stein des Ringes und rufe mich hier im Palast. Und wenn du später Sehnsucht haben solltest, mich zu sehen, dann gehe in einer Vollmondnacht zum Strand. Dort werden wir uns wieder begegnen.”

Udin war schon die ganze Zeit unruhig gewesen, weil er oft an seine Mutter gedacht hatte. Als er aber nun hörte, sie wäre krank, sprang er sofort auf und nahm den Ring und die Flasche mit Öl. Die Prinzessin befeuchtete noch den Stein des Ringes mit ihrem Atem, und bevor sich Udin versah, stand er bereits neben dem Bett seiner Mutter.

Die Mutter war ohne Bewusstsein und lag im Fieber. Rasch öffnete Udin die Flasche und rieb wie ihm geheißen den

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ganzen Körper seiner Mutter mit dem Öl ein. Bald darauf erwachte die Mutter und sah neben ihrem Bett ihren Sohn. Sie dachte aber, sie träumte oder halluzinierte im Fieber. Erst als sie sich kräftig in den Arm gekniffen hatte, begriff sie, dass ihr Sohn tatsächlich zurückgekehrt war. Niemand hatte geglaubt, dass er noch am Leben wäre! Sie umarmte ihn, und erst jetzt bemerkte sie, dass sie wieder gesund war! Das kam von dem Öl und dem Zauberring, den die Prinzessin Duyung Udin gegeben hatte, aber das wusste sie ja nicht!

Am nächsten Tag ging Udin in den Warung des Dorfes und trank einen Kaffee. Die Leute strömten erstaunt zusammen und gafften ihn ungläubig an. Aber dann fassten sie sich und erzählten Udin, dass sie bereits seit Wochen kaum mehr Fische gefangen hätten. Jedes Mal, wenn sie ihre Netze ausgeworfen hätten, hätten sie nur Quallen herausgefischt. Da sagte Udin zu ihnen: „Wir werden zu Gott beten. Möglicherweise werden wir ab heute mehr Erfolg haben.”

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Wie gewöhnlich fuhren die Fischer am Nachmittag hinaus aufs Meer. Aber statt die ganze Nacht draußen zu bleiben, kehrten alle bereits am Abend zurück, denn ihre Boote quollen über vor Fisch. Die Männer schauten sich verwundert an und erinnerten sich der Worte Udins, dass sie ab heute möglicherweise mehr Erfolg hätten. „Sein Gebet ist erhört worden”, dachten die Fischer.

Ab diesem Tage wurde das Leben der Fischer sehr angenehm. Ohne viel Arbeit hatten sie immer volle Netze. Lange Zeit ging das so, bis eines Tages ein Vorfall für Aufregung sorgte. Ein Fischaufkäufer aus einem anderen Dorf und ein Fischer hatten Streit bekommen und schlugen am Strande aufeinander ein. Zu dieser Zeit saß Udin neben seiner Hütte und flickte Netze. Ein Junge kam herbeigelaufen und erzählte Udin von dem Kampf. Schnell eilte Udin zum Strand und fand dort den Fischer verletzt, und den Fischaufkäufer bewusstlos auf dem Sand liegend vor.

Udin konnte sich schon denken, warum die beiden aneinandergeraten waren,

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waren doch die Fischer in letzter Zeit wegen ihrer guten Fänge immer überheblicher geworden und hatten herablassend zu den Bewohnern der Nachbardörfer geredet. So, als ob sie etwas Besseres wären, weil sie derart viele Fische fingen!

Drei Tage später waren die Netze wieder leer, und das Leben wurde erneut schwierig. Viele verschuldeten sich im Laden des Dorfes, weil sie keinen Reis mehr kaufen konnten. Schließlich fragten sie Udin, ob er ihnen nicht noch einmal helfen könnte. Der aber gab ihnen zuerst einmal einen Rat: „Wenn wir Erfolg haben, dürfen wir nicht überheblich werden. Wir müssen höflich zu den Aufkäufern sein. Wie ich gesehen habe, liebt ihr rauhe Worte und bringt den Menschen aus den anderen Dörfern nicht den nötigen Respekt entgegen. Das ist sicher der Grund, warum euch von Gott der Fisch verweigert wird.”

Drei Tage betete Udin zu Gott und bat um guten Fang, aber diesmal wurde sein Gebet nicht erhört. Niedergeschlagen saß

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er im Warung und trank seinen Kaffee. Die Leute schauten ihn an und fragten, was denn jetzt werden sollte. Da stand Udin auf, ging zum Strand hinunter, und wie erstaunt waren die Leute, als er einfach immer weiter auf’s Meer hinauslief, ohne im Wasser zu versinken! Immer weiter ging er, bis niemand ihn mehr sehen konnte.

Auf der Mitte des Meeres traf Udin die Prinzessin Duyung, die er fragte, warum die Netze fortan leer blieben. Die Prinzessin sagte ihm den Grund: „Das kommt daher, weil die Fischer Böses im Schilde führen. Sie wollen dir deinen Ring stehlen, deswegen sind die Fische ins Meer geflohen. Die Fischer sind überheblich und kennen keine Dankbarkeit.”

Da kehrte Udin wieder zur Küste zurück und rief die Bewohner des Dorfes zusammen.

„Es gibt keinen Fisch mehr, weil ihr böse Absichten verfolgt! Ihr wollt mir meinen Ring stehlen, aber der Ring ist nur an

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meinem Finger zauberkräftig. Wenn ihr es nicht glaubt, probiert es aus”, sagte er und warf Pak Pian den Ring zu. Dieser probierte den Ring aus und wünschte sich einen Klumpen Gold. Doch statt eines Klumpen Goldes erhielt er nur einen Klumpen Thunfischkot. Als nächstes wünschte sich Pak Pian einen Thunfisch, erhielt aber nur eine glibberige Qualle. Und noch ein drittes Mal probierte Pak Pian den Ring aus, dann war allen Leuten klar, dass die Macht des Ringes nicht übertragbar war, und dass Udin der einzige war, der ihn besitzen durfte.

Seit dieser Zeit waren die Fischer Udin ergeben und waren folgsam, denn er konnte ihnen einen guten Fang bescheren. Und seit dieser Zeit war Udin im Bezirk Pasir Kandang als Mann mit Zauberkräften bekannt. Doch führte Udin weiterhin sein bescheidenes Leben, und wenn einmal ein Netz am Riff hängen blieb, half er immer, es wieder zu flicken.

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Das Meer des Feuers

In Padang lebte vor langer Zeit ein König namens Haji Muda. Der war mit der Prinzessin Bunga Kapas vermählt und hatte eine Tochter mit dem Namen Sari Nilam. Die war nun bereits fünfzehn Jahre alt, deshalb beschloss der König, ihr einen Bräutigam zu suchen, denn so war es Brauch.

Man schlug die großen Palasttrommeln und rief das ganze Volk zusammen. Aufgeregt kamen die Menschen herbeigeströmt und wollten wissen, warum die Trommeln geschlagen wurden. Ob vielleicht ein Feuer ausgebrochen, oder aber, ob ein Feind im Anmarsch wäre. Doch der König beruhigte die Menge und sagte ihr, dass die Trommeln geschlagen wurden, weil ein Bräutigam für seine Tochter gesucht werde.

Die Minister und Heerführer organisierten die Gesellschaftsspiele für die Hochzeitsfeier. Drei Monate sollten die Spiele dauern, und siebzig Büffel sollten

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dafür geschlachtet werden. Leute mussten eingeteilt werden, um den Platz herzurichten, Holz für die Feuer zu sammeln und um Einladungen zu schreiben und zu verschicken.

Eingeladen wurde unter anderem Prinz Habib, Sohn von König Umar und Prinzessin Nurmen, der in Batang Tabit residierte.

Eingeladen wurde unter anderem Prinz Perapatih, Sohn von König Angek Garung und Prinzessin Lambayani, der in Cermin Toran residierte.

Beide Prinzen trafen fast gleichzeitig auf dem Platz der Feierlichkeiten ein, wo bereits lebhaftes Treiben herrschte. Drei Büffel hingen an Spießen über großen Feuern, und die Menge vergnügte sich mit allerlei Dingen wie Würfeln oder Kartenspielen. Beide Prinzen wurden zur Ehrenloge gebeten, wo sie besser die Tänze und Schaukämpfe beobachten konnten.

Der Wesir wurde zu Prinzessin Sari Nilam geschickt, um ihr zu berichten, dass

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zwei weitere Prinzen erschienen wären. Die Prinzessin zog ihren Schleier über und kam hinab zur Loge, um die Prinzen zu begrüßen. Nach den üblichen Begrüßungsformeln bat sie die Prinzen, sich weiterhin gut zu amüsieren, und zog sich dann wieder in ihre Gemächer zurück. Dort sagte sie dem Wesir, die Prinzen gefielen ihr. Beide sähen gut aus, und es wäre sehr schwierig, sich für den einen oder anderen zu entscheiden. Deshalb wäre es wohl am besten und gerechtesten, sie heirate keinen von beiden, denn sie wollte keinem Unrecht tun. Zur rechten Zeit fände sie schon ihren Bräutigam.

Diesen Entschluss teilte der Wesir dem König und seiner Gemahlin mit. König Haji Muda war von der Entscheidung seiner Tochter gar nicht begeistert. Im Gegenteil, er war richtig wütend!

„Seit zwei Monaten halten wir die Spiele ab! Vierzig Büffel haben wir bereits schlachten lassen! Viele Jünglinge von nah und fern haben sich bei uns vorgestellt, aber keiner ist der Prinzessin gut genug!

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Am besten, wir beenden die Spiele!" rief er und holte seine Minister und Heerführer herbei, damit diese die Spiele beendeten. Die Minister und Heerführer waren sehr erstaunt über diesen Befehl, denn der Platz war noch voller Leute. Aber sie gehorchten und schickten die enttäuschten Menschen nach hause.

In der Nacht sprach Prinzessin Bunga Kapas zu ihrem Gemahl: „Unsere Tochter konnte wohl deshalb keinen der Besucher ins Herz schließen, weil sie noch sehr jung ist und ihres Onkels Nangkodo Rajo gedacht hat. Meiner Ansicht nach wäre es das Beste, ihm mal einen Brief zu schreiben und ihn von der geplanten Hochzeit zu unterrichten.”

Dem stimmte König Haji Muda zu, und so schickten sie einen Brief nach Gunung Medan, denn dort lebte der Onkel. Der Brief kam gerade zu der Zeit an, als der Onkel auf dem Markt Waren verkaufte. In dem Brief stand, der Onkel sollte doch bitte nach Padang kommen, denn seine Nichte wäre bereits im heiratsfähigen

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Alter, und es werde ein Bräutigam für sie gesucht.

Nachdem Nangkodo Rajo die Nachricht gelesen hatte, kehrte er nach Hause zurück und berichtete seiner Frau, Prinzessin Bunga Tempurung, und seinem Sohn, Prinz Ameh Dunia, von dem Brief. Beide waren über diesen Brief erfreut, denn es gab es jetzt endlich einen Anlass, einmal ihre Familie in Padang zu besuchen. Besonders Prinz Ameh drängte darauf, sofort aufzubrechen, hatte er doch niemals im Leben seine Tante und seine Kusine kennengelernt. Also wurde beschlossen, schon morgen aufzubrechen. Die Mutter bereitete Speisen für die Reise vor, Nangkodo Rajo gab seinem Stellvertreter bescheid, und Ameh ging sich von seinen Freunden verabschieden.

Bevor das Schiff in See stach, betete Nangkodo Rajo: „Oh Allah! Bitte sende uns günstige Winde für unsere Reise, auf dass wir wohlbehalten Padang erreichen.”

Sein Gebet wurde erhört, und bereits nach wenigen Tagen erreichten sie den

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Hafen von Padang, wo sich die Menschen über Prinz Ameh Dunia wunderten, der so gut aussah und solche guten Manieren besaß.

Unterdessen war Prinz Perapatih nach Cermin Toran zurückgekehrt. Er fühlte sich in seinem Stolz gekränkt, weil er anscheinend nicht gut genug für die Prinzessin war, und berichtete seinem Vater, er wäre schlecht bedient worden. Die Prinzessin wäre außerdem stolz und überheblich, so schön sie auch wäre.

„Sie hätte mich vielleicht als Bräutigam genommen, wenn wir mehr in privater Atmosphäre gewesen wären. Aber bei dem Rummel, der dort auf dem Platz herrschte, und der nur wegen ihr veranstaltet wurde, war sie wohl blind in ihrer Eitelkeit”, sagte Prinz Perapatih.

„Wahrscheinlich ist es am Vorteilhaftesten, ich rede mal persönlich mit ihrem Vater. Wenn du sie überhaupt noch heiraten willst”, sagte König Angek Garung, dem sein Sohn Leid tat, weil der so niedergeschlagen wirkte.

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„Wenn du das machen wolltest, Vater”, rief der Prinz mit glänzenden Augen, denn er war in Wirklichkeit sehr verliebt in Sari Nilam. Und so ging König Angek Garung zu König Haji Muda und redete unter vier Augen mit ihm.

„Wie ich hörte, habt ihr eine wunderschöne Blume zu verkaufen. Ich dagegen besitze eine schwarze Hummel. Ich kam also mit der Hoffnung, dass wir uns da einigen können”, sprach König Angek Garung, woraufhin König Haji Muda antwortete: „Es tut mir sehr leid, mein König. Natürlich besitze ich diese Blume, und beinahe hättet ihr sie kaufen können. Aber Sari Nilam will fürs erste nicht mehr heiraten und sagt, ihr Bräutigam werde sich schon von alleine finden, wenn die Zeit dafür reif wäre. Sicher werde sie ihm noch unverhofft begegnen.”

Mit dieser Antwort kehrte König Angek Garung zu seinem Sohn zurück. Perapatih wurde daraufhin sehr mürrisch.

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„Wenn ich sie nicht heiraten kann, soll sie auch kein anderer besitzen”, dachte er und fasste den Entschluss, die Prinzessin und ihren zukünftigen Bräutigam vom großen Vogel Greif fangen zu lassen, und den Bräutigam in das Meer des Feuers zu werfen.

Mittlerweile hatten Nangkodo Rajo, Bunga Tempurung und Prinz Ameh den Palast König Haji Mudas erreicht. Wie freute sich Prinzessin Bunga Kapas, als sie ihren Bruder sah! Nach einer herzlichen Begrüßung und einem Willkommensschmaus zog sie ihren Bruder beiseite und sprach: “Lieber Bruder Nangkodo! Warum ich dich habe rufen lassen ist folgendes: Schon lange weilst du in der Fremde. Und in dieser Zeit ist unsere Tochter ins heiratsfähige Alter gewachsen. Nach unserem Brauch ist es schicklich, ihr jetzt einen Bräutigam zu suchen. Solange sie klein war, war sie unser Kind. Doch nun, wo sie erwachsen ist, ist sie deine Nichte. Wir haben bereits Spiele abgehalten, aber keiner der

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Jünglinge konnte bisher ihr Herz erobern. Bitte, versuche du mit ihr zu reden.”

„Gut. Ich werde versuchen, mit Sari Nilam zu reden. Sie ist noch sehr jung. Ihr Blut ist wie der Blütenkelch des Betelbaumes und ihr Alter wie der des einjährigen Maises. Sie besitzt noch keine Erfahrung, und vielleicht auch noch nicht den Willen zu heiraten. In diesem Fall können wir sie nicht drängen.”

Was Prinzessin Sari Nilam anging, so war sie glücklich über die Ankunft ihres Oheims. Aber sie war noch viel erfreuter über die Ankunft des Prinzen Ameh Dunia. Einen so hübschen Prinzen mit solch guten Manieren hatte sie in ihrem Leben nocht nicht gesehen! Deshalb sprach sie bei der nächsten günstigen Gelegenheit zu ihrer Vertrauten, der Kammerzofe: „Meine liebe Vertraute! Wie es aussieht, liegt ein Haar im Mehl. Nun ist es nicht gut, das Mehl zu zerstreuen oder das Haar zu zerschneiden. Was suchen wir nach einem schwarzen Käfer, wenn wir bereits einen im Stall haben?”

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Die Zofe verstand sofort und lächelte verschmitzt. Dann eilte sie zu Prinzessin Bunga Kapas und König Haji Muda und teilte ihnen den Entschluss von Sari Nilam mit. Der König wiederum eilte zufrieden zu Nangkodo Rajo und sprach: „Verehrter Nangkodo Rajo! Wir besitzen eine duftende Blume, und Ihr besitzt eine schwarze Hummel. Nach meiner Meinung wäre es gut, die beiden zusammenzuführen. Was haltet Ihr davon?”

„Wenn es der beiden Wille ist, werden wir sie nach unsrem Brauch verheiraten. Beides sind meine Herzenskinder, warum sollte ich mich da nicht freuen?”

Und so wurden bald darauf Sari Nilam und Prinz Ameh nach dem Brauch der Minangkabau verheiratet. Und dem Brauch von Padang folgend, veranstalteten sie danach eine Hochzeitsreise durch die umliegenden Gebiete.

Dies alles erfuhr auch Prinz Perapatih. Wie heiß wurde sein Herz, als er diese

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Neuigkeiten vernahm! Wie gekränkt und zornig war er! Ohne lange zu überlegen öffnete er den Käfig des mächtigen Vogel Greif und gab dem Garuda den Befehl, sowohl die Prinzessin, als auch ihren Bräutigam zu ergreifen, und in das Meer des Feuers zu werfen. Der riesige Vogel stieß sich vom Boden ab und schwebte geschwind wie der Wind zu Tale. Schon von weitem erspähte er die Hochzeitsprozession und das Brautpaar in ihrer Kutsche.

Für die Prinzessin war es der schönste Tag in ihrem Leben. Zärtlich hielt Prinz Ameh ihre Hand, während ihnen das Volk fröhlich zujubelte. Vor ihnen liefen Tänzerinnen und Musikanten, und hinter ihnen folgten die Wagen von König Haji Muda und Nangkodo Rajo.

Doch plötzlich verdüsterte sich der Himmel und Schreie ertönten. Mit weit ausgebreiteten Schwingen stürzte sich der Garuda aus den Lüften herab und packte mit seinen Krallen die Kutsche des Brautpaares, während er mit seinem Schnabel das Pferd in zwei Hälften zerriss.

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Ehe noch die Menge richtig begriff, hatte der Garuda die Kutsche samt Prinz und Prinzessin in die Luft gehoben und war mit gewaltigen Flügelschlägen in Richtung des Vulkanes Merapi entschwunden. Immer höher und höher stieg der Vogel, während sich die Prinzessin verzweifelt an den Prinzen klammerte. Als der Garuda über dem Krater des Vulkanes war, stieß er hinab und flog mitten in den Berg hinein. Über dem Meer des Feuers ließ er die Kutsche los, und die stürzte zusammen mit Prinz Ameh Dunia in die Flammen.

Und die Prinzessin?

Deren Gewand hatte sich in den Krallen des Garuda verfangen, deshalb fiel sie nicht, sondern wurde von ihm weiter durch die Luft getragen. Prinz Ameh aber hatte sich, sobald er die Flammen berührt hatte, in einen Drachen verwandelt, denn er besaß Zauberkräfte. Doch konnte er nichts weiter tun, als zuzusehen, wie der Garuda Sari Nilam weiter in die Höhle des Berges hineinflog.

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Über der See des Roten Wassers streifte der Garuda das Gewand der Prinzessin ab und kehrte dann wieder nach Cermin Toran zurück, wo er dem Prinzen Perapatih berichtete, er hätte seinen Auftrag ausgeführt. Als dieser den Bericht hörte, fragte er fassungslos: „Warum hast du denn auch die Prinzessin fallen lassen? Ich habe dir doch nur befohlen, ihren Bräutigam in die Flammen zu werfen! Wo ist die Prinzessin denn jetzt?”

Da antwortete der Garuda: „Ich habe sie in das Meer des Roten Wassers geworfen. Nun weiß ich nicht, ob sie noch lebt oder nicht!”

Eilig lief Prinz Perapatih in den Tunnel, der zum unterirdischen Fluss führte. Dort bestieg er seinen Kahn, der ihn zur See des Roten Wassers bringen sollte. Vielleicht lebte die Prinzessin ja noch! Doch als er das Meer des Feuers überquerte, wurde sein Kahn plötzlich von einem schrecklichen Drachen emporgehoben. Rotglühende zornige Augen starrten Prinz Perapatih an, bevor er und sein Kahn in den Flammen versenkt wurden. So rächte

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sich Prinz Ameh Dunia an Prinz Perapatih!

Was aber nun mit Prinzessin Sari Nilam geschah, davon weiß der Erzähler nichts weiter zu berichten.

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Die Prinzessin und

der Palastwächter

Im Lande der Minangkabau gab es einst ein Königreich, dessen Hauptsstadt Pagarruyung hieß. Der König dieses Reiches hatte eine wunderschöne Tochter, die von allen männlichen Bediensteten des Königs verehrt wurde. Aber der Brauch schrieb vor, dass eine Königstochter nur einen Königssohn heiraten durfte, keinesfalls jedoch einen Angehörigen der niederen Stände.

Es gab einen stolzen und mutigen Wächter in diesem Palast, der sich in die Prinzessin verliebte. Und die Prinzessin erwiderte die Gefühle des Wächters. Heimlich trafen sie sich und gestanden einander ihre Liebe.

Eines Nachts betrat der Wächter wieder einmal das Zimmer der Prinzessin. Völlig in ihrem Liebesgeflüster versunken bemerkten sie nicht, dass der Vorhang des Zimmers nicht richtig zugezogen war, und dass ein anderer Wächter ihre

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heimliche Zusammenkunft beobachtete. Dieser Wächter ging geradewegs zum König und berichtete ihm von dem Vorfall, woraufhin der König erbost in das Zimmer seiner Tochter stürmte. Und wirklich fand er seine Tochter dort mit einem Manne der Palastwache vor, wie sie sich gerade verliebte Worte ins Ohr flüsterten. Wie war der König außer sich! Er rief sofort nach seinem Wesir, seinen Ministern, seinen Feldhütern und seinem Religionslehrer und ließ eine Versammlung einberaumen. In dieser Versammlung wurde dann die schändliche Angelegenheit besprochen.

Auch wenn es dem König sehr peinlich war, dass seine Tochter zum Gegenstand einer Verhandlung wurde, hier musste der Gerechtigkeit gedient werden! Nach stundenlangen Diskussionen kam man dann zum abschließenden Urteil: Die Prinzessin musste im Palast bleiben und erhielt einen Monat Stubenarrest, während der Wächter seines Postens in unehrenhafter Weise enthoben und des Palastes für immer verwiesen wurde. So

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lautete das abschließende Urteil, mit dem alle, bis natürlich auf die Prinzessin und dem Wächter, zufrieden waren. Noch in dieser Nacht musste der Wächter den Palast verlassen.

Weil der Wächter sich vor den Leuten schämte, verließ er das Land und reiste weit fort. Stets dachte er jedoch an die Prinzessin, und auch die Prinzessin träumte davon, ihren Geliebten wiederzutreffen. So reiste der Wächter von Dorf zu Dorf und überlegte dabei, wie er es anstellen könnte, die Prinzessin doch noch für sich zu gewinnen. Viele Medizinmänner und Zauberer fragte er um Rat, und schließlich blieb er bei einem von ihnen zur Lehre. Zwei Jahre lang lernte er bei diesem Zauberer, während er sich mit allen möglichen Arbeiten über Wasser hielt. Keine Arbeit war ihm dabei zu dreckig oder zu schwer. Als er meinte, genügend Wissen zu besitzen, bat er seinen Lehrer um die Erlaubnis, in seine Heimat zurückkehren zu dürfen.

Auf dem Weg nach Pagarruyung kam er an einem Dorf vorbei, wo die die Leute

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gerade eine Hochzeit feierten. Es war viel los. Die Kinder spielten Tellertanz und andere Spiele, während auf großen Matten die Speisen serviert wurden. Der Wächter mischte sich zwischen die Menge und schaute den Kindern bei ihren Spielen zu. Dann setzte er sich auf eine der Matten und fing an zu rauchen. Er schaute nach rechts und nach links und beschloss, sein neuerworbenes Wissen einmal auszuprobieren.

Der Reis und das Sambal wurden aufgetragen und die Gäste zum Essen aufgefordert. Wenn nun ein Gast auf das Ziegenfleisch biss, fing das Fleisch plötzlich an zu meckern. Wenn ein Gast auf Kalbfleisch biss, fing das Fleisch an zu blöken, als ob das Kalb gerade erst geschlachtet werde. Alle Leute schauten sich höchst verwundert an. Und wie groß wurden die Augen der Gäste erst, als das Kinderspielzeug anfing, sich von alleine zu bewegen! Die Teller tanzten, der Kreisel drehte sich, die Holzpferde galoppierten, ohne von einer Kinderhand berührt zu werden!

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Da sprach der Gastgeber zu der Hochzeitsgesellschaft: „Wenn es hier einen Besucher gibt, der nicht eingeladen war, so bitte ich ihn herzlich um Entschuldigung. Das war ohne Absicht geschehen. Vielleicht akzeptiert der Gast unsere Entschuldigung und verzeiht uns.”

Der Wächter lächelte innerlich, hatte er den Zauber doch nicht wegen einer fehlenden Einladung bewirkt und um sich zu rächen, sondern einfach nur, um sein Wissen und Können einmal zu erproben! Aber auf die Entschuldigung des Gastgebers hin, fror er den Zauber ein. Das Kinderspielzeug hatte Ruhe gegeben, und das Fleisch meckerte und blökte nicht mehr, wenn jemand darauf biss.

Am Abend setzte sich die Braut auf ihren vorbereiteten Platz. Ihre Mutter kam und färbte die Fingernägel ihrer Tochter mit Henna. Als die Finger geschmückt waren, stand die Braut auf, um ihrem Bräutigam entgegenzuschreiten, aber das Kissen ihres Sitzes klebte an ihrem Hintern fest. Die Gäste wussten nicht, ob sie über diesen erneuten Vorfall lachen

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sollten oder nicht. Und während die Braut verzweifelt versuchte, sich von dem Kissen zu befreien, kam plötzlich aus der Küche ein Schwarm Bambuskörbe herangeflogen, in denen normalerweise der Reis transportiert wurde. Sie schwebten über den Köpfen der Gäste, verfolgt vom Küchenchef, der sie mit seiner Suppenkelle wieder einfangen wollte, was ihm jedoch nicht gelang.

Der Gastgeber wusste nun, dass ein Unbekannter unter den Gästen weilte, der hier diesen Schabernack aufführte. Er bat also jeden Fremden zu einem Ehrenplatz, auf das er den Betreffenden ausfindig machen könnte. Doch der Wächter hatte sich bereits ein stilles Plätzchen zum Schlafen gesucht, weil er morgen schon früh wieder aufbrechen wollte.

Als der Wächter schließlich sein Heimatdorf erreichte, ging er geradewegs zum Hause seiner Eltern. Die fingen an zu weinen als sie ihren Sohn wiedersahen, denn seit der Zeit, da er des Palastes verwiesen wurde, hatten sie ihn nicht

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mehr gesehen. Und das war immerhin schon drei Jahre her!

In der Nacht schlief der Wächter jedoch nicht im Hause seiner Eltern, sondern in einer Hütte, die nicht weit vom Haus entfernt stand. Dort bereitete er seinen Zauber vor, mit dem er die Prinzessin für sich zurückgewinnen wollte. Unter anderem besang er die Prinzessin mit einem Pantun:

Wenn der Adler nicht fliegt,

die Wildtaube nicht schwebt,

das Gras vermischt ist mit dem Silbergras

und in drei Teilen ausgestreut.

Wenn der Tag unglücklich,

und die Nacht schlaflos,

die Gedanken verwirrt sind

und das Herz rastlos,

weilt die Erinnerung beim Palastwächter allein.

In sieben aufeinanderfolgenden Nächten sprach der Wächter den Pantun in den Qualm von Weihrauch, bis das Herz der Prinzessin nicht länger widerstand. Um zwei Uhr nachts schlich

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sie sich aus ihrem Zimmer und verließ den Palast. Aber sie wurde dabei beobachtet und der König eilig verständigt. Der ahnte, dass seine Tochter zu seinem ehemaligen Wächter fliehen wollte und gab seiner gesamten Armee den Befehl auszurücken.

Natürlich suchten sie auch auf dem Grundstück der Eltern des Wächters, aber dieser war bereits mit der Prinzessin aufgebrochen. Doch schließlich wurden sie an einer Wegbiegung entdeckt. Dort gab es einen See mit dem Namen Batang Selo. Als die Fliehenden erkannten, dass sie verfolgt wurden, liefen sie zum Ufer dieses Sees, und der Wächter setzte seine Zauberkräfte ein. Langsam schwebte er mit der Prinzessin über das Wasser mit dem Ziel, auf die andere Seite des Sees zu entkommen.

Brüllend kamen die Soldaten herbeigerannt, allen voran der erzürnte König, der die Verfolgung persönlich leitete. Aber als sie das Ufer erreichten, waren die Flüchtenden gerade außer Reichweite. Wütend nahm der König eine

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Handvoll Sand. An der Stelle, an der er den Sand nahm, entstand ein Wasserloch, das heute den Namen Lubuk Batu Bakauik trägt. Diesen Sand schleuderte der König zusammen mit einem Fluch auf seine Tochter und seinen ehemaligen Wächter. „Werdet zu Stein”, schrie er, und der Fluch wirkte. Noch heute kann man in der Mitte des Sees Batang Selo die Umrisse der zu Stein gewordenen Liebenden erkennen.

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Der Zauberfisch

Früher, als es noch kein Land Sintuak und Lubuk Alung gab, als es noch kein Land Tiku und Pariaman gab, als es noch kein Land Solok und Salayo gab, als es noch nicht Agam und Tanah Datar gab, gab es bereits Einwohner in Pariangan Padang Panjang. Und weil es dort bereits viele Einwohner gab, beschlossen die Ältesten, einundsiebzig von den Bewohnern auf die Suche nach Land zu schicken. Auf die Suche nach Land, wo man Reis- und Trockenfelder anlegen und eine Siedlung errichten konnte. Diese einundsiebzig Menschen sollten von Datuk Rajo Nando angeführt werden.

Datuk Rajo Nando führte seine Gruppe zunächst in das Gebiet des heutigen Batu Sangkar, dann weiter nach Tabek Patah. Sie erreichten Baso und gingen von dort nach Ngalau. Schließlich schlugen die Männer ihr Lager drei Kilometer vom Fluss Jermin entfernt auf. Dort gab es einen viereckigen Stein und eine Schlucht, der sie den Namen Balamin gaben. Alle

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Leute setzten sich auf diesen Stein, und während sie sich ausruhten überlegten sie, was weiter zu tun wäre.

Am nächsten Tag schickten sie eine Gruppe von sieben Männern los, die die nähere Umgebung erkunden sollten. Unter diesen sieben befand sich auch ein Jüngling namens Perpatih, der einen wunderschönen Platz fand. Einen Brunnen mit reinstem Wasser gab es dort, viel Land für Felder und einen Fluss, in dem man baden konnte.

Während Perpatih sich zufrieden den Platz betrachtete, stand plötzlich eine sehr hübsche Frau vor ihm, die ihn fragte: „Wer ist es, der hierhergekommen ist? Ein Mensch oder ein Dschinn?”

„Wir sind Menschen und gekommen, um einen Platz zu suchen, an dem wir uns niederlassen können”, antwortete Perpatih.

„Woher kommt ihr, dass ihr nicht wisst, dass dies ein verbotener Ort ist? Dies ist der Brunnen, in dem wir baden. Dies ist der Ort, an dem unsere Kinder spielen. Ihr

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habt keine Erlaubnis von unserem König Sariban eingeholt!”

„Warum auch die Dschinn um Erlaubnis bitten?”

Als die Frau diese Antwort hörte, wurde sie zornig und zog ihren Kris. Auch Perpatih zog seine Waffe, und beide hieben aufeinander ein. Keiner konnte den anderen jedoch ernsthaft verletzen oder besiegen. Mit der Zeit wurden sie müde, und schließlich sagte die Frau: „Wie es scheint, kann diesen Kampf niemand von uns gewinnen. Also geht zum König Sariban und fragt ihn Erlaubnis. Er wohnt auf einem großen alten Baum auf dem Berg Batanjua.”

Perpatih steckte seinen Dolch in die Scheide und kehrte mit den übrigen Männern zu seiner Gruppe zurück. Dort erstattete er Datuk Rajo Nando Bericht: “Wir haben einen guten Platz für unsere Niederlassung gefunden. Es hat dort klares Wasser und ist sehr geeignet, um Felder anzulegen. Aber er wird von Dschinn bewohnt. Ich selber habe mit

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einem weiblichen Dämon oder Dschinn gekämpft. Doch keiner von uns beiden konnte den Kampf gewinnen. Sie hieß Saribunian und sagte mir, wir sollten ihren König Sariban zuerst um Erlaubnis fragen, bevor wir den Ort beträten.”

Perpatih zeigte die Schwellungen an seinem Körper, die von dem Kampf herrührten und sagte: „Saribunian meinte, dieser Platz wäre ein verbotener Ort. Es wäre der Ort, an dem sie badeten und ihre Kinder spielten. Ich fragte sie, wie wir dazu kämen, die Dschinn um Erlaubnis zu bitten. Daraufhin zog sie ihren Kris.”

„Wenn die Dschinn dort wohnen, ist es nur recht, wenn wir sie fragen. Morgen werde ich zu ihrem König Sariban gehen und mit ihm reden”, sprach Datuk Rajo Nando.

Und so brach er am nächsten Morgen alleine auf und ging zum Berg Batanjua.

Der alte Baum, auf dem der König wohnen sollte, war nicht schwer zu finden, denn er war so groß, dass er selbst einen kleinen Wald bildete. Vor seinem

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gewaltigen Stamm traf Datuk den König Sariban. Dieser hatte wie Saribunian eine menschliche Form. Seine Kleidung und sein langer Bart waren orchideenweiß, und er selber schien so alt wie der große Baum zu sein. Aber sein Blick war fest als er Datuk musterte und zu ihm sagte: „Ich habe dich schon erwartet, Datuk. Man brachte mir bereits die Nachricht von dem Kampf eines eurer Männer mit dem meines Kindes Saribunian und die eurer Ankunft.”

„Ja, o König Sariban. Deswegen kam ich zu Euch. Ich kam, um Euch um die Erlaubnis zu bitten, uns am Flusse Jernih niederlassen zu dürfen. Wir kommen aus Pariangan Padang Panjang und sind auf der Suche nach neuem Land, weil es in unserer Heimat zu eng für die vielen Menschen wird.”

„Wenn das so ist, gut!” sagte König Sariban, dem Datuk sympathisch war. „Ihr dürft hier bleiben. Wir brauchen kein Wasser, der Tau genügt uns. Wir brauchen auch kein Land, weil wir keine Felder bestellen. Uns genügt die Hitze des

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Morgens und des Nachmittages. Nimm das Land, das du brauchst, Datuk. Aber sorge dafür, dass keine Streitereien und Querelen auftauchen. Halte deine jungen Hitzköpfe zurück und sorge für Sicherheit.”

„Das werde ich, o König Sariban!” versprach Datuk Rajo Nando.

So kehrte Datuk mit der Erlaubnis des Königs der Dschinn zu seiner Gruppe zurück, und schon am nächsten Tag fingen die Menschen an, Hütten zu bauen.

Datuk baute seine Hütte nahe des heutigen Fischteiches. Dort legte er auch seine Felder an. Nach einiger Zeit wurde seine Frau Samiah schwanger und gebar ihm eine Tochter, der sie den Namen Ramiah gaben. Diese ließen sie bis zum Alter von einem Jahr im Hof spielen. Weil es aber niemanden gab, der auf das Kind aufpassen konnte, während sie auf den Feldern arbeiteten, gruben sie hinter der Hütte ein Loch, das zwei Meter breit und zwei Meter tief war. In diesem Loch ließen sie das Kind tagsüber, und die Mutter

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kehrte nur mittags zurück, um nach ihm zu schauen und es zu säugen.

So hielten sie es, bis Ramiah vier Jahre alt geworden war. Zu dieser Zeit war die Bevölkerung bereits gewachsen, und die Bewohner dachten nun daran, solide Holzhäuser zu bauen, anstatt der Hütten aus Silbergras, die sie bis jetzt bewohnt hatten. Sie fingen an, Holz zu schlagen, was Angst und Schrecken unter den Dschinn verbreitete, denn viele wurden von den umstürzenden Bäumen erdrückt oder eingeklemmt. Auch waren die Dschinn wütend, weil die Menschen wieder keine Genehmigung eingeholt hatten. Sie gingen sich bei ihrem König Sariban beschweren, und der ging sofort zu Datuk Rajo Nando nach Luhak Landai, wie der Bezirk nun hieß, in dem die Menschen wohnten.

„Wie geht es, Datuk?” fragte er. „Wie es scheint, geht es euch hier gut und eure Bevölkerung gedeiht.”

„Ja, danke, o König Sariban!” antwortete Datuk.

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„Das freut mich ja auch”, sprach König Sariban weiter, „aber wie kommt ihr denn neuerdings dazu, ohne Erlaubnis die großen Baume zu fällen? Viele unseres Volkes wurden bereits erschlagen und haben nun Angst, weiter hier zu leben! Ihr müsst uns versprechen, dass wenn ihr Holz schlagt oder Steine wälzt, uns davon zu unterrichten.”

„Wie können wir euch unterrichten, wenn für uns Menschen die meisten Dschinn unsichtbar sind?” wollte Datuk wissen.

„Wenn ihr Holz schlagt, legt das erste abgeschnittene Stück in die Richtung, in die der Baum fallen wird. Wenn ihr Steine wälzt, dann legt zuerst einen kleinen Stein in die Richtung, in die der Stein rollen wird. Viele unserer Kinder sitzen auf den Felsen und werden dann bescheid wissen und ausweichen können. Wenn ihr dieses Versprechen nicht gebt, wird es sicher zum Streit zwischen den Dschinn und den Menschen kommen. Wir Dschinn besitzen Magie, ihr Menschen alleine euren Verstand. Deswegen, um Streit zu

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vermeiden, werden wir uns gegenseitig einen Schwur leisten.”

Also wurde eine Versammlung einberufen. Die Menschen erschienen in schwarzer, die Dschinn in weißer Kleidung. Und dies war der heilige Schwur, den sie beide zu leisten hatten:

Wer auch immer diesen heiligen Schwur zwischen Dschinn und Menschen bricht, wird nach oben nicht sprießen und nach unten keine Wurzeln treiben, sondern in der Mitte von schwarzen Käfern ausgehöhlt werden.

Wer auch immer Steine wälzt oder Holz schlägt, ohne davon die feinen Leute davon zu unterrichten, ist dafür verantwortlich, dass das Kind des Führers der Menschen, Datuk Rajo Nando, zum Tier wird. Es wird nicht auf der Erde kriechen oder Grass fressen. Es wird wie ein Mensch reden, obwohl es kein Mensch ist. Sein Körper wird fleckig sein, sein Maul spitz zulaufend, seine Haut schuppig und sein Schwanz geteilt.

Wer auch immer den Menschen Magie, Kreisel, Verwünschung oder Fernzauber lehrt, soll ein ebensolches Wesen werden, mit

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spitzem Maul, geschuppter Haut, geteiltem Schwanz und Tang fressen.

Lange Zeit ging alles gut. Das Dorf gedieh, und die Häuser erstreckten sich bald bis zum Fluss. Aber weil so viele Häuser gebaut wurden, vergaßen die Menschen allmählich den Schwur und schlugen Holz und wälzten Steine, ohne die Dschinn davon in Kenntnis zu setzen.

Eines Tages ging Perapatih auf eine Böschung mit dem Namen Madang Tirai, um Holz zu fällen. Weil er auf gutes Holz hoffte, vergaß er in seiner Eile, die Dschinn von dem Fällen zu unterrichten. Als der Baum dann zu Erde fiel, traf er das Bein von Saribunian, die sich zufällig dort aufhielt. Das Bein brach, und Saribunian selbst fiel in Ohnmacht. Viele Dschinn kamen herbeigeeilt und trugen Saribunian zum Berg Batanjua.

Nachdem sich die Dschinn beraten hatten, gingen sie, um Datuk Rajo Nando zu holen und ihn um Medizin zu bitten. Aber als Datuk kam und die Verletzung sah, sagte er: „So etwas können wir

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Menschen nicht heilen. So etwas können nur die Dschinn selbst behandeln!”

Letzlich wurde Saribunian von den Dschinn behandelt, doch wollte das Bein nicht richtig heilen. Es heilte zwar, aber Saribunian blieb verkrüppelt und musste fortan humpeln.

Als dies ihr älterer Bruder Saribanun sah, wurde er sehr zornig. Er ging zu Perpatih und fing an, mit ihm zu kämpfen. Aber weder konnte er ihn mit seinem Langmesser, noch mit seinem Dolch verwunden, denn Datuk Rajo Nando hatte seine Männer gut ausgebildet. Schließlich ließ Saribanun von Perpatih ab und ging stattdessen zu einem Mann namens Basa.

Basa war ein junger Mann, der jeden Tag, von einem ungesunden Ehrgeiz angetrieben, bis zur Erschöpfung arbeitete. Wo er gute Stellen für Reisfelder sah, legte er sie an. Wo er gute Stellen für Trockenfelder sah, legte er sie an. Wo er gute Bäume sah, fällte er sie. Zu diesem Manne ging Saribanun und sprach zu ihm: „Wir haben nicht allein mit unserer

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Muskelkraft Erfolg! Wenn wir nur mit unseren Muskeln spielen, wen beeindrucken wir schon damit? Wenn du willst, werde ich dir Magie lehren, mit der du die Leute im Dorf mehr beeindrucken kannst als mit deiner Schufterei.”

Basa musste dem Dschinn Recht geben. Trotz seiner ganzen Arbeit hatte er es bis jetzt nicht geschafft, sich eine Braut anzulachen oder von den Leuten besonders respektiert zu werden. Er hatte einen verkrüppelten Arm und war auch sonst nicht gerade der angenehmste Zeitgenosse. Also nahm er die Lehren Saribanuns gerne an.

Mit dieser Magie fing er an, Jungfrauen zu betören und im Dorf Unruhe zu stiften. Und Saribanun hetzte ihn immer weiter auf, bis die Zustände im Dorf zusehends chaotischer wurden. Das ging sogar so weit, dass es zu Messerstechereien kam, und Leute sich gegenseitig vergifteten und sich allerlei Unrecht zufügten.

König Sariban sah dem Geschehen im Dorf übellaunig zu und sagte sich: „Den

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Menschen scheint der Bruch des Schwures verziehen worden zu sein. Aber nun suchen sie von selber das Chaos in diesem schönen Dorf, obwohl wir ihnen schon freiwillig dieses sanfte Land gegeben haben, dieses Wäldchen und einen Brunnen mit reinsten Wasser! Wenn wir ihnen verboten hätten, sich hier niederzulassen, hätten sie dieses Land niemals bekommen, denn sie hätten sich uns nicht widersetzen können!”

Er grübelte weiter mit schwerem Herzen über der Sache, während die Menschen weiter Holz fällten und dabei Dschinn verletzten. Da befahl er seinen Untertanen, die Menschen noch mehr zu verwirren. Mit fürchterlichen Stimmen schrieen nun die Dschinn von den Bäumen, aus den Wäldern und auf den Gräbern, sodass die Menschen in großen Schrecken versetzt wurden.

Dann eines Tages vermisste der König seinen ältesten Sohn. In den Wäldern schien er nicht zu sein, denn der König hatte sie bereits bis zur Erschöpfung absuchen lassen. Aber das Wasser des

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Weihers wurde von Tag zu Tag trüber, bis es so schmutzig war, dass man das einst so klare Wasser nicht mehr trinken konnte. Ein schrecklicher Verdacht tauchte beim König auf. War dies etwa wegen des Schwures, den Saribanun gebrochen hatte, in dem er die Menschen die verderbliche Magie gelehrt hatte?

Auch Datuk Rajo Nando vermisste eines Tages sein Kind. Er war auf sein Feld gegangen, um den reifen Mais zu ernten. Sein Kind, das nun fünf Jahre alt war, hatte er wie gewohnt in dem Loch zurückgelassen. Doch als er am Abend zurückkehrte, war es nicht mehr da. In größter Sorge ließ er die großen Trommeln schlagen und rief die Dorfbewohner herbei. Er schickte sie auf die Suche nach Simarasok, nach Padang Tarab, weiter nach Tabek Patah und Selayo, aber die Suche blieb erfolglos. In den nächsten Tagen wurden die Wälder und die Büsche durchforscht. Vielleicht hatte ja ein Tiger das Kind gerissen. Aber man fand keinerlei Spuren, und Ramiah blieb verschwunden.

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Ein paar Tage später hatte die bekümmerte Mutter einen Traum. Samiah träumte, ein alter Mann mit weißem Bart und weißer Kleidung träte an sie heran, der zu ihr sprach: „Es ist nicht mehr nötig, sich um Ramiah zu sorgen. Ihr Verschwinden ist die Folge des gebrochenen Schwures der Menschen. Wir Dschinn hingegen vermissen bis heute Saribanun und haben keine Ahnung, wo er geblieben ist. Aber schaue doch im Brunnen hinterm Hause nach. Vielleicht ist Ramiah bereits ein Tier geworden, mit spitzem Maul und geteiltem Schwanz. Möglicherweise befindet sie sich in dieser Steinhöhle. Es kann sein, dass infolge des Schwures Saribanun bereits zum Fisch wurde und dein Kind mit in den Weiher gezogen hat, weil es das Kind von Datuk Rajo Nando ist. Auch dein Kind ist vielleicht bereits ein Fisch. Deshalb gehe morgen zum Brunnen und tue folgendes: Verbrenne weißen Weihrauch und koche gelben Reis. Rufe die Leute des Dorfes zusammen und trage die Essensreste des Kindes herbei. Setze

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dich an den Rand des Brunnens und bete zu den Göttern. Möglicherweise wirst du dein Kind zu sehen bekommen.”

Am nächsten Tag tat die Mutter genau das, was der Alte ihr im Traum gesagt hatte. Und während sie am Brunnenrand saß, erschien auf einmal der Kopf ihres Kindes. Aber wie erschauerte die Mutter, als sie sah, dass sich der Mund des Kindes bereits verformt hatte und nun spitz zulief! Und jetzt konnte man auch erkennen, dass die Hand des Kindes bereits auf dem Rücken klebte, und dass ab der Hüfte abwärts die Haut bereits Schuppen trug. Die Beine hatten bereits die Form einer Schwanzflosse, obwohl die Zehen noch zu erkennen waren.

Nun wussten die Menschen, dass sich der Fluch des gebrochenen Schwures erfüllt hatte. Datuk Rajo Nando erhob sich schweigend vom Brunnenrand, und als er die Dorfbewohner eine Weile gemustert hatte, sagte er: „So hat sich also der Fluch erfüllt. Ihr seht jetzt, dass wir keinen Baum fällen und keinen Stein wälzen dürfen, ohne die Dschinn vorher in Kenntnis zu

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setzen. Die Fische hier im Weiher werden uns eine stete Erinnerung an den heiligen Schwur zwischen den Menschen und den Dschinn sein. Wir werden sie füttern und behüten. Niemand darf sie fangen oder essen oder ein Leid zufügen. Vielleicht werden die Fische auch von den Bewohnern anderer Dörfer gesehen oder von Leuten jenseits des Meeres. Hoffen wir, dass dieses Mahnmal in Zukunft Gutes bewirkt.”

Jahre vergingen. Obwohl Saribanun nun zum Fisch geworden war, hetzte er nach wie vor mit seinen magischen Fähigkeiten Basa auf. Deswegen wurden die Zustände im Dorf nicht besser, sondern im Gegenteil: Basa hatte auch andere die Kunst von Fernzauber und Verwünschung gelehrt, und die Bewohner bekriegten sich jetzt einander, entweder mit magischen Mitteln oder auch mit Messern. Als dann die Zustände wirklich schlimm geworden waren, kam ein Kind des Teufels ins Dorf. Es hieß Malin Senteng und war das bösartigste unter den Kindern des Teufels. Malin liebte es, in die

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Körper der Leute einzudringen, mit ihnen Rätsel zu spielen und sie weiter aufzuhetzen. Auch die Dschinn hetzte er auf und sagte ihnen, die Menschen planten, sie fortzujagen. „Im Moment leben wir auf dem Berg Batanjua”, flüsterte er den Dschinn ins Ohr, „aber in kurzer Zeit können die Menschen ihn zerstört haben. Besser ist, wir kommen ihnen zuvor und überrollen die Menschen.”

„Wie können wir das tun, wo wir doch nicht über das entsprechende Wissen verfügen?” fragten sich die Dschinn.

„Oh, das ist einfach”, sagte Malin und lehrte sie, wie sie den Berg in Bewegung brächten, damit der den Fluss Jernih staute, damit dieser wiederum den Menschen das Schwimmen lehrte. Und wirklich hatten die Dschinn nicht Eiligeres zu tun, als am Berg Batanjua zu rütteln und ihn in Bewegung zu setzen.

Als Datuk Rajo Nando sah, dass sich der Berg bewegte, ging er sofort zu König Sariban. Auch der war sehr besorgt, hatte

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aber wohl die Kontrolle über seine Untertanen bereits verloren.

„Meine Kinder wollen sich an den Menschen rächen”, sagte König Sariban. „Versuche, mit einem Apparat den Hügel zu beschießen, Datuk. Ich werde inzwischen versuchen, den verrückt gewordenen Berg zu bändigen.”

Datuk ging also eine Vorrichtung bauen, mit der er brennende Pfeile auf den Hügel hinaufschoss, um die Dschinn in Schrecken zu versetzen. Währenddessen setzte König Sariban seine Magie ein, um den Berg festzubinden. Tatsächlich schafften sie es gemeinsam, den Berg zum Stehen zu bringen. Und gemeinsam passten sie nun auf die Dschinn und die Menschen auf und lehrten sie, die Einflüsterungen des Teufels zu erkennen. Auch lehrten sie ihnen Bannrituale, bis es schließlich für Malin Senteng keine Möglichkeit mehr gab, einen Körper zu besetzen und im Dorf zu bleiben.

Und Basa wurde zuletzt selbst ein Opfer seiner finsteren Magie. Seine Leiche trieb

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irgendwann den Fluss hinab und wurde in Badarung an Land gespült. Damit war der größte Unruhestifter verschwunden, und langsam kehrte wieder Frieden ein ins Dorf.

Da sprach eines Tages König Sariban zu Datuk Rajo Nando: „O Datuk! Ich habe vor, zum Ort der aufsteigenden Sonne zu gehen. Wenn ich gehe, passe bitte auf Saribanun auf. Ihm wächst nun ein Fell, und bald wird er sich wohl in einen Tiger verwandeln. Füttere ihn mit Fleisch und Eiern, wie einen normalen Tiger.”

Dann machte sich König Sariban auf die Reise zum Ort der aufsteigenden Sonne, und Datuk wusste, warum er es tat. König Sariban schämte sich nämlich vor den anderen Dschinn, hatte er doch einem Menschen den Auftrag gegeben, auf die Dschinn zu schießen und auf sie aufzupassen.

Zeit seines Lebens sorgte Datuk für den Tiger und auch für den Fisch im Weiher. Der Fisch galt generationenlang als

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zauberkräftig und durfte weder gefangen noch gegessen werden.

Die Stadt der Götter

Es war einmal ein Jüngling namens Buyung Pekok. Seit jungen Jahren war er Vollwaise und hatte gar niemanden, der sich um ihn kümmerte. Um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, sammelte er im Wald Brennholz. Von diesem Erlös konnte er morgens und abends ein Reisgericht zu sich nehmen, aber als Kleidung besaß er nur Lumpen. Er war ein geduldiger Mensch, und das musste er auch sein, denn die Leute lachten und spotteten über ihn, wenn er vorüberging, hatte er doch eine besondere Missbildung. Sein rechter Fuß war gerade in die verkehrte Richtung gewachsen und wies nach hinten anstatt nach vorne. Und deshalb hieß er auch Pekok, was nichts anderes bedeutete als „missgebildet”.

Eines Tages verspätete Pekok sich im Wald. Es war schon halb sechs abends,

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und noch immer steckte er tief im Wald und schnürte sein Holz zusammen. Die Tierstimmen im Wald zeigten bereits an, dass langsam die Nacht anbrach. Von weitem hörte man Affen schreien, die sich gegenseitig etwas zuriefen. Ein gewöhnlicher Mensch hätte nun wahrscheinlich langsam Angst bekommen, aber Pekok kannte den Wald und war an die Geräusche in ihm gewöhnt.

Gegen sechs Uhr nahm Pekok sein Bündel Holz auf den Kopf und machte sich auf den Heimweg. Er war noch nicht sehr weit gegangen, da hörte er weiter entfernt eine Frauenstimme, die ihn rief. Es war eine sehr helle, durchdringende Stimme, die rief: „Buyung Pekok, warte doch mal!”

Buyung schaute nach rechts und nach links, aber da war niemand zu sehen. Also setzte er seinen Heimweg fort. Aber da ertönte die Stimme erneut, diesmal schon näher als das erstemal. Pekok war sehr erstaunt, konnte er sich doch nicht erklären, was eine Frau um diese Zeit im

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Wald verloren hatte. Ihm wurde etwas unheimlich zumute, und er erinnerte sich an die Weisheit alter Leute, dass man in der Mitte des Waldes nicht nach hinten schauen durfte. Er hatte den Verdacht, die Stimme gehörte vielleicht einem weiblichen Dämon, deswegen beschleunigte er jetzt seine Schritte, um möglichst schnell aus dem Wald herauszukommen. Zwar herrschte noch die Dämmerung, aber hier unter dem Blätterdach war es schon fast finster. Und er war noch mitten im Wald!

Plötzlich fuhr Pekok der Schreck in die Glieder, sodass ihm beinahe das Holz vom Kopf gefallen wäre. Vor ihm saß auf einem Baumstamm eine wunderschöne Frau. Ihre Haare reichten ihr bis zu den Fersen, und sie lächelte, als sie Pekok ansah. Pekok erriet, dass es sich um eine Göttin handelte. Das erriet er, weil die Frau einen so wunderbaren Duft ausströmte, was Dämonen nicht taten. Langsam legte er sein Holz auf den Boden und näherte sich der Göttin. Die Göttin bewegte sich nicht, sondern lächelte ihn weiterhin an. Als

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Pekok seinen Arm ausstreckte, um die Hand der Göttin zu fassen, verschwand diese plötzlich, so als ob sie sich in Luft aufgelöst hätte. Nur ihr Lachen verblieb in der Luft, ein schallendes Lachen.

Pekok hatte nun gar keine Angst mehr, war er sich doch sicher, es mit einer Göttin zu tun zu haben. Er schaute in die hohen Bäume rings um sich und erspähte die Göttin, wie sie dort auf einem großen Ast saß, mit den Beinen baumelte und ihr langes Haar kämmte. Pekok überlegte eine Weile, wie er die Göttin zum Herunterkommen überreden könnte, und legte sich dann auf den Baumstamm. Aus seinem Hemd faltete er ein Kopfkissen und stellte sich dann schlafend. Er fühlte, wie die Göttin sich ihm näherte, aber er schlug die Augen nicht auf, denn er wollte doch nur zu gerne herausfinden, was die Göttin eigentlich von ihm wollte.

Die Göttin löste aus ihrem Haar eine Blume, die einen bezaubernden Duft verströmte. Diese hielt sie Pekok unter die Nase. Wie sonderbar wurde es Pekok daraufhin zumute! Langsam schlug er die

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Augen auf. Was er sah, stürzte ihn in höchstes Erstaunen. Statt Bäume sah er vor sich eine mit dunkelblauem Samt ausgeschlagene Wand. Auch der Boden war mit Samt ausgeschlagen. Und nun gewahrte er, dass er sich mitten in einem Palast befand. Eine Porzellanlampe verströmte ein sanftes Licht, und statt auf einem Baumstamm zu liegen, lag er auf einem weichen Bett.

Während Pekok sich noch über diese neuen Zustände wunderte, betrat die Göttin das Zimmer. Wieder lächelte sie ihn an und sagte: „Du brauchst keine Angst zu haben. Du bist jetzt in meiner Stadt und kannst in meinem Haus schlafen. Nun ruhe dich aus und nimm von diesen Speisen hier. Morgen früh werde ich dann wieder nach dir schauen.”

Und schon war sie wieder verschwunden. Aber Pekok gewahrte jetzt ein Tablett mit Speisen, wie er sie noch nie gesehen hatte, und heißhungrig stürzte er sich auf die Köstlichkeiten. Dann ließ er sich zufrieden auf das Bett zurücksinken und fiel bald schon in einen tiefen Schlaf.

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Als er am nächsten Morgen erwachte, gewahrte er neben einer geöffneten Türe, die anscheinend ins Badezimmer führte, auf einem Tische Seife, Handtücher und andere Waschutensilien, zusammen mit erlesenen Duftwässern und Ölen. Ohne lange zu überlegen nahm Pekok ein erfrischendes Bad in einer mit blauen Muscheln geschmückten Badewanne. Frisch rasiert und duftend kehrte er in das Schlafzimmer zurück und stellte dort fest, dass seine Lumpen verschwunden waren. Stattdessen hielt ihm die Göttin ein neues Gewand entgegen und sagte dabei: „Jeden Tag habe ich dich beobachtet, wie du Holz suchtest. Du trugst immer die gleiche Kleidung und hast sie nie gewechselt. Diese Sachen hier habe ich bereits länger für dich vorbereitet.”

Pekok fühlte sich wie in einem Traum und nahm wie ein Schlafwandler das weiße Hemd und die Hose entgegen. Dann wurde ihm ein Frühstück serviert, das er zusammen mit der Göttin auf einer Terrasse des Palastes einnahm. Man konnte von hier weit in die Stadt

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hineinblicken. Jedes Haus in dieser Stadt war ein Palast und stand auf einer gesonderten Wolke. Die Wolken wurden von einem sanften Wind bewegt, deshalb schwebten die Paläste umher. So bekam jeder Einwohner dieser Stadt öfters einen neuen Nachbarn.

Nach dem Frühstück brachen sie auf, um sich die Stadt näher zu besehen. Pekok humpelte dabei in gewohnter Weise hinter der Göttin her. Fast vor jedem Palast saßen junge Göttinnen, die sie beide beobachteten. Doch keine von ihnen spottete oder lachte über Pekoks seltsamen Gang. Sie flüsterten sich nur gegenseitig zu: „Ein Mensch von der Erde ist uns besuchen gekommen!”

Als die beiden einen blauen Palast mit silbernen Zinnen erreichten, klopfte die Göttin an dessen Pforte, woraufhin ihnen ein alter Mann mit weißem Bart öffnete und sie hineinbat. In der Mitte der Halle, die sie nun betraten, standen ein Weihrauchbecken und daneben eine mit Wasser gefüllte Schale. Die Göttin sprach: „Kek, dies ist mein Freund von der Erde.

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Er ist Waise und hat gar niemanden auf der Welt. Er sucht Feuerholz im Wald und ist sehr arm. Aber zusätzlich hat er noch diese Verkrüppelung und wird von allen Leuten gehänselt. Wenn es geht, bitte heile ihn!”

„Ich kann seinen Fuß heilen”, sprach der Greis, „aber nur unter einer Bedingung!”

„Was ist dies für eine Bedingung? Wenn er sie nicht erfüllen kann, werde ich selbst versuchen, sie an seiner Statt zu erfüllen”, sagte die Göttin.

„Die Bedingung ist, dass Pekok meine Enkelin heiratet”, sagte der Greis mit einem verschmitzten Lächeln und zeigte auf ein junges hübsches Mädchen im Hintergrund des Raumes.

„Na, das mache ich doch gern”, dachte sich Pekok und gab mit einem Nicken seine Zustimmung bekannt. Auch die Göttin freute sich offensichtlich für Pekok, also forderte der Alte Pekok auf, sich vor ihm hinzusetzen. Er sagte ihm, er sollte seine Beine ausstrecken und auf dieses

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Holz legen. Dann besprengte er den missgestalteten Fuß mit dem Wasser aus der Schale, und mit einem Ruck zog er den Fuß aus dem Gelenk. Pekok wurde schwindelig, als er sein Bein so ohne Fuß sah, aber es blutete nicht und tat auch nicht weh, deshalb sah er weiter fassungslos mit an, wie der Alte den Fuß nahm und ihn in das Wasser einer weiteren Schale tauchte. Danach beräucherte der Alte den Fuß mit Weihrauch und steckte ihn wieder ins Wasser. Als er ihn nun dampfend aus der Schale zog, hatte der Fuß eine ganz normale Form. Geschwind steckte der Greis den Fuß wieder aufs Bein, rieb dreimal kräftig über die Nahtstelle, pustete noch einmal drauf, und fertig war er mit der Behandlung!

Verwundert starrte Pekok auf seinen Fuß: Die Behinderung war beseitigt! Freudig sprang er auf und probierte, wie es sich mit dem geheilten Fuß laufen ließ. Die Göttin und der Alte schauten ihm lächelnd zu, wie er entzückt dreimal durch die ganze Halle lief.

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„So, wo jetzt dein Fuß geheilt ist, gehe mit meiner Enkelin zu ihrer Mutter und erzähle ihr von unserer Abmachung”, sagte der Alte und winkte seine Enkelin herbei. Die kam anmutigen Ganges herangeschritten und stellte sich Pekok als Prinzessin Rimba vor. Sie hakte sich bei Pekok unter, und gemeinsam gingen die beiden zum Palast der Mutter.

Die Mutter war sehr erstaunt, ihre Tochter zusammen mit einem Menschen kommen zu sehen. Aber noch erstaunter war sie, als sie erfuhr, dass die beiden heiraten sollten. Pekok musste sich erst einmal mit ihr auf die Veranda setzen und ein längeres Schwätzchen mit ihr halten. Schließlich stimmte auch die Mutter der Idee des Alten zu und überlegte auch gleich, wann man die Hochzeit veranstalten sollte. Sieben Tage und sieben Nächte dauerte die Hochzeit Pekoks mit der Prinzessin Rimba. Ununterbrochen tönten Trommeln und Flöten, und viel Volk feierte in ausgelassener Stimmung das frohe Ereignis.

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Tage vergingen. Wochen vergingen. Monate vergingen. Pekok und Prinzessin Rimba lebten glücklich miteinander, ohne dass es jemals Streit zwischen ihnen gegeben hätte. Und schließlich gebar Rimba einen Jungen, den man auf den Namen Rangbunian taufte.

Als Rangbunian ein Jahr alt war, tauchte bei Pekok die Sehnsucht auf, noch einmal seine alte Heimat besuchen zu gehen. Er erinnerte sich der Menschen, die bei ihm gewöhnlich das Holz gekauft hatten, und mit denen er sich gerne noch einmal unterhalten hätte. In der Nacht erzählte er seiner Gemahlin von dieser Sehnsucht. Diese sagte daraufhin: „Gut, gehe zu deinem Dorf. Aber verspreche mir, keine andere zu heiraten.”

Das versprach Pekok und machte sich am nächsten Tag auf den Weg zur Erde. Als er seine alte Hütte erreichte, war diese schon lange eingestürzt, und statt des Gartens voller Blumen wuchs dort nur noch mannshohes Unkraut.

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Die Menschen im Dorf hatten sich damals schon gefragt, wo Pekok nur geblieben war, und auch mal im Wald nach ihm gesucht. Aber da er nicht zu finden gewesen war, hatten die Leute den Vorfall irgendwann nicht weiter beachtet. Und als sie Pekok bereits vergessen hatten, tauchte der plötzlich in dem Laden auf, wo er vormals sein Holz zum Verkauf hingebracht hatte. Wie verblüfft waren die Menschen, als sie Pekok wiedererkannten und sahen, dass er nicht mehr verkrüppelt war und stattdessen feinste Kleidung trug! Pekok musste sich setzen und den erstaunten Leuten alles erzählen, was sich in den letzten drei Jahren zugetragen hatte. Hätte Pekok nicht den geheilten Fuß gehabt und die wunderschöne Kleidung, so hätte ihm wohl niemand die Geschichte geglaubt. Lange Zeit blieb Pekok im Dorf. Ihm gefiel es, von den Leuten bewundert zu werden, die ihn früher verhöhnt hatten.

Und schließlich warf er seine Augen auf ein sehr hübsches Mädchen, die Tochter der reichsten Leute im Dorf. Viele Jünglinge von nah und fern hatten sie

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schon umworben, aber bis jetzt hatte niemand ihr Herz erobern können. Die Leute sagten bereits, über dem Mädchen hinge ein Zauber, der verhinderte, dass irgendjemand sie heirate. In seinem Stolz versuchte nun auch Pekok, sich ihre Gunst zu erwerben, was dem Mädchen zu gefallen schien. Und langsam knüpfte sich ein zartes Band nach dem anderem zwischen den beiden, sodass es irgendwann kein großes Geheimnis mehr war. So beschlossen die Eltern, das Paar zu verheiraten. Bereits in fünfzehn Tagen sollte die Hochzeitsfeier stattfinden, denn die Eltern waren froh, dass endlich ein Bräutigam gefunden war, der der Tochter gefiel.

Natürlich sprach sich das Ereignis schnell herum, sodass am Tage der Hochzeit viele geladene und ungeladene Gäste sich auf dem Hof der Brauteltern drängten. Das Brautpaar saß nebeneinander auf einer Art Thron und schaute von dort dem Treiben auf dem Hofe zu. Plötzlich wurden Steine über die Mauer des Hofes geworfen, woraufhin ein

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Tumult entstand. Die Braut wurde von einem der Steine am Kopf getroffen und wurde bewusstlos, und auch die Mutter der Braut schrie auf. Als aber ein paar Männer nach draußen stürzten, um zu sehen, wer dort mit Steinen warf, war niemand zu entdecken.

Man trug die bewusstlose Braut in ein Zimmer. Unter den Leuten, die sich um das Zimmer scharten, erkannte Pekok auf einmal seine Gemahlin, Prinzessin Rimba! Er bekam Herzklopfen und erinnerte sich des Versprechens, das er gegeben hatte. Die Göttin schritt auf ihn zu, schien aber außer von Pekok von niemandem sonst bemerkt zu werden. Als sie nur noch eine Armeslänge von ihm entfernt war, sagte sie: „Du hast also dein Versprechen gebrochen. Nun trage wieder deine alten Kleider und humple wieder, wie du es damals getan hast!”

Nach diesen Worten verschwand sie, und Pekok schaute erschreckt an sich herab. Er trug tatsächlich wieder seine alten Lumpen, und auch sein Fuß wies wieder in die verkehrte Richtung. Ihm

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wurde ganz schwindelig zumute, während die Menge sich höchst verwundert seine neue Aufmachung betrachtete.

Da aber die Heirat bereits rechtsgültig war, wurde die Hochzeitsfeier dennoch fortgesetzt, nachdem man schnell ein neues Kostüm für Pekok organisiert hatte. Mit geduldigem Herzen akzeptierte die Braut Pekok trotzdem als Ehemann, und beide wurden sogar noch glücklich miteinander. Jede Freitagnacht besuchte sie Pekoks Sohn Rangbunian. Sobald die Sonne aber aufging, kehrte er wieder zurück in den Himmel zu seiner Mutter, Prinzessin Rimba.

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Scheich Abdul Rauf

In Aceh gab es einen Jungen namens Abdul Rauf. Der wollte nach Ägypten, um das Koranlesen zu erlernen. Er fragte seine Eltern um die Erlaubnis, und als er die Genehmigung zusammen mit ein paar guten Ratschlägen bekommen hatte, machte er sich reisefertig und bestieg ein Schiff, das nach Ägypten fuhr. Dort angekommen sah er eine Moschee. In dieser Moschee befand sich gerade Scheich Abdul Kasasi. Und genau diesen Scheich suchte Abdul Rauf, weil dieser ein berühmter Lehrer für Koranlesen war.

Als Abdul die Moschee erreichte, bemerkte er, dass sie voller Leute war. Die Leute waren damit beschäftigt, den Koran zu rezitieren. Abdul betrat die Moschee und wünschte allen „Assalamu alaikum”, worauf die Menschen in der Moschee mit „Alaikum salam” antworteten. Vorne in der Moschee stand ein Mann, der offensichtlich der Lehrer war. Dieser winkte ihm, er sollte herbeikommen und fragte Abdul, wo er herkäme.

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„Ich komme von weither”, antwortete Abdul, „aus dem Lande Andalas und der Stadt Aceh.”

„Wie heißt du?” wollte der Lehrer wissen.

„Ich heiße Abdul Rauf.”

„Und warum bist du hierher gekommen?”

„Ich wollte bei Scheich Abdul Kasasi das Koranlesen erlernen.”

„Das bin ich! Sei willkommen!”

Und so wurde Abdul Schüler von Scheich Abdul Kasasi. Er tat sein Möglichstes, um ein guter Schüler zu sein und lernte aus vollem Herzen. Er machte auch Fortschritte, blieb jedoch weit hinter den anderen Schülern zurück. Sieben Jahre lernte Abdul, und sein Lehrer hatte schon Mitleid mit ihm. Aber um Abdul zu prüfen, ob er wirklich ein ernsthafter Schüler war, wollte sich der Scheich eine Probe ausdenken.

Eines Tages kam vom jenseitigen Ufer des Flusses ein Freund den Scheich

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besuchen, der hieß Subang Bagelang. „Mein Scheich”, sagte Subang, „kommt doch am Samstag mit euren Schülern mich in meinem Haus besuchen, um des Propheten zu gedenken.”

„Gut”, antwortete Scheich Abdul Kasasi und ging zu seinen Schülern, um ihnen von der Einladung zu berichten. Dann ging er zu seiner Frau und sagte ihr: „Wecke am Samstagmorgen alle Schüler bis auf Abdul. Wenn wir anderen bereits aufgebrochen sind, sage ihm, er solle sich beeilen, denn wir seien bereits fort. Dann werden wir ja sehen, ob er wirklich ein ernsthafter Schüler ist oder nicht!”

Und so kam es, dass am Samstagmorgen alle Schüler die Boote bestiegen und den Fluss überquerten, ohne ein Boot am Ufer zurückzulassen. Als nun Abdul von der Frau des Scheichs geweckt wurde und er feststellte, dass er verschlafen hatte, sprang er hurtig in seine Kleider und lief zur Flussmündung. Aber dort lag kein Boot mehr, mit dem er den anderen hätte folgen können!

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Abdul überlegte eine Weile, was er jetzt tun könnte. Dann fasste er den Plan, über den Fluss zu schwimmen, obwohl der Fluss hier an der Mündung so breit war, dass man kaum das andere Ufer erkennen konnte. Er betete zuerst zu Allah, band danach seine Kleider auf den Kopf und stiefelte los. Das Wasser war sehr seicht und wurde zu Abduls großer Verwunderung auch gar nicht tiefer, obwohl er sich bereits weit vom Ufer entfernt hatte. Ohne weiter als bis zu seinen Fußknöcheln nass zu werden, setzte er zum anderen Ufer über.

Der Scheich und die anderen Schüler waren sehr erstaunt, als Abdul das Haus Subang Bangelangs betrat und allen Anwesenden „Assalamu alaikum” wünschte. Ein Boot hatte ja keines mehr am Ufer gelegen, und über den Fluss zu schwimmen, schien allen unmöglich.

Da alle anderen schon gegessen hatten, musste sich Abdul abseits hinsetzen, um dort etwas zu sich zu nehmen. Die anderen fingen derweil an, den Koran zu rezitieren. Als nun die Reihe an Abdul

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gekommen war, wollte der zuerst nicht, weil er sich seines Unvermögens schämte. Aber der Gastgeber bestand darauf, dass auch der Neuankömmling den Koran vortrug. Wie erstaunt waren alle, als Abdul mit wunderschönster Stimme anfing, den Koran vorzutragen, denn Abdul hatte bis jetzt nur stockend das Lesen des Korans beherrscht! Je länger er vortrug, desto neidischer wurden die anderen Schüler, aber desto mehr öffnete sich das Herz des Lehrers.

Nach dem Mittagsgebet kehrten alle zur Moschee zurück. Dort angekommen wollte der Scheich wissen, welche Frucht in Abduls Land am besten schmeckte.

„Die Durian schmeckt wunderbar, mein Scheich”, antwortete Abdul.

„Meinst du, du könntest mir eine besorgen?”

„Das kann ich”, behauptete Abdul, obwohl man ja nach Sumatra zwei Monate mit dem Schiff unterwegs war und keine Durian so lange haltbar war.

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„Dann nimm diese Matte hier”, sagte der Scheich und gab Abdul eine viereckige Matte, die man Pandan nannte. Abdul nahm sie, ging hinaus in den Garten und breitete dort die Matte in der Luft aus. Er bestieg die Matte, und im Handumdrehen war er schon in Aceh.

In Aceh angekommen rollte er die Matte zusammen und versteckte sie in einem Gebüsch. Dann ging er zu einem Garten, von dem er wusste, dass dort Durian wuchsen. Doch wie es schien, war im Moment die falsche Jahreszeit, denn keine Frucht war zu entdecken. Auf seiner Suche stieß er in der Mitte des Gartens auf eine Hütte. Den Besitzer der Hütte sprach Abdul an: „O Herr!”

„Ja, was gibt’s? Tritt ein!”

„Ich suche eine Durian für meinen Lehrer. Mein Lehrer wollte wissen, welche Frucht in meiner Heimat am besten schmeckt, und ich sagte: Die Durian! Da hat er mich gefragt, ob ich ihm eine beschaffen könnte, und ich sagte ihm: Das kann ich!”

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„Na, du bist mir einer! Zu dieser Zeit wachsen doch gar keine Durian!”

Aber Abdul sah so aus, als ob er das nicht glauben könnte.

„Wenn du mir nicht glaubst, suche doch selbst! Jede Durian, die du findest, schenke ich dir"” lachte der Mann.

Da ging Abdul erneut auf die Suche. Er war noch keine zehn Meter gegangen, da fiel ihm eine Durian direkt vor die Füße.

„Na so was!” sagte der Mann und kratzte sich am Kopf. Es war die größte Durian, die er je gesehen hatte! Abdul nahm die Frucht, ging zurück zu der Matte, rollte sie aus, und im Nu stand er wieder vor seinem Lehrer in Ägypten.

„Assalamu alaikum”, wünschte Abdul dem Scheich.

„Alaikum salam”, antwortete der Scheich. „Na, was hast du mir denn da Feines mitgebracht? Wie schmeckt diese Frucht?”

„Probiert selbst”, sagte Abdul, während er die Frucht aufbrach und dem Lehrer ein

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Stück reichte. Und wie schmeckte die Durian! So eine Frucht gab es in ganz Ägypten nicht!

Zwei Tage später rief der Lehrer Abdul erneut zu sich.

„Abdul”, sprach der Scheich. „Gehe zum Oberlauf des Nils. Dort wirst du eine Höhle finden. In diese Höhle ziehe dich für vierzig Tage zum Gebet zurück.”

„Ist gut, mein Scheich”, sagte Abdul und machte sich auf den Weg zum Oberlauf des Nils. Und wirklich fand er dort eine Höhle, in die er sich zurückzog, um eine vierzigtägige Andacht zu halten.

In dieser Zeit regnete es nicht mehr in Ägypten. Der Nil trocknete aus, und das Volk litt Not. Der König von Ägypten ging nach Medina zum Grab des Propheten und betete dort zu Allah. In der Nacht träumte er dann, dass am Oberlauf des Nils ein Büßer in einer Höhle eine Andacht hielt. Diesen müsste er aufsuchen, wenn der Nil wieder Wasser führen sollte.

Sofort nach dem Morgengebet machte sich der König auf zum Oberlauf des Nils.

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Und wirklich traf er dort Abdul in seiner Höhle.

„Assalamu alaikum”, sagte der König.

„Alaikum salam”, antwortete Abdul, „was führt dich zu mir?”

„Der Nil ist ausgetrocknet. Deswegen bin ich zum Grab des Propheten und habe dort gebetet. In der darauffolgenden Nacht wurde mir im Traum gesagt, ich sollte dich aufsuchen. Also bitte, hilf uns!”

„Ist gut, mein König”, sagte Abdul. „Rufe alle deine Untertanen zusammen und bringe sie zu mir. Wir werden alle zusammen beten, und so Gott will, wird unser Gebet erhört werden.”

Der König folgte der Anweisung, und drei Tage später standen alle Untertanen vor der Höhle bereit zum Gebet. Abdul, dessen vierzig Tage Andacht nun beendet waren, kam aus seiner Höhle und sprach: „Zuerst müssen wir einen Brunnen in der Mitte des Flussbettes graben, damit wir Wasser zur rituellen Reinigung haben. Wenn wir uns dann gewaschen haben,

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werden wir beten. Aber niemand soll fortgehen, bevor das Gebet beendet ist.”

Das Volk folgte der Anweisung, und drei Stunden später standen alle Untertanen vor der Höhle bereit zum Gebet. Gemeinsam baten sie Allah um Regen. Beim ersten Gebetszyklus verdunkelte sich bereits der Himmel. Beim zweiten Gebetszyklus fing es in Strömen an zu regnen. Beim dritten Gebetszyklus wurden die Menschen, die zu nahe am Flussufer standen, fortgespült. Nach dem vierten Gebetszyklus sprach Abdul: „So, da unser Gebet bereits erhört wurde, kehre nun ein jeder nach hause zurück.”

„Gelobt sei Gott”, sprachen die Menschen und machten sich auf den Heimweg. Dabei überlegten sie, wie sie es diesem Fremdling vergelten könnten, dass er ihnen so großartig geholfen hatte. Und dann gab ein jeder eine Kleinigkeit, bis sie einen ganzen Sack Gold gesammelt hatten. Diesen Sack brachte der König zu Abdul, der wieder in die Moschee zurückgekehrt war. Doch Abdul wollte

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den Sack nicht annehmen und sprach: „Mit diesem Geld baut Moscheen. Oder gebt es Bedürftigen oder denen, die sich auf der Pilgerreise befinden und auf eure Gastfreundschaft hoffen.”

„Ist gut”, sagte der König und verabschiedete sich, indem er „Assalamu alaikum” wünschte.

„Alaikum salam”, sagte Abdul.

Nach vier Tagen rief Scheich Abdul Kasasi Abdul ein weiteres Mal. Als Abdul den Hof betrat, wies ihn der Scheich an, sich zu setzen und in den Himmel zu blicken. Abdul kam der Aufforderung nach und blickte in den Himmel. Da sah er das Haus der Engel, Baitul Makmur. Dann sah er das Paradies und auch die Hölle.

Der Scheich fragte ihn: „Was hast du gesehen, Abdul?”

„Ich habe Baitul Makmur gesehen, das Paradies und die Hölle.”

„Gut, nun kehre in deine Heimat zurück. Nimm diese hundertvierundvierzig Korane mit und

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lehre in deiner Heimat, so wie ich dich gelehrt habe. Eines Tages wird ein Mann aus Malaysia kommen, um bei dir zu lernen. Diesem gebe vierundvierzig der Korane, damit er in Malaysia den Islam verbreiten kann.”

Da kehrte Abdul in seine Heimat zurück und wurde fortan Scheich Abdul Rauf genannt.

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Wie der Vulkan Maninjau

zum See wurde

Es war einmal ein Berg, der hieß Maninjau. Der thronte mit seinen neun Brüdern (den umliegenden Vulkanen) auf der Hochebene von Bukittinggi. Eines Tages ging Maninjau mit seiner Kusine (einer schönen Anhöhe) in den Garten und vergnügte sich dort mit ihr, indem er Fangen und Verstecken mit ihr spielte.

Seine Brüder waren darüber sehr aufgebracht und beschuldigten Maninjau, er hätte mit seiner schönen Kusine Unzucht getrieben. In Wirklichkeit waren die Brüder jedoch nur sehr eifersüchtig auf Maninjau. Und obwohl Maninjau seine Unschuld beteuerte, wollten seine wütenden Brüder ihn von der Hochebene herunterstürzen.

Da sagte Maninjau: „Lasst nur, ihr braucht mich nicht hinunterzustoßen. Ich werde selber springen. Wenn ich unten aufschlage und zerberste, dann ist dies das Zeichen, dass ich schuldig bin. Sollte ich

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aber zum See werden, so ist dies das Zeichen meiner Unschuld!”

Da ließen ihn die Brüder los, und Maninjau sprang in die Tiefe. Und so wurde der Vulkan Maninjau zum See.

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Die Geschichte von

Malin Kundang

Nicht weit vom Dorf Seberang entfernt liegt ein Strand mit dem Namen Air Manis. Dort lebte einst ein Junge mit dem Namen Malin Kundang. Als Malin gerade drei Jahre alt war, starb sein Vater, und Malin lebte fortan alleine mit seiner armen Mutter in einer kleinen Hütte. Ob die beiden nun ihren Lebensunterhalt dadurch verdienten, dass sie kleine Fische fingen und trockneten oder aber Feuerholz sammelten, ist nicht genau überliefert. Aber das weiß man, Malin war seines armen Lebens mehr als überdrüssig. Deshalb zog er eines Tages los, um in der Fremde sein Glück zu suchen.

Weit wanderte er, immer weiter, bis er schließlich das ferne Java erreichte. In einer großen Stadt half er, Schiffe zu beladen, um sein täglich Brot zu verdienen. Weil er fleißig war, durfte er irgendwann auf einem Schiff anheuern

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und wurde Schiffskoch. Und weil er so gut kochte, hatte er bald bei der ganzen Mannschaft ein Stein im Brett. Auch der Kapitän war ihm wohlgesonnen, und so fragte ihn Malin eines Tages: „Kapitän?”

„Was gibt’s, Malin?”

„Ich würde gerne von meiner Heuer, die ich mir zusammengespart habe, auch Holz kaufen, wenn das Schiff Holz lädt. Und es wieder verkaufen, wenn wir einen günstigen Platz anlaufen.”

„Willst dir wohl einen kleinen Nebenverdienst erwirtschaften, was?” lachte der Kapitän gutmütig und gab ihm die Erlaubnis.

Drei Jahre kaufte und verkaufte Malin nun Holz und war dabei sehr erfolgreich, weil er schnell mit Menschen warm wurde und sie ihm vertrauten. Nach diesen drei Jahren machte er sich bereits selbstständig und mietete ein ganzes Schiff. In den darauffolgenden Jahren wuchs sein Reichtum immer mehr. Er baute Lagerhäuser in verschiedenen Städten

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und besaß zuletzt mehrere Schiffe, die seine Waren über die See trugen.

Eines Tages ging er in Malaysia an Land, um neue Waren einzukaufen. Dort erfuhr er, dass der König von Malakka seine Tochter vermählen wollte, und dass sich die Brautbewerber einem Hahnenkampf mit hohem Einsatz stellen müssten. Da ging Malin zur Arena des Königs, um sich die Prinzessin einmal anzuschauen. Kaum hatte er sie erblickt, entflammte sein Herz. Geschwind eilte er zurück zum Schiff und holte seinen rotgelben Kampfhahn. Mit diesem kehrte er zur Atena zurück und stellte sich dort dem König vor.

„Gut”, sprach der König, „du willst also beim Kampf teilnehmen. Aber kannst du auch den Einsatz dieses Prinzen hier erwidern? Er hat drei Kisten mit Gold als Einsatz geboten!”

„Das kann ich!” behauptete Malin. „Das Gold liegt auf meinem Schiff bereit.”

„Dann lasst uns mit dem Kampf beginnen. Dein Gold werden wir später

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holen, wir haben ja deinen Kopf als Pfand”, sagte der König und rief den Schiedsrichter und den Prinzen herbei. Den Hähnen wurden die Metallsporne angelegt, und auf ein Zeichen des Schiedsrichters hin wurden sie aufeinander losgelassen.

Der Prinzessin war Malin wesentlich sympathischer als der finster dreinblickende malaysische Prinz. Wie froh war sie dann auch, als Malins Hahn dem gegnerischen Gockel in kurzer Zeit die Brust zerfetzte. Der Prinz schaute äußerst grimmig drein und hätte sich vielleicht auf Malin gestürzt, wenn nicht die Wache des Königs in zurückgehalten hätte. So blieb ihm nichts anderes übrig, als mit leeren Händen in seine Heimat zurückzukehren.

Wenn aber Malin gedacht hatte, er könnte jetzt die Prinzessin sofort heiraten, hatte er sich getäuscht. Drei andere Gegner musste sein Hahn noch besiegen, bis Malin entgültig als Sieger feststand. Lächelnd kam die Prinzessin ihm nun entgegengeschritten und geleitete ihn an

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der Hand zum Palast. Und kaum eine Woche später fand dann wirklich die Hochzeit statt.

Nachdem sie einige Zeit glücklich zusammen gelebt hatten, sprach die Prinzessin zu Malin: „Mein lieber Gemahl! Ich weiß, dass Euer Vater tot ist. Aber warum gehen wir nicht einmal Eure Mutter besuchen?”

„Meine Mutter ist eine arme Frau. Sie besitzt kein Haus wie andere Leute. Aber gut, wenn du sie kennen lernen willst…”

Und so machte Malin sein bestes Schiff klar und stach mit der Prinzessin in See. Nach etlichen Seemeilen erreichten sie Padang.

Die Mutter saß bei der Ankunft ihres Sohnes in ihrer Hütte. Jemand kam angerannt und berichtete, ihr Sohn wäre zurückgekehrt. Er wäre nun ein reicher Mann und mit seinem eigenen Schiff gekommen.

Die Mutter freute sich, wie sich eine Mutter eben nur freuen kann, wenn sie ihr einziges Kind nach so vielen Jahren noch

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einmal wiedersehen darf. In froher Stimmung und seliger Erwartung bereitete sie Küchlein für den Empfang von Malin vor. Sie war inzwischen alt geworden, und es war schwer für sie, an das tägliche Brot zu kommen. Für diese Küchlein nahm sie jedoch nur die besten Zutaten, was ihre gesamten kümmerlichen Ersparnisse aufbrauchte.

Auf ihrem Kopf trug sie die Küchlein zum Strand, und wie klopfte ihr Herz, als sie dort das Schiff vor Anker liegen sah. Eine große Menschenmenge hatte sich versammelt, denn kaum einer hatte je ein so prächtiges Schiff gesehen. Selbst der einfachste Matrose trug eine schmucke Uniform. Die Planken des Schiffes waren frisch gebohnert, und wenn die Fischer ein so feines Leinen für ihre Kleidung gehabt hätten, wie das, aus welchem die Segel gemacht waren, hätten sie sich wohl glücklich geschätzt!

Doch wie waren erst der Kapitän und die Prinzessin gekleidet? Manche Leute mussten gar mit den Augen zwinkern, so einen Glanz strahlten die beiden aus!

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Während ein paar Matrosen damit beschäftigt waren, Süßwasser ins Beiboot zu laden, flanierte das Paar stolz am Strande auf und ab, staunend betrachtet von der Menge.

Malin erkannte wenige der Gesichter wieder. Zu lange war er bereits fort gewesen. Doch seine Mutter erblickte er schon von weitem. Ihm wurde plötzlich ganz heiß, aber nicht vielleicht aus Freude, wie man jetzt denken könnte. Nein, aus Scham! Seine Mutter war ein hässliches altes Weiblein geworden und trug nicht mehr als ein paar Lumpen am Leibe. Vor all den versammelten Menschen und seiner Gemahlin sollte er, der Kapitän des prächtigsten Schiffes, das je an diesem Strande gesehen worden war, eine dürre armselige Alte seine Mutter nennen? Ihm wurde immer unbehaglicher zumute, je näher die Mutter kam. Und als sie schon die knochigen Hände ausstreckte, um den lang ersehnten Sohn endlich zu umarmen, fuhr er sie barsch an: „Was willst du von mir, Weib?”

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„Aber mein Sohn…”, stammelte die Mutter und machte ein entsetztes Gesicht. Kreideweiß wurde sie.

„Was, ich soll dein Sohn sein?” schrie Malin höhnisch und gab ihr einen Stoß mit dem Fuß, sodass die Mutter auf die Knie stürzte, und die frischgebackenen Küchlein über den Sand rollten. „Du unverschämtes Ding, heb’ dich von dannen!”

Die Prinzessin kam herbei und wollte den Grund für die Aufregung erfahren.

„Diese arme Irre hält sich für meine Mutter. Aber meine Mutter ist nicht so ein hässliches Wesen wie dieses hier”, sagte Malin voll stolzer Überheblichkeit.

Die Mutter glaubte, ihr Herz zerreiße. Fassungslos starrte sie auf den Boden, bis schließlich bittere Tränen ihre runzligen Wangen herabrannen. Wie durch einen Schleier sah sie noch, wie sich die Prinzessin mitleidig über sie beugte. Aber gleich darauf ertönte Malins harsche Stimme, die den Befehl zum Ablegen gab. Wie betäubt kniete sie dort, während das

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Beiboot bereits das Schiff erreicht hatte. Und als das Schiff die Anker lichtete und Kurs auf das offene Meer nahm, tat sie nicht mehr, als die Hände zum Himmel zu erheben und zu Gott zu beten. Viele Menschen standen in ihrer Nähe, deshalb weiß man heute noch, was sie sagte: „Oh Allah! Wenn dies wirklich nicht mein Sohn ist, oder wenn er es wirklich vergessen haben sollte, dass ich seine Mutter bin, so segne ihn! Aber sollte er wirklich mein eigenes Kind sein und mich bewusst verleugnet haben, so gib ihm die ihm angemessene Strafe!”

Kaum hatte die Mutter das Gebet beendet, als schon ein heftiger Wind aufkam, der sich bald zu einem gewaltigen Sturm anwuchs. Der Himmel verfinsterte sich, und haushohe Wogen brüllten über das Meer. Regen stürzte wie aus Kübeln herab, sodass alle Dorfbewohner in ihre Häuser flohen.

Malin, dessen Schiff wie ein Korken auf dem Wasser herumgeschleudert wurde und nun auf die Felsen zutrieb, schrie voller Verzweiflung und in Reue nach

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seiner Mutter. Doch die Strafe Gottes war jetzt nicht mehr abwendbar.

Niemand traute sich in dieser Nacht vor die Tür. Aber am Morgen des nächsten Tages fanden die Bewohner des Dorfes das Schiff, zu Stein verwandelt.

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