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dtv portrait Mahatma Gandhi von Albrecht Hagemann 1. Auflage Mahatma Gandhi – Hagemann schnell und portofrei erhältlich bei beck-shop.de DIE FACHBUCHHANDLUNG dtv München 2008 Verlag C.H. Beck im Internet: www.beck.de ISBN 978 3 423 31088 8

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Albrecht Hagemann, geboren 1954 in Detmold, studierteGeschichte und Sozialwissenschaften in München und

Bielefeld. 1988 promovierte er an der Universität Bielefeldmit einer Arbeit über die deutsch-südafrikanischen

Beziehungen in der Zeit des Dritten Reiches. Heute ist erGymnasiallehrer in Herford. Unter anderem publizierte er

eine Biografie Nelson Mandelas, eine Geschichte Südafrikassowie in der Reihe ›dtv-Portrait‹ den Band ›Fidel Castro‹

(dtv 31057).

_portrait

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Mahatma Gandhi

Von Albrecht Hagemann

Deutscher Taschenbuch Verlag

Hagemann_Gandhi.xp6 08.11.2007 14:35 Uhr Seite 3

Weitere in der Reihe dtv portrait erschienene Titel finden Sie im Internet (www.dtv.de)

und im dtv-Gesamtverzeichnis,das überall im Buchhandel erhältlich ist.

OriginalausgabeJanuar 2008

© Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München

www.dtv.deDas Werk ist urheberrechtlich geschützt. Sämtliche, auch

auszugsweise Verwertungen bleiben vorbehalten.Umschlagkonzept: Balk & Brumshagen

Umschlagfoto: Corbis/Hulton-Deutsch CollectionSatz: Fotosatz Reinhard Amann, Aichstetten

Druck und Bindung: Firmengruppe APPL, aprinta druck, WemdingGedruckt auf säurefreiem, chlorfrei gebleichtem Papier

Printed in Germany · ISBN 978-3-423-31088-8

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Nur wer sich selbst besiegt, ist stärker als der, der diestärksten Mauern überwindet, eine höhere Tugend gibt esnicht.

Heinrich Rantzau (1556–1598), seinerzeit mächtigster undbedeutendster Adliger der schleswig-holsteinischen Ritterschaft

Nur die Kontrolle über den eigenen Geist bedeutet wahreswaraj (etwa: Freiheit, Selbstherrschaft).

Mahatma Gandhi

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Inhalt

Kindheit und Jugend in Gujarat 9

Zeit der Suche in England 28

Zeit der Reife in Südafrika 38

Festhalten an der Wahrheit in Indien 72

»Quit India« 130

Der Preis der Freiheit 141

Nach dem Mord – Wirkungen 164

Glossar 179Zeittafel 181Bibliografie 184Bildnachweis 188Danksagung 189Register 190

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1 Mahatma Gandhi, 1946

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Kindheit und Jugend in Gujarat

Wardha im heißen Herzen Indiens: Unweit der kleinenStadt steht Mahatma Gandhi im späten Jahr 1937 in-

mitten des von ihm gegründeten Sevagram-Ashrams unterder glühenden Sonne. Wie üblich trägt er das dhoti, das umdie Hüften geschlungene, selbstgesponnene Beinkleid, dasdie Knie frei lässt. Gandhi bietet so die personifizierteSchlichtheit, die er hier in der klosterähnlichen Wohnanlagezusammen mit zahlreichen Gleichgesinnten vorlebt undpredigt. Er hat sich zu dieser Zeit ein wenig aus der großenPolitik zurückgezogen, aus dem zähen, gewaltfreien Kampfum die Unabhängigkeit Indiens von Großbritannien. SeinInteresse gilt momentan mehr der Hilfe für die armen Bau-ern in dem gewaltigen Subkontinent, seinen sozialreformeri-schen Ideen und dem Eintreten für die Ausgestoßenen derindischen Gesellschaft, kurzum: Es geht um sarvodaya, Wohl-stand für alle.

9

Ihre Befürworter begnügen sich nicht damit, die Impfung beiden Menschen durchzuführen, die nichts dagegen einzuwendenhaben, sondern sie suchen mit Hilfe des Strafgesetzes undschwerer Bußen sie auch den Völkern aufzuzwingen, die sichdagegen auflehnen. Die Impfung ist noch nicht sehr alt. Siestammt aus dem Jahre 1798. Aber in dieser verhältnismäßig kur-zen Zeitspanne sind Millionen von Menschen dem Irrtum ver-fallen, dass derjenige, der sich impfen lasse, gegen Pocken ge-schützt sei. Niemand kann behaupten, dass jeder, der nichtgeimpft ist, unfehlbar die Pocken bekomme. Denn es sind vieleFälle bekannt, wo auch nichtgeimpfte Personen von der Epide-mie verschont blieben. Wenn einzelne Menschen, die nichtgeimpft wurden, den Pocken erliegen, dürfen wir daraus nichtschließen, dass sie verschont worden wären, wenn sie sich hät-ten impfen lassen. Die Impfung ist eine Barbarei und gehört zuden allerverhängnisvollsten Irrtümern unserer Zeit.

M. Gandhi, Wegweiser zur Gesundheit, S. 110 f.

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Der Mahatma steht nicht allein in der Sonne, er unterhältsich angeregt mit Herbert Fischer, einem Gast und Mitarbei-ter im Ashram, der als Pazifist und Linker vor den National-sozialisten geflohen ist und über eine Station im SpanischenBürgerkrieg den Weg zu Gandhi nach Sevagram gefundenhat. Später, nach dem Zweiten Weltkrieg, sollte Fischer Bot-schafter der DDR in Indien und Nepal werden. Plötzlichstört ein leises Brummen das Gespräch der beiden Männer,der Deutsche hebt die Augen zum Himmel, kneift sie zusam-men und erkennt ein kleines Flugzeug, das über den Ashramstreicht. Gandhi blickt ebenfalls empor, zuckt gelangweiltmit den Achseln und meint, was das denn solle? Ein Flug-zeug? Das war nicht Gandhis Welt, ebenso wenig wie diemeisten technischen Errungenschaften seiner Zeit. Einfach,selbstgenügsam und an den bäuerlichen Bedürfnissen undLeistungen sollte sich das künftige freie Indien orientieren.Man tritt ihm wohl nicht zu nahe, wenn man zu dieser Zeitsein Ideal Indiens als das einer rückwärtsgewandten Utopiebeschreibt.

Indien im Jahre 2007: Genau 60 Jahre ist es her, dass derTraum Gandhis von der Freiheit seiner Heimat in Erfüllungging – wenn auch um den Preis eines mörderischen Bürger-krieges und der Teilung Britisch-Indiens in die souveränenStaaten Indien und Pakistan. Noch immer ist Indien dasLand der Aberhunderttausend Dörfer, der Rückständigkeitund bitteren Armut vor allem auf dem Lande. Doch Gandhiwürde auch staunen. Gerade unter Rückgriff auf Bits undBytes, auf die Inkarnation westlicher Technik und Moder-nität, ist der südasiatische Gigant dabei, sich in die vorderenRänge wirtschaftlich erfolgreicher Nationen vorzuarbeiten.Die indische Presse überbietet sich mit Erfolgsmeldungen,die der Mahatma wohl nicht als solche empfunden hätte:Zwischen 2000 und 2005 hat sich in Indien die Zahl der Inter-netnutzer von fünf auf 40 Millionen verachtfacht, die Zahlder Handys von 2,3 auf 45 Millionen fast verneunzehnfacht,2005 gab es im Lande 30 Millionen Flugpassagiere und fünf

10KINDHEIT UND JUGEND IN GUJARAT

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neue Fluglinien nahmen ihren Betrieb auf. Bis Ende 2006 solles eine Million indische Dollar-Millionäre geben und für 5,2 Milliarden Euro entsteht im »Goldenen Viereck« zwi-schen Bombay (heute Mumbai), Delhi, Kalkutta (heute Kol-kata) und Madras (heute Chennai) ein knapp 6000 km langerAutobahnring. Hat sich Gandhi also hinsichtlich der wirt-schaftlichen Zukunft seines Landes geirrt – oder aber hat ermit seinen Visionen sogar weiter geblickt, über die entfes-selte Gigantomanie des westlichen liberalen Wirtschaftsmo-dells hinaus in eine Zeit von Menschenhand nicht mehr steu-erbarer Umwelt- und Klimakatastrophen?

Porbandar am Arabischen Meer, um die Mitte des 19. Jahr-hunderts: Hier wurde Mohandas Karamchand Gandhi am 2. Oktober 1869 geboren. Das Hafenstädtchen liegt an derKüste von Saurashtra, der früheren Halbinsel Kathiawar, inder Provinz Gujarat. Gujarat war damals eine der politischzerklüftetsten Provinzen Indiens, einerseits reichte die MachtBombays bis hier, andererseits regierten unter britischerOberhoheit rund 200 halbselbstständige Fürsten. Vom gro-ßen Rest Indiens lag Kathiawar einigermaßen isoliert, vorallem auf Grund geografischer Gegebenheiten. Vielleicht ge-rade deshalb zog es die dort ansässigen Händler schon langevor der britischen Herrschaft übers Meer bis an die ostafrika-nische Küste. Etwa seit der Geburt Mohandas’ unterhieltenPorbandars Kaufleute Beziehungen bis nach Südafrika – wassich für den jungen Gandhi als schicksalhaft erweisen sollte.Andere Handelswege führten nordwärts durch die WüstenSinds und Rajasthans. Größte und bedeutendste Stadt Guja-rats blieb bis zur Ankunft der Briten Ahmedabad mit seinerTextilindustrie, zum Abstieg trug der Aufstieg Bombays mitdem Bau der Eisenbahnlinie 1853 und die Öffnung des Suez-kanals 1869 bei. Ahmedabad, heute eine regionale Metropolemit viereinhalb Millionen Einwohnern, erlebte noch einmaleinen Aufschwung, als die Eisenbahn 1864 die Stadt er-reichte, das westliche Gujarat mit Porbandar verblieb hinge-gen im Abseits und war Mitte des 19. Jahrhunderts eine der

11DIE PROVINZ GUJARAT

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konservativsten Gegenden Indiens. Sie war berüchtigt alseine der Hochburgen für Mädchentötungen – wegen derMitgift, welche die Eltern von Töchtern der Familie desBräutigams zu zahlen hatten –, und sie leistete erbittertenWiderstand gegen die von den Briten eingeführte Pocken-schutzimpfung. Zur Zeit der Geburt Gandhis gab es in sei-ner Heimat keine nennenswerte Industrie, keine besonderenStädte oder Dörfer und keine Eisenbahn. Der Kamelritt vonAhmedabad in das Porbandar nahe gelegene Rajkot dauerteacht Tage. Kaum ein westlicher Einfluss störte die Region,christliche Missionsversuche beschränkten sich auf einenkläglich gescheiterten in Porbandar seitens irischer Presby-terianer in den 1840er Jahren. Die damals etwa 72000 Seelenzählende Stadt mit ihrem Umland besaß eine Fläche von ca.600 qkm und bildete eines von rund 600 indischen Fürsten-tümern. Nach dem letzten Aufstandsversuch der Inder ge-gen die Briten 1857/58, der sogenannten Sepoy-Revolte, ließLondon von dem Versuch ab, die indischen Fürstentümer zuannektieren, änderte seine Strategie und gestattete ihneneine formale Unabhängigkeit mit allem dazugehörigen Pompund Prunk.

Über Kindheit und Jugend Mohandas’ berichten nur we-nige Quellen. Nahezu alle Biografen schöpfen beinahe aus-schließlich aus Gandhis eigener ›Autobiographie oder DieGeschichte meiner Experimente mit der Wahrheit‹, einemumfangreichen Werk, das zunächst seit Mitte der 1920erJahre in wöchentlichen Fortsetzungen auf Gujarati in dervon ihm herausgegebenen Zeitschrift ›Navajivan‹ erschienund bis heute weltweit zahlreiche Ausgaben erfahren hat.Die Autobiografie endet um das Jahr 1921. Wenn es auchkaum Anlass gibt, Gandhis eigene Schilderung seiner frü-hen, ihn zweifellos sehr prägenden Jahre in Zweifel zu zie-hen, bleibt beim kritischen Biografen doch ein gewissesUnbehagen angesichts sonst fehlender Quellen und Zeugen.Insgesamt liefert der Autor ein sehr farbiges, facettenreichesPorträt seiner Jugendzeit, das ihn selbst nicht eben beschei-den pointiert in den Mittelpunkt allen Geschehens rückt.

12KINDHEIT UND JUGEND IN GUJARAT

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Weit davon entfernt, sich als unfehlbaren Musterknaben derNachwelt zu präsentieren, berichtet Gandhi freimütig vonallerlei Versuchungen in seinen jungen Jahren und von Akti-vitäten, die zuweilen eher das Bild eines kleinen Tunichtgu-tes entstehen lassen.

Mohandas wuchs in einer Familie mit einer langen väter-lichen Tradition als Politikberater an den Fürstenhöfen vonKathiawar auf, obwohl sie eigentlich im Handel verwurzeltwar. Großvater, Onkel und Vater dienten als diwane, als Rat-geber oder Premierminister der Fürsten. Mohandas’ VaterKaramchand beriet den kleinen Hof von Porbandar, dann,von 1875 bis kurz vor seinem Tod zehn Jahre später, wirkte erals eine Art Premierminister in den Kleinstaaten Rajkot undVankaner, ebenfalls in Gujarat. Möglicherweise dienten demjungen Mohandas der Großvater und Vater als Vorbild inSachen Mut und Integrität, er lernte sehr früh, dass Indersich selbst regieren konnten. Die Fürstentümer Kathiawarszeigten ihm eine politische Alternative ungeachtet allerRückständigkeit, sogar moralisch, mit einer hinduistischenTradition, die der britischen Raj (»Herrschaft«) lange voran-gegangen war. Gandhi wuchs wahrscheinlich mit einer weit-aus günstigeren Meinung über die Fürstenstaaten auf als

13DIE FAMILIE

2 Gandhi als Siebenjähriger

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viele seiner indischen Zeitgenossen aus der Mittelschicht.Ungeachtet aller eingestandenen Korruption und Hofintri-gen erkannte er vermutlich eine positive Rolle der Fürstenund ihrer diwane als Treuhänder des ungebildeten Volkes, alsTräger eines zweifellos paternalistischen Herrschaftsgedan-kens. In einer späteren Auseinandersetzung mit dem Sozia-lismus schrieb Gandhi, es sei die Pflicht des Herrschers, demVolke zu dienen, und als Gegenleistung für des Volkes Treuesei er dessen Treuhänder und Freund. In seiner Definitiondes Begriffs swaraj (»Selbstherrschaft«) betonte er, die Armenseien selber schuld an ihrer Misere, Hass auf den Herrschersei nicht erlaubt, vielmehr sei gegenseitige Hilfe und Solida-rität erforderlich. Bewusst oder unbewusst – Gandhi han-delte später auf Grund seiner herausgehobenen Herkunft. Erahnte wohl, dass er zur Führung bestimmt sei oder doch hin-ter den Mächtigen stehen werde.

Vermutlich ebenfalls unbewusst eignete sich Gandhi spe-zielle Formen des Widerstands an, die insbesondere in seinerKaste und anderen Händlerkasten des überschaubaren Ka-thiawar verbreitet waren. Dazu gehörten sowohl gewalttä-tige Aktionen wie die Selbstverstümmelung mit dem Ziel,einen Schuldner in Verlegenheit zu bringen und damit zurZahlung zu bewegen, als auch gewaltfreie: Ein Gläubigerkonnte sich fastend in aller Öffentlichkeit vor ein Gebäu-de setzen und versuchen, mit seinem Leid Passanten wieSchuldner zu beeindrucken. Diese Techniken funktioniertenjedoch nur in Kleinstaaten, wo jeder jeden kannte und per-sönliche Beziehungen das soziale Leben bestimmten. Auchist bei späteren Fastenaktionen Gandhis gefragt worden, obdie mit ihnen verbundenen Nötigungen des Gegners nochganz dem Ideal der Gewaltfreiheit entsprachen.

Als der Vater den Fürsten der ca. 180 km nordöstlich vonPorbandar gelegenen Stadt Rajkot beriet, kam Mohandasdort mit sieben Jahren auf die Grundschule. Nach seinerAutobiografie eher schüchtern und zerbrechlich, besaß ergleichwohl intellektuellere Fähigkeiten als seine älteren Brü-der Laxmidas und Karsandas. Zeitweilig besuchte er das

14KINDHEIT UND JUGEND IN GUJARAT

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College in Rajkot, wo er Englisch fließend zu beherrschenlernte. Dennoch stand Gandhi zeit seines Lebens zu seinerMuttersprache Gujarati, verfasste alle seine Werke zunächstin dieser Sprache und betonte immer wieder die grundsätz-liche Bedeutung einer jeden Muttersprache des indischenSubkontinentes.

Der amerikanische Journalist Louis Fischer nannte Gan-dhis sozialen Hintergrund treffend »Mittelkaste und Mittel-klasse«. Die Modh-Bania-Kaste Gandhis bildete eigentlicheine Unterkaste der Händler- und Geldverleiher-Kaste, dieFamilie war ihr aber in ihrer Funktion als Fürstenberaterlängst entwachsen.

Seit Jahrhunderten gliederte sich die indische Hindu-Ge-sellschaft in vier große Kasten bzw. varnas (»Farben«), dieihrerseits wiederum in zahllose Unterkasten zerfielen. Wirersparen uns an dieser Stelle eine Erörterung der in der Wis-senschaft umstrittenen Frage, inwiefern das Kastensystemetwas ursprünglich Indisches oder aber geradezu eine Erfin-dung der wechselnden europäischen Kolonialherren gewe-sen ist.

An der Spitze standen die Brahmanen (Priester), gefolgtvon den Kshatriyas (Herrschern und Kriegern), den Vaishyas(Händlern) und schließlich den Shudras (Bauern und Hand-werkern). Außerhalb der varnas lebten die Unberührbarenoder dalits, wie sie sich heute nennen, sowie die adivasis, die

15MUTTERSPRACHE

Ich möchte mein Haus nicht von allen Seiten mit Wänden umge-ben und die Fenster verstopfen. Ich möchte, dass die Luft allerKulturen so frei wie möglich um mein Haus weht. Aber ichmöchte nicht von anderen umgeweht werden. Ich möchte, dassunsere jungen Männer und Frauen so viel Englisch und andereWeltsprachen erlernen, wie sie Lust haben … Ich möchte abernicht, dass ein einziger Inder seine Muttersprache vergisst odersich ihrer schämt, oder gar meint, er könne die besten Gedankenin seiner Landessprache nicht ausdrücken. Meine Lehre ist nichtdie Religion eines Zuchthauses.

M. Gandhi in: Young India, 1. Juni 1921

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früher vorwiegend in den Dschungeln lebenden Eingebore-nen. Die Banias gehörten demnach zu den Vaishyas, und inGujarat zählten sie zu einer höheren Teilkaste als in anderenRegionen Indiens.

Angesichts seiner Herkunft aus dem Milieu der Händlerund Regierungsbeamten fällt auf, dass Gandhi sich in sei-nem politischen Leben vor allem zu den Bauern hingezogengefühlt hat. Weder Brahmanen noch Bauern waren die Gan-dhis, sondern als ursprüngliche Banias erfreuten sich diemännlichen Familienmitglieder einer bescheiden gehobenenStellung am Fürstenhof. Während seines politischen Kamp-fes in den 1920er Jahren hat sich Gandhi in ideeller Hinsichtgern als Krieger bezeichnet, nicht gewalttätig zwar, aberdoch entschlossen, den Briten unerschrocken entgegenzutre-ten. Er identifizierte sich weniger mit den Brahmanen, wohlweil er immer eher praktisch als philosophisch-theoretischorientiert war. Auch konnte er kein Sanskrit, die Sprache derliterarischen Hindu-Tradition, wie sie von den Brahmanengepflegt wurde. Gandhi näherte sich dem Sanskrit unddessen zentralem Werk, dem Epos ›Bhagavadgita‹ als Auto-didakt. Hinsichtlich der von ihm gewählten religiösen Tra-dition folgte er dem Muster des sannyasi, eines religiösenBettlers, der allem entsagt, einschließlich Kaste und Konven-tion. Gleichwohl gehörten zum späteren »inneren Kreis« derMitstreiter Gandhis auch Brahmanen wie J. Nehru, Prasad,Rajagopalachari und sein langjähriger Sekretär MahadevDesai.

16KINDHEIT UND JUGEND IN GUJARAT

Ich behaupte einer der größten Kshatriyas von Hindustan zusein … Ich bin ein echter Kshatriya, wenn ich mein Leben für dieVerteidigung meiner selbst, meiner Frau und meines Landesaufgebe. Der körperlich schwächste Mann – und auch die Frau –kann in sich selber den Geist eines Kshatriyas kultivieren und zuseinem Feinde sagen, »hier stehe ich so fest wie ein Fels. Mach’das Schlimmste.«

Gandhi in einer Rede vom Oktober 1920, zitiert nach: David Arnold, Gandhi, S. 23

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Sein praktisches Wesen ließ Gandhi immer die Nähe zuden Shudras, den Bauern suchen, sie galten ihm als Verkör-perung des Dienstes am Nächsten und der Wertschätzungkörperlicher Arbeit. Diese Wertschätzung lernte er keines-wegs von seiner Kaste, körperliche Arbeit war in Indien im-mer mit einem niedrigen Status verbunden. Gandhi beküm-merte das Los der Unberührbaren am unteren Ende dersozialen Hierarchie – so weit, dass er auch deren Arbeit, wieetwa das Toilettenreinigen, verrichtete. Dennoch: Gandhissoziale und kulturelle Wurzeln ruhten tief in der Bania-Kaste. Banias galten gemeinhin als intelligent, aber auch alsgerissen und verschlagen, und im Volk waren sie oft als hart-herzig und habgierig verschrien. Sie selbst sahen sich gernals fleißig, sachlich und sparsam. Man hat gelegentlich be-tont, dass Gandhi, bei aller Selbstverleugnung und allemAsketentum, ein vorzüglicher Geldeintreiber und peniblerTreuhänder ihm anvertrauten Geldes war. Als dem bereitserwähnten Herbert Fischer im Sevagram-Ashram einmalseine Jacke samt Pass und einer eisernen Geldreserve ge-

17KASTENZUGEHÖRIGKEIT

Die ›Bhagavadgita‹ ist einGedicht von 700 Strophenund wird in achtzehn Ge-sänge unterteilt. Sie ist in dem Riesenepos ›Mahabha-rata‹ enthalten, das mit sei-nen hunderttausend Versensiebenmal so lang ist wie Ho-mers ›Ilias‹ und ›Odyssee‹zusammen. Das ›Mahabha-rata‹ berichtet von Menschenund Kriegern aus dem indi-schen Heldenzeitalter, als dieIndoarier ins Land einwan-derten. Was historisch ist,was mythologisch, lässt sichkaum noch unterscheiden.Eingefügt in den Gang der

Handlung sind kleinere Er-zählungen, Fabeln und theo-retisch-philosophische Erör-terungen, darunter eben die›Bhagavadgita‹. Dieses Ge-dicht ist das Werk eines Ver-fassers und aus einem Guss,im 6. und 5. Jahrhundert v. Chr. entstanden. Es ist einGespräch zwischen Krishnaund Arjuna. Krishna gilt alsmenschliche Verkörperungdes höchsten Gottes, und Ar-juna ist einer der Haupthel-den des Pandu-Geschlechts,die mit den Kurus, ihren Vet-tern, im Kampf liegen.

Heimo Rau, Gandhi, S. 23

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stohlen worden war, schämte er sich nach eigenem Bekun-den zunächst, Gandhi mit der Geldangelegenheit zu behelli-gen. Endlich damit konfrontiert, entgegnete dieser, Geld seidurchaus sehr wichtig, es komme allerdings darauf an, wasman damit anfange.

Bescheidenheit und Nüchternheit als Bania-Attributepassten wohl zu Gandhi, aber auch der Bania-Ruf der Fröm-migkeit, religiöser Ergebenheit und Menschenliebe. MancheKenner behaupten: Die raffinierte Mixtur aus Frömmigkeitund Philantropie habe als eine Art Lebensversicherung die-ser Gemeinschaft aus Händlern und Geldverleihern gedient,mit der sie sich gegen nicht gerade seltene Angriffe von au-ßen rückversicherte. Gandhis spätere Entschiedenheit, mitder er Konflikte aller Art zu lösen sowie durch eine Idee vonTreuhänderschaft Harmonie zwischen Arm und Reich zu er-zielen suchte, könnte ihren Ursprung in den vermittelndenPraktiken seiner Kaste haben.

Modh-Banias galten als eine konservative, tief religiöse

Interessanterweise finde ich trotz großer kultureller Unter-schiede viele Parallelen in den Konzepten, die die Menschenüber die äußere Welt überall auf der Welt im Kopf haben. Um esein wenig amüsant zu machen: Die indische Götterwelt zum Bei-spiel funktioniert im Grunde so ähnlich wie der Vorstand einesgroßen Unternehmens. In der indischen Mythologie gibt es zumBeispiel den Gott Brahma (der Schöpfer), er ist so etwas wie derCEO der Götterwelt. Er ist zuständig für Zukunft, Kreativität,Innovation, Strategie. Dann gibt es Vishnu. Er ist der CFO, stehtfür materielles Wohlergehen. Shiva ist so etwas wie der COO.Normalerweise meditiert er und überwacht alles mit einem halboffenen Auge. Aber wenn er aktiv wird, bringt er Zerstörung. Siekennen vielleicht das Bild mit den vielen Armen. Man könnteauch sagen: Wenn der COO tanzt, gibt es eine Restrukturierung.Natürlich macht sich Shiva nicht selbst die Hände schmutzig, erhat dafür seine Leute, wie COOs ja auch.

Arun Gairola (Unternehmensberater und Professor fürUnternehmensführung in Deutschland) im Interview, in: Harvard

Business Manager, Juni 2006, S. 62

18KINDHEIT UND JUGEND IN GUJARAT

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Kaste, und man könnte sagen, dass Gandhi in dieser Hin-sicht eine gewisse Ausnahme bildete. Äußeren Manifestatio-nen traditioneller Hindufrömmigkeit, etwa Teilnahme anWallfahrten und Prozessionen, vermochte er zeit seines Le-bens wenig abzugewinnen. Während er sich einerseits überdie »Ströme von Blut« anlässlich eines Schlachtopfers imKali-Tempel von Kalkutta ereifern konnte, identifizierte ersich andererseits durchaus mit der hinduistischen Vereh-rung der Kuh als einem der volkstümlichsten Symbole desHinduismus. Er zog ferner Kraft aus überlieferten Mythenund Legenden, vor allem aus dem Spiel ›Harishchandra‹, indem der Held große Leiden für seine Treue zur Wahrheit aufsich nimmt, und er setzte zunehmend Gott mit »Wahrheit«gleich.

Gandhis reichlich eklektischer Hinduismus folgte ins-gesamt der bhakti-Tradition, die sich in Gujarat seit dem

19HINDUISMUS

Die Beschützung der Kuh ist für mich eine der wunderbarstenErscheinungen in der Entwicklung der Menschheit. Sie führtden Menschen über die Grenzen seiner Art hinaus. Die Kuh be-deutet für mich die ganze untermenschliche Welt. Der Menschwird durch die Kuh dazu geführt, sein Ein- und Gleichsein mitallem, was da lebt, anzuerkennen … Die Kuh ist ein Gedicht desMitleids. Man liest Mitleid aus diesem sanften Tier. Sie ist dieMutter von Millionen indischer Menschen. Beschützung derKuh bedeutet Beschützung der ganzen dumpfen Kreatur Got-tes … Der Ruf der tieferen Schichten unserer Schöpfung ist umsozwingender, als er wortlos bleibt. Die Beschützung der Kuh be-deutet das Geschenk des Hinduismus an die Welt. Und der Hin-duismus wird dauern, solange es Hindu gibt, die die Kuh be-schützen … Es fällt mir ebenso schwer, meine Gefühle für denHinduismus zu beschreiben wie meine Gefühle für meine Frau.Sie bewegt mich mehr als irgendeine Frau der Welt. Nicht, dasssie keine Fehler hätte. Ich wage zu sagen, dass sie deren vielmehr hat, als ich an ihr sehe. Aber das Gefühl einer unauflös-lichen Verbindung ist da. Genauso fühle ich für den Hinduis-mus, ungeachtet aller seiner Fehler und Beschränktheiten.

M. Gandhi zitiert nach: Wilhelm E. Mühlmann, Mahatma Gandhi, S. 93 f.

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16. Jahrhundert entwickelt hatte. Sie legte besonderen Wertauf individuelle Hingabe vor allem an den Gott Vishnu so-wie seine Inkarnationen Krishna und Rama. Sie verzichteteauf formale Elemente des Hinduismus wie brahmanischePriester, Sanskrit-Texte und ausgefeilte Rituale und war zu-mindest theoretisch offen für alle Kasten sowie Männer undFrauen gleichermaßen.

Gandhis Autobiografie enthält einige Angaben über seineFamilie, mehr über den Vater als über die Mutter, mehr überdie 1863 bzw. 1866 geborenen Brüder Laxmidas und Kar-sandas, weit weniger über die 1862 zur Welt gekommeneSchwester Raliatbehn.

Mohandas war das jüngste Kind und als solches wurde ervon der von ihm als heilige Figur beschriebenen Mutter Put-libai ordentlich verwöhnt, kurzum, er war Mutters Liebling.Putlibai lebte streng religiös, betete mehrmals täglich undgehörte zu der kleinen Pranami-Sekte, die heilige Hindu-texte mit dem islamischen Koran zu verbinden suchte. Vonder Mutter lernte Mohandas wahrscheinlich früh die Einhal-tung strenger Diät- und Fastenvorschriften, die wiederummit Putlibais Neigung zum Jainismus zusammenhing. Starkverbreitet in Gujarat, war diese religiöse Richtung bereits im6. vorchristlichen Jahrhundert als Reformbewegung gegen-über dem Machtanspruch der Brahmanen entstanden. Mön-chische Lebensweise und die rigorose Achtung allen orga-nischen Lebens gemäß dem bedingungslosen Gebot von

20KINDHEIT UND JUGEND IN GUJARAT

Ich pflegte zu sagen ›Gott ist Wahrheit‹. Aber einige Menschenverleugnen Gott. Einige zwingt ihre Leidenschaft zur Wahrheitzu sagen, es gebe keinen Gott. Und auf ihre Weise haben sieRecht. Daher sage ich jetzt ›Wahrheit ist Gott‹. Niemand kann sa-gen ›Wahrheit gibt es nicht‹, ohne dieser Feststellung jeglicheRichtigkeit zu entziehen. Deshalb ziehe ich es vor zu sagen›Wahrheit ist Gott‹. Es hat mich 50 Jahre beharrlicher Meditationgekostet, um die andere Formulierung gegen diese zu tauschen.

M. Gandhi in einem Brief an Lanza del Vasto 1937, hier zitiert nachDavid Hardiman, Gandhi in His Time and Ours, S. 51

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