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Mahamudra-Unterweisungen
Neunter Karmapa
Marig Münsel
– Mahamudra –
Das Auflösen des Dunkels mangelnden
Gewahrseins
Teil Zwei
der Unterweisungen von
Lama Tilmann (Lhündrup)
Möhra 2013
Die weiteren Passagen sollen in den nächsten Jahren unterrichtet werden.
Inhalt
Einleitung ........................................................................................................................... 1
Einführung des Autors ............................................................................................................... 5
Erster Teil: Die Vorbereitungen ................................................................................................. 6
1. Das Einschlagen einer sicheren Richtung und das Hervorbringen vom Herzensgeist
des Erwachens ........................................................................................................................ 6
2. Die Meditation auf Vajrasattva ...................................................................................... 7
3. Das Darbringen von Mandalas ......................................................................................... 10
4. Guru-Yoga ........................................................................................................................ 21
Hingabe ............................................................................................................................ 24
6. Die Auswirkungen von Handlungen ................................................................................ 37
Die Handlungen von Körper, Rede und Geist .................................................................. 39
Die drei Geistesgifte ......................................................................................................... 41
11. Die sachliche Bedingung: Das richtige Meditationsobjekt ............................................ 54
12. Die unmittelbare Bedingung: Frei von Hoffnung und Furcht ........................................ 56
Wiederholung der vier Bedingungen ............................................................................... 59
Zweiter Teil: Die Hauptpraxis .................................................................................................. 64
1. Schlüsselunterweisungen zu Körper und Geist: Die Haltung .......................................... 64
Den Atem als Stütze nutzen und die drei Stufen geistiger Ruhe (6/1) ............................. 66
2. Den Geist mittels eines visuellen Objektes stabilisieren .................................................. 69
3. Das Vertiefen der Sammlung mit anderen Sinneswahrnehmungen ................................. 70
4. Dumpfheit und Aufgewühltheit beseitigen: Den Geist stabilisieren ................................ 84
5. Den Geist ohne Stütze ausrichten: Anspannung und Laxheit vermeiden ........................ 93
Denken ............................................................................................................................. 95
6. Den Atem als Stütze nutzen und die drei Stufen geistiger Ruhe (6/2) ........................... 106
Abschluss ........................................................................................................................... 115
Dank ............................................................................................................................... 117
9. Karmapa, Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins Lama Tilmann, Möhra 2013
1
Einleitung
Herzlich Willkommen bei diesem Retreat, wo wir etwas weiter ins Mahamudra eindringen werden.
Dieses Seminar ist dem Entwickeln der Meditation gewidmet, und wir werden zusätzlich zu den Un-
terweisungen viel miteinander praktizieren. Obwohl das Haus voll ist, werden wir versuchen, es einan-
der zu ermöglichen, auch innerlich einen Prozess durchlaufen zu können. Wir werden uns den Raum
dafür geben, mit uns selbst und miteinander in die Tiefe zu gehen. Da die meisten von uns aus aufge-
wühlten Zusammenhängen kommen, ist es hilfreich, wenn wir Stille pflegen.
Direkt nach der Abendmeditation beginnen wir bereits mit dem Schweigen und setzen es fort in die
Nacht hinein, beim Frühstück, und der Arbeitsperiode. Bei den Unterweisungen können Fragen
gestellt werden, und es ist Austausch möglich. Aber bis in die Mitte des Mittagessens sollte eine
durchgehende Stille-Phase sein. Und dann könnten wir sprechen, wenn wir das wollen. Hier im Haus
hat es sich bewährt, mittags und nachmittags sprechen zu können und mit der Nachmittags-
Unterweisung wieder ins Schweigen zu gehen.
Wenn jemand die ganze Zeit über im Schweigen sein möchte, können wir das respektieren, und wir
könnten herausfinden, wie und wo es gut ist zu sprechen. Z.B. könnten wir den Meditationsraum zu
einer Schweigezone erklären. Es ist klar, dass man den Aufenthaltsraum nicht zu einer Schweigezone
erklären kann, weil da das Essen stattfindet. Aber ansonsten würde ich euch sehr ermutigen, dass wir
bis zur Mitte des Mittagessens schweigen, dass ab da dann wieder das Sprechen beginnt, aber dosiert
gut, wie viel ihr euch austauschen möchtet. Ich weiß, dass es gut tut, sich auszutauschen. Manchmal
ist es aber auch zu viel und verhindert gewisse Prozesse.
Diejenigen, die schweigen wollen, können einen Schweigebutton tragen, dann werden sie nicht
angesprochen. Das probieren wir einmal aus. Aber bitte seid dem Schweigebutton treu. Wenn ihr dann
schwätzt, müsst ihr ihn abnehmen, sonst wirkt er nicht mehr. Und wir üben da Respekt, wo sich die
Bereiche überkreuzen, sodass jene Kursteilnehmer, die wirklich in die Stille gehen wollen, weil das so
kostbar ist, diese Möglichkeit auch tatsächlich haben. Wir machen den Wintergarten zur Ruhezone, da
könnte sich auch jemand zurückziehen und in der Stille essen.
Meditation
Nehmt eine für euch angenehme Sitzhaltung ein, dass wir guten Kontakt mit dem Boden haben. Oder
setzt euch auf einen Stuhl mit den Füßen auf den Boden. – Wer auf dem Boden sitzt, spürt gut, wie
dieses Dreieck entsteht, mit dem wir guten Bodenkontakt haben und große Stabilität, so dass wir nicht
rumwackeln. Schaut, dass eure Knie gestützt sind, mit Kissen seitlich drunter, sodass ihr richtig gut
Stabilität empfindet und die Beine nicht zu halten braucht. –
Die Wirbelsäule – der Oberkörper – ist beweglich und findet dann seine innere Mitte, seine Aufrechte,
und bleibt entspannt. D.h. wir lassen so kleine Bewegungen zu, die von selbst entstehen – keine be-
wussten Bewegungen. Bewegungen, die der Körper ohnehin immer macht, um seine Entspannung zu
finden, so kleine Oszillationen finden ständig statt. Es geht eigentlich nur darum, sie nicht zu blockie-
ren, nicht einzurasten mit unserer Körperhaltung. –
Die Hände liegen da, wo es für uns angenehm ist. Sie können in der klassischen Meditationshaltung
im Schoß liegen, oder auch auf den Knien. –
Wenn es uns möglich ist, meditieren wir mit leicht geöffneten Augen. Es empfiehlt sich, um den Geist
zu beruhigen, den Blick etwas gesenkt zu halten, ohne ihn zu fixieren. –
Und dann beginnen wir damit, dass wir den Atem spüren: Einatem … Ausatem. … Der Atem, der wie
ein Lebenselixier unseren Körper nährt. –
Wir spüren zunächst einmal den ganzen Atem, durch die Nase eintretend, hinunter in den Brustraum,
… auch der Bauchraum weitet sich. Und für den Ausatem spüren wir ebenfalls, wie die Bewegungen
durch den Körper gehen. –
Während wir einatmen spüren wir den gesamten Körper, und während wir ausatmen spüren wir den
gesamten Körper. –
9. Karmapa, Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins Lama Tilmann, Möhra 2013
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Um den Geist zu stabilisieren, entwickeln wir ein großes Interesse am Atem, an den Empfindungen,
dass diese so wichtig werden, als würden wir zum ersten Mal atmen, als wäre dies immer der erste
Moment, der Moment jetzt gerade, der unsere gesamte Aufmerksamkeit bekommt. –
Lasst uns einmal einen Einatem und einen Ausatem bei voller Achtsamkeit erleben, jeden einzelnen
Mini-Moment. … Und wenn ihr dann Lust habt, noch einen zweiten Atemzyklus, … mit völliger
Präsenz des Geistes. –
Bevor der Ehrgeiz kommt, machen wir schon eine innere Pause und achten auf gar nichts mehr. –
Dann kommen wir zurück zum Atem und verfolgen ihn wieder minutiös, drei Atemzüge. –
Und wieder Pause. … Und wieder drei Atemzüge ganz aufmerksam verfolgen. … Pause. … Wenn ihr
dann bereit seid, achtet wieder auf drei Atemzüge mit hundertprozentiger Aufmerksamkeit. … Gönnt
euch auf jeden Fall die Pausen. Die Pausen dürfen ruhig länger sein als die Konzentrationsphasen. Erst
wenn in den Pausen unser Geist wirklich anfängt zu wandern, braucht es wieder einen Moment der
Konzentration. –
Bitte fahrt einfach so fort und wechselt Phasen der völligen Konzentration ab mit Phasen der ent-
spannten Präsenz. –
Noch einmal drei ganz bewusste Atemzüge –
* * *
Achtet einmal darauf, was Körper und Geist brauchen, wenn eine Pause eingeläutet wurde.
Unterweisungen zur Meditation
Ich möchte euch kurz erklären, was wir da machen. Ihr kennt das ja schon. Wir wechseln konzen-
trative Anspannung mit hundertprozentiger Bewusstheit ab mit etwas, das wir entspannte Präsenz
nennen. Wie achtsam wir da sind, lässt sich schwer sagen. Manchmal kommt uns das auch ziemlich
hundertprozentig vor. Auf jeden Fall ist es ohne eine bewusste Fokussierung. Wir richten den Geist in
diesen entspannten Phasen auf nichts mehr aus.
Und wir fragen uns jeweils: „Was braucht der Geist? Was brauche ich?“ Wenn ich im entspannten So-
sein merke, dass es da oben rattert, dass sich das Hamsterrad wieder dreht, dann ist klar, jetzt ist
wieder Zeit zu unterbrechen und mir eine Phase der Konzentration zu gönnen. Die fühlt sich dann
auch gut an, sie fühlt sich wohltuend an. Wenn ich mich auf die rechte Art konzentriere und es auch
nicht zu lang mache – ruhig den Atem etwas betonen … phh... – das tut richtig gut, weil ich aus allem
anderen, was mich sonst irgendwie beschäftigt, raus bin. Wenn ich diese Phase aber zu lange mache,
komme ich in eine Anspannung, die nicht mehr erfrischend wirkt, sie wird blockierend, angestrengt.
Dann brauche ich Entspannung und erlebe die Entspannung, das Sein ohne Fokus als so wohltuend,
als so wunderbar. Bis sich im entspannten Sein wieder eine Form der Aktivität und des Herumirrens,
des Festhaltens und des Nicht-Haben-Wollens einstellt – der übliche der Salat. Dann merken wir: „Ah,
jetzt tut es gut, sich wieder zu konzentrieren.“
Eigentlich machen wir diese Bewegung zwischen Anspannung und Entspannung immer als Antwort
auf die Frage: „Na, was braucht’s jetzt?“ Der neunte Karmapa empfiehlt, diesen Wechsel sehr klar zu
halten und sehr klar zu wissen, wann ich was mache. Viele Meditierende leiden darunter, dass sie z.B.
Atem-Meditation praktizieren und dabei ein bisschen beim Atem sind und ein bisschen abgelenkt. Das
können sie eine ganze Stunde aufrechterhalten. Sie sind ein bisschen konzentriert und ein bisschen
abgelenkt, dann kommt immer wieder einmal: „Ach, eigentlich sollte ich doch!“ Sie meditieren dann
wieder ein bisschen mehr auf den Atem, und dann: „Ja, aber dann doch nicht zu angespannt.“ So ver-
suchen sie ihr Mittelmaß zu finden. Aber das ist kein Mittelmaß, das sich wirklich natürlich einstellt,
sondern es ist so ein unklares Vagabundieren in der Meditation. Das ist nicht hilfreich.
Es ist besser, erst klar auf die eine und dann klar auf die andere Seite zu gehen. Dabei entstehen dann
Effekte, dass uns die Anstrengung initial überhaupt nicht anstrengend vorkommt, sondern total wohl-
tuend, und dass die Entspannung in keiner Weise abgelenkt ist und auch sehr wohltuend. Natürlich
beginnen sich diese Phasen zu durchmischen, und wenn wir sehr entspannt voll konzentriert sein
können, dann brauchen wir die Entspannung weniger. Wenn wir in der Entspannung gar kein Bedürf-
nis haben zu denken, dann brauchen wir den Geist auch nicht wieder in die sogenannte volle Konzen-
9. Karmapa, Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins Lama Tilmann, Möhra 2013
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tration zu führen, denn er ist ja gar nicht abgelenkt. Diesen Nutzen haben wir durch das Alternieren
dieser beiden Phasen von Anspannung und Entspannung.
Es gibt noch eine dritte Art zu meditieren. Das nennt man dog-gom auf Tibetisch, die Umkehrmedita-
tion, wie bei dogpa – für die, die das kennen. Dabei kehrt man eine Haltung um. Bei dieser dritten Art
der Meditation, die Karmapa anspricht, ändern wir unsere Einstellung gegenüber den Gedanken und
der Ablenkung. Es findet eine Umkehr statt, und wir nehmen die Gedanken selbst als Stütze für die
Meditation. Das ist noch eine dritte Alternative zu dem, was wir Konzentration und Entspannung
nennen, oder Anspannung und Entspannung. Wir nehmen die Ablenkung, die geistige Aktivität selbst,
werden uns ihrer bewusst und nehmen sie immer wieder als Stütze der Praxis. Das ist noch eine
weitere Methode, die uns zur Verfügung steht, die wir aber erst wirklich einsetzen können, wenn wir
ausreichend ruhig und klar geworden sind im Geist.
Das sind die drei großen Formen der Praxis von Geistesruhe, die der neunte Karmapa in diesem Text
„Marig Münsel“ vorstellt.
Teilnehmer: Kannst du noch einmal die drei aufzählen?
Anspannung bzw. Konzentration, Entspannung und Umkehr. Umkehr bedeutet, ohne Stütze zu medi-
tieren, wobei dann die Gedanken selbst die Stütze sind, ohne irgendetwas zu beabsichtigen.
Wir üben die ersten beiden noch einmal. Ich werde zunächst wieder anleiten, obwohl ich weiß, dass
das für Einige ein bisschen wie Kindergarten erscheinen mag: „Jetzt bitte links schauen, und jetzt bitte
rechts tanzen.“ Ich leite diesen Wechsel vielleicht noch drei Mal an, damit es euch dann leichter fällt,
es selbst fortzusetzen. Die Kunst besteht nämlich darin, die Phasen wirklich kurz zu halten und es sich
nicht in den einzelnen Phasen einzurichten, sondern flexibel zu bleiben und wirklich abzuwechseln.
Meditation
Wir beginnen mit entspannter Präsenz, in der wir allerdings auf alles achten, was jetzt gerade unser
Sein ausmacht. Wie fühlt es sich an im Körper? … Wie fließt der Atem von sich aus? … Klänge,
Geräusche... Wie ist es, zu hören? … Wie ist es, zu sehen? … Riechen, schmecken, falls da etwas
wahrnehmbar ist. –
Und wie geht es mir innerlich? Wie sieht es aus, was beschäftigt mich im Denken, im Fühlen? … Wie
ist das Gesamtgefühl, jetzt gerade hier zu sein? –
Jetzt kommt die Frage: Was würde mein Geist, was würde ich jetzt brauchen? Mehr Entspannung,
oder mehr konzentrative Anspannung? Was braucht es jetzt für mich? Oder ist gerade alles so gut? –
Wenn wir uns in einer offenen, wachen, unabgelenkten Präsenz befinden, dann gibt es nicht zu tun. –
Jetzt schauen wir interessehalber was es bewirkt, drei Atemzüge ganz bewusst zu sein. Diesmal
nehmen wir drei ganz sanfte Atemzüge, ganz sanft und feinfühlig. –
Und dann lassen wir wieder los. – Und jetzt, wenn ihr möchtet, nehmt bewusst drei tiefe, lange,
intensive Atemzüge und verfolgt sie mit der Aufmerksamkeit. –
Und wieder lassen. – Jetzt schauen wir, ob wir drei Atemzüge erleben können, ohne irgendetwas am
Atem zu verändern. –
Zum Abschluss sitzen wir noch einige Minuten in völliger Stille, in achtsamer Präsenz, ohne
irgendetwas zu beabsichtigen. –
* * *
Es geht weiter in der Stille für die, die das jetzt auch tatsächlich so halten können. Es ist jetzt vielleicht
zur Ankunft noch das eine oder andere zu sagen, das Haus-Team hat auch noch seine Aufgaben, aber
ansonsten wünsche ich euch jetzt eine ganz erfrischende Praxis, auch schon heute Abend. Macht euch
keinen Druck daraus, achtsam zu sein, aufmerksam zu sein. Die beste Art, das jetzt zu praktizieren ist,
z.B. hier noch sitzen zu bleiben, falls ihr noch frisch seid, oder euch aufs Bett zu setzen und dort noch
so lange präsent zu bleiben, bis der Schlaf natürlicherweise kommt. Legt euch nicht einfach aus
Gewohnheit hin, bloß weil ihr meint, dass es Zeit ist. Zeit ist, wenn der Schlaf kommt. Dann ist Zeit.
9. Karmapa, Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins Lama Tilmann, Möhra 2013
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Wenn ihr nachts aufwacht, dann nutzt den Moment, setzt euch auf oder bleibt im Liegen bewusst und
genießt es, präsent zu sein. Genießt es alles wahrzunehmen, alles mitzukriegen. Im Körper ist so viel
los, das ist unglaublich. Es gibt feine Geräusche in der Nacht. Genießt auch, wenn ihr merkt, dass ihr
denkt. Beobachtet das Denken, schaut! Nicht nur verwickelt sein, sondern ein bisschen schauen, ge-
wahr sein, rund um die Uhr. Es macht überhaupt nichts, falls ihr dadurch eine etwas wache Nacht habt
und dann morgen müde seid. Dann nehmt ihr euch morgen mittags wieder Zeit für ein Schläfchen.
Wenn wir dem Gewahrsein auf die Spur kommen möchten, sollten wir nicht einfach damit aufhören,
bloß weil wir meinen, schlafen zu müssen. Nein, wir können auch beim Einschlafen bewusst bleiben.
Das verändert die Art, wie wir träumen. Das verändert die Art, wie wir nachts aufwachen.
Lasst uns das probieren, jeder auf seine Art. Ich sehe einige mächtig gähnen, die werden gleich
umfallen und wie Steine schlafen, und das ist auch gut so. Das macht gar nichts. Also, ich ermutige
euch, die Stille für diese Präsenz zu nutzen und ganz viel mit zu bekommen was in euch los ist, was
um euch herum los ist. Und habt überhaupt keine Gedanken an: „Wie wird es morgen? Werde ich
morgen genug Kraft haben für den Tag?“ Es gibt nichts anderes zu tun, als gewahr zu sein. Es geht nur
um ein offenes Herz und um Gewahrsein. Also traut euch und lasst euch nicht abschrecken von
irgendwelchen Gespenstern, nicht schlafen zu können oder so. Ja, dann eine gute Nacht.
Meditation
Rezitation: Zuflucht und Vier Unermessliche Geisteshaltungen
Wir lassen die Zuflucht mit uns verschmelzen, den Buddha, die Erwachten, die wir vor uns visualisiert
haben. Sie verschmelzen in uns, und wir ruhen für einen Moment in gelöstem Gewahrsein. –
Jetzt lenken wir den Geist sanft den grundlegenden Betrachtungen zu. Zunächst entwickeln wir Dank-
barkeit für dieses Leben, das uns geschenkt wurde. – Wir sind dankbar, jetzt hier sein zu dürfen mit all
den Möglichkeiten, all den Bedingungen, die es braucht, um den inneren Weg zu gehen. –
Wir bringen uns in Erinnerung, dass nichts von alldem selbstverständlich ist, die schützende
Wohnung, das Essen, der Frieden im Land, die eigene Gesundheit, … auch die Möglichkeit zu den-
ken, zu kontemplieren, … die sozialen Bedingungen, … dass es den Dharma wirklich gibt, dass wir
ihn erhalten haben, praktizieren können, genug Zeit haben. Dass jetzt gerade wieder die Bedingungen
zusammenkommen, um am Wesentlichen arbeiten zu können. –
Und wir wissen, es geht schnell vorbei. Auch dieser Tag wird immens schnell vergehen, selbst wenn
gar nichts Besonderes passiert. Selbst wenn uns kein Unfall ereilt und keine tödliche Krankheit, die
das Leben vorzeitig beendet, so geht es doch sehr schnell vorbei. Wenn dann Faktoren hinzukommen,
die das Leben verkürzen, mag es sein, dass wir es rückblickend bereuen, die Zeit nicht genutzt zu ha-
ben, nicht so genutzt zu haben wie wir das gerne getan hätten. –
Deswegen lasst uns jetzt die Zeit nutzen und Gewahrsein üben im Wechsel von Anspannung –
konzentrativer Praxis – und Entspannung – gelöster, einfacher Präsenz. Jeder auf seine Art. Nach der
Hälfte werde ich den Gong schlagen, um eine kleine Pause zu geben. Dann meditieren wir noch mal
fünfundzwanzig Minuten.
Wiederholung Kurs 1: Erster Teil: Klare Ausrichtung (1.) und Reinigungspraxis (2.)
Ich möchte euch intellektuell etwas herausfordern und eine kleine Wiederholung von einem Teil des
Stoffes des letzten Jahres machen. Ich lese am besten die Anfangsteile des Textes noch einmal durch
und gebe hier und da wieder ein paar Bemerkungen zu dem, was wesentlich erschien. Danach machen
wir mit einem neuen Abschnitt weiter, wenn wir an der Stelle angekommen sind. Ihr erinnert euch an
den Titel des Textes: Mahamudra – Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins
Mangelndes Gewahrsein – oft auch Unwissenheit genannt – bedeutet, dass wir nicht voll bewusst sind.
Damit ist nicht nur gemeint, dass wir nicht voll achtsam sind, sondern dass unser Gewahrsein nicht so
weit, nicht so offen und durchdringend ist, dass es wirklich die Natur unseres Erlebens erfährt. Wir
bekommen nur die Oberfläche mit, fallen in Interpretationen, in Sichtweisen, die sich dann bei genaue-
rem Hinschauen als täuschend herausstellen, als Irrtum. Auf dem gesamten Weg des Erwachens geht
es um das Auflösen dieses mangelnden Gewahrseins. Wenn es keinen Mangel mehr gibt, wenn dieses
Gewahrsein voll da ist, dann nennen wir das Erwachen.
9. Karmapa, Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins Lama Tilmann, Möhra 2013
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Mit Dunkel ist nicht gemeint, dass unser Geist dunkel wäre, aber es gibt Schattenbereiche in unserem
Erleben, wo wir nicht genau hinschauen und wo immer noch viel Klärungsbedarf besteht. Dieser
Prozess des Klärens, des Hineinschauens, des Licht-Hineinbringens, ist das Auflösen des Dunkels
mangelnden Gewahrseins.
Der Text wurde vom Neunten Karmapa Wangtschug Dordje, der im 16. Jahrhundert gelebt hat, ge-
schrieben. Wir haben eine neue Übersetzung gemacht, die alte war schon lange Zeit vergriffen. Ich bin
besonders dankbar für die Hilfe von Frank Müller Witte. Er ist Dozent für Tibetisch an der Uni in
Zürich. Dank seiner Hilfe haben wir jetzt eine sehr verlässliche Übersetzung vorliegen.
Einführung des Autors [2.1] Obwohl ihr [Meister] schon vor unendlich langer Zeit erwacht seid, zeigt Ihr Euch zum
Nutzen der Schüler im Körper von Lehrern. Allein Eure Namen zu hören entfernt die Gefahren
Samsaras, – vor der kostbaren Kagyü-Linie verbeuge ich mich von Herzen.
[2.2] Den Lamas und der Linie meine Ehrerbietung erweisend und aufgefordert von Schülern,
die sich Befreiung wünschen, werde ich nun den einen Weg, den alle Buddhas gegangen sind,
Mahamudra (das große Siegel), die eigentliche Essenz des Vajra-Fahrzeuges ein wenig erklären.
Das sind zwei klassische Passagen, die sich in jedem tibetischen Kommentar finden. Zunächst richtet
sich der Autor auf die Linie aus. Die Inspiration kommt von den Meistern der Kagyü-Linie, und sie
werden in diesem Vierzeiler gewürdigt. In dichterischer Form kommen Hingabe und Verehrung des
Autors zum Ausdruck.
Die nächsten Zeilen sind die Absichtserklärung: Was werde ich jetzt als Autor tun, und worum geht es
mir? Es geht darum, in kurzer Form Mahamudra zu erklären, den einen Weg, den alle Buddhas gehen
und gegangen sind, das Entwickeln von Gewahrsein. Dann fährt Karmapa fort:
[3.1] Die Unterweisung zu Mahamudra, der Herzessenz aller Buddhas der drei Zeiten, die
Methoden, die uns innerhalb eines Lebens die außergewöhnliche Stufe der Einheit eines Vajra-
dhara erreichen lassen, wurden vom Buddha bis zum Wurzellama von Ohr zu Ohr übertragen,
wobei ihre Segenswärme erhalten blieb. …
Die Mahamudra-Unterweisungen, die Unterweisung zur Gewahrseins-Praxis zeigen den Weg auf bis
in die Buddhaschaft, und diese Buddhaschaft wird hier als die außergewöhnliche Stufe der Einheit
beschrieben.
Es ist die Einheit von Dordje Tschang, Vajradhara, dem Urbuddha, die Einheit von Mitgefühl und
Weisheit, aber in noch tieferem Sinne die Einheit von Gewahrsein und Leerheit, also von Bewusstheit
und dem Verständnis, dass es gar niemanden gibt, der wie ein Zentrum dieser Bewusstheit wäre:
Gewahrsein ist aus sich selbst heraus gewahr und hat an sich keinerlei Substanz.
Es ist die Einheit von Freude und Leerheit, dieser völligen Leidfreiheit der tiefen Freude des Seins
eines Buddha, ohne Haften an Dinglichkeit, also frei von jeglicher Vergegenständlichung der Erfah-
rung des Erwachens.
Und letzten Endes, indem alle Erscheinungen in ihrer wahren Natur erkannt werden, auch die Einheit
von Samsara und Nirwana. Was uns normalerweise so viel Schrecken einflößt und vor dem wir immer
davon laufen wollen – die leidhaften Erfahrungen, die schwierigen Erfahrungen, die Verstrickungen –
wird in seiner wahren Natur erkannt. Es wird auch verstanden, dass das Nirwana, von dem in den
buddhistischen Unterweisungen gesprochen wird, nicht woanders zu suchen ist als im Erleben selbst,
in den Erfahrungen dieses Verstricktseins, das in uns als Leid oder als Enge, eben als mangelndes Ge-
wahrsein erfahren wird. Genau darin ist das Erwachen zu finden.
Diese Aspekte von Einheit hat ein Buddha verwirklicht und in diese Verwirklichung der Einheit
führen uns die Mahamudra Unterweisungen, wenn wir sie so anwenden, wie sie gemeint sind.
… Wenn man sie in der ungebrochenen Tradition der kostbaren Kagyü Linie praktizieren
möchte, dann gibt es drei Teile: Vorbereitung, Hauptteil und abschließende Bemerkungen.
9. Karmapa, Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins Lama Tilmann, Möhra 2013
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Vom ersten Teil der Vorbereitungen hatten wir uns schon einiges angeschaut. Ich bin froh, wenn ich
im Vorlesen und kurz Kommentieren eine kleine Auffrischung geben kann. In diesem Kommentar
fangen die Vorbereitungen, die auch als Ngöndro bekannt sind, mit der Zuflucht und dem Bodhicitta
an. Die vier grundlegenden Gedanken kommen erst danach. Das ist eine ganz normale Praxissituation.
Wenn wir uns hinsetzen, ist unser erster Gedanke im Grunde genommen die Zuflucht. Wir nehmen
erst Zuflucht und dann machen wir uns Gedanken über das, was wir eigentlich praktizieren wollen.
Tiefer betrachtet, ist die Grundlage von allem, dass wir eine klare Ausrichtung haben, dass wir wissen,
wo es mit unserer Praxis, mit unserem Leben hingehen soll, was der Sinn unseres Lebens ist, wo wir
hin möchten, auf welche Qualitäten wir uns ausrichten. Deswegen ist das hier im Kommentar auch die
erste vorbereitende Übung. Ich übersetze den Begriff kyab dro als Einschlagen einer sicheren
Richtung, denn Zuflucht klingt ein bisschen danach, als würden wir irgendwo hin fliehen. Aber es
heißt eigentlich nur, dass wir uns hin bewegen. Wir begeben uns an einen sicheren Ort. Wir geben
unserem Leben eine sichere Ausrichtung.
Erster Teil: Die Vorbereitungen
1. Das Einschlagen einer sicheren Richtung und das Hervorbringen
vom Herzensgeist des Erwachens [3.2] Die Vorbereitungen beginnen mit dem Einschlagen einer sicheren Richtung (Zuflucht) und
dem Hervorbringen der erwachten Geisteshaltung (Bodhicitta). – Dafür stellen wir uns im Him-
melsraum vor uns einen wunscherfüllenden Baum mit einem Stamm, der sich in fünf Äste teilt,
vor. Auf dem mittleren Ast befinden sich die Meister der Linie (Lamas), davor die Meditations-
gottheiten (Jidams), zu ihrer Rechten die Buddhas, hinten die Lehre (Dharma-Texte) und zu
ihrer Linken die Gemeinschaft (Sangha). Sie sind jeweils von einer Vielzahl ihresgleichen
umgeben.
Wir schauen vor uns in den Spiegel der Zufluchtsobjekte, der Quellen der Inspiration. Das Grund-
prinzip ist, dass wir in dem, was wir da vor uns sehen, das eigene Potenzial erkennen. Die Objekte der
Zuflucht dienen als Spiegel für die Qualitäten unseres eigenen Geistes und sind Quellen der Inspira-
tion und des Vertrauens, den Weg wirklich zu gehen.
[3.4] Wir selbst stehen [gegenüber vom Baum] ganz vorne als Anführer aller fühlenden Wesen,
unseren Müttern. In Scharen versammelt stimmen sie mit uns ein und beteiligen sich an der
Zuflucht. Mit dieser Vorstellung sprechen wir eine passende Zufluchtsformel, wobei wir verste-
hen, dass alle Lebewesen bereits unsere Väter und Mütter waren, und denken: „Ich werde dafür
sorgen, dass sie alle Glück finden, frei von Leid, und das höchste Erwachen erlangen. Zu diesem
Zwecke schlage ich eine sichere Richtung ein und bringe den Herzensgeist des Erwachens her-
vor.“
Wir nehmen also alle Lebewesen mit in diese Ausrichtung hinein. Wir gehen unseren spirituellen Weg
nicht nur für uns sondern für alle, denen wir begegnen, für alle, mit denen wir irgendeine Form von
Kontakt haben. Wir wissen, dass wir auf viele, viele Arten und Weisen mit allen verbunden sind, die
jetzt gerade leben. Es gibt Untersuchungen darüber, wie viele Menschen man braucht, um einen belie-
bigen anderen Menschen auf dem Planeten über die Kette persönlicher Bekanntschaften zu erreichen.
Die Forscher haben herausgefunden, dass man über sieben Personen bei jedem Menschen ankommen
kann. Die achte Person ist dann die, die man erreichen möchte. Das ist unglaublich nahe, es braucht
nur so wenige Zwischenglieder und schon ist eine Verbindung spürbar. Diese Verbindung nehmen wir
auf mit allen Lebewesen und wir sind uns dessen bewusst, während wir uns auf die Quellen der
Inspiration, der Zuflucht ausrichten.
9. Karmapa, Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins Lama Tilmann, Möhra 2013
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Mit diesen Gedanken sprechen wir: „Bis zum Erwachen nehme ich Zuflucht zu Buddha, zum
Dharma und zur höchsten Gemeinschaft. Möge ich durch die positive Kraft der Praxis von Frei-
gebigkeit und der anderen befreienden Qualitäten zum Wohle der Lebewesen Buddhaschaft
verwirklichen.“
Das war das Gebet, das wir eben drei Mal rezitiert haben. Auch das zweite Gebet, das wir rezitiert
haben, wird hier erwähnt:
Anschließend kultivieren wir die vier Unermesslichen: „Mögen alle Lebewesen glücklich sein
und die Ursachen des Glücks besitzen. Mögen wir frei von Leid und dessen Ursachen sein.
Mögen wir nie von der wahren, leidfreien Freude getrennt sein. Mögen wir bei nah und fern frei
von Anhaften und Ablehnen in großem Gleichmut verweilen.“ – Schließlich meditieren wir, wie
sich die Quellen der Zuflucht in Licht auflösen und mit uns verschmelzen.
Das ist ja der entscheidende Punkt: Was immer wir außerhalb als Quellen der Inspiration visualisieren,
verschmilzt am Schluss einer jeden Visualisation mit uns. Damit wird klar, dass der eigene Geist die
Quelle dieser Visualisation war und auch der Sitz all der Qualitäten, die wir vermeintlich im Außen
wahrgenommen haben.
Dies ist der erste Punkt: das Reinigen unseres Geistesstroms durch die Meditation des Ein-
schlagens einer sicheren Richtung (Zuflucht) und das Hervorbringen des Herzensgeistes des
Erwachens (Bodhicitta).
Dies ist eine Vorbereitung für Mahamudra, weil es ohne klare Ausrichtung gar nicht geht, Mahamudra
zu verwirklichen. Ohne diese klare Ausrichtung im Geist werden wir nicht ins Erwachen finden. Es
passiert nicht einfach so, dass wir vollständig erwachen. Es braucht diese innere Bereitschaft, diese
Ausrichtung und eine sich daran anschließende innere Praxis, die die spontanen Momente des
Erwachens, die tatsächlich einmal auftauchen können, dann auch stabilisiert, ausweitet, kultiviert, in
alle Situationen hineinholt. Das ist der Weg des Erwachens. Es kann schon zu spontanen Öffnungen
kommen, aber die sind dann nicht dauerhaft.
Um wirklich Mahamudra zu verwirklichen, um wirklich zu erwachen, braucht es auch eine innere
Geisteshaltung, in der wir niemanden ausschließen. Solange wir unser Herz noch schützen, solange
wir noch in der Abgrenzung sind, in der angstvollen, abwertenden, nicht liebenden Ausgrenzung
anderer Lebewesen, ist unser Herz noch nicht befreit. Es braucht die grundlegende Bereitschaft, sich
auf weise, mitfühlende Art allen gegenüber zu öffnen – natürlich ohne dass wir uns dabei selber
überfluten. Aber die Weisheit bewirkt dann eben auch, dass wir die Erfahrungen durchschauen und
eine solche völlige Herzensöffnung tatsächlich möglich wird. Das ist die erste Grundlage für
Mahamudra.
Die zweite ist die Vajrasattva-Meditation, die Praxis mit dem Hundert-Silben-Mantra. Auch das haben
wir letztes Jahr ausführlich besprochen. Hier im Text erwähnt Karmapa fast nur die Visualisation, die
wir dabei benutzen.
2. Die Meditation auf Vajrasattva
[4.4] Wir stellen uns vor, dass sich über unserem Kopf der Lama Vajrasattva befindet. Sein
Körper ist weiß, seine rechte Hand hält einen Vajra am Herzen und die linke eine Glocke an die
Hüfte. Er ist mit den Merkmalen und Zeichen [eines erhabenen Wesens) geschmückt.
Wir visualisieren also einen weißen, leuchtend strahlenden Buddha über unserem Kopf.
Dann wenden wir uns an ihn: „Guru Vajrasattva, bitte entferne all unsere [angesammelte] Ne-
gativität und [karmischen] Schleier!“ und legen außerdem unsere Fehler – unsere Schattenseiten
– mit einem Bekenntnis unserer Wahl offen. Dann visualisieren wir, wie weißer Nektar von der
großen Zehe seines [rechten] Fußes herabströmt, durch den Scheitel in uns eintritt, den ganzen
Körper füllt und alle Negativität und Schleier nach außen treibt, bis uns überall nur Nektar
füllt. Erfreut, löst sich schließlich der Lama in Licht auf [und verschmilzt mit uns]. Wir meditie-
9. Karmapa, Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins Lama Tilmann, Möhra 2013
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ren, wie sein Körper, Rede und Geist untrennbar mit unserem Körper, Rede und Geist ver-
mischt sind.
Dies ist der zweite Punkt: das Entfernen von Negativität und Schleiern durch die Rezitation und
Meditation von Vajrasattva.
Ich kann hier nicht alles wiederholen, was wir schon letztes Jahr besprochen haben. Aber ich würde
euch gerne erinnern an das, was hier so wesentlich ist.
Warum ist die Vajrasattva-Praxis eine notwendige Vorbereitung für Mahamudra? Es ist nicht notwen-
dig, unbedingt diese Visualisationen zu benutzen, da könnten auch andere Methoden benutzt werden,
die dieselben Qualitäten freisetzen. Es geht um das Auflösen von Schuldgefühlen. Es geht darum, aus
dem Zustand eines hinderlichen, mangelnden Selbstwertgefühls heraus zu finden. Es geht darum, rei-
nen Tisch zu machen mit unserer Vergangenheit, mit allem aufzuräumen, was uns an Identifikationen,
an Verstrickungen, an emotionalen Knoten aus der Vergangenheit festhält. Und das braucht
Zuwendung, das braucht eine bewusste Praxis. Wir müssen uns auf diese Schattenseiten in uns
einlassen.
Die Vajrasattva-Praxis besteht – wenn wir sie vereinfacht darstellen – daraus, dass wir uns mit dem
Reinsten überhaupt verbinden, mit der Quelle von Bodhicitta über uns, mit Buddha Vajrasattva, der
für die völlig reine Geistesnatur mit all ihren Qualitäten steht. Damit verbunden, nehmen wir Kontakt
auf mit allem in uns, was nicht so recht stimmt, wo wir das Gefühl haben, in der Vergangenheit ver-
strickt gewesen zu sein, Schaden angerichtet zu haben, jemanden verletzt zu haben, uns selber nicht
gut getan zu haben, anderen nicht genutzt zu haben, … all das. Aufgrund von emotionalen Beimen-
gungen gab es in jeder Lebensphase Situationen, wo wir nicht ganz so topp gehandelt und geredet
haben. Auch unsere Gedanken waren oftmals von einer gewissen Negativität geprägt. Das alles lassen
wir sukzessive im Laufe der Praxismonate in unserem Bewusstsein aufsteigen, immer verbunden mit
der Quelle der Inspiration, mit dem Bodhicitta, das in uns eintritt, für das wir uns öffnen und öffnen.
Im Bewusstwerden unserer Schleier geschieht gleichzeitig schon das Bewusstsein des Lichtes: Die
eigenen Geistesqualitäten wirken hinein in das Erinnern schwieriger Situationen. Das Schlimmste, das
wir erlebt haben, kommt natürlich sehr schnell hoch und alles andere dann im Schlepptau. All das, was
auftaucht, kommt hoch in das Licht des Bodhicitta, wird von diesem Bodhicitta-Nektar durchdrungen.
Symbolisch ist es in der Visualisation so, dass die Ichbezogenheit – dargestellt als Dunkles, Schwarzes
– uns verlässt und dass Bodhicitta, der erwachte Geist, der Herzensgeist aller Buddhas, Einzug hält,
sich in unserem Bewusstsein ausbreitet. Zum Abschluss einer jeden Praxis-Sitzung ist es unbedingt
notwendig, dass wir in einem Gefühl von Erleichterung ankommen, dass wir uns wirklich frei von
Schuldgefühlen und rein fühlen.
Die Vajrasattva-Praxis wäre verfehlt, wenn wir die Sitzung mit irgendwelchen Formen von Schuld-
gefühlen beenden würden. Dann haben wir die Praxis nicht richtig verstanden. Dann waren wir trotz
allem Visualisieren immer noch identifiziert mit dem, was einmal war – mit dem, wie wir einmal
waren, was wir einmal erlebt haben, wie wir mit anderen umgegangen sind. So soll es nicht sein. Wir
machen diese Reinigungsarbeit immer so und in dem Maße, dass wir auch loslassen können, also ins
Bewusstsein hoch holen und uns davon lösen. Wir öffnen uns für das, was wir wirklich sind, während
wir den Blick auf das halten, was wir nicht wirklich sind. Wir sind nicht wirklich unsere Schleier. Wir
sind nicht wirklich unsere Verstrickungen. Wir haben sie wirklich gelebt, aber jetzt – wenn wir uns
öffnen für das, wie wir in der Tiefe natürlicherweise sind – hat das keinen Bestand mehr.
Das ist die Kraft dieser Praxis. Sie öffnet uns den Blick für das, was wir wirklich sind, wer wir
wirklich sind – im Grunde genommen Buddha Vajrasattva. Er ist Spiegel unserer wahren Natur – und
öffnet den Blick dafür, was wir nicht sind. Wir sind nicht mehr der oder die von gestern oder vor zehn
oder zwanzig Jahren, der dieses und jenes getan hat, bereut hat, oder wo etwas nicht im Reinen ist. All
das können wir, wenn wir Gewahrsein hineinbringen, loslassen. Wenn wir kein Gewahrsein
hineinbringen, wird es uns nie gelingen, das wirklich loszulassen. Es wird uns unbewusst immer
weiter beschäftigen und das ist ein mächtiges Hindernis im Mahamudra. Es bewirkt, dass wir mit uns
selber nicht im Reinen sind.
9. Karmapa, Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins Lama Tilmann, Möhra 2013
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Könnt ihr verstehen, warum es eine Vorbereitung für Mahamudra ist?
Auf welche Art auch immer, es geht darum, in dieses Selbstwertgefühl zu finden, innerlich zustimmen
zu können, wenn quasi der Buddha vor mir sitzen würde und mir sagt: „Auch du kannst das Erwachen
erlangen!“ Innerlich müssen wir das Gefühl haben: „Ja! Stimmt, da gibt es keine wesentliche Barriere.
Ich bin nicht schlecht. Im Grunde genommen muss ich mich für nichts schämen. Ich brauche keine
Hemmungen zu haben!“ Ich kann mich so gut daran erinnern, als Gendün Rinpoche uns das immer
wieder auf den Kopf zugesagt hat. Im Einzelgespräch oder im Gruppengespräch hat er wiederholt
gesagt, dass wir genau wie er das Erwachen erlangen können und er hat uns sogar aufgefordert:
„Macht doch den Wunsch, dass ihr genauso werdet wie ich! Das ist möglich! Zögert nicht!“ Wir
waren ja auch keine besondere Auslese, die wir da zusammengekommen waren. Wir hatten einfach
Motivation und Zeit im Leben und saßen da mit all unseren Schatten und wurden genau auf diese Art
und Weise ermutigt.
Diese Ermutigung soll sich mit der Vajrasattva-Praxis in uns ausbreiten. Das macht es möglich, sich
der Inspiration zu öffnen und wirklich in diese Geistesweite einzutreten, wo wir nicht gleich wieder
dicht machen und sagen: „Kann nicht wahr sein! Ich nicht!“ Wir sagen: „Ja! Tatsächlich, wer hätte das
gedacht?“ Es geht darum, das zu spüren, sich darauf einzulassen und dann können wir zum nächsten
Schritt übergehen. Diesen nächsten Schritt haben wir im vergangenen Jahr noch nicht besprochen, das
sind die Mandala-Opferungen.
Die dritte Praxis der Vorbereitungen ist eine Praxis, in der wir die Qualitäten bewusst umsetzen,
indem wir ihnen eine Möglichkeit geben, sie zu üben und aus der gewonnenen neuen Selbstsicht
heraus ganz viele Gaben der Liebe, der Dankbarkeit, des Vertrauens und des Bodhicitta herschenken,
an die Buddhas und an alle Lebewesen.
Meditation
Wir sitzen stabil, aufrecht und zugleich beweglich. … Wir spüren den gesamten Körper. –
Auch den Atem nehmen wir wahr, … das Heben und Senken des Brustkorbes, die kleinen Bewegun-
gen des Bauches, … wie sich der Rücken etwas dehnt und sich wieder senkt. – Bis in die Schultern
hinein können wir den Atem verfolgen … und hinunter bis ins Becken. –
Wir hören, sehen, riechen und schmecken und sind uns der geistigen Bewegungen gewahr. –
Wir sind gewahr, auch wenn gar keine großen Bewegungen zu spüren sind. Wir spüren die einfache
Qualität des So-seins. –
Und sanft können wir den Geist auf die erste vorbereitende Übung ausrichten, indem wir uns einfach
fragen, „Was ist denn meine Ausrichtung? Worauf möchte ich mich innerlich in diesem Leben aus-
richten? Was sind die zentralen Inhalte, Qualitäten meiner Geistesschulung?“ … und wir lassen
innerlich Bilder, Worte aufsteigen, die das Erwachen für uns beschreiben. –
Was ist für mich wirklich eine Quelle der Inspiration? Was möchte ich zutiefst leben, sein? Vielleicht
entsteht auch ein Bild, ein Symbol in uns, das diese Ausrichtung verdeutlicht. Ein Bild oder eine
Situation, die genau das ausdrückt. –
Und wir öffnen uns für den Gedanken, andere mit auf den Weg zu nehmen, mit in dieses Sein hinein
zu nehmen, … für die Bereitschaft, uns um andere zu kümmern, wenn sie uns brauchen, … und wenn
wir ins Erwachen finden, dieses Erwachen mit ihnen zu teilen, es ihnen zugänglich zu machen. –
Dann kehren wir wieder zum ganz gewöhnlichen So-Sein zurück, ohne den Geist auf irgendetwas aus-
zurichten. –
* * *
Der Neunte Karmapa erläutert die vornereitenden Übungen hier relativ knapp. Er gibt nur die
wesentlichen Informationen, damit wir die Praxis ausführen können. In seinem „Ozean des wahren
Sinnes“, diesem berühmten Mahamudra-Manual, hat er die Instruktionen ausführlicher behandelt. Im
vorliegenden Text, spricht er die vornereitenden Übungen nur kurz an und bleibt dann etwas länger bei
den Instruktionen zur Meditationspraxis und einigen zusätzlichen Instruktionen. Da das Mandala-
Opfer aber so wichtig in der persönlichen Praxis ist, möchte ich es etwas ausführlicher darstellen.
9. Karmapa, Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins Lama Tilmann, Möhra 2013
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3. Das Darbringen von Mandalas
Ein Mandala ist ein Kreis, ein „Wirkkreis“, ein rundes Feld der Bezogenheit. Wir arbeiten in dieser
Praxis mit zwei Mandalas oder Feldern. Vor uns befindet sich das Feld der Verwirklichung, der
gesamte Kreis der riesigen Familie aller Erwachten, das ist das eine Mandala. Wir stellen es uns wie
bei der Zuflucht vor uns vor. Wir selbst arbeiten aus unserem Mandala heraus, das wird das Mandala
des Universums genannt. Das ist das Opfer-Mandala. – Wir opfern unsere Welt.
Der erste Fehler, der uns dabei passieren kann, ist zu denken, das Universum zu opfern. Nein, wir
opfern unser Universum, wir opfern unsere Welt. Das wird sehr deutlich, wenn wir etwas weiter
gehende Erklärungen bekommen, wo es nicht um den Zentralberg und die vier Kontinente mit den
Trabanten-Kontinenten geht, sondern wo erklärt wird, dass der Zentralberg mit Indras Palast und den
Götterbereichen für den Rumpf unseres Körpers steht und die vier Kontinente für unsere vier Extre-
mitäten. Die Dinge, die dann geopfert werden, stehen für unsere Sinneswahrnehmungen und unser
Erleben. Dann wird klar, worum es sich handelt: Es geht um meine Welt, die subjektiv empfundene,
erlebte Welt, und es ist völlig irrelevant, ob diese Welt einen Zentralberg und vier Kontinente hat oder
aus zehn Milliarden Galaxien besteht. Es ist egal, welche Sichtweise wir haben. Das Mandala-Opfer
findet innerhalb unserer Sichtweise statt, und es ist die Fortsetzung der Vajrasattva-Praxis.
Der Grundgedanke ist, dass wir Bodhicitta in die Welt des Haftens hineinbringen. Überall dort, wo
Identifikation, Besitzdenken und Habenwollen sich ausgebreitet haben, genau dort hinein bringen wir
die Weisheit und das Mitgefühl des Bodhicitta, das wir in der vorhergehenden Übung schon erlebt
haben. Jetzt sind wir frei von Schuldgefühlen. – Ich spreche vom Idealfall. – Wir sind frei von dem
Gefühl, es nicht packen zu können: „Das Erwachen ist für andere aber nichts für mich!“ Dieser
Gedanke ist vorbei. Wir sind in einer Bereitschaft angekommen, Gutes zu tun. Wir sind bereit und
werden nicht mehr zurückgehalten von unserem geringen Selbstwertgefühl. Jetzt gibt uns eine Übung
die Möglichkeit, heilsames Handeln auf die größtmögliche Art und Weise zu üben, uns innerlich
darauf einzustellen, uns innerlich in dieses Handeln mit Körper Rede und Geist hinein zu versetzen.
Typisch für den Vajrayana ist, die Visualisationen prinzipiell unbegrenzt zu praktizieren. Wir finden
als Gegenüber unserer Handlung das unbegrenzte Feld des Erwachens vor uns: Die Buddhas, die zum
Wohle aller Lebewesen wirken. – Darin sind auch alle Lebewesen als Empfänger eingeschlossen, denn
ein Buddha braucht keine Gaben für sich. Ein Buddha ist nur ein Symbol für die Qualitäten des
Erwachens, ein Buddha steht für das Wohl aller Lebewesen. Genauso wie auch die Lamas, die
Meister, die Jidams usw., alle stehen einfach für dieses gemeinsame Unternehmen, in allen das
vollständige Gewahrsein zu wecken. Und wir sitzen in unserem Universum, das ebenfalls unbegrenzt
ist. In diesem Universum sind wir nicht jemand mit einer kleinen Einzimmerwohnung und einem
Fahrrad vor der Tür und vielleicht einem CD-Recorder, was wir dann als Opfer darbringen. Wir sind
jemand, der über unermessliche Ressourcen verfügt. Wir sind ein Chakravartin. Ein Chakravartin war
in der indischen Mythologie ein Weltenherrscher, das Rad – Chakra –-war Symbol für seine Kraft. In
der indischen Geschichte war Ashoka wohl derjenige, der dem am nächsten kam. Er hat mit kleinen
Ausnahmen über den ganzen indischen Subkontinent regiert. Seine ganze weltliche Macht und sein
absolut unübertrefflicher Besitz standen im zweiten Teil seines Lebens im Dienste des Dharma. – Er
war zuerst ein grausamer, furchtbarer Herrscher, der auf dem Schlachtfeld in Orissa von einem
buddhistischen Mönch bekehrt wurde. Von da an hat er – so wie in der Vajrasattva-Praxis – seine
Fehler bereut und sich völlig gewaltlos für das Wohl aller eingesetzt.
Wir praktizieren das Mandala-Opfer in einer Geisteshaltung, in der wir alles verschenken, was das
Universum zu bieten hat. Dabei gehen wir bis an die Grenzen unserer Vorstellung. Es gibt absolut
nichts, was wir nicht in diesem Opfern einsetzen könnten. Unsere persönliche Welt ist die Welt unse-
rer Prioritäten, dessen was wir mögen, was wir nicht mögen. Es umfasst aber von der Vision her ein
Erleben, in dem wir uns schon vorstellen: „Wie wäre es, wenn ich als Gott in den Götterbereichen über
alle Vergnügen der Götter zu gebieten hätte? Wenn mir als Mensch alles zur Verfügung stehen würde,
was Menschen zur Verfügung steht? Wenn mir alle Kräfte der Tierwelt und alles, was irgendwo an
Kräften und Besitz und Genüssen und Heilsamem zur erleben ist, zur Verfügung stehen würde?“ All
9. Karmapa, Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins Lama Tilmann, Möhra 2013
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das steht mir zur Verfügung. Alle sechs Daseinsbereiche und alles, was irgendwie erstrebenswert ist,
die tiefsten Samadhi-Zustände, die tiefsten Zustände meditativer Sammlung eingeschlossen.
Aus diesem Mandala heraus bringe ich dann Opferungen dar. Für die Opferungen verwendet man
einfach eine kleine Metallscheibe, auf die man sieben Reishäufchen setzt, sie wieder abwischt und
wieder sieben drauf tut und sich immer vorstellt, was man dabei opfert. Die Handlung ist einfach. Die
Handlung ist eine sich wiederholende Handlung, die immer wieder neu mit Bedeutung gefüllt wird. Im
Grunde genommen bringe ich mich selber dar in meiner Welt und gehe dann durch all die Bereiche
hindurch. Die Aufgabe beim Opfern von Mandalas ist, sich vorzustellen: „Selbst wenn ich Besitzer
über all die größten Ländereien wäre, dann mögen all diese Ländereien dem Erwachen aller Lebewe-
sen dienen.“ Symbolisch lasse ich sie aufsteigen und bringe sie den Erwachten vor mir dar, die für das
Erwachen stehen. Wenn ich mir vorstelle, ich hätte Verfügung über sämtliche Gold-, Platin- und sons-
tige Reserven der Welt, all das stelle ich dem Wohl, dem Erwachen der Lebewesen zur Verfügung.
Wir machen nicht Halt bei den äußeren Dingen. Ob es nun Dinge in der Natur sind, ob es Gebäude,
einfachste Nahrung oder wunderbarste Zubereitungen von Delikatessen sind, wir bleiben nicht stehen
dabei, wir gehen weiter. Meine Frau, mein Mann, meine Kinder, meine Eltern, meine Geschwister,
meine Freunde, all das opfern wir. All diese Beziehungen, stelle ich mir vor, opfere ich dem Er-
wachen. „Möge das Erwachen, d.h. das Bodhicitta in all diese Beziehungen hinein wirken.“ Ich gebe
mit jeder Opferung, die ich mir vorstelle, die Ichbezogenheit auf, die in der Beziehung zu dem gerade
Vorgestellten steckt. In der Beziehung zu meinem Besitz stecken oft meine persönlichen Ängste und
Hoffnungen. In dem, wie ich meine Nächsten, Anverwandten, Geliebten, Freunde wahrnehme, stecken
ichbezogene Interessen. Das ist es, was ich im Grunde immer wieder auf die Mandala-Scheibe setze
und den Erwachten darbringe.
Immer wieder stelle ich alles, was mir in den Sinn kommt, ohne Ausnahme, in den Dienst des Er-
wachens, ausgedrückt durch diese Opfergabe, die aufsteigt als sich vervielfältigende Universen, die
den Erwachten dargebracht werden. Das stellt man sich innerlich vor, während man sagt: „Okay,
meine Frau, mein Mann...!“ Das heißt nicht, dass wir uns dann trennen müssen. Das heißt nur, dass
wir diese Beziehungen in den Dienst des Erwachens stellen. Wir können unsere geliebten Socken und
unser geliebtes Auto, was immer es auch ist, herschenken. Was auch immer uns am Herzen liegt. Wir
können unsere Socken trotzdem weiter tragen, wir können alles trotzdem weiter nutzen. Aber wir lau-
fen dann in den Socken des Erwachens. Das ist der Unterschied. Wir bringen unsere Kleidung dar,
aber sie wird nicht mehr wahrgenommen als Ausdruck von ‚Ich bin’ und ‚Ich will’, sondern steht im
Dienste des Erwachens. Und so geht es mit allem, was uns in den Sinn kommt. Bis die Mandala-
Opferung so weit geht, dass wir im Grunde genommen jetzt schon viele Male alles Äußere, die ganzen
Sinneserfahrungen, Musik und Gerüche, Aromen feinster Art und alles, was man sich so vorstellen
kann, inklusive unserer Hobbys, inklusive der sexuellen Beziehung, inklusive unserer Meditation
geopfert haben.
Wir kommen in ein Opfern hinein, wo wir immer den gerade gegenwärtigen Gedanken opfern. Was
gerade im Geist aufsteigt, wird unser Mandala-Opfer. Der jetzt gerade gegenwärtige Gedanke, soweit
da noch irgendwie eine Verstrickung, eine Identifikation, eine Enge drin zu finden ist, ist hervorragend
als Gabe an die Erwachten geeignet. Wir kommen damit im Prozess des Mandala-Opferns in ein im-
mer tieferes Loslassen, in ein gelöstes Sein, wo wir mit allem, was im Geist aufsteigt, gelöst umgehen
und es in den Dienst des Erwachens stellen. So kann jede Sinneserfahrung geopfert werden. Das
brauchen nicht unbedingt nur schöne Blumen zu sein. Die Erfahrung des Regens, die Erfahrung hier
zu sitzen und den Raum wahrzunehmen, alles kann ins Erwachen hinein geopfert werden.
Opfern wird dann immer symbolischer, weil Opfern im Grunde genommen bedeutet, die Identifikation
loszulassen und alles so sein zu lassen wie es ist. Alles steht ohnehin im Dienst des Erwachens. Das
brauchen wir gar nicht noch extra zu sagen. Alles ist ohnehin als Sinneserfahrung bestens geeignet,
unseren Geist zu öffnen. Indem wir das bewusst tun, entlassen wir die Wahrnehmungen, die gedank-
lichen Wahrnehmungen eingeschlossen, aus unseren Fixierungen. Wir entlassen all das, was sich im
Geiste bewegt, aus unserer Fixierung und es kann sich befreien in diesen offenen Geistesraum. Das ist
der eigentliche Sinn von einer Mahamudra-Mandala-Opferung.
9. Karmapa, Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins Lama Tilmann, Möhra 2013
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Jetzt ist die Verbindung klar geworden. Es ist klar, dass eine Geisteshaltung, in der wir festhalten,
etwas zurückhalten und für uns haben wollen, der Weite und dem Fließen des Mahamudra
entgegensteht. Das geht nicht zusammen. Die notwendigen Voraussetzungen, um ins Mahamudra zu
finden und in einen gelösten Umgang mit allen Gegenständen, Personen und Sinneswahrnehmungen
zu kommen, sind also Nicht-Identifikation und Auflösen von Fixierungen.
Darum geht es in der Mandala-Opferung. Wenn man diese Mandala-Opferung praktiziert, entsteht
solch eine Freude, das ist unglaublich. Das geschieht fast regelmäßig, viele von euch haben sie ja auch
schon praktiziert. Die Mandala-Opferung ist eine total freudige Praxis, weil wir in dieses Fließen
kommen und alles was aufsteigt genutzt werden kann, um es in die Offenheit hinein zu entlassen. So
schwingt diese offene Freude des Gebens in der Praxis ständig mit. Sie kann aber nur dann wirklich
effektiv und authentisch praktiziert werden, wenn wir vorher auch gründlich in unsere Schatten ge-
schaut haben und nicht mehr damit identifiziert sind. Das spielt zusammen. So stark ins Heilsame
hineinzugehen und die ganze Zeit im heilsamen Handeln zu sein, ist nur möglich, wenn nicht aufgrund
der Schattenseiten, die wir noch gar nicht recht angeschaut haben, ständig quer schießende, einengen-
de Identifikationen auftauchen.
Die Mandala-Opferung kann aber auch degenerieren zu einem sehr naiven Herschenken von Univer-
sen. Diese Art der Opferung wird die Fixierungen nicht auflösen, aber wenn wir sie mit dem richtigen
Verständnis praktizieren, dann ist sie schon beim Handeln eine Mahamudra Praxis. Wir lernen auf
eine ganz rudimentäre, simple Weise zu handeln – Reishäufchen nehmen und abwischen. Wir lernen
im Geiste dieser Öffnung in Bewegung zu sein, dabei zu sprechen und zu visualisieren. Es ist eine
weitere Einführung in ein Handeln aus dem Sein des Mahamudra heraus, wo Körper, Rede und Geist
synchronisiert sind. Genauso wie bei den Niederwerfungen und – etwas weniger – auch schon bei der
Vajrasattva-Praxis, wo wir rezitieren und die Mala weiter bewegen, also auch Körper, Rede und Geist
eingesetzt werden. Bei der Mandala-Opferung haben wir es auch mit einer Handlung zu tun, die Präzi-
sion und unsere Achtsamkeit braucht und uns trotzdem ermöglicht, in diese Geistesweite zu gehen.
[5.3] Auf eine Mandala-Scheibe setzen wir fünf Häufchen [Reis, Blumen oder dergleichen]. In
der Mitte stellen wir uns die Lamas vor, davor die Meditationsgottheiten, zu ihrer Rechten die
Buddhas, hinten die Lehrer und links die Sanghas (die Gemeinschaften der Praktizierenden
verschiedener Traditionen). Das ist das Mandala der Verwirklichung. – Im Grunde genommen wie
die Zuflucht, nur dass wir uns hier keinen Baum vorstellen, alle sind wie auf Wolken angeordnet,
weniger substanzhaft. –
Dann platzieren wir Reishäufchen auf einem anderen Mandala und opfern dieses mit folgenden
Worten: „Indem ich diese Basis mit Duftwasser besprenkle, mit Blumen bestreue, mit dem Berg
Meru, den vier Kontinenten, Sonne und Mond schmücke und in der Vorstellung den Buddhas in
ihren Gefilden darbringe, mögen sich alle Lebewesen der reinen Länder erfreuen.“ – Damit ist
gemeint, dass sie sich der reinen Wahrnehmung erfreuen, in die Länder des Erwachens hinein finden
mögen.
Das ist die Passage, die auf Tibetisch mit „sa schi pö tschü“ beginnt. Wir rezitieren diese Zeilen
einhundert-elftausend Mal zusammen mit diesen einhundert-elftausend Opferungen, die auf der
Mandala-Scheibe vorgenommen werden. Dabei füllen wir diese Handlung jedes Mal neu mit Sinn.
Außerdem bringen wir mittels eines passenden Mandala-Rituals tatsächlich vorhandene sowie
geistig vorgestellte Gaben dar.
Damit sind die Opferungen auf dem Altar gemeint, die wir aufbauen: Wasserschälchen, die für ver-
schiedene Sinneserfahrungen stehen, Blumen usw., alles was man tatsächlich hinstellen kann. Diese
Opferungen kassiert man nicht wieder ein, sie werden tatsächlich weiter geschenkt. Die Dinge, die
man auf den Altar stellt, gibt man dann am Ende der Praxis weiter. Das ist die Übung im tatsächlichen
Geben, die findet auch statt. Dabei mache ich mir immer wieder neu klar, dass mir nie etwas gehört, je
gehört hat und je gehören wird. Es ist eine Illusion zu glauben, man könne etwas besitzen. Der Tod
räumt mit dieser Illusion auf. Wir können über Dinge verfügen, wir können sie nutzen, aber nichts
gehört uns wirklich. Es ist doch absurd zu sagen, „Mein Garten gehört mir.“ Der Garten – die Erde –
9. Karmapa, Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins Lama Tilmann, Möhra 2013
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war schon lange da, bevor ich da war und wird auch lange nach mir weiterhin da sein. Aber innerhalb
der Konventionen, die wir in unserer Gesellschaft geschaffen haben, gehören uns Dinge, sind uns
Menschen zugehörig. Das ist eine andere Art der Denkweise, die ja auch sinnvoll ist. Aber wir entlas-
sen das in seine wahre Natur, wo uns klar wird: „Ja, wir sind Geistesströme, wir verfügen über Dinge
und sind in Beziehung zu Menschen und anderen Lebewesen, die ihrerseits auch in stetem Wandel
sind, sich ständig verändern. Diese Illusion von etwas Fixem, „Ich“ genannt, das etwas anderes Fixes
besitzen würde, hält nicht. Hier ist Wandel, dort ist Wandel. Es findet Beziehung statt zwischen sich
wandelnden Geistesströmen, Dingen, Objekten. – Alles ist im Fluss. Es findet Begegnung statt, wir
können einander nutzen, wir können einander schaden und die Entwicklung geht weiter.
Das stellen wir uns bei den geistigen Gaben vor.
Dabei sagen wir: „Gewährt Euren Segen, dass durch die Kraft dieser Gaben die beiden An-
sammlungen [von positiver Kraft und Gewahrsein] vervollständigt werden und sich vortreff-
liche Meditations-Erfahrungen und Verwirklichung entwickeln.“
Die Ansammlung von positiver Kraft wird hier oft Verdienste genannt – sönam auf Tibetisch. Eine
bessere Übersetzung ist ‚positive Kraft’, das klingt etwas weniger merkantil. Positive Kraft – Ver-
dienste im alten buddhistischen Deutsch – ist etwas, das wir spüren können. Es ist nicht etwas
Abstraktes. Verdienste werden nicht irgendwo verbucht ohne dass wir es merken und dass wir
irgendwann überrascht über ein volles Konto sind. Verdienste sind die heilsamen Spuren von heilsa-
mem Denken, Sprechen und physischem Handeln, den drei Formen heilsamen Handelns. Und diese
positiven Spuren verändern uns. Wir spüren sofort, dass wir nach einer positiven, heilsamen Handlung
freudiger sind, dass etwas Positives in uns stattgefunden hat. Manche Spuren sind nicht so deutlich
spürbar, aber es ist nicht möglich, eine Menge Verdienst angesammelt zu haben und ständig schräg
drauf zu sein. Das geht nicht, das eine schließt das andere aus. Jemand, der wirklich viel Positives
gedacht, geredet und getan hat, hat eine positive Geisteshaltung. Er sieht die Dinge zunehmend mit
mehr Vertrauen, mit mehr Freude. Das sind ganz klare Auswirkungen, und die sind nicht versteckt.
Wenn man Augen dafür hat, kann man auch dann, wenn so ein Mensch durch eine Depression geht,
was keineswegs ausgeschlossen ist, in dieser depressiven Verstimmung die Spuren der grundlegenden
starken positiven Kraft spüren. Sie wirkt auch durch diesen Geisteszustand hindurch. Man muss ein
bisschen die Augen dafür entwickeln, dann merkt man wie viel gutes, positives Potential in Menschen
steckt. Oder man sieht, wie wenig zum Teil auch da ist. Das kann man auch bemerken. So viel zur
ersten Ansammlung von positiver Kraft.
Die zweite wird oft salopp mit 'Ansammlung von Weisheit' übersetzt, ist aber auf Sanskrit jñana und
auf Tibetisch yeshe, was dieses zeitlose Gewahrsein meint. Es ist nicht sherab sondern prajna, was wir
sonst mit Weisheit übersetzen, was ein Wissen beinhaltet. Es geht hier darum, dass die Mandala-Opfer
und andere Formen heilsamen Handelns in uns Ahnungen dieser zeitlosen Dimension stärken, dass die
in uns angetickt werden und tatsächlich eine Ausweitung des Gewahrseins stattfindet. Es ist nicht so
sehr ein Wissen, eine Weisheit, die man abrufen kann. Die beiden Ansammlungen zu vervollständigen
bedeutet, in allen Bereichen unseres Seins immer heilsamer zu werden und immer fließender, offener.
Darin zeigt sich die zunehmende „Ansammlung“ des zeitlosen Gewahrseins.
Die zweite ist die Auswirkung der ersten. Je heilsamer, je offener, je positiver unser Geist wird, desto
leichter entstehen solche Momente völliger Offenheit, die wir dann das zeitlose Gewahrsein nennen.
Aber auch diese Ansammlung des zeitlosen Gewahrseins geschieht nicht unbemerkt. Diese Kräfte, die
dazu führen, dass es immer leichter fällt, in diese Offenheit zu gehen, auch die finden nicht einfach
irgendwie statt und wir kriegen davon nichts mit. Wir spüren tatsächlich, dass es immer leichter wird,
in diese Offenheit hinein zu finden. Offene Geisteszustände kommen natürlicher.
Mir war es ein Anliegen, das zu sagen, weil diese beiden Ansammlungen manchmal ein bisschen mys-
teriös im Raum stehen. Wir haben den Eindruck, dass wir nicht ganz spüren können, ob sich diese
Kräfte tatsächlich aufbauen oder nicht. Aber nichts, was im Feld von Ursache und Wirkung aktiv ist,
geschieht unbemerkt. Alles hinterlässt Spuren, nur ist unsere Wahrnehmung manchmal nicht fein ge-
nug, um diese Spuren bemerken zu können. Es ist nicht möglich, dass irgendeine Handlung – und sei
es ein einziges Mandala-Opfer – erst eine heilsame Auswirkung hat, dass dann lange nichts mehr da-
9. Karmapa, Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins Lama Tilmann, Möhra 2013
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von wirkt und irgendwann später doch wieder. Das geht nicht. Ursache und Wirkung bedeuten, dass
von jeder Handlung mit Körper, Rede und Geist, die wir ausführen, eine Wirkung ausgeht. Das ist je-
weils der Beginn der karmischen Kette. Es findet etwas statt, eine Wirkung wird erzeugt. Diese Wir-
kung mag in Bereichen weiter gehen, wo wir es dann nicht mehr so bemerken. Aber nur weil sie
weitergeht, kann sie eines Tages Früchte tragen. Wenn sie nicht weitergeht, wie soll sie dann Früchte
tragen? Wer fein genug ist, kann diese Auswirkungen wahrnehmen. Deswegen sagt man, dass es ein
ganz feines Gewahrsein braucht – sehr weit entwickelte Erwachte, einen Buddha –, um all diese
Auswirkungen wahrnehmen zu können. Wir sind oft so abgelenkt und unser Gewahrsein ist so wenig
fein, dass wir die Auswirkungen des Vergangenen nicht recht spüren können. Je mehr wir aber
praktizieren, je mehr wir Gelegenheit schaffen, dass sich unser Geist öffnet und nicht mehr so stark
kontrolliert und unterdrückt, desto mehr werden uns die vielen Eindrücke aus der Vergangenheit
bewusst. Sie steigen auf und wir sehen mehr und mehr die Zusammenhänge. Nicht nur in dem, was
Leid verursacht, sondern auch in dem, was Glück, freudige Geisteszustände hervorbringt.
Das ist gemeint, wenn es heißt, dass die Mandala-Opferung die beiden Ansammlungen vervollstän-
digt. Einige von euch kennen die Überschrift für die entsprechenden Abschnitte in den Kommentaren:
„Die Mandala-Opferung, die die beiden Ansammlungen vervollständigt“. Wir nähren positive Kräfte
in uns und immer leichter treten Intuitionen für dieses zeitlose Gewahrsein auf und die Wirkungen
dieses heilsamen Handelns werden sich mit Sicherheit im Eintreten in diese Offenheit zeigen.
Nachdem wir so gebetet haben, stellen wir uns vor, wie sich die Gottheiten des Mandalas der
Verwirklichung in Licht auflösen und mit uns verschmelzen.
Das Erwachen kommt also wieder nach Hause. Wir haben uns das Mandala der Verwirklichung außer-
halb vorgestellt, damit wir einen Bezugspunkt haben. Um zu beten, um zu schenken brauchen wir
einen Bezugspunkt. Das ist leichter für uns. Wir funktionieren ja auf eine duale Weise, deshalb gibt es
diesen Bezugspunkt und der ist unermesslich groß. Dieses unermessliche Feld des Erwachens ver-
schmilzt zum Schluss wieder mit uns, und wir ruhen in natürlichem Sein.
Dies ist der dritte Punkt: das aufrichtige Umsetzen der Unterweisungen zum Mandala-Opfer,
das die beiden Ansammlungen vervollständigt.
Fragen
Würdest du bitte noch ein bisschen ausführlicher erklären, wie diese beiden Ansammlungen
zusammenhängen, wie die erste Ansammlung die zweite Ansammlung begünstigt und leichter macht?
Eigentlich könnten wir ja auch von nur einer Ansammlung sprechen. Die beiden hängen so eng zu-
sammen, dass wir sie eigentlich nicht zu unterscheiden brauchen. Was wir heilsame Handlungen nen-
nen – gewa – sind immer Arten des Denkens, Sprechens und physischen Handelns, wo Fixierungen
aufgelöst werden. Normalerweise sprechen wir davon, dass das Ichanhaften aufgelöst wird. Jede heil-
same Handlung trägt dazu bei, uns und andere aus Leid erzeugenden Mustern und irrigen Anschau-
ungen herauszuführen. Das beschreiben wir mit heilsam. Im Buddhismus ist heilsam, was zum Erwa-
chen beiträgt. Und genau das, was ich jetzt gerade beschrieben habe, ist es, was zum Erwachen bei-
trägt: aus Fixierungen auszusteigen, flexibler und weicher zu werden, aber auch mutiger, kraftvoller;
all das, was möglich ist, wenn wir nicht mehr in irrigen Anschauungen verfangen sind. Wenn sich
dieser Prozess des Heilsamen weiter fortsetzt, landen wir in der Nicht-Fixierung, im Nicht-Greifen, im
zeitlosen Gewahrsein.
Sich verhakelnde Kräfte werden gelöst, die innewohnenden natürlichen Kräfte können freier agieren,
und indem sich das immer mehr ausweitet, zeigt sich das zeitlose Gewahrsein. Gendün Rinpoche sagte
das ganz lapidar: „Das Ansammeln der Verdienste ist vergleichbar mit einem Fass, wo wir einen
Tropfen nach dem anderen hinein tropfen lassen bis es irgendwann überfließt.“ Der Moment des Über-
fließens entspricht dem Erwachen, das zeitlose Gewahrsein zeigt sich zum ersten Mal. Das war für ihn
so offenkundig wie ein Fass irgendwann voll ist und überfließt, wenn man es unter eine tropfende
Regenrinne stellt. So hängen die beiden Ansammlungen zusammen. War es das, was ich noch einmal
klarstellen sollte, oder möchtest du selber etwas dazu beitragen?
9. Karmapa, Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins Lama Tilmann, Möhra 2013
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Lama Lodrö: Vielleicht, dass unser Potential zum Teil relative Aspekte hat und zum Teil eher absolute
Aspekte. Dass auf manche Aspekte einfach auch direkt zugegriffen werden kann, die eigentlich jeden
Moment präsent sind, und in jeder Situation faktisch auch für jemanden, der nicht Buddha ist,
erfahren werden können, und andere Aspekte, die erst durch einen langen Prozess, in dem unsere Ten-
denzen umgeformt werden, und transformiert werden, zur Entfaltung gebracht werden.
Ja, genau.
Teilnehmer: Die Mandala-Gaben habe ich noch nicht gemacht, aber grundsätzlich ist es so, dass ich
seit einem Jahr mich als privilegiert sehe, wie mein Leben vonstattengeht. Jeden Abend stelle ich mir
den Tag vor mit den schönen Ereignissen, die ich hatte, mit den Menschen, mit den Tieren, mit egal
was mich erfreut hat. Und ich schenke es her. Ist das dann eine Praxis, die mit Mandala-Gaben
gleichzusetzen ist?
Das ist nicht gleichzusetzen, denn hier geht es um eine spezifische, lang andauernde Übung. Aber na-
türlich ist, was du beschreibst, eine Mandala-Gabe. Deine Welt, was du erlebst, schenkst du her. Wenn
du das noch in den Moment hereinholst, indem du es erlebst, wird es die spontane Mandala-Gabe in
der Situation selbst.
Das passiert auch, indem ich einfach sage: „Das schenke ich!“ Muss ich dann die Mandala-Gaben
trotzdem machen?
Aha! Nein, jemand, der schon wie ein Buddha denkt und handelt, braucht keine Mandala-Opferung zu
machen. – Ich glaube, es hat viele gegeben, die das Erwachen ohne Mandala-Opfer verwirklicht
haben. Aber da gibt es wohl auch einige, denen das nicht geschadet hat, denen es geholfen hat, ihren
Geist zu öffnen.
Wie gesagt, bei allem, was ich euch als Methode empfehle, kann ich nicht behaupten, dass eine
Methode unerlässlich wäre. Das gibt es einfach nicht. Es kann nicht sein, dass es eine Methode gibt,
die unerlässlich wäre. – Dann gibt es eben eine andere, mit der man dasselbe erreicht. Aber es ist uner-
lässlich, die Qualitäten des Fließens, der Nicht-Fixierung, der Freigiebigkeit aus Mitgefühl und Weis-
heit geboren, freizusetzen. Qualitäten oder bestimmte Geisteshaltungen sind unerlässlich, weil sie auch
Teil des Erwachens sind. Sie führen ins Erwachen, aber sie sind auch Teil des Erwachens. Aber ich
werde nie von einer bestimmten Methode behaupten können, dass sie unerlässlich sei, sie ist nur
hilfreich.
Teilnehmer: Ich habe eine Geliebte, und die findet, dass ich sie gar nicht liebe, weil ich ihr das, was
sie unter Liebe versteht, nicht geben kann. Nämlich, dass ich mich komplett ihr verschreibe. Sie sagt:
„Du bist auch für die anderen Leute da!“ und fühlt sich einfach ein bisschen zurückgesetzt. Eigentlich
ist die Liebe doch allgegenwärtig – immer da...
Ich kann dir nicht persönlich antworten sondern nur auf einer allgemeinen Ebene, weil ich weder dich
noch deine Freundin ausreichend kenne. – Das hängt ein bisschen mit dem zusammen, was Lodrö
vorhin gesagt hat. Auf der relativen Ebene ist es wichtig, dass wir ganz konkret Liebe zeigen und um-
setzen, sodass sich Menschen, die mit uns zusammen sind, auch konkret und nicht nur abstrakt geliebt
fühlen. Ich habe bei vielen buddhistischen Praktizierenden – mich eingeschlossen – erlebt, dass sie in
dieses Unermessliche und Allgemeine hineingehen und den Kontakt zum ganz Konkreten und Persön-
lichen verlieren. Da sind wir auf dem buddhistischen Weg ein bisschen in Gefahr. Ich meinte, meine
Liebe zu einer Person würde ausreichen. Es würde reichen, dass ich sie im Herzen trage und spüre und
zusammen mit allen Lebewesen ohnehin unsere Beziehung in den Dienst des Erwachens stelle. – Es
braucht aber dann doch eine Geburtstagskarte oder einen Blumenstrauß, und es braucht die vielen
konkreten Äußerungen. Wir denken, die persönliche Aufmerksamkeit sei ein Zeichen von Anhaftung,
von Ich-Bezogenheit. Diesbezüglich habe ich einen gewaltigen Lernprozess hinlegen müssen. Ich war
sehr stark im Auflösen dieser Ich-Bezogenheit und dann auch auf der Hut davor. Jedes Anzeichen von
Präferenzen bekam eins auf den Deckel. Das ist im Prinzip auch richtig, aber Beziehungen funktionie-
ren nicht so. Ein Mensch möchte persönlich wahrgenommen werden. – Ich will damit nicht deiner
Freundin zureden, ich weiß ja nicht, was sie für eine Geschichte hat. Vielleicht ist es nie möglich, dass
9. Karmapa, Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins Lama Tilmann, Möhra 2013
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sie sich geliebt fühlt, aber vielleicht braucht es auch nur einfach etwas mehr persönliche Aufmerksam-
keit.
Diese Frage stellt sich uns überall. Es braucht die Verbindung zwischen dem Letztendlichen und dem
Relativen. Es reicht zum Beispiel auch nicht aus, sich hinzusetzen und hunderttausend Mandala-Opfe-
rungen zu machen, im Leben aber knauserig zu sein. Neben mir hat z.B. jemand Hunger und ich küm-
mere mich nicht darum. Das geht nicht. Das ist diese abstrakte Ebene: Wir haben diese wunderbaren
Sitzungen mit Mandala-Opferungen, die Buddhas sind alle so glücklich, ich gebe mich her usw. –
Aber der Bettler nebenan ist selbst schuld!
Es geht um das Zusammenbringen von Relativem und Letztendlichem. Gendün Rinpoche war über-
haupt nicht beeindruckt davon, wenn jemand weinte, weil es den Lebewesen so schlecht ging. – Das
Leiden in den Höllen ist so fürchterlich, Tränen strömten runter, aber die konkrete Umsetzung, sich
wirklich um eine Situation ausreichend zu kümmern, fand nicht statt. Es geht um die konkrete Um-
setzung im Zusammenleben, z.B. die Toilettenschüssel zu putzen, oder sich ums Essen zu kümmern
usw. Diese Verbindung ins Relative ist für uns buddhistisch Praktizierende eine Herausforderung, weil
das Letztendliche in den Unterweisungen so stark betont wird.
Wenn du versuchst, das auf deine persönliche Situation der Liebesbeziehung zu übertragen, kann es
sein, dass du Anregungen findest, wo du dir erlaubst persönlicher, konkreter, im Relativen präsent zu
sein, sodass sich deine Freundin viel mehr gesehen und auch im Konkreten geliebt fühlt. Das kann
sein, da ich ja die Situation nicht kenne, ist das alles Konjunktiv.
Teilnehmer: Ich frage mich, ob es überhaupt heilsame Handlungen gibt, denn soweit ich mich erin-
nern kann, ist es so, dass ich – wenn mir jemand etwas nicht Gutes will – überprüfen kann, wo ich
stehe und als zweites ihn als guten Lehrer sehen kann. Das heißt also, dann ist seine negative
Handlung am Ende auch nicht nichtheilsam, weil er mich ja dazu bringt, heilsam zu handeln.
Du fragst dich, ob diese Begriffe ‚heilsam’ und ‚nichtheilsam’ letztendlich haltbar sind? Ein Beispiel
dazu wäre, dass dir jemand schadet und du daraus unglaublich lernst, sodass es für dich eine sehr heil-
same Erfahrung war, und man nicht behaupten kann, der Andere habe wirklich nichtheilsam gehan-
delt, was die Auswirkungen angeht. Das verstehe ich sehr gut. Es gibt auch viele andere Gründe dafür,
warum man eigentlich nicht aufrechterhalten kann, irgendwelche Handlungen als heilsam oder nicht-
heilsam zu klassifizieren. Etwas zu schenken z.B. ist meistens hilfreich, kann aber auch total verkehrt
sein.
Ein Beispiel, das unsere Lehrer oft gebrauchen: Wenn du einem völlig Alkoholisierten eine Flasche
Whisky schenkst und er daran stirbt, dann war das eine Handlung von Freigiebigkeit mit dramatisch
schädlichen Konsequenzen. Es gibt diesbezüglich also auch nichts per se. Oder Töten muss auch nicht
per se immer schädlich sein. Es kann in bestimmten Situationen wirklich heilsam sein, Positives für
alle Beteiligten bewirken. So etwas zu behaupten ist natürlich riskant, aber letzten Endes sind sich alle
buddhistischen Kommentare darin einig, dass solche ethischen Beschreibungen immer nur in be-
stimmten Beziehungsfeldern gelten und nie etwas per se unmöglich ist. Deswegen erzählte der Buddha
auch diese Geschichte aus einem früheren Leben, wo er an Bord eines Schiffes war und einen
Menschen umgebracht hat. Das hatte zwar auch Konsequenzen in späteren Leben, aber er konnte mit
dieser Tat fünfhundert Menschen retten. Solche Lehrgeschichten werden erzählt, um diese Begriffe
‚heilsam’ und ‚nichtheilsam’ zu relativieren. Sie sind eine Orientierung, und was wirklich heilsam ist
für mich, das kann ich anhand von Kriterien im eigenen Geist feststellen. – Ob ich eng werde oder
nicht. – Ja, sagen wir es einfach einmal so. Und den Anderen, der dir z.B. Schaden zugefügt hat, müss-
ten wir eigentlich fragen: „Wie ist es denn, wenn du an die Situation zurückdenkst? Hat das dein Herz,
deinen Geist, eng gemacht, oder ist dadurch Öffnung entstanden?“ Also die Frage nach etwas Authen-
tischem. Wir können noch sehr viel mehr Kriterien anführen, um wirklich herauszufinden, ob etwas
zum Erwachen beiträgt oder nicht, und erst dann kann man sagen, dass eine Handlung heilsam oder
nicht heilsam war. Man muss das ganze Umfeld und die handelnden Personen mit einbeziehen.
Teilnehmer: Ich finde, da gehört einfach Weisheit dazu, dann ist die ganze Sache klar. Wenn der die
Flasche Whisky aus Dummheit gibt und es auch seinen Geist weitet, weil er denkt, er tut dem Anderen
was Gutes, ist es trotzdem schädlich.
9. Karmapa, Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins Lama Tilmann, Möhra 2013
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Ja, jede Qualität braucht Weisheit, die sie begleitet. Erst dann wird sie tatsächlich zu einer befreienden
Qualität. Es braucht die Weisheit zu wissen, was wirklich dienlich ist, kurz-, mittel- und langfristig.
Dadurch erst werden Handlungen heilsam.
Teilnehmerin: Ein Beispiel aus der nahen Vergangenheit, wo ich nicht weiß, ob es heilsam ist oder
nicht: Ein Schaf hat Junge und das Eine ist am Sterben, weil die Mutter zu wenig Milch hat. Ich hab
dann versucht, dieses Tierchen am Leben zu erhalten und durchzufüttern und mich ihm zugewandt,
aber das Tier ist nach drei Tagen trotzdem gestorben. Ist das heilsam oder nicht? Es ist ein Stück das
Leben zu verlängern, die Motivation ist schon Mitgefühl zu dem Tier, aber war es wirklich nutz-
bringend für das Tier? Da bin ich ganz unsicher.
Was müssten wir jetzt untersuchen, um der Antwort auf diese Frage ein bisschen näher zu kommen?
Was müssten wir wissen?
Ich habe mir nachher gedacht, dass die Motivation sauber war. Aber andererseits war ich vielleicht
nicht ausreichend mit der Existenz rück verbunden, dass so ein Tier einfach auch sterben darf. Auch
schneller ohne mein Eingreifen. Ist Eingreifen das richtige Mittel?
Wollen wir einmal dabei bleiben. Jetzt sind wir erst einmal bei dir. Du hast eine aufrichtig liebevolle
Motivation gehabt und hast das Gefühl: „Na, ein Schuss mehr Weisheit hätte auch gut getan.“ Das ist
deine eigene Einschätzung. Jetzt müssten wir aber noch wissen, was bei dem Lamm passiert ist, was in
diesen drei Tagen bei dem Lamm stattgefunden hat. War es eine unnötige Quälerei, oder ist es durch
diese Zuwendung, die es noch vor seinem Tod erfahren hat, berührt worden? Erst wenn wir das wissen
und dann eventuell auch noch etwas vom Mutterschaf usw., könnten wir sagen, dass es eher heilsam
als nichtheilsam war. Es gibt dabei kein schwarz-weiß. Eine Handlung ist nicht entweder hundert
Prozent heilsam oder hundert Prozent schädlich. Da sind so viele Übergänge und verschiedene Antei-
le. Es gibt Mischungen in der Motivation, wodurch es z.B. vorwiegend heilsam ist, aber mit einem
kleinen anderen Anteil. Es gibt im Erleben Aspekte, die uns eng machen, und Aspekte, die uns öffnen.
Das begriffliche Denken mit diesem Aufteilen – das ist auch vorhin angesprochen worden – in heilsam
und schädlich, gut und schlecht, führt zu einem kategorischen Denken, das der Sache nicht dienlich
ist. Wir haben es meistens mit mehr oder weniger zu tun. Das hundertprozentige heilsame Handeln ist
selten zu finden, und das hundert Prozent Schädliche ist wohl auch selten zu finden. Die Zone da-
zwischen können wir klären, indem wir immer bewusster, immer klarer werden und zumindest auf
unsere Motivation achten. Indem wir schauen, dass wir die Weisheit stimulieren und unsere Antennen
offen haben für das, wie es anderen mit dieser Art von Handeln oder Sprechen geht, und dass wir eine
möglichst panoramische Sicht der ganzen Situation haben. Dann wird unser Handeln immer ange-
messener.
Von einem offenen, wachen Menschen wird gesagt, dass dieses Gewahrsein der Gesamtsituation so
weit entwickelt ist, dass aufgrund dieser ganz aktiven Antennen spontan zum Wohle aller in der Situa-
tion gehandelt wird. Das ist die Beschreibung von erwachtem Wirken. Dem gehen aber innerlich viele,
viele Klärungsprozesse voraus, sodass es nicht mehr zu einer Verzerrung der Wahrnehmung kommt.
Solch ein wacher Mensch hat sich viele, viele Male schon auf andere eingelassen, sodass es zu einer
ganz feinen Wahrnehmung kommen kann von dem, wie es anderen geht. Dann kann es spontan, aber
als Folge des Entwickelns von unglaublichem Mitgefühl und höchster Weisheit, immer zu diesen
passenden Handlungen kommen.
Teilnehmerin: Ist es okay, bis man soweit ist, zu sagen, „Ich will nicht möglichst effektiv heilsam
handeln.“? Wenn ich denke, dass ich möglichst effektiv heilsam handeln will, so macht es mir Stress.
Ich merke z.B., dass die Patienten genervt sind, die Tochter richtig aggressiv wird, wenn ich ihr ver-
suche zu helfen, der Hund wird überschüssig und möchte immer noch mehr, und so weiß ich ja gar
nicht, ob das dann wirklich dazu führt. Ich versuche einfach weiterhin, in der Situation heilsam zu
handeln, aber dieses Effektivitätsstreben tut nicht gut.
Du hast dir die Antwort ja schon selbst gegeben. So ist mein Eindruck. Irgendetwas scheint dir nicht
gut zu tun, wenn du das Wort ‚effektiv’ hörst, oder diese Effizienzhaltung in dir ist. Irgendwas scheint
da nicht gut zu tun, und das kann ja nicht heilsam sein. Irgendwas geht da zu, und das gilt es zu lösen.
Ich weiß nicht, ob du von mir da noch mehr Feedback brauchst. Das war ziemlich eindeutig.
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Teilnehmer: Ich wollte nur sagen, dass der Buddha ja sieht, ob es sinnvoll ist zu helfen oder nicht,
oder ob das Karma dieses Tiers dann so stark ist, dass es sowieso sterben muss.
Ja, ich hoffe, dass das ein Buddha sieht. Ich weiß das ja auch nicht. Wenn wir einmal bei uns bleiben:
Wir wissen ja nicht, ob das Lamm es packen wird oder nicht. Wir tun einfach unser Bestes.
Teilnehmerin: Mir fehlt da ein Bruchstück bei dieser Opferung. Wenn ich das mache, dann stellt sich
eigentlich automatisch so eine gewisse Selbstzufriedenheit darüber ein, dass ich das alles hergebe,
und dann bin ich ja schon wieder in der nächsten Selbstbespiegelung und Ich-Bezogenheit. Und dann
habe ich diese Erfahrung ja noch nicht gemacht, wie gut sich das letztendlich anfühlt. Also nicht in
der Ich-Bezogenheit gut sondern in diesem strömenden Loslassen, wirklich zu opfern. Aber wenn ich
mir vorstelle, diese Erfahrung zu machen, stellt sich irgendwie so eine Angst ein vor so etwas Auf-
lösendem. Es ist, wie wenn ich mich verlieren würde, wie wenn ich ein Gegengewicht schaffen müsste
zu diesem Auflösenden, zu dieser Hingabe, ja überhaupt mein Ich irgendwie zu verlieren.
Ja, diese beiden Fragen hängen zusammen. Ich gehe zuerst auf den ersten Aspekt ein. Das Mandala-
Opfer wird beschlossen mit einer Geisteshaltung der Widmung, die sich aber – wenn man sie versteht
– durch das ganze Mandala-Opfer durchzieht. In dieser Widmung wird nicht nur hergeschenkt, son-
dern es löst sich im Loslassen des Gebens selber die Vorstellung auf von einem Gebenden, der irgend-
jemand anderem konkret etwas gegeben hätte. Es wird davon gesprochen, dass sich die Vorstellung
von Gabe, Gebendem und Empfänger – diese drei Kreise, drei Fixierungen in unserem Geist – völlig
auflöst und wir in der eigentlichen Freigiebigkeit ruhen, wo nicht mehr unterschieden wird zwischen
ich und anderen und einer Handlung, die dazwischen stattfindet. Das ist die eigentliche oder letztend-
liche Mandala-Opferung. Je mehr wir das auf der relativen Ebene üben und gleichzeitig diese Unter-
weisungen zum eigentlichen Mandala-Opfer bekommen, umso mehr wächst dieses Verständnis hinein
in das eigentliche Tun. Wenn es nicht in dieses Gewahrsein hineingeht, dass wir es mit begrifflichen
Fixierungen von Subjekt und Objekt zu tun haben, würde man im Grunde genommen durch diese
Mandala-Opferung nur unsere Gutmenschen-Haltung stärken.
Der zweite Aspekt ist tatsächlich so, wie du sagst. Dieses Mandala-Opfer führt sehr stark aus diesen
Ich-Fixierungen heraus und löst erst einmal eine Angst aus. Diese Angst ist auch verständlich. Jeder,
der sich innerlich schon einmal von der Ahnung her wirklich darauf einlässt, sollte eigentlich diese
Angst und diesen inneren Vorbehalt spüren. Wer Mandala-Opferungen einfach so ausführen kann,
ohne an dieses innere Zögern zu kommen – „Was ist denn mit mir, wenn ich alles hergebe, alles
loslasse, alles herschenke?“ –, der berührt den wesentlichen Punkt gar nicht. Wir können nicht alles
herschenken, was unsere Welt, also einen selbst, ausmacht, ohne dass das Ich-Gefühl angetastet wird.
Von daher ist das Mandala-Opfer auch ein sich Vortasten mit Fragen wie: „Was ist eigentlich mit mir,
wenn ich ganz ins Fließen komme?“, „Brauche ich Fixpunkte oder brauche ich keine?“, „Welche
Fixpunkte braucht es, welche sind unverzichtbar, welche sind unnötig oder gar hinderlich?“ Diese
Fragen können wir uns nur aus der eigenen Erfahrung beantworten. Wenn ich jetzt sage: „Ihr braucht
überhaupt keine Fixpunkte! Seid unbesorgt. Löst euch auf, auch das Ich braucht es nicht mehr.“, dann
ist das zwar ganz nett, aber es entspricht nicht der gelebten Wirklichkeit.
Wir haben einen Körper, wir müssen uns um den Körper kümmern, wir sind in einem sozialen Ge-
flecht und werden immer wieder auch als ‚Ich’ angesprochen. Und was ist dann unser Zuhause?
Welche sind unserer Bezugspunkte? In meiner Erfahrung ist die Lösung, immer mehr im eigenen Ge-
wahrsein zu Hause zu sein, dass der Ort des Seins nicht mehr die äußeren Referenzen sind, sondern
die Frische des Erlebens von Moment zu Moment. Das wird das eigentliche Zuhause. Es ist dann nicht
mehr die Beziehung eines Ichs zu seinem Erleben, aber es wird ein total verlässliches Sein, das in sei-
ner Natur unerschütterlich ist und von daher auch den Herausforderungen des Alltags gewachsen ist.
Wenn wir uns darin verankern aber auch im direkten Erleben auflösen können, dann übernimmt das
direkte Erleben diese stabilisierende Funktion, die wir sonst an unseren Besitz, an unsere Freunde, an
unsere Liebesbeziehung delegieren , die sonst diese Stabilität in unserem Leben bewirken.
Diese Stabilität ist im fließenden, wachen, frischen Gewahrsein, frei von Hoffnung und Furcht, zu
finden. Das ist die eigentliche Stabilität eines Erwachten, die dann auch ausmacht, dass so ein Erwach-
ter, ein wacher Geistesstrom, mit großer Leichtigkeit von einer in die andere Situation gehen kann,
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ohne dass diese äußeren Bezugspunkte so elementar wichtig wären, wie sie das für uns normalerweise
sind. Also, nehmt bitte euch selbst und anderen nicht die Bezugspunkte einfach weg und meint, dass
ihr euch und anderen damit einen Dienst des Erwachens tut. Geht lieber den Weg, dass sich die Not-
wendigkeit, solche Bezugspunkte zu haben, von innen her löst. Dass wir sie nutzen und auch sein las-
sen können, aber dass von innen her eine Lösung stattfindet, die einfach darin besteht, dass wir uns
nicht mehr identifizieren und nicht mehr so fixiert sind. Aber in keiner Weise eine Geringschätzung
oder der Glaube, wir müssten unser Erwachen anderswo finden.
Gendün Rinpoche sagte es immer so: „Der Weg des Erwachens geht über die Verpflichtung.“ Das
englische Wort dafür war commitment. Verpflichtungen sind ziemlich starke Bezugspunkte, z.B. die
Mönchsgelübde oder die Verpflichtung, für andere da zu sein wie Mütter für ihre Kinder, Verpflich-
tungen, sich um eine Dharma-Aktivität oder eine sonstige Aktivität zu kümmern. Die Verpflichtung
steht nicht im Widerspruch zur Auflösung dieser Ich-Bezogenheit sondern ermöglicht sie. Warum ?
Weil ich mich mit meinen Wünschen, mit meinem Wollen und Nichtwollen im Grunde genommen
immer ärgere, wenn Verpflichtungen da sind. Verpflichtungen sind Bezugspunkte, Bezugsbänder, kla-
re Engagements, für die ich einstehe und die ich nur wirklich leben kann, wenn dieses Ich ein bisschen
nachgibt. Das wisst ihr als Mütter. Wenn man sich um ein Kind, um ein Baby kümmert, müssen die
eigenen Wünsche, muss so Vieles zurück stehen. Nun ist das natürlich auch ein Band, das viel von
Identifikation geprägt ist, aber in jeder Verpflichtung muss ich nachgeben. Ich bin hier z.B. die Ver-
pflichtung eingegangen, diesen Kurs hier zu geben. Da kann ich nicht etwas anderes machen. Immer
wenn wir uns auf eine Verpflichtung einlassen, geben wir nach. Wenn wir dieses Nachgeben auf eine
gute Art machen, können wir in dieses Fließen finden. Der Weg der Freiheit, der Befreiung, des Er-
wachens, ist nicht ein Weg, aus allen Verpflichtungen auszusteigen, einfach das zu tun, was uns in den
Kopf kommt. Es ist der Weg, in diesem sich Einlassen auf dieses Verbundensein, auf diese Wechsel-
wirkung in der Welt frei zu werden.
Teilnehmerin: Beim Verpflichtetsein kann man leicht ins Funktionieren abrutschen. Und in dem
Moment, wo ich zu funktionieren beginne, steige ich oft aus Prozessen aus, die vorher eigentlich im
Gang waren.
Ja, das ist einfach mangelndes Gewahrsein. Wenn du erhöhtes, frisches Gewahrsein in diese Prozesse
hinein bringst, lässt du das nicht zu. Einfaches Funktionieren ist, wenn wir etwas an unsere automa-
tischen Muster delegieren, und das friert dann ein bisschen ein. Wir verbinden mit Verpflichtung
innerlich vielleicht etwas Stagnierendes, Einengendes, dabei kann es total frisch sein, eine ganz will-
kommene Herausforderung.
Teilnehmer: Das Thema mit der Verpflichtung betrifft natürlich dann auch die Schuld.
Wie siehst du den Zusammenhang jetzt?
Ich fand es wichtig zu differenzieren und nicht nur von Schuldgefühlen zu sprechen, sondern meinet-
wegen von neurotischen Schuldgefühlen und realen Schuldgefühlen. Die reale Schuld kann ich ja auch
sehen, ohne dass mein Selbstwertgefühl deshalb erniedrigt sein muss. Die Verpflichtung – ich wusste
nicht, wie ich das in der Kürze ausdrücken soll – gilt dann auch für die Schuld, die ich erkannt habe,
und soweit es in diesem Leben möglich ist, zu bearbeiten und wieder gut zu machen. Auch in der
Realität.
Absolut, wobei der Teil Schuld einfach diesen schwierigen Aspekt unseres Handelns betrifft, aber die
Verpflichtung gilt für all unser Handeln mit Körper, Rede und Geist. Im Grunde genommen ist die
Verpflichtung des Weges des Erwachens, des Weges des Auflösens der Ich-Bezogenheit, totale Ver-
antwortung für Denken, Reden und Handeln. Das ist eigentlich damit gemeint. Anders als wir unseren
Freiheitsbegriff definieren bzw. als unsere unbewussten Definitionen sind. Die Freiheit im Mahamu-
dra ist die Präzision im Handeln bei völliger Verantwortlichkeit für alle Betroffenen, bei total weitem
Geist. „So weit wie der Himmel und so präzise wie beim Einfädeln durchs Nadelöhr“, diese Worte hat
Gendün Rinpoche benutzt. Oder er hat auch gesagt: „so präzise wie eine Nadelspitze“. Das sind alte
Zitate, und diese Präzision bezieht sich natürlich auch auf Situationen, wo wir schuldig geworden sind.
Da müssen wir um Vergebung bitten und aufräumen, wenn das noch möglich ist. Wir müssen wirklich
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all das tun, was wir noch tun können. Wo wir es nicht mehr tun können, gibt es weitere Möglichkeiten,
die Schuld zumindest innerlich aufzulösen.
Teilnehmerin: Darf man die Mandala-Opferungen nur machen, wenn man Dordje Sempa richtig
gemacht hat? Wenn man aus der Meditation mit einem Gefühl von Gelöstheit herauskommt, dass alles
gereinigt und hinter sich gelassen ist? Wenn man 100 000 Dordje Sempa Mantras rezitiert hat, das
aber nicht der Fall ist, darf man die Mandala-Opferungen dann überhaupt machen?
Die Frage ist natürlich berechtigt. Nein, du brauchst die 100.000 Dordje Sempa Mantras nicht noch
einmal machen. Praktiziere einfach weiter, und du kannst bei der Mandala-Opferung sogar einbauen,
was du bei Dordje Sempa noch nicht so vollständig praktiziert hast. – Es gibt die Möglichkeit,
Blockaden, Hindernisse, Schuldgefühle und dergleichen, die während der Praxis auftauchen, während
des Mandala-Opfers bewusst zu machen, und die Identifikation, die darin zu finden ist, zu opfern. Wir
bringen da die Lösung hinein und sagen: „Was auch immer ich jetzt daraus lernen kann sei denen als
Opferung dargebracht, denen ich damals Schaden zugefügt habe usw.“ Dann geht der Prozess aus der
Vajrasattva-Praxis weiter in der Mandala-Praxis, aber mit einer anderen Methode. Wir müssen nicht
unbedingt den Rückwärtsgang einschalten. Wir haben geschickte Möglichkeiten, das im Mandala
weiter zu praktizieren, im Guru-Yoga weiter zu machen. Wir werden das ständig weiter machen.
Unsere Reinigungspraxis hört nicht mit Vajrasattva auf. Sie wird uns auf innere Art immer weiter
begleiten. Wir haben dabei etwas gelernt, und das wenden wir unkompliziert an, wo wir es brauchen.
Und wie verschenke ich das? Also mein Problem ist die Bewusstheit. Ich bin sehr unkonzentriert und
vergesse halt im Alltag, dass ich ein Buddha bin. Das geht flöten, und ich glaube das Problem bei
Dordje Sempa war, dass ich die Praxis einfach gemacht habe, aber trotzdem im Alltag ganz normal
weiter funktioniert habe. Ich habe im Alltag die Einsicht nicht integrieren können. Wie kann ich das
dann verschenken?
Was wir verschenken, was wir in dem Moment loslassen, ist das, was z.B. in uns an Selbstbezogen-
heit, Stolz, oder an mangelndem Einfühlungsvermögen war. Das Positive, was wir daraus machen
können, ist, die Einsicht, die jetzt daraus entsteht, direkt zu schenken. Das Andere sind indirekte Ge-
schenke. Stellen wir uns einmal vor, da säße jetzt ein Buddha vor uns. Für einen Buddha gibt es doch
kein schöneres Geschenk, als wenn wir unsere Fehler erkennen. Das ist doch schon ein Geschenk! Das
Erkennen unserer Schatten, unserer Fehler ist doch wunderbar. Ich habe viele Momente erlebt, wo
Praktizierende zu Lehrern gekommen sind und ihre Fehler eingestanden haben. Das sind total berüh-
rende Momente, denn es gibt eigentlich nichts Schöneres. Natürlich denken wir, wir könnten beim
Mandala-Opfer nur so tolle Sachen opfern wie Paläste, Baldachine usw., aber im Grunde genommen
geht es darum, das darzubringen, was am hilfreichsten für das Erwachen ist. Und das Erkennen der ei-
genen Schatten und der eigenen Fehler ist vom Stärksten überhaupt, was ein Mensch schenken, dar-
bringen kann. Daher sehe ich da überhaupt keine Schwierigkeit, das darzubringen. Aber wir bringen
nicht unseren Ärger, unseren Hass, unsere Unaufmerksamkeit usw. dar, sondern wir bringen die Ein-
sicht dar, wie oft uns der Ärger verleitet usw. Diese Einsicht ist es, die wir darbringen.
Übrigens gibt es hier einige im Raum, die die Vajrasattva-Praxis mehrere Male ausgeführt haben. Ich
habe diese 111.000 auch drei Mal ausgeführt und bin immer noch neurotisch, es geht aber vorwärts.
Die Methoden wandeln sich, und jede Methode trägt dazu bei, dass wir ein bisschen klarer und mehr
gewahr werden. Nicht verzweifeln!
Meditation
Wir beginnen mit grundlegender Präsenz, einem Gewahrsein des Körpers und seiner Wahrnehmungen.
Wir sehen, hören, fühlen. Wir fühlen auch innerlich, wie wir uns fühlen. –
Da sind spüren, hören, sehen, riechen, schmecken, fühlen. – Das ist unser Universum. –
Die Welt, die wir denken, fühlen, wahrnehmen. Vielleicht besser gesagt, die gefühlte Welt, die ge-
sehene. Ich – wo ist das Ich in dem ganzen Geschehen? Wo ist das Zentrum der Welt? –
Wenn der Geist wandert, nehme ich ihn wieder ans Seil der Achtsamkeit, und wenn ich einfach ge-
sammelt und präsent bin, dann braucht es nur Entspannung und vielleicht etwas Frische. Zusätzlich ein
bisschen Wachheit, um noch tiefer gewahr zu sein. –
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Wenn Denken stattfindet, sei des Denkens gewahr. – Und wenn du einen Anker brauchst für die Auf-
merksamkeit, nimm eine klare, deutliche Sinneswahrnehmung, wie zum Beispiel den Atem. –
Visualisation zur Zuflucht
Wir lassen wieder diese Visualisation entstehen, in der zwei Elemente verbunden sein müssen. Einmal
das Verbundensein mit allen Lebewesen. – Wir beginnen der Einfachheit halber mit den Menschen
und weiten unsere Vorstellung dann auf alle Tiere aus, die sich auch wünschen, dass ihr Leben
geschützt ist. Auch die Pflanzen sind mit dabei, wir sind auf einer wunderbaren Blumenwiese und
können uns hinter uns auch überall Bäume vorstellen. Ob Pflanzen Lebewesen sind, mag ich jetzt
nicht diskutieren, aber auf jeden Fall ist Leben in den Pflanzen. Einen Geist im klassischen Sinn haben
sie wohl nicht, jedenfalls haben sie nicht sehr viele Entscheidungsmöglichkeiten.
Das eine Element ist also das Verbundensein mit allen Lebewesen, mit allem, was lebt. Und vor uns
befindet sich das uns am meisten inspirierende Symbol des Erwachens, das wir uns vorstellen können,
klassischerweise der Urbuddha Dordje Tschang, Vajradhara als blaue Lichtgestalt, als Verkörperung
des Erwachens aller Buddhas. Er ist umgeben von den Meistern und Meisterinnen, die für uns inspi-
rierend sind, die zu den verschiedenen Übertragungslinien gehören, die den Menschen überall auf dem
Planeten den Dharma zukommen lassen.
Vielleicht möchtet ihr der Einfachheit halber die Augen schließen. Lasst dann das Gefühl entstehen,
mit allen verbunden zu sein, und aus dieser Verbindung heraus richten wir uns gemeinsam mit allen
auf die Qualitäten aus, die für das Erwachen stehen. – Liebe, … Mitgefühl, … Freude, …gelöstes
Sein, … ganz und gar gewahr, präsent, … einfach, natürlich – was auch immer euch in den Sinn
kommt. –
Mit dieser inneren Vorstellung rezitieren wir die Gebete.
Rezitation von Zuflucht, Bodhicitta und den Vier Unermesslichen.
Das nächste Gebet wäre ein kleiner Guru-Yoga: Pälden tsawä lama rinpotsche..., und das ist die
nächste Passage, die ich euch im Kommentar erklären möchte, der 4. Punkt der Vorbereitenden
Übungen:
4. Guru-Yoga
Karmapa geht hier wieder rein faktisch vor. Er gibt uns die Visualisation und das, was zu tun ist, aber
er gibt keine Erklärungen über den Sinn der Praxis, die aber in anderen Kommentaren zu finden sind,
z.B. auch in seinem ausführlichen Werk „Mahamudra – Ozean des Wahren Sinnes“. Ich gebe hier eine
Zusammenfassung davon und auch von den mündlichen Unterweisungen Gendün Rinpoches.
Was heißt Guru-Yoga? Die Übersetzung von Guru ist Lama oder Meister, aber etymologisch hat das
Wort Guru seine Wurzel im Sanskrit mit der Bedeutung von schwer, gewichtig. Ein Guru ist ein spiri-
tuelles Schwergewicht in dem Sinne, dass der Segen des Meisters schwer wiegt, also einen wirklich
tief greifenden Einfluss hat. Einem Guru zu begegnen ist gewichtig in dem Sinne, dass es uns so be-
rührt und es uns in dieser Begegnung so erwischt, dass es einen schwerwiegenden Einfluss auf unser
Leben hat. Ein Guru ist also jemand mit einer soliden Bedeutung. Die Worte, die Präsenz eines Gurus
haben Kraft, da steckt was dahinter. Das alles schwingt im Wort Guru mit.
Hinter dem Wort Lama, das im Tibetischen an dieser Stelle steht, steht etwas ganz anderes. – Die
Übersetzung hier ist keine wörtliche Übersetzung. – Lama kommt vom tibetischen lana mepai ma. Ma
heißt hier Mutter – eine Form von Mutter – und lana mepai heißt unübertrefflich. Die Tibeter haben
den Begriff ‚unübertreffliche Mutter’ für Meister gewählt, weil es sich um spirituelle Freunde und
Lehrer handelt, die innerlich Bodhicitta hervorgebracht haben, eine Haltung, in der sich ein Praktizie-
render, eine Praktizierende wie eine Mutter um jeden kümmert, der zu ihr bzw. zu ihm kommt.
Hebamme oder Geburtshelfer wäre auch nicht schlecht. – Es ist eine tiefe Fürsorge für alle, mit denen
sich der Geist verbindet, also im Grunde genommen für alle Lebewesen. Im Wort Lama kommt dieses
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Bodhisattva-Ideal zum Ausdruck. Von Lana mepai ist also nur die erste Silbe geblieben, das la, und
ma bedeutet Mutter. Die Silben la ma stehen also für eine Haltung der Liebe und des Mitgefühls. So
wie eine Mutter für ihr Kind sorgt, so sorgt sich normalerweise ein Lama um das Wohl all derer,
denen er oder sie begegnet.
Yoga bedeutet zusammenfügen, zwei Teile zu einem machen, zu einer Einheit finden. Das deutsche
Wort Joch hat dieselbe etymologische Wurzel. Aus zwei Hölzern wird eines gemacht, das man dann
z.B. einem Pferd, einem Ochsen um den Hals legen kann. Dieses zu einer Einheit Zusammenfügen
von zwei ist die Bedeutung von Yoga. Es ist eine Praxis, die zu einer Einheit führen soll, zur tiefen
Verwirklichung der Einheit unseres Geistes und des Geistes aller Meister, aller Erwachten. – In
diesem Fall über die Brücke eines Gurus.
Wenn wir das Glück haben, nach entsprechender Prüfung einen lebenden Meister, eine lebende
Meisterin für so authentisch zu befinden, dass wir uns mit unseren Gebeten auf diese Person ausrich-
ten können, dann käme so eine Person als Guru für den Guru-Yoga in Frage. Nun hat aber bereits der
Buddhas immer wieder gesagt: „Nicht dieser Körper aus Fleisch und Blut ist die Zuflucht! Bitte betet
diesen Körper nicht an, das Erwachen ist die Zuflucht.“ Gendün Rinpoche hat genauso mit uns
gesprochen. Er hat gesagt: „Nicht hier ist der Lama. Was ihr hier vor euch seht, ist ein Sack voller
Emotionen.“ Das war seine Art, uns klar zu machen, dass wir uns nicht auf den äußeren Körper aus-
richten sollten. Er hat uns gebeten, uns auf Vajradhara – Dordje Tschang – auszurichten. Diese Aus-
richtung auf die Essenz, auf das Wesentliche, ermöglicht uns, im Lama das eigentlich Wesentliche zu
sehen. Wir richten uns nicht auf die menschlichen Aspekte seines Seins aus sondern auf das, was
wirklich sein Erwachen ausmacht. Das Erwachen ist dann auch nicht mehr persönlich, sondern diesem
Erwachten und allen anderen Erwachten gemein.
Deswegen ist es seit Buddhas Zeiten eigentlich ein unpersönlicher Guru-Yoga, wo nicht die Person im
Vordergrund steht, sondern die Verwirklichung des Erwachens. Aus diesem Grund haben wir im Zen-
trum des Zufluchtsbaums Vajradhara. Bei den Nyingmapas ist es Samantabhadra – Vajradhara ohne
Ornamente, ohne Schmuck und Kleidung.
Das bewahrt die Schüler vor einer Fixierung auf die menschlichen Eigenschaften des Lehrers. Es geht
nicht darum, die menschlichen, die sehr persönlichen Eigenschaften des Lehrers zu kopieren, sondern
in das Erwachen zu finden, das sich in jedem Erwachten neu ausgestaltet. Es ist immer dasselbe Er-
wachen, aber jeder von uns wird anders sein, wenn wir erwachen. Wir haben eine andere Form, uns
auszudrücken, eine andere Form in der Welt zu sein, eine andere Aktivität. Das ist bei allen Lehrern ja
auch ganz deutlich. Die Lehrer, die auf den verschiedenen Stufen des Erwachens sind, haben deutlich
unterschiedliche Persönlichkeiten – auch noch als Erwachte. Da gibt es welche, die scherzen gerne,
andere sind eher ernst, usw. Da gibt es viele Unterschiede, aber alles ist die Aktivität der Erwachten.
Wir haben also die Möglichkeit, uns auf einen lebenden Lehrer auszurichten und uns mit dem We-
sentlichen, dem Erwachen in diesem Lehrer, in dieser Lehrerin zu verbinden. Manchmal gibt es auch
die Möglichkeit, dann den Lehrer als solches zu visualisieren, wenn wir das unbedingt brauchen.
Manchmal hat sich Gendün Rinpoche breitschlagen lassen, jemandem die Erlaubnis zu geben, ihn zu
visualisieren. Er sagte, „Gut, das macht jetzt auch nichts mehr, ich bin ja schon alt. Das schafft jetzt
nicht die große Anhaftung. Wenn du es unbedingt brauchst, dann kannst du das auch visualisieren.“
Die Karmapas geben auch oft die Erlaubnis, dass man sie visualisieren darf, aber mit der schwarzen
Krone, damit das Persönliche in den Hintergrund tritt. Unseren jetzigen Karmapa würde man nicht
beim Kricketspielen visualisieren, oder mit Baseballmütze. Wäre das der Fall, dann möchte man diese
persönliche Beziehung, die aber auf die Dauer nicht gut tut, weil man sich nicht wirklich mit dem
Erwachen sondern mit Persönlichkeitsmerkmalen verbindet. Da müssen wir ein bisschen aufpassen.
Bei verstorbenen Lehrern sind wir vor einer Abhängigkeit geschützt, und so werden Meister wie
Milarepa, Gampopa, die Karmapas und andere Lehrer oft als Stütze für einen Guru-Yoga genommen.
Diese Lehrer haben eine abgeschlossene Lebensgeschichte, es kann nicht mehr zu Skandalen und zu
persönlichen Enttäuschungen kommen. Wir können getrost einiges auf sie projizieren. Da besteht kei-
ne persönliche Beziehung, die ins Schleudern gerät, wenn dieser Lehrer sich nicht unseren Erwartun-
9. Karmapa, Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins Lama Tilmann, Möhra 2013
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gen gemäß verhält. Wir gehen ein Risiko ein, wenn wir unsere Hingabe auf einen lebenden Lehrer
projizieren. Die Lebensgeschichte ist noch nicht abgeschlossen, da kann noch einiges passieren und in
der Folge kann unsere Praxis ins Schleudern geraten. Wir tun also gut daran, diesen Rat von Buddha
Shakyamuni zu beherzigen, uns immer wieder auf das Erwachen als Zuflucht auszurichten und nicht
auf die Person, also auf die gelebte Wahrheit, auf die verkörperten Qualitäten. Wenn wir eine lebende
Person innerhalb unserer Gebete und Hingabepraxis als Bezugspunkt benutzen, dann mit aller Vor-
sicht und nach ganz ausführlicher Prüfung. Wir müssen uns ganz sicher sein, was wir da machen.
Warum ist es eine Voraussetzung für Mahamudra, Guru-Yoga zu praktizieren?
Die Praxis ist deswegen so wesentlich, weil wir im Entwickeln von Hingabe lernen, uns selber zu ver-
gessen und uns in die Qualitäten des Erwachens hinein loszulassen. Am Ende der Praxis verschmilzt
der vorgestellte Guru – z.B. Buddha Vajradhara – mit uns. In diesem Prozess bekommen wir die
Ermächtigungen von Körper, Rede und Geist, Qualitäten und Aktivitäten des Erwachens. Wir werden
zutiefst in unserem Buddha-Potential bestärkt, in unserer Gewissheit, in unserer Sicherheit, tatsächlich
auch das Erwachen verwirklichen zu können. Diese innere Sicherheit, dieses tiefe Gefühl, nicht vom
Guru, nicht vom Erwachen getrennt zu sein, braucht es auch, um Mahamudra zu praktizieren.
Das haben wir schon bei der Zuflucht, bei Bodhicitta, bei Vajrasattva erwähnt. Der Guru-Yoga ist eine
Fortsetzung dieses Prozesses, unser Vertrauen in die eigene Buddhanatur zu stärken. Und er schafft
eine ganz starke Anbindung an eine authentische Übertragung, die notwendig ist, damit unsere ichbe-
zogene Interpretation der Praxis nicht immer wieder in neue Verstrickung führt, dass wir uns führen
lassen und eine Inspiration erhalten, die es ermöglicht, sicher geführt zu werden. – Die Voraussetzung
ist immer, dass die Lehrer total authentisch sind.
Alles, was ihr zum Guru-Yoga lest, dürft ihr nicht einfach auf alle Lamas oder auch Rinpoches über-
tragen. Man darf Guru-Yoga – lamai naldjor auf Tibetisch –nicht auf jeden praktizieren, der einen
Titel wie Lama oder auch Rinpoche hat. Es ist hier nicht angebracht zu verallgemeinern.
Die Qualitäten eines Vajrameisters – und darum geht es beim Guru-Yoga – sind in den Schriften
detailliert beschrieben. Das sind sehr hohe Ansprüche an Authentizität, an Verwirklichung, an die
Fähigkeiten, den Dharma zu erklären, sich um Menschen zu kümmern, durch Schwierigkeiten hin-
durch zu gehen und unter keinen Umständen Bodhicitta aufzugeben. Es werden viele präzise Bedin-
gungen genannt, wann jemand ein authentischer Vajrameister ist. Und nur dann ist es angemessen, ihn
ins Zentrum einer Praxis der Hingabe zu stellen.
In den Kommentaren zum Guru-Yoga wird immer wieder erwähnt, dass man einen Guru aus der
Vergangenheit nehmen soll, wenn man unter den lebenden Meistern keinem begegnet, der diesen Grad
authentischen Seins verwirklicht hat. Dann nimmt man einen Lama aus der Übertragungslinie, der
einen inspiriert. Wir sprechen dabei oft von Milarepa, weil von ihm viel bekannt ist. – Wunderschöne
Vajragesänge, die Praxis des Guru-Yoga. – Richtet euch auf solch einen Meister aus, oder z.B. auf
Guru Rinpoche bei den Nyingmapas oder Karmapa in der Kagyü-Linie. Es gibt Meister, deren Le-
bensgeschichte abgeschlossene ist und durch die es zu keiner Enttäuschung mehr kommen kann. Ihre
Lebensgeschichten werden uns allmählich vertraut und sie können für uns zum Inbegriff des Er-
wachens werden, indem wir uns immer wieder auf sie ausrichten.
Ich habe damals Guru-Yoga ganz stark mit Milarepa praktiziert und kann euch sagen, dass es funk-
tioniert. Man kann eine Kraft der Hingabe entwickeln für jemanden, den man nie getroffen hat. Natür-
lich auch für Buddha Shakyamuni, der erste Guru-Yoga ist der auf Buddha Shakyamuni. – Vielleicht
der einzige Guru-Yoga, den Shamar Rinpoche geschrieben hat, ist der Guru-Yoga auf Buddha
Shakyamuni. – Das ist die zentrale Ausrichtung. Wir können eigentlich auch deshalb so viel Hingabe
freisetzen, weil sie nicht mit persönlichen Begegnungen vermischt wird. Sie bleibt davon unbelastet
und es ist uns möglich, mit diesen Qualitäten des Erwachens ins Schwingen zu kommen, sie in der
Visualisation und in den Gesängen, im Gebet zu erleben und immer wieder damit zu verschmelzen, sie
wieder nach Hause zu holen. Die Kraft der Hingabe bleibt nicht nach außen gerichtet, sondern stärkt
unsere Buddhaqualitäten.
Teilnehmer: Ich habe das bei der Grünen Tara so empfunden.
9. Karmapa, Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins Lama Tilmann, Möhra 2013
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Ja, genau. Dort, wo ihr eine Affinität habt, ist es dann möglich. Da ist ein feines Gespür notwendig.
Feine Antennen, wo ich dann Affinitäten habe, die es mir erlauben, solch eine Hingabe freizusetzen.
Teilnehmer: Kann man wechseln? Ich springe eigentlich zwischen Buddha Amitabha und Buddha
Shakyamuni hin und her.
Ja, klar kannst du wechseln. Du kannst auch Buddha Amitabha schlichtweg als die Essenz von
Buddha Shakyamuni verstehen. Buddha Amitabha steht für das grenzenlose Licht. Natürlich gibt es
diese Legenden, mit denen der Lebensweg von Buddha Amitabha beschrieben wird, aber eigentlich ist
Buddha Amitabha der Dharmakaya selbst. Die Preisungen – angefangen von Nagarjuna, der eine der
ganz frühen Preisungen von Amitabha geschrieben hat – beschreiben Buddha Amitabha immer wieder
als den Wahrheitskörper, die Dimension des eigentlichen Seins, aus dem alles andere entsteht. Und so
kannst du also die gelebte Inspiration von Buddha Shakyamuni mit der mehr abstrakten Ebene von
Buddha Amitabha verbinden. Um Buddha Amitabha hat sich allerdings auch Persönliches gebildet. –
Wir kennen die Wünsche von Amitabha, die zum reinen Land Dewatschen geführt haben. Wir
verbinden uns da mit diesem Bodhisattva-Ideal, aber du kannst beides zusammenführen. Einmal ist
mehr Buddha Shakyamuni sichtbar und dann mehr Amitabha.
Hingabe
Das ist ein zentraler Begriff und dieses deutsche Wort bedeutet so viel wie ‚sich hingeben’. Dies-
bezüglich sind wir allerdings gebrannte Kinder, wir haben im deutschen Sprachraum viel falsche,
blinde Hingabe erlebt. Wir dürfen uns nicht unkritisch hingeben und unsere Selbstverantwortung,
unsere Eigenverantwortung aufgeben. Mit Hingabe ist überhaupt nicht gemeint, dass der andere quasi
unser Leben übernimmt und wir uns mit allen Fragen an den Meister wenden.
Es geht bei der Praxis von Hingabe um eine Stärkung der inneren Qualitäten. Glücklicherweise konnte
ich erleben, dass meine ganz intensive Hingabe zu Gendün Rinpoche meine eigene innere Verant-
wortlichkeit keineswegs geschwächt hat, sondern dass meine Eigenverantwortung von ihm sogar noch
gestärkt wurde. Das war möglich durch das Band des Vertrauens. Das ist ganz wesentlich. Der große
Schritt in der Hingabe ist, dass man sich dem Meister mit den eigenen Fehlern öffnen kann. Es geht
darum, die eigenen Schwierigkeiten, Fehler und Knackpunkte auszubreiten, sich durchschauen zu
lassen und nicht wegzulaufen.
Diese Bereitschaft, sich zu öffnen, ist der eine Schritt. Und wir brauchen auch die Bereitschaft, Hilfe
in diesem schwierigen Bereich anzunehmen, sich nicht nur inspirieren sondern auch berühren zu
lassen, sich ein bisschen leiten zu lassen, wie es denn weiter gehen könnte, was man ausprobieren,
austesten könnte – als Praxis, als Sichtweise, als innere Haltung. Es ist also eine Form spiritueller
Freundschaft, wo man seine Schattenseiten dem Blick des anderen preisgibt und im Vertrauen die stets
liebevolle Hilfe des anderen annehmen kann. Das ist eigentlich Hingabe.
Der tibetische Begriff für Hingabe ist mö gü. Möpa bedeutet so viel wie Streben, Aspiration und güpa
ist Respekt. – Im tibetischen Wort ist ‚sich hingeben’ also nicht enthalten. Was wir Hingabe nennen,
setzt sich aus zwei Wörtern zusammen, die Streben und Respekt bedeuten.
Die Bedeutung von möpa ist unglaublich weit. Möpa ist nicht nur das, was wir mit Streben meinen,
sondern damit ist die Aspiration eines Bodhisattva gemeint, die innere Bereitschaft, voll zu erwachen
und tatsächlich für alle Lebewesen da zu sein. Dieser Wunsch, ganz und gar zu erwachen und für alle
Lebewesen da zu sein, findet seinen Spiegel und seine Inspiration im Guru, im Lama, im Vajrameister.
Diese Bereitschaft, den Weg zu gehen, sich zu öffnen, ganz zu dem zu werden, was das eigene innere
Potential ist, verbindet sich mit güpa, mit Respekt, mit Achtung. Mit Respekt vor den Qualitäten des
Meisters. Es ist ein Gespür dafür, dass da wahre Qualitäten sind, auf die ich mich verlassen kann, vor
denen ich Achtung und Respekt habe, und vor denen ich mich innerlich oder äußerlich verneige. Das
ist ein tiefer Respekt, der natürlich nicht nur dem Meister gilt, sondern im Grunde genommen der
Buddhanatur aller Lebewesen.
Aber in diesem spirituellen Freund, dieser spirituellen Freundin, treten diese Qualitäten so deutlich
zum Vorschein, dass sie in mir diese Achtung hervorbringen. Ich bin beeindruckt, da wird in mir et-
9. Karmapa, Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins Lama Tilmann, Möhra 2013
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was angerührt, wo ich ganz achtungsvoll, respektvoll bin. Das ist damit gemeint, dass es sich um einen
Guru handelt – da hat etwas Gewicht. Jedes einzelne Wort, das von so einem Meister oder Buddha
kommt, hat Gewicht, und ich nehme es mir zu Herzen. Das ist dieser Respekt. Ich nehme die Instruk-
tionen zu Herzen und arbeite damit. Ich lasse sie nicht achtlos beiseite. Ich gehe nicht zu meinem
Guru, zu meinem Meister, ohne mir das, was mir gesagt wird, zu Herzen zu nehmen. Da herrscht
dieser grundlegende Respekt. Und die Vereinbarung mit einem lebenden Guru ist, sich zu öffnen, sich
seine Empfehlungen zu Herzen zu nehmen und auszuprobieren, und dann mit den Erfahrungen, die da-
durch entstehen, wieder zu kommen und den Prozess fortzusetzen. Es ist eine Arbeitsbeziehung, ein
Arbeitsverhältnis.
Bei möpa und güpa geht es also um diesen Elan des sich Öffnens und Strebens und das sich Ausrich-
ten auf das Erwachen zum Wohl aller Wesen, sowie um Achtung und Respekt, wirklich das Pendant
für dieses Streben gefunden zu haben, und da auch substantielle Hilfe zu bekommen, die wir jedes Mal
in unserem Denken, Kontemplieren, Meditieren umsetzen. Wir versuchen es, wir bemühen uns darin.
Braucht denn jeder einen Guru? Wie ist das? Braucht jeder einen Lama, der die Rolle eines Vajra-
meisters einnimmt?
Dazu eine klare Antwort: Was ich bisher erklärt habe, gilt für den Bereich tantrischer Praxis. So einen
Guru als Vajrameister braucht man nur, wenn man Vajrayana praktiziert. Es ist schön, wenn diese
Form der Hingabe entsteht, auch wenn man kein Vajrayana praktiziert, und es kann auch dann zu so
einem Arbeitsverhältnis kommen, aber es hat nicht dieselbe Verbindlichkeit wie die Beziehung von
Lehrer und Schüler im Vajrayana. Darum ist die Frage nach einem Vajrameisters für die allermeisten
Praktizierenden schon auf dieser Ebene irrelevant. Denn die meisten führen solch intensive tantrische
Praktiken nicht aus.
Dieses intensive Band zwischen einem Vajrameister und Schülern ist als Leitschiene gedacht, um
nicht vom Weg abzukommen – wie auf einer Autobahn. Dieses Band soll uns bei einer hoch
intensiven Praxis stabilisieren und immer wieder ausrichten und führen. Wenn wir nicht in einer solch
intensiven Praxis sind, brauchen wir auch kein so intensives Band.
Das heißt aber nicht, dass wir dann nicht Guru-Yoga praktizieren können. Wir können großen Nutzen
aus dem Guru-Yoga haben und uns auf Buddha Shakyamuni und Buddha Amitabha ausrichten oder
auf Milarepa, die Karmapas und andere Meister. Wir können diese innere Ausrichtung praktizieren,
auch bei einer Praxis, die nicht diese hohe Intensität hat, weil wir den Prozess verstehen und merken,
dass uns die Praxis gut tut. Es tut gut, beten zu lernen. Es geht in der Praxis des Guru-Yoga wesentlich
darum, beten zu lernen und sich für den Segen zu öffnen und ihn zu empfangen. – Wir finden heraus,
was Segen eigentlich ist. – Damit bringen wir den Geist in diese Öffnung und verweilen in dieser
natürlichen Öffnung, die durch Hingabe entstanden ist und nicht durch Selbstbezogenheit.
Wir üben den Guru-Yoga mit verstorbenen Meistern und nehmen sie ganz bewusst als Spiegel für die
eigene Buddhanatur. Dabei setzen wir in uns dieselben Qualitäten wie diese Erwachten frei. Guru-
Yoga macht nur Sinn mit völlig Erwachten. Wir praktizieren keinen Guru-Yoga mit Visualisationen
auf nicht völlig Erwachte. Sie müssen fehlerlos sein. Sie müssen in ihrem Sein, in ihrer Präsenz so
sein, dass sie nicht zur Nachahmung von Fehlern führen oder zu Ungleichgewicht.
Den Guru-Yoga hier im Rahmen der vorbereitenden Übungen zu praktizieren, ist eine tantrische
Praxis. Sie ist allerdings noch auf einer sehr einfachen Ebene. Es ist völlig angemessen, irgendeinen
der uns inspirierenden Meister der Linie dafür zu nehmen oder noch besser auf die Essenz aller
Erwachten zu meditieren als Buddha Vajradhara.
Teilnehmer: Ich praktiziere Tschöd, und neulich hab ich gehört, dass die Wiedergeburt von Matschig
Labdrön nach China gegangen ist, was mich etwas zweifeln lässt. Wenn die Wiedergeburt nun
gewissermaßen gefallen ist, frage ich mich, ob das alles stimmt?
Da sprichst du einen sehr wesentlichen Punkt an. Du hast offenbar starke Hingabe für Matschigma, die
Begründerin des Tschöd. Auch für mich ist sie als zentrale Inspiration ganz wichtig, das ist unum-
stößlich. Wir haben viele Gesänge von ihr, wir haben ihre kompletten Unterweisungen. Davon geht
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totale Inspiration aus. Und da gibt es das tibetische System mit den Inkarnationen. Die Inkarnationen
sind Menschen, sie gehen z.B. nach China, haben Familie und wollen nichts mehr vom Dharma
wissen oder was auch immer dann passiert. Wenn wir diesen Inkarnationsgeschichten von Tulkus
Glauben schenken und sich das mit unserer Hingabe vermischt, die wir eigentlich durch Matschigma
inspiriert haben, dann sind wir in der Bredouille.
Das ist der Fehler, auf den ich hinweisen wollte. Wenn wir uns auf lebende Praktizierende als Fokus
unserer Hingabe ausrichten, dann müssen diese Praktizierenden absolut sattelfest sein und unsere
Sichtweise muss so völlig klar und stabil sein, dass das hält. Aufgrund deiner Frage schließe ich, dass
das in deinem Fall nicht so ist. Ich würde die Hingabe für die jetzt lebende Meisterin oder Prakti-
zierende abkoppeln von der Hingabe zur Begründerin des Tschöd, wo nichts dran zu rütteln ist. Da
würde ich einen klaren Unterschied machen und mich auf die Essenz des Erwachens ausrichten.
Im Tschöd, in der Praxis mit der weißen Matschigma, ist auch ganz klar, dass wir uns nicht auf die
Person Matschigma ausrichten, sondern auf das Prinzip Matschigma. Sie wird nicht in ihrem normalen
menschlichen Körper visualisiert, sie wird als Prinzip praktiziert. Das sollten wir uns eindeutig zu
Herzen nehmen und uns nicht in diesen tibetischen Strudel von Tulku-Geschichten usw. hineinziehen
lassen. Das stört die Praxis.
Eine der großen Katastrophen war das Thema um die beiden Karmapas, wo die Hingabe auf lebende
Meister gefallen war. Der 16. Karmapa war gestorben, dann kam die Suche nach dem 17. und
plötzlich gab es zwei Karmapas. Was das für Schwierigkeiten ausgelöst hat, Spaltungen, üble Ge-
schichten! Das ist die Folge von falsch verstandenem Guru-Yoga. Davor möchte ich euch bewahren,
davor möchten euch alle Lehrer bewahren, die Guru-Yoga unterrichten. Tut euch das nicht an. Das
brauchen wir nicht. Richtet euch auf die sicheren Quellen von Inspiration aus.
Teilnehmer: Dass es zwei Karmapas gibt, sehe ich als Gelegenheit, zu überprüfen, ob meine Ein-
stellung korrekt ist.
Insofern ist es gut. Wenn lebende Meister Fehler machen oder sich unkonventionell verhalten, können
wir sehen, ob sich unsere Hingabe an die authentischen Quellen der Inspiration richtet oder ob wir ins
Schleudern kommen. Dieser Schleudergang ist aber nicht einfach, den können wir uns ersparen.
Solche Situationen können entstehen, wenn wir uns auf nicht sorgfältig geprüfte Meister ausrichten,
die noch nicht das volle Erwachen verwirklicht haben. Das ist eben falsch verstandener Vajrayana,
und dafür gibt es zahlreiche Beispiele.
Teilnehmer: Mich macht diese Vorstellung, mit Visualisation zu arbeiten, eng. Bei mir kommen viele
Inspirationen in diese Richtung einfach aus dem Sein. Wenn ich in der Natur bin, oder wenn ich
Menschen erlebe, die sich begegnen. Da finde ich ja auch Qualitäten, die diese Aspekte des
Erwachtseins mit sich bringen und in mir Resonanz hervorrufen können. Ich merke, dass ich diese
Vorstellungen mehr und mehr erweitern kann, sodass ich das übertragen kann. Für mich geht es
darum, dafür einfach offen zu werden für alles, wo ich mich inspirieren lassen kann, sodass ich nicht
nur in so eine Praxis gehen muss, um dieses Erleben zu finden.
Das ist auch der Prozess, der dann im Guru-Yoga stattfindet. Durch intensiven Guru-Yoga beginnt
man, den Guru in allem Sein zu entdecken. Wir beginnen den Guru überall zu entdecken – in der
Natur oder in einem Gespräch. Das ist der Prozess, der hier stattfindet. Was du beschreibst, erlebe ich
auch bei ganz vielen Menschen. Manche empfinden z.B. bei der Visualisation einer Lotusblüte stär-
kere Hingabe als jede menschenähnliche Visualisation auslösen könnte. Andere Beispiele dafür sind
die inspirierende Weite des Himmels oder die Klarheit des Wassers. So etwas kann stärker inspi-
rierend sein als eine Praxis des Guru-Yoga.
Um das Prinzip des Guru-Yoga vielleicht noch ein bisschen zu weiten: Wenn Christen auf Christus
oder Maria beten oder Menschen in irgendeiner anderen Religion die Religionsstifter oder wichtige
Figuren in das Zentrum ihrer Hingabe stellen, dann ist das genau das Prinzip des Guru-Yoga. Im Hin-
duismus z.B. ist Bhakti-Yoga sehr verbreitet. Das Wesentliche bei der buddhistischen Praxis ist aber,
das Projizierte, die Visualisation immer wieder aufzulösen und heim zu holen. Das ist ein Muss. Das
Objekt der Hingabe muss wieder mit uns verschmelzen, damit es nicht bei einer Trennung von gerin-
9. Karmapa, Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins Lama Tilmann, Möhra 2013
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ger und höher bleibt, von schlechter und besser oder hier der Sünder und dort der Heilsbringer. Diese
Dualität muss in der Praxis, so wie sie hier beschrieben wird, aufgelöst werden.
Das ist ein wesentlicher Unterschied zu anderen Formen der Hingabe, die auch in der Welt praktiziert
werden. Und dann geht es noch um die Brücke von den Objekten der Hingabe zu einem selbst. Zum
Beispiel öffnet uns irgendetwas in der Natur. Aus dem Guru-Yoga lernen wir, diese Öffnung dann
wirklich in uns selbst zu entdecken und nicht mehr zu meinen, dafür den Sonnenuntergang oder das
Vogelgezwitscher zu brauchen, oder dass ich das brauche, um Inspiration zu erleben. Wir bemerken
allmählich, dass die Qualitäten eigentlich in meinem eigenen Sein sind. Dann wird – so wie du sagst –
das Sein selbst die Quelle der Hingabe, die Quelle der Inspiration.
Das war ein Aspekt, den ich noch nicht erläutert hatte.
Teilnehmer: Wie ist denn das Verhältnis zum Guru außerhalb des Vajrayana? Die Shravaka-Schüler
von Buddha hatten ja auch unendlich Respekt vor Buddha, auch noch im Sinne von möpa, dieser
Einstellung – Offenheit oder Aspiration.
Ich gehe gerne nochmals darauf ein, wie andere Formen der Beziehung mit spirituellen Lehrern aus-
sehen können. Um Buddha Shakyamuni herum haben so viele Schüler das Erwachen verwirklicht, da
muss eine unglaubliche Inspiration gewesen sein. Das ist ein Phänomen des Guru-Yoga, die Schüler
des Buddhas waren so inspiriert, dass sie keinen Zweifel an ihrer Fähigkeit zu erwachen hatten. Es war
ganz Vielen möglich, sich vertrauensvoll loszulassen. Ich bin also völlig einverstanden mit dir, dass
möpa und güpa, diese beiden Elemente des Strebens und des Respekts, voll vorhanden waren.
In den verschiedenen buddhistischen Traditionen wird die Beziehung zum Lehrer etwas unterschied-
lich dargestellt. Ich habe hier aufgrund dieses Textes die Beziehung mit einem Vajrameister darge-
stellt. Es gibt aber in den buddhistischen Traditionen noch zwei andere Formen, die man so beschrei-
ben kann.
Im südlichen Buddhismus – Sri Lanka, Burma, Thailand usw. – hat ein spiritueller Lehrer vorwiegend
Vorbildfunktion. Er ist Vorbild, gibt die Lehre weiter und inspiriert durch seine Präsenz, würde sich
aber nie in private Belange und dergleichen einmischen. Da bleibt eine gewisse Distanz, und der
Dharma wird immer wieder auf dieselbe Art und Weise gegeben – natürlich durch die Person hin-
durch. Diese Lehrer sind total inspirierend. Ich kenne einige Praktizierende aus dem südlichen
Buddhismus – Theravada –, und sie haben richtige Hingabe für ihre Lehrer. Aber in diesem Band
bleibt die Selbstverantwortlichkeit stark gewahrt. Man geht zum Lehrer, bekommt Unterweisungen,
aber im Normalfall wird keine so intensive Arbeitsbeziehung eingegangen.
Weiter gibt es Lehrer, die den Übergang zur nächsten Form bilden, der Kategorie des spirituellen
Freundes, die dann schon zum Mahayana gehört. Beispiele dafür finden wir im japanischen und chine-
sischen Zen – oder Chan-Buddhismus. Lehrer und Schüler gehen einen Bodhisattva-Weg und lassen
sich auf intensivere und auch unkonventionelle Begegnungen ein. Ihr kennt die vielen Geschichten
über die Zen Meister. Sie sind nicht nur Vorbild und Lehrer, die den Dharma geben, sondern ihre
Bemerkungen haben etwas Penetrierendes, etwas Herausforderndes. Es findet eine stärkere Arbeits-
beziehung statt. Diese Arbeitsbeziehung findet in einem Feld statt, in dem es allen darum geht, voll-
ständig zu erwachen, um auch – falls das dann so sein soll – wieder zu kommen und diese Arbeit in
späteren Leben fortzusetzen. Da kommt dieses Bild der Freundschaft hinein, das aber schon von
Buddha Shakyamuni stammt und auch im südlichen Buddhismus eine Rolle spielt. Der Ausdruck
kalyanamitra für spirituelle Freundschaft stammt von Buddha Shakyamuni selber.
In zwei Sutren wird ausführlich darüber gesprochen. In einem ist die Situation beschrieben, wo
Ananda, der 25 Jahre lang den Buddha auf seinen Wanderschaften begleitet hat und sein persönlicher
Assistent war, etwas abseits neben dem Buddha kontempliert und dann den Buddha anspricht: „Meis-
ter! Ist es nicht so, dass spirituelle Freundschaft schon der halbe Dharma ist?“ Und da wendet Buddha
sich zu ihm und sagt: „Nein Ananda, spirituelle Freundschaft ist der ganze Dharma. Aller Dharma ist
diese spirituelle Freundschaft.“ Es gibt gar keinen Dharma ohne dieses freundschaftliche, mütterliche,
väterliche Da-Sein für den Anderen, und das eigene Verstehen versuchen weiterzugeben, den Anderen
zu inspirieren, zu tragen, zu halten, was auch immer notwendig ist.
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Das ist der Dharma, das ist der ganze Dharma. Dharma ist Freundschaft. Nur wird diese Freundschaft
etwas unterschiedlich gelebt. Es gibt Lehrer, die mehr Vorbild sind und sich dann zurückziehen. Und
es gibt Lehrer, die sehr viel stärker schon Freunde sind und sich auch einmischen, aber ohne wirklich
Einfluss auf das Leben des Anderen zu nehmen. Im Normalfall sagt ein Zen-Meister seinem Schüler
also nicht, was er in seinem Leben zu tun hat. Aber Vorsicht! Ein Vajrameister macht das.
In einer echten Beziehung mit einem Vajrameister mischt er sich auch in das Leben des Schülers ein.
Das ist noch mal eine Stufe intensiver. Mein Meister hat sich ziemlich in mein Leben eingemischt,
aber er hatte auch die Erlaubnis dazu. Ich hätte auch die Freiheit gehabt, es doch noch anders zu
machen, aber Vajrameister und Vajraschüler in dem Sinne haben eine ganz enge Beziehung, die dann
durch große Schwierigkeiten durch tragen kann. Es ist die Beziehung, die trägt.
Diese Beziehung ist etwas weiter entfernt beim spirituellen Freund und noch etwas weiter entfernt bei
einem Lehrer mit Vorbildfunktion.
Ich denke, die Beziehungen, die wir erleben, sind eher auf diesen beiden ersten Ebenen anzusiedeln.
Und obwohl viele von uns, die hier im Zentrum unterrichten, den Lama-Titel tragen, sind wir nicht auf
der Ebene des Gurus aus dem Vajrayana. Die spielt da keine Rolle, sondern wir haben Vorbildfunk-
tion. Wir haben hie und da auch die Funktion eines spirituellen Freundes, einer spirituellen Freundin,
aber darüber geht es normalerweise nicht hinaus. Und das ist gut so. Wir brauchen daran auch gar
nichts zu ändern, denn das würde ganz andere Qualitäten bei den Lehrern voraussetzen und auch eine
andere Form und Intensität der Praxis.
Teilnehmerin: Du sagtest vorhin, da ist so eine gewisse Gefahr, den Guru zu persönlich zu nehmen.
Für mich ist das aber gerade die Chance, mehr mit mir zu arbeiten. Ich merke, durch den
persönlichen Lama werde ich mehr gefordert, wenn ich vielleicht eifersüchtig bin oder mich
zurückgewiesen fühle und in mir ganz viele Emotionen hochkommen, mit denen ich dann arbeiten
kann. Oder auch bei Gendün Rinpoche: Als er seinen Körper verlassen hat, konnte ich lernen, ihn
mehr und mehr als inneren Lama zu sehen, den Körper mehr und mehr loszulassen. Also für mich ist
das immer wieder die Chance, den Lama oder Guru auch als Menschen zu sehen, weil ich dadurch
ganz viel weiterkomme in meiner Entwicklung von Hingabe und der persönlichen Nähe zum Lama.
Ja, das kann ich bestätigen, das ist eine große Chance. Und wenn das mit genug Weisheit praktiziert
wird, dann bewirkt das auch nicht dieses Schleudern sondern eine innere Reifung. Dann entdecken
wir, wie sehr ein erwachter Meister auch Mensch ist, total Mensch. Ich habe noch nie einen „so
Menschen“ getroffen wie Gendün Rinpoche damals. Der war total Mensch, durchdrungen.
Dank der persönlichen Begegnung, auch des Zusammenlebens oder des Zusammenarbeitens ist es
dann möglich, auch diese Prozesse zu durchlaufen.
Das könnte ich nie mit Buddha Shakyamuni erleben.
Nein, das kannst du mit Buddha Shakyamuni nicht erleben. Das ist ein Bereich, wo das nicht möglich
ist. Aber dieses Angestoßen-Werden in unseren Emotionen und Projektionen, erleben die meisten ja
auch durch ihre Paarbeziehungen und sonstige Beziehungen. Da haben sie auch genug Stoff. Aber es
ist richtig, dass diese Funktion dann auch der Vajrameister übernimmt, der dann zum Teil sogar be-
wusst provoziert oder zumindest die Situationen mal so weiterlaufen lässt, dass wir ordentlich in Emo-
tionen kommen. Das ist Teil der Arbeit mit einem Vajrameister.
Meditation
Wir machen eine ganz einfache Verdauungsmeditation. Wir verdauen all das, was gesagt wurde, in-
dem wir es einfach lassen, wie es ist. – Da tauchen noch ein paar Gedanken auf, das gehört zum
Verdauen dazu, aber wir gönnen uns ganz einfach Entspannung. –
* * * Karmapa schreibt:
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[6.2] Für diese Praxis visualisieren wir den Wurzel-Guru über unserem Scheitel, entweder in
seiner körperlichen Gestalt oder in Form einer Meditationsgottheit – was immer wir vorziehen.
Der Wurzel-Guru ist unter all den Meistern im Vajrayana derjenige, auf den wir uns hauptsächlich
ausrichten und der für uns die Wurzel oder Quelle des Segens ist. Eigentlich wird der Lama, der uns
die Natur des Geistes zeigt, dann zu unserem Wurzel-Guru.
Wir stellen uns zudem vor, dass die Meister der Linie bis hin zu Vajradhara – einer über dem
anderen über seinem Kopf aufgereiht sind, oder aber, dass sie sich in einer großen Schar um den
Wurzel-Guru herum befinden.
Als Praktizierende der Kagyü Linie könnten wir z.B. den jetzt lebenden Karmapa in Form von
Vajradhara im Zentrum sehen, der von der Qualität her auch unser Wurzel-Lama ist. Über Vajradhara
reihen sich die 43 Meister auf bis hin zu Tilopa, der direkt von Vajradhara Instruktionen erhalten hat,
die durch die Kagyü-Linie weitergegeben werden. Das wäre die klassische Visualisation, eine Säule
von 43 Meistern – die wir natürlich alle bestens kennen – bis hinauf zu Vajradhara. Um sie herum sind
all die anderen Meister, die zeitgleich auch für die Übertragung der Linie ausschlaggebend waren. Das
wäre der Kagyü-Linienbaum.
Glücklicherweise sagen uns die Meister immer wieder, dass auch ein Meister reicht. Einer wie Milare-
pa als Quelle des Segens reicht. Darauf können wir uns ausrichten.
Und dann sind auch noch die anderen Traditionen, die anderen Linien versammelt. Man kann sich das
dann sehr ausführlich vorstellen.
Wir bringen grenzenlose Hingabe und außergewöhnliches Sehnen hervor und beten intensiv so
lange, bis wir sicher sind dass sich unsere Wahrnehmung gewandelt hat.
Die Wahrnehmung wandelt sich aufgrund der Ausrichtung auf die Quelle der Inspiration. Dass die
Wahrnehmung sich wandelt, ist ein ganz klar nachzuvollziehendes inneres Erleben. Wir sind zunächst
in unserer vertrauten Wahrnehmung der Welt, öffnen unser Herz mit den Gebeten und richten uns auf
die Qualitäten des Erwachens aus. Die Qualitäten des Erwachens beginnen dann in uns zu wirken.
Bildlich gesprochen kann uns dann ein kleiner ärmlicher Meditationsraum plötzlich vorkommen wie
ein Palast der Befreiung. Oder wir entdecken unser so armseliges, beschränktes Leben als die perfekte
Möglichkeit zu erwachen. Unser eigener Körper mit all seinen Wehwehchen und all dem, was wir da
zu erleben haben, wird in unserer inneren Wahrnehmung der Palast des Erwachens, in dem sich
Erwachen vollzieht. Die Gegenstände um uns herum, alles was unsere Augen sehen, unsere Ohren
hören, wird so stark von Gewahrsein durchdrungen, sodass wir es wie neu und frisch erleben.
Wir treten in ein ganz lebendiges Sein, indem wir uns – mit einem Wort gesagt – wie in einem reinen
Land vorkommen. Das ist mit Veränderung der Wahrnehmung gemeint, und es bedeutet nicht, dass
wir uns rosa Brillen aufsetzen.
Es werden die Qualitäten in uns so stark wach, dass bei gleichzeitigem Bewusstsein, wie limitiert
unsere Situation ist, sie gleichzeitig unermessliche Qualitäten in sich birgt. Wir brauchen nichts anders
zu malen. Es ist nicht so, dass wir plötzlich nicht mehr sehen, dass z.B. Schimmel an der Wand ist,
aber der Schimmel an der Wand ist eingebettet in ein Gewahrsein davon, dass man ihn zwar beseitigen
muss, dass aber trotzdem alles perfekt ist, ohne das Unvollkommene wegmachen zu müssen. Im inner-
lichen Erleben ist man so sehr im Einklang, so präsent, so wach, offen, annehmend und bereit, dass es
nicht mehr zu diesen Fixierungen kommt, die normalerweise unsere problembehaftete Welt aus-
machen.
Das ist die Veränderung der Wahrnehmung. Wenn uns in diesem Zustand der veränderten Wahr-
nehmung jemand ins Bewusstsein kommt, mit dem wir Probleme haben, dann haben wir eine ganz
andere Wahrnehmung von dieser Person. Wir wissen um die Problematik und haben gleichzeitig einen
Blick für das ganze Potential, das im anderen ist und auch für die Möglichkeiten der jeweiligen
Situation.
9. Karmapa, Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins Lama Tilmann, Möhra 2013
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Das ist dezidiert so in der Praxis der Hingabe. Ich habe es so erlebt und erlebe es so, dass sich der
Übergang von der einen Form der Wahrnehmung zur anderen innerhalb von wenigen Sekunden voll-
ziehen kann. Das ist ein stark spürbar anderes Erleben. Da die Instruktion von Gendün Rinpoche
damals war, solange zu beten, bis diese Änderung der Wahrnehmung stattfindet, habe ich eben eine,
eineinhalb oder zwei Stunden zum Teil einfach gebetet, gesungen usw. Dann öffnet sich was – aber
nur, wenn durch diese Kraft der Hingabe die andere Sichtweise tatsächlich stimuliert wurde –
ansonsten öffnet sich nichts.
Einfach nur beten und es bleibt alles beim Alten, es ändert sich nichts, das ist nicht der Guru-Yoga,
von dem hier gesprochen wird. Guru-Yoga – also diese Praxis des Betens und der Hingabe – bewirkt
tatsächlich, dass wir in die Schau des Erwachens eintreten, dass sich eine neue Sichtweise einstellt.
Und das ist ein verlässliches Zeichen, das jedes Mal passiert, wenn wir uns mit dem Herzen einlassen.
Das ist nicht ein nyam, eine vorübergehende Meditationserfahrung, die dann später nicht mehr auf-
taucht, sondern das ist eine Gesetzmäßigkeit des Herzens. Wenn wir uns so einlassen und uns so mit
den Qualitäten verbinden, dann finden wir aus einengenden Sichtweisen heraus. Das ist einfach so.
Darum geht es bei dieser Form des Betens und sich Ausrichtens.
Wenn das stattgefunden hat, dann brauchen wir nicht mehr weiter zu beten – dann ist es das. Das war
der Zweck, das war der Sinn. Dann geht es darum, in dieser Sichtweise zu meditieren.
Hat diese Veränderung der Sichtweise stattgefunden, dann lösen wir all das, was uns geholfen hat,
dahinein zu finden – die ganze Visualisation – wieder in uns auf. Alles wird nach Hause geholt, alles
verschmilzt mit uns.
Dann verschmelzen die Linienlamas, Buddhas, Bodhisattvas, Dakas, Dakinis, Dharmaschützer
und Dharmahüter mitsamt ihrem Gefolge in den Wurzel-Guru, dessen Körper wir als ihre
vollständige Einheit meditieren.
Und der würde dann in uns verschmelzen. Da kann man noch zwischendurch in diesem Zustand eine
Phase für Opferungen und Gebete einfügen:
[6.5] Wir bringen ihm äußere, innere und geheime Opfergaben sowie die Sieben Zweige dar.
Zudem richten wir inständige Zufluchts- und Bodhicitta-Gebete an ihn, wie zum Beispiel: „Alle
Wesen, meine Mütter, dem Raume gleich, beten zum Lama, dem kostbaren Buddha. Alle
Wesen, meine Mütter, dem Raume gleich, beten zum Lama, dem alldurchdringenden
Wahrheitskörper. Alle Wesen, meine Mütter, dem Raume gleich, beten zum Lama, dem
Freudenkörper großer Erfüllung. Alle Wesen, meine Mütter, dem Raume gleich, beten zum
Lama, dem Ausstrahlungskörper großen Mitgefühls.“
Dann stellen wir uns vor, wie der Guru in uns verschmilzt und sein Körper, Rede und Geist
untrennbar eins mit unserem Geist werden. Schließlich verweilen wir in der Dimension frei von
geistigem Erzeugen [„Einfachheit“].
Tibetisch heißt es trödräl – frei von Projektionen, frei von geistigem Erzeugen. Trungpa Rinpoche hat
das als Einfachheit übersetzt, ein treffender Ausdruck – einfaches So-sein. Das ist die Erfahrung, auf
die die ganze Praxis des Guru-Yoga hinzielt, in diese Einfachheit der völligen Öffnung hinein zu
finden.
Da hiervon abhängt, ob wir Mahamudra erkennen, praktiziere aufrichtig. Das ist der vierte
Punkt: die Meditation des Guru-Yoga, der den Segen eintreten lässt.
Zum Gebet „Alle Wesen meine Mütter etc...“ werde ich später noch zurückkommen und es euch nahe
bringen.
Erklärungen zur folgenden Meditation
Wir werden gemeinsam eine Kurzform des Guru-Yoga praktizieren und uns dabei eine Repräsentation
des Erwachens unserer Wahl vorstellen. Ich schlage vor, wir nehmen den blauen Buddha Vajradhara
oder Buddha Shakyamuni als Quelle der Inspiration. Ihr könnt aber auch, wenn ihr eine Beziehung zu
9. Karmapa, Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins Lama Tilmann, Möhra 2013
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einem Meister wie Milarepa, Gampopa, Karmapa oder dergleichen aufgebaut habt, diese Inspiration
nutzen.
Wir singen dann ein ganz einfaches Gebet: Lama kyenno, lama kyenno, drintschen tsawai lama
kyenno. Drintschen heißt gütig, tsawa bedeutet Wurzel und kyenno bedeutet: Halte mich in deinem
Gewahrsein. Also: Gütiger Wurzel-Lama, halte mich in deinem Gewahrsein.
Lama steht hier für alle Qualitäten des Erwachens. Es ist einfach ein schöner Gesang und kein Gebet
im klassischen Sinn. Die Worte sagen eigentlich fast nichts. Wir möchten nur in dieses Gewahrsein
des Erwachens eintreten und stellen uns vor, dass der Buddha uns in seinem Gewahrsein hält, und dass
diese Verschmelzung von seinem und meinem Geist stattfinden kann. Darum geht es.
Nach einer Weile werde ich mit der Klangschale ein Zeichen geben und in dem Moment, wo wir
aufhören zu singen, lassen wir die Visualisation, die wir während der Zeit wach gehalten haben, in uns
verschmelzen. Da könnte man noch den Prozess der Ermächtigung der drei Tore visualisieren –
Körper, Rede und Geist – Stirn, Kehle und Herz.
Als erste Übung stellt euch einfach vor, dass die Visualisation – es reicht auch ein Lotus oder etwas,
das abstrakter als eine menschenähnliche Form ist – so stark wie eine Sonne strahlt. Sie verglüht mit
regenbogenfarbigem Licht und ihre Kraft sammelt sich noch einmal, tritt in unseren Scheitel ein oder
durch Stirn, Kehle und Herz, und füllt unseren ganzen Körper. Danach sitzen wir in Stille.
Teilnehmer: Die Geschichte mit dem Lotus passiert nach der Auflösung?
Das war nur ein Beispiel. Wenn jemand keinen Buddha visualisieren möchte, dann kann er stattdessen
ein Symbol nehmen. Wir müssen darauf achten, dass wir uns nie manipulieren. Gerade jetzt, wenn ich
in der Gruppe den Gesang und auch das Gebet anleite, soll sich niemand zu irgendetwas manipuliert
fühlen. Ihr könnt einfach ruhig dasitzen. – Ich habe das damals drei Jahre hindurch praktiziert und
habe bei all den Gesängen und Guru-Yogas und Tschenresi Praktiken, die meine Freunde ausgeführt
haben, einfach meine stille Praxis gemacht und gar nicht mitgesungen. Bitte nehmt euch auch diese
Freiheit! Es gibt keinen Gruppenzwang, egal welche Methoden ich euch anbiete.
Meditation
Wir sitzen in unserer gewöhnlichen Gestalt in einer Umgebung, die uns gut tut. Wir können uns aber
auch als Jidam visualisieren, falls wir damit vertraut sind. –
Über unserem Scheitel befindet sich der Wurzellama in Form eines Buddhas, der die Qualitäten des
Erwachens in vollkommener Weise verkörpert. – Wir können direkt in seine Augen schauen, in sein
Gesicht und werden von der Güte des Herzens berührt, die der Blick ausstrahlt. Wir nehmen wahr, in
welch tiefer Offenheit sich der Guru befindet – auch weibliche Gurus – und lassen uns auf die Güte
ein, voller Dankbarkeit in unserem Wesen erkannt zu werden, gesehen zu werden. –
Wir stellen uns vor, wie der Buddha sitzt … Arme, Beine, die leuchtende Ausstrahlung … vielleicht in
der Natur, vielleicht auf einem Thron, vielleicht unter dem Bodhibaum, dem Baum des Erwachens. –
Und wir wenden uns an ihn mit dem Wunsch, dass er uns das Gewahrsein des Erwachens, den er-wachten Geist zeigen möge, uns darin stimulieren möge und beten voller Hingabe und singen.
Lama kyenno, lama kyenno, drintschen tsawai lama kyenno
[Stilles Sitzen] –
Jetzt können wir uns vorstellen, dass es nicht mehr wir sind, die meditieren, sondern der Lama, der
Buddha in uns meditiert.
* * *
Die wesentliche Instruktion für die Meditation ist: „Lass den Buddha meditieren.“ Das ist es, was wir
aus diesem Guru-Yoga mit in die Meditation hinein nehmen. Nicht mehr das Ich meditiert – ich mit
meiner beschränkten Sichtweise –, sondern wir lassen den Lama, den Buddha in uns meditieren. Und
damit das möglich wird, müssen wir ihn zuerst in uns wecken. In unserem verschleierten Bewusstsein
ist unser Buddha-Potential nicht ganz wach, und der Guru-Yoga ist ein Wecken des Herzens und der
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Weisheitskräfte, die wir dann in der Vorstellung in Form von Licht in uns einströmen lassen und dann
darin verweilen. Ich bleibe weiter in diesem wachen Gewahrsein, in dem ich gar nichts zu tun habe. Es
meditiert! Der Buddha meditiert. Der Lama meditiert.
Es kann sein, dass diejenigen, die zum ersten Mal diese Instruktion „Lasst den Buddha meditieren“ zu
hören bekommen, in dem Moment eine gewisse Erleichterung spüren. Diese Erleichterung, die wir da
spüren, ist der wichtige Unterschied. Das Sein, das Leben geht ja weiter, aber wir sind nicht mehr
damit beschäftigt, dieses So-Sein zu dirigieren, oder gar zu manipulieren, uns zu manipulieren. Innere
Kräfte, die wir jetzt einfach einmal Lama nennen, übernehmen die Führung – Weisheitskräfte,
Liebeskräfte, Gewahrseinskräfte. Und dem geht eine Praxis voraus, die ich das Herzensgebet nennen
würde.
Diese Phase im Guru-Yoga, wo wir Lama kyenno singen, ist ja total monoton. Da ist zwar ein wenig
Melodie, aber darauf kommt es nicht an. Es könnte genauso gut auch Mantra sein: Lama kyenno oder
Karmapa kyenno. Wir schaffen eine Atmosphäre der Hingabe, in der wir, während wir immer dasselbe
singen, vom Herzen her beten können. Vielleicht haben einige von euch dabei angefangen, mit dem
Buddha zu sprechen: „Ach, ich bin ja so schräg drauf! Ich kann ja überhaupt keine Hingabe
entwickeln, hilf doch mal ein bisschen mit...“ oder ähnliches.
Manchmal drücken wir einfach unsere Verzweiflung aus, unsere Wünsche – in der christlichen
Tradition sind das die Dialoge mit Gott, das Hadern, das Wünschen und das Verzweifelt-Sein. Aber
auch die Ahnung von dem, dass es auch anders sein kann. All das wird ausgedrückt und natürlich hat
unsere Projektion des Buddhas die Aspekte von idealem Vater, idealer Mutter, totaler Weisheit –
einfach perfekt. Wir können mit dem völligen Heilwerden in Dialog treten.
Und manchmal haben wir das Gefühl, es kommen Antworten, es kommt Inspiration, und wir sind in
einem Herzensdialog. Wir lernen beim Beten, uns zu öffnen, unsere Schatten zu zeigen, nichts mehr
zu verheimlichen – zumindest nicht mehr vor uns selbst. In dem Moment, wo wir es dem Buddha
sagen, unser Herzensgebet ausdrücken, realisieren wir es auch selber, es steigt auch in unser Bewusst-
sein auf. Es steigt aber ins Bewusstsein auf während wir in Verbindung sind mit den Qualitäten des
Erwachens. Dadurch kann es zu einer Lösung kommen, und es wird wohlwollend angenommen.
Durch Buddha sind wir mit der Güte in Person verbunden. Das ist die Visualisation des Buddhas vor
uns. Der Gütige, der drintschen tsawai lama – Wurzellama, die Wurzel aller Inspiration.
Und da wir in einem so heilsamen Bezug sind, ist es auch viel leichter, dass all das Schwierige
aufsteigen kann. Unsere ganze Verzweiflung – was auch immer da ist –, die Schleier, das Nichtwissen
oder die Orientierungslosigkeit, es kann alles kommen. Wir übergeben es, und wir erhalten
Ermutigung. Wir erhalten Segen, Inspiration. Im Grunde genommen erhalten wir immer dieselbe
Antwort, wenn man es so einfach sagen möchte: „Kind, mach dir keine Sorgen, es ist alles in
Ordnung. Du bist genauso wie ich, jetzt zwar verwirrt, aber im Grunde genommen ist alles, was du für
das Erwachen brauchst, ohnehin schon dein. Es ist schon in dir! Und wenn du es nicht glaubst, dann
schau mal, was jetzt passiert!“ Und dann löst sich der Buddha in Licht auf und verschmilzt in uns.
Das ist das, was eigentlich auf der inneren Eben passiert. Wir sind da im Vertrauen und zugleich mit
unseren Zweifeln, in den Qualitäten und zugleich in unseren Schatten. In Licht aber auch mit unseren
Schatten. Wir bringen die Schatten ins Licht und die Antwort ist ein völliges Angenommen-Sein, die
Ermutigung zum Vertrauen in die tiefsten wahren Qualitäten von uns.
Wenn diese Qualitäten angerührt sind und in uns zum Schwingen kommen, dann ruhen wir darin.
Dann gibt es nichts weiter zu tun, als dem Buddha in uns zu erlauben, weiter zu sein, weiter zu medi-
tieren.
Und wenn wir aus der Meditation aufstehen, geht der Guru-Yoga weiter, dann ist der Guru in der
Aktivität. Wenn wir handeln, dann handeln wir auch aus dieser Dimension heraus. Wir lassen uns von
diesen inneren Weisheits- und Liebeskräften führen, bleiben offen dafür, in unserem Sprechen und
Handeln geführt zu werden. Falls wir das innerlich noch nicht so spüren, können wir den Lama auch
im Herzen visualisieren. Wir können ihn den ganzen Tag über, immer wieder im Herzen visualisieren,
auch bei unserer beruflichen Aktivität. Manche bevorzugen, den Lama über ihrem Kopf zu
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visualisieren, oder dass er neben ihnen ist. Während man z.B. spazieren geht oder durch die Stadt geht,
kann man mit dem Lama neben sich gehen und sich innerlich vorstellen, man würde ihn umkreisen
und innerlich weiter seine Achtung, seinen Respekt ausdrücken. Das sind verschiedene Möglichkeiten,
die wir haben.
Beim Sprechen können wir uns vorstellen, der Lama, der Buddha sitzt in unserem Sprachzentrum und
alles Sprechen ist Ausdruck dieser tiefen Weisheit und Liebe, die der Buddha verkörpert. – Ich möchte
euch übrigens bitten, mir zu verzeihen, dass alles – der Buddha etc. – maskulin ausgedrückt wird. Ich
hoffe, dass ihr die volle Freiheit spürt, z.B. Tara zu visualisieren oder irgendeine weibliche Reprä-
sentation des Erwachens, die euch inspiriert. Das ist einfach nur Sprache. Ich kann nicht immer der
oder die sagen, das wäre ein bisschen umständlich.
Ihr könnt den Buddha also ins Herz setzen, ins Sprachzentrum, auf den Scheitel, neben euch, als
Erinnerung daran, dass noch eine ganz andere Dimension aktiv ist, zu der wir normalerweise keinen
oder wenig Kontakt haben. Wir sind zu sehr gefangen in unserer engen limitierten Wahrnehmung, und
der Guru-Yoga holt uns raus in eine viel weitere offene Wahrnehmung, und in der bleiben wir oder
erinnern uns zumindest im Laufe des Tages immer wieder daran.
Beim Einschlafen stellen wir uns vor, dass – während wir schon liegen – der Buddha in unserem
Herzen ist, Licht ausstrahlt und uns noch einmal mit allen Qualitäten füllt. Das ist eine wunderbare
Einschlafpraxis, weil sie uns im Einschlafen aus den Sorgen rausholt. Wir verbinden uns mit den
Qualitäten des Erwachens in Form des blauen Buddha Vajradhara oder einer anderen Form, die uns in
ähnlicher Art inspiriert. Das Licht – diesmal blaues Licht – durchdringt uns bis in die letzten Winkel
unseres Seins, bis in die Fingerspitzen, in die Zehenspitzen, den ganzen Körper und dringt dann durch
unsere Poren nach außen, füllt den ganzen Raum um uns mit diesem wunderbaren Licht. Das Licht ist
in diesem Fall blau, weil es ums Einschlafen geht, ein schützendes, wärmendes, liebevolles Licht, das
dann als Inspiration sogar noch weiter rausgeht, über den Raum hinaus, das ganze Haus füllt, die
Straße, in der wir wohnen, die ganze Gegend. Es geht so weit, bis unser gesamter Geistesraum von
diesem Licht gefüllt ist. Wir können damit einschlafen, oder das Licht kommt noch einmal zurück,
verschmilzt in unser Herz, und wir schlafen dann damit ein.
Das ist eine der wichtigsten Einschlafpraktiken, wie wir im Vajrayana üben. Es gehört eigentlich zum
Guru-Yoga dazu, dass dann morgens beim Erwachen, wenn die ersten Gedanken kommen, der Guru
sofort wieder im Herzen ist bzw. oben auf dem Scheitel, und der Tag beginnt wieder im Bewusstsein
dieser Qualitäten. Wir beginnen wieder mit dem Herzensgebet, nehmen Zuflucht, beten in dieses
Erwachen hinein, lassen es wieder in uns verschmelzen und beginnen unseren Tag. Das ist die Praxis
des Guru-Yoga rund um die Uhr.
Nachts beim Aufwachen ist es auch so, dass der Lama, der Buddha dann wieder da ist, das blaue Licht
ausstrahlt, wieder alles füllt, eventuell wieder zurückkommt und wir im Verbundensein mit diesen
Qualitäten ein zweites Mal einschlafen. Das lässt sich beliebig oft wiederholen.
All diese Instruktionen, die ich euch hier gebe, sind von Gendün Rinpoche. Sie sind ganz klassisch in
der Kagyü Linie. Dazu gibt es den kleinen Text „Das kostbare Herz“.
Fragen
Teilnehmerin: Ich kenne es aus dem Text so, dass man sich vorstellt, dass vom Guru weißes Licht in
die Stirn einströmt, rotes Licht in die Kehle und blaues Licht ins Herz.
Ich habe das diesmal etwas kürzer gemacht. Ich habe die absolut einfachste Form des Guru-Yoga
gemacht. Was du ansprichst – die Segensübertragung für Körper, Rede und Geist – wäre die ausführ-
lichere Praxis.
Teilnehmerin: Am Abend vor dem Einschlafen mache ich die kurze Fassung des Medizinbuddhas – da
ist auch das blaue Licht und das ist wunderschön...
Ja, das ist wunderbar, wenn du den Medizinbuddha in dein Herz setzen möchtest oder in diesem
blauen Licht aufgehst. Die Medizinbuddha-Praxis ist dafür bestens geeignet. Sie ist auch für den
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Moment des Sterbens geeignet. Es ist gut, sich im Sterbeprozess bei den letzten Atemzügen damit zu
verbinden. Ich sage das deswegen, weil der Moment des Einschlafens nachts unser Übungsfeld ist, wie
wir dann auch aus dem Leben scheiden, wenn wir einen normalen Tod haben, der nicht durch Unfall
geprägt ist oder durch Koma.
Das Aufwachen morgens ist der Moment, wo wir uns üben, wieder ins Gewahrsein zu erwachen,
nachdem sich Körper und Geist im Tod getrennt haben.
Deswegen habe ich das noch gesagt, und dafür ist die Medizinbuddha-Praxis absolut ideal.
Teilnehmerin: Wenn ich mir den Buddha über dem Kopf vorstelle, habe ich in meiner Visualisation
das Problem, dass ich ihn gar nicht richtig anschauen kann, weil er über meinem Kopf ist. Deswegen
stelle ich ihn mir ein bisschen weiter vorne vor, dass ich ihn vis-a-vis habe.
Ist schon recht. Da ist einfach noch dieses Haften an der Vorstellung, du würdest mit deinen äußeren
Augen schauen. Deine inneren Augen haben überhaupt kein Problem mit irgendeiner dreidimensiona-
len Platzierung. Ich habe jetzt gerade spaßeshalber, während ich mit dir spreche, auf meinem Rücken
Augen visualisiert. Ich kann meine Augen jetzt gerade auf dem Rücken sehen. Es macht dem Geist
überhaupt keine Probleme, den Buddha zu sehen, während er auf unserem Scheitel sitzt. Aber die
Augen können ihn nicht sehen. Die inneren Augen können ohne Problem da oben das Gesicht sehen
und die ganze Figur, aber da uns das manchmal ein bisschen schwierig erscheint, drehen wir ihn für
uns und können ihn dann quasi richtig anschauen. Aber dem Geist macht das überhaupt keine Mühe.
Ich kann jetzt den Buddha hinter mir rechts lächeln sehen – kein Problem.
Das ist die Flexibilität des Geistes, man kann sich ja alles vorstellen. Wir arbeiten ja mit Vorstellun-
gen, und es ist keine realistische Platzierung in dem dreidimensionalen Raum, den wir mit unseren
Augen durchmessen. Aber mache es dir leicht bis du dich daran gewöhnt hast, und dann merkst du
auch, dass es völlig unabhängig ist.
Dann kann ich ja als Übung wechseln, mal da, mal da.
Das ist eine gute Übung, mal groß, mal klein, mal hier, mal dort. Es ist auch interessant, dass wir dann
denken, der Buddha hätte vielleicht Menschengröße. Er könnte ja auch ganz klein sein, ein Mini-
Buddha – aber alle Qualitäten des Erwachens sind da. Und dann kann er riesig sein, wie ein Berg, zu
dem wir aufschauen – dieselben Buddhaqualitäten. Groß, klein, rechts, links, hinter uns, vor uns, im
Herzen, oben auf dem Kopf – es sind immer dieselben Qualitäten.
Wo auch immer, es ist immer dasselbe, und dabei lernen wir auch ganz viel darüber, wie sehr all diese
Prozesse einfach ein gut genutztes Spiel des Geistes sind. Ganz, ganz gut genutzt, auf die heilsamste
Art überhaupt.
Teilnehmerin: Ist da ein Unterschied, ob man sich blaues Licht oder Regenbogenlicht visualisiert?
Nein, das macht keinen Unterschied. Das vorwiegend Blaue war jetzt nur zum Einschlafen, ansonsten
arbeiten wir meistens mit Regenbogenlicht, so dass alle Farben dabei sind. Auch das Weiße, was im
Regenbogen gar nicht vorkommt.
Teilnehmerin: Ich habe beim Einschlafen schon öfter mal das blaue Licht ausprobiert, und ich kann
mit diesem Licht gar nicht einschlafen.
Es stimuliert dein Gewahrsein gerade ein bisschen zu viel, sodass du nicht mehr einschlafen kannst.
Du bist wahrscheinlich zu konzentriert dabei. Wir müssen uns da so hineinfinden, wie wenn wir noch
ein Baby wären und unsere Eltern hätten für blaues Licht im Zimmer gesorgt; wir verbinden uns damit
und alles ist bestens. Wir können loslassen, und wir brauchen nichts zu tun. Aber wenn wir noch im
Tun sind, dann weckt uns das wieder.
Das müssen wir auch noch lernen: Eine innere Vorstellung zu haben, die uns aber nicht mehr auf-
weckt, sondern uns ermöglicht, schlafen zu gehen. Wenn z.B. weißes Licht den Raum durchflutet,
dann sind wir bestimmt wach.
9. Karmapa, Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins Lama Tilmann, Möhra 2013
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Teilnehmerin: Mir geht es so, dass vor allem bildliche Vorstellungen mich sehr wach halten und vor
allem mein Denken anregen. Ist es nicht unterschiedlich, auf welchem Weg Menschen Zugang zu so
einer heilsamen Erfahrung haben. Ich habe das Gefühl, dass bei mir ganz viel über den Körper geht.
Eine Visualisation beruht auf Bildern, aber bei mir ist es oft eine Körper-Erfahrung. Wenn ich nachts
aufwache, ist die Körper-Erfahrung im Vordergrund, die durch eine bildliche Vorstellung
hervorgerufen wird. Oder manche Menschen brauchen ein Wort und sind dadurch dann gleich in der
Erfahrung.
Da funktionieren wir auf jeden Fall unterschiedlich. Worum es aber auch geht, ist, zu lernen ein Bild
auftauchen zu lassen, ohne begriffliches Denken dranzuhängen, also zu entkoppeln. Nicht dass jedes
Bild schon wieder ein Denken über das Bild hervorruft. Das Bild ist da, ruft z.B. dieses angenehme
entspannte Gefühl im Körper hervor – dank des blauen Lichtes, das wir uns vorstellen, oder aufgrund
des vorgestellten Nektars, der unseren Körper durchtränkt –, dann bleibt es aber auch dabei, basta! Wir
müssen das Einfachste finden, das uns mit den Qualitäten verbindet, auf irgendeine Art und Weise.
Was das dann genau ist, kann jeder selber herausfinden. Diese Visualisation hat sich für viele bewährt,
weil viele Menschen visuell sind. Die meisten lernen, dann auch nicht ins Denken darüber zu
kommen. Das ist vielleicht bei den ersten Malen noch der Fall, aber dann wird es so vertraut, das ist
dann so wie der Gute Nachtgesang der Mutter, über den das Baby auch nicht mehr nachdenkt. In
diesem Fall sind es die Klänge. – Man könnte auch noch Klänge dazu nehmen.
Teilnehmerin: Bei mir ist das nicht so stabil. Ich bin z.B. in Vertrauen und Hingabe und dann kommen
irgendwelche Gedanken, die mich woanders hinlenken – Gedanken über Gedanken sozusagen. Ich hab
eben einen Geist, der so viel macht und ich weiß nicht, wie ich wieder anschließen kann.
Wieder anfangen zu beten. Da ist Ablenkung durch etwas anderes, und da geht es darum, einfach
wieder zurückkommen, wieder die Kraft des Gebetes zu entwickeln und weiter zu machen. – Oder
dann ein bisschen intensiver beten. Kürzer und intensiver ist besser, als wenn wir zu lange beten. Dann
kommt jede Menge Ablenkung und im Grunde genommen schwächt sich die Kraft des Gebetes immer
wieder ab. Das ist dann auch nicht effektiv. Kurz und intensiv oder dann, wenn wir in der Intensität
sind, so lange bis sich diese Veränderung der Wahrnehmung einstellt.
Was du beschreibst, das kennen wir alle. Ein unabgelenktes Herzensgebet braucht die Intensität des
Herzens, und diese Kraft muss stärker sein als alles andere, was uns sonst interessieren könnte.
Teilnehmerin: Welche Bedeutung hat das Regenbogenlicht? Das kommt in jeder Praxis vor.
Regenbogenlicht steht, genauer gesagt, für die fünf Buddhafamilien, für die fünf Aspekte des zeitlosen
Gewahrseins. Es sind eigentlich nicht die Farben des Regenbogens. Im Regenbogen z.B. ist lila eine
stark präsente Farbe, die ja hier gar nicht vorkommt. Dieses vielfarbige Licht ist eigentlich das
fünffarbige Licht, das für die fünf Buddhafamilien steht. Weiß, Gelb, Rot, Grün und Blau sind die fünf
traditionellen Farben, und sie stehen für die fünf Aspekte des zeitlosen Gewahrseins: für das spiegel-
gleiche zeitlose Gewahrsein, für das Gewahrsein der Gleichheit, für das unterscheidende Gewahrsein,
für das allvollendende Gewahrsein und für das Gewahrsein der wahren Natur aller Phänomene,
Dharmadhatu, des Raumes der Phänomene.
Das ist ein Gewahrsein, ein Erwachen. Dieses Gewahrsein des Erwachens hat viele Qualitäten, Sie
werden in einer ersten Beschreibung als fünf beschrieben: die raumgleiche Qualität, die spiegelgleiche
Qualität (unbehinderte Manifestation), das tiefe Verstehen der einen Natur aller Erscheinungen
(Gleichwertigkeit), das Unterscheidenkönnen aller Erfahrungen (Präzision) und die Qualität des
Erkennens der Vollkommenheit des Seins (Allvollendung). Diese fünf Aspekte des einen erwachten
Gewahrseins werden durch die fünf Lichter symbolisiert.
Teilnehmerin: Ich mache die Visualisation beim Einschlafen umgekehrt und stelle mir immer vor, dass
ich im Herzen vom Lama bin. Ich brauche dieses Geborgenheitsgefühl vom Lama, dass ich völlig
durchdrungen bin und völlig gehalten bin von ihm. Auch wenn er in mich verschmilzt am Ende einer
Meditation, dann ist er um mich herum.
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Ich finde das klasse. Da hast du auf deine Art die Visualisation gefunden, die dir richtig gut tut. Du
schlüpfst in deinen Schlafpalast – bist geborgen und gehst auf in den Qualitäten des Erwachens!
Danke, dass du es mit uns geteilt hast. Ich finde es sehr inspirierend, das zu hören.
Teilnehmerin: Bei mir ist es so, dass ich schon bei der Zuflucht ein wenig ins Stocken gerate. Wenn ich
mir vorstelle, wer da alles um mich herumsitzt, meine Familie und Freunde, Personen, mit denen ich
Schwierigkeiten habe. Konflikte und Krankheiten und so, dann bleibe ich schon da in der Geschichte
mit dieser Person stecken und komme gar nicht weit.
Ja, es ist an sich sogar gewollt, dass dieser Effekt eintritt, aber du lässt dich offenbar etwas zu sehr da-
von stoppen. Es ist tatsächlich gewollt, dass in unserem Bewusstsein des Erwachens und der Zuflucht
die konkreten Beziehungen unseres Lebens mit hinein gebracht werden. Nun scheinst du aber in dem
Moment zu beginnen, ein bisschen darüber nachzudenken und vielleicht Problemlösungen zu suchen.
Das wird auf später verschoben. Beim Zufluchtnehmen geht es nur darum, sie mit hinein zu nehmen
und eben nicht zu verdrängen. Deswegen haben auch die, mit denen wir Schwierigkeiten haben, ihren
besonderen Platz. Sie sind vor uns, damit wir sie nicht vergessen.
Alle spirituelle Praxis machen wir im Bewusstsein unserer Beziehungen mit anderen. Aber während
wir uns in die Meditation und Kontemplation hinein bewegen, gibt es erst einmal kein begriffliches
Bearbeiten der Thematik, sondern wir nehmen sie einfach hinein in diesen Prozess. Dann zeigen sich
spontane Öffnungen, ein und spontanes Verstehen und manchmal auch tatsächlich Lösungsansätze.
Oder wir machen später dann noch einen bewussten Prozess, in dem wir uns in der Art des Tonglen
die Person, mit der etwas ist, vor uns vorstellen und in einen Austausch gehen. Dann kommt es zu
einer bewussten Bearbeitung dieser Beziehung.
Da lässt du dich etwas zu früh so in die normale Art des Denkens hineinziehen.
Teilnehmer: Die Erfahrung, die ich gemacht habe, ist, dass die sechs Bewusstseinsmeditationen
eigentlich dieselben Auswirkungen hatten wie der Guru-Yoga. Ich habe ein halbes Jahr die 16.
Karmapa Meditation gemacht und meditiere hauptsächlich mit geschlossenen Augen, und wenn er
dann in mich verschmilzt, bin ich eigentlich untrennbar vom Raum. Ich spüre meinen Körper nicht
mehr. Dann habe ich diese Meditation mit offenen Augen gemacht, und ich war auch aufgelöst im
Raum. Der Körper ist dann nur mehr das, was sieht, hört usw., aber nicht das, was ich bin. Ich finde
die Meditation mit den sechs Silben eigentlich gar nicht unterschiedlich vom Guru-Yoga.
Darauf mag ich gerne Bezug nehmen. Im Grunde genommen führen diese verschiedenen Methoden,
so unterschiedlich wie sie sind, doch immer wieder zu einer Erfahrung, zu ein und derselben Erfah-
rung eines voll wachen Gewahrseins, frei von Hoffnung und Furcht. Das ist, wo alle Methoden hinfüh-
ren. Keine Erklärung behauptet, diese Methoden würden in unterschiedliche Formen des Erwachens
führen oder in unterschiedliche Gewahrseinsräume.
Es sind verschiedene Tore der Meditation, Eintrittspforten in immer dieselbe Natur des Geistes, wobei
wir noch nicht bei der nondualen Natur des Geistes sind, aber wir treten immer in dieses gelöste Ge-
wahrsein ein, egal durch welche Pforte. Der Ausdruck ‚Tore’ geht auf Buddha Shakyamuni zurück. Es
sind Tore der Befreiung, Tore der Meditation.
Teilnehmer: Vorhin habe ich festgestellt, dass beim Ausatmen die ganze Welt einfach erstrahlt, als ob
die Sonne scheinen würde, alles wurde saftiger und grüner. Beim Einatmen war dann alles wieder
gedämmt. Was bedeutet das? Es war so pulsierend, einmal war es hell und strahlend, dann war das
Licht wieder ein bisschen matter. So als ob die Welt atmet. Ist das eine Halluzination?
Bei erhöhter Wachheit kommt es einem so vor, als ob alles um einen herum strahlender wird. Das ist
ganz normal, ganz selbstverständlich. Klänge werden brillanter, Farben werden lebendiger, feinste
Empfindungen im Körper werden spürbar auf eine Art, wie sie noch nie spürbar waren. Es entsteht ein
Gefühl, als würde man zum ersten Mal sehen, hören, spüren. Das ist etwas ganz Frisches. Es pulsiert,
weil die Natur des Lebens pulsierend ist. Es pulsiert ja auch in uns.
Ist das ein Moment jetzt, wo ich mit euch so ein bisschen freie Meditation üben kann, wo jeder seinen
Bewegungen folgen kann? Ich leite eine Form des Seins mit unserem Körper an, wo wir etwas explo-
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rativ mit ganz langsamen, feinen Bewegungen spielen. Wer nicht dabei sein möchte, kann jetzt in die
Pause gehen. Das ist etwas, das normalerweise sehr gut tut. Wir brauchen dafür mehr Platz als beim
Sitzen. Ihr könnt die Übung stehend, sitzend, liegend machen. Das kann auch ineinander übergehen.
Es ist etwas total Simples, was ich euch zeige. Es ist so abgrundtief simpel, dass ich mich fast nicht
traue, es euch zu zeigen.
Meditation in Bewegung
Wie geht das Gewahrsein in unseren Körper hinein und was macht es, wenn unsere einzige Frage ist:
Was tut mir jetzt gerade gut? Das ist die einzige Frage, die uns jetzt leitet.
Ich beginne z.B. mal im Stehen, andere beginnen im Sitzen oder Liegen und natürlich könnt ihr
Bewegungen, die ihr bei anderen seht, nachmachen und ausprobieren, dann aber den eigenen Weg
damit finden. Es geht dabei viel um Dehnen und Strecken, und es geht überhaupt nicht darum, etwas
zu erreichen, außer den inneren Impulsen Raum zu geben und zu spüren, was der Körper gerade
braucht.
Um das zu spüren, fange ich meistens damit an, dass ich mich innerlich sammle, … in den Körper
hinein spüre. – Ich weiß nie, was dann kommen wird. Wir versuchen, die anderen um uns herum zu
vergessen und einfach das zu tun, was uns hilfreich erscheint. – Wir sind so ein bisschen wie meditie-
rende Affen.
Jeder findet seine eigenen kleinen Bewegungen. – Die Geräusche lassen wir im Moment vielleicht ein
bisschen sein, weil wir sonst zu müde werden. –
Es geht um lockern, dehnen, … und wenn eine Bewegung sich erschöpft hat, dann ist es gut im
Moment zu spüren, wo es dann weitergeht, was jetzt ansteht, was Freude macht. –
Manchmal ist es gut, in einer Position eine Weile zu bleiben und darin zu atmen, zu spüren, wie es
sich weiter öffnet, wie ein bisschen mehr Raum, mehr Weite entsteht. –
Und immer wieder wichtig ist, den Kopf zu entspannen. Im Kopf sitzen so viele kontrollierende
Muster und selbst bei den Übungen halten wir noch mit den Nackenmuskeln fest und kontrollieren
unnötigerweise. –
Wenn ihr möchtet, können wir noch kurz die Widmung sprechen.
* * *
Heute Morgen möchte ich mit euch direkt in den Kommentar gehen. Wir haben in Kurs 1 die Punkte
6, 7 und 8 nicht behandelt.
6. Die Auswirkungen von Handlungen
[9.1] Wir dürfen nicht durcheinander bringen, was aufgrund der Auswirkungen von Handlun-
gen zu tun und was zu lassen ist, denn alle Lebewesen mit einem Körper erfahren die Frucht der
eigenen Handlungen. So werden sie auf Grund der zehn nichtheilsamen Handlungen in den
niederen [leidvollen] Daseinsbereichen wiedergeboren. Wo wir wiedergeboren werden, ob als
Höllenbewohner, Hungergeist oder Tier, hängt davon ab, welches der drei Geistesgifte die
Handlung motivierte, wie oft sie ausgeführt wurde, ob die Betroffenen in einer karmisch ver-
stärkenden Beziehung zu uns standen und ob die Handlung schwerwiegend, mittel oder gering-
fügig war. Werden wir dort geboren, erleben wir den Handlungen entsprechend schwer zu er-
messendes Leid.
[9.4] Ebenso wird man durch große heilsame Handlungen unter den Göttern der Bereiche der
Form und Formlosigkeit wiedergeboren, durch mittlere unter den Göttern des Begierdebereichs
und durch kleine als Mensch. Überwache stets deine drei Tore (Körper, Rede und Geist), freue
dich an heilsamem Handeln und beende nichtheilsames sowie neutrales Handeln. Wenn du dies
tust, wirst du nicht verwechseln, was zu tun und was zu lassen, was zu fördern und was zu ver-
meiden ist. Du unterbrichst den Strom nichtheilsamer Handlungen und sorgst dafür, dass deine
drei Tore unentwegt das Rad heilsamer Handlungen drehen. Hierdurch erfüllst du den Sinn von
Buddhas Lehre und das Anliegen der Praxis. Zunächst ein feines Verständnis der Auswirkun-
9. Karmapa, Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins Lama Tilmann, Möhra 2013
38
gen von Handlungen zu entwickeln und dieses Verständnis dann zu üben, ist der sechste Punkt:
die Unterweisung zu Ursache und Wirkung.
Hier wird ein großes Feld aufgetan mit all den Unterweisungen über Ursache und Wirkung, über
Karma. Darin ist auch die Unterweisung über Wiedergeburt enthalten. Das ist ein großes Feld, das es
zu verstehen gilt. Zu eurer Entspannung kann ich zunächst schon einmal sagen, dass auch der Buddha
zu seinen Lebzeiten immer wieder Zuhörer hatte, die nicht an Wiedergeburt glaubten, für die das nicht
relevant war. Der Buddha hielt dann diese Unterweisung jeweils so: „Wenn ihr davon ausgeht, dass es
weitere Leben gibt, dann ist es so und so, und wenn ihr nicht davon ausgeht, dann könnt ihr diese
Unterweisungen trotzdem praktizieren. Alles, was ich erkläre, bezieht sich dann auf dieses Leben.“
Der Buddha selbst und die buddhistischen Meister gehen von einer Folge von Leben aus, die in einem
Daseinskreislauf von einem Dasein zum nächsten führen, wobei es nicht ein Ich ist, das wiedergeboren
wird. Es ist nicht ein permanentes Ich, Selbst, das von einer Existenz zur anderen geht, sondern es ist
ein dynamisches Geschehen, in dem sich das Gewahrsein, das Bewusstsein unter dem Einfluss gestal-
tender Kräfte in immer wieder neuem Erleben wiederfindet. Dieses Bewusstsein verfügt dann offenbar
über die Möglichkeit, sich an Vergangenes, auch aus vergangenen Leben, zu erinnern.
Ich bin Menschen begegnet, die solche klaren Erinnerungen haben. Ich bin auch Menschen begegnet,
die mit Verstorbenen Kontakt aufnehmen konnten, sehr präzise und nachvollziehbar; die auch Infor-
mationen bekamen über Dinge, die sie sonst nicht wissen konnten. Dazu würde ich selber gerne noch
etwas mehr forschen.
In den USA gibt es einen Professor – Mr. Stevenson –, der im Rahmen seiner universitären Studien
eine ganze Reihe Doktoranden auf dieses Thema angesetzt hat. Inzwischen sind aus dieser Wieder-
geburt-Forschung Doktorarbeiten im Umfang von etwa 3000 Seiten entstanden, die schon auch ein
etwas verlässlicheres Fundament für die Annahme darstellen, dass es Wiedergeburt gibt. Die For-
schungen wurden mit Kindern gemacht, die sich spontan an Ereignisse erinnern konnten. Man ist den
Beschreibungen der Kinder nachgegangen und es konnten Situationen und Menschen, die beschrieben
wurden, identifiziert werden. Zum Teil mit Polizeiberichten über einen Unfall, der beschrieben wurde,
zum Teil mit klaren Beschreibungen von Umgebungen, die dann fotografiert werden konnten und den
vorher aufgenommenen Aussagen entsprechen. Auf diese Weise wurde völlige Übereinstimmung ge-
funden zwischen dem, was die Kinder behaupteten, und den Situationen, die man dazu finden konnte.
Normalerweise lehnen Eltern solche Erzählungen ab, aber die Universität hat Doktoranden auf die
Fährten solcher Kinder gesetzt und ist ihren Erinnerungen nachgegangen. Die Belege für ihre
Erinnerungen wurden dann in diesen Doktorarbeiten gesammelt. Einer der Retreatler der letzten
Retreat-Serie hat sich all diese verschiedenen Doktorarbeiten zukommen lassen. Er hat sie gekauft und
mit seinen Kollegen im Retreat studiert. Das wäre so ein Bereich der Forschung.
Warum forschen? Weil alles andere auf subjektiven Berichten beruht, und subjektive Berichte erfor-
dern Vertrauen. Wir müssen demjenigen vertrauen, der erzählt etwas erfahren zu haben, was darauf
hinweist, dass es Vorleben gab und ein Leben nach dem Tod. Dieses Vertrauen muss groß sein, wir
müssen vertrauen, dass dieser Mensch nicht lügt, nichts erfindet und dann auch nicht starke emotio-
nale Filter laufen hat, mit denen er seine eigene Erfahrung interpretiert. Jemand mag ja die Absicht
haben, die Wahrheit zu sagen, aber gleichzeitig im Erleben schon so interpretierend mit dem eigenen
Erleben umgehen, dass es sich zu einer Erfahrung verdichtet, als würde er vergangene Leben erfahren
oder mit Lebewesen im Nachtodzustand oder anderen Daseinsbereichen kommunizieren. Derartige
Filter können natürlich aktiv sein, und das berechtigt zu gewissem Zweifel.
Nicht nur in der buddhistischen Literatur sondern auch in anderen spirituellen Traditionen gibt es
zahlreiche Berichte, und es gibt auch gezielte Vorhersagen. Sieben der Karmapas z.B. haben sogar
schriftliche Aufzeichnungen hinterlassen, wo sie wiedergeboren werden. Sie konnten also offenbar
vorausschauend diesen Prozess beschreiben, sodass sie dann als Kinder gefunden werden konnten.
Schon allein das ergibt in unserer Linie eine Menge Material; zusammen mit ganz klaren Erinnerun-
gen, wo Menschen sich in einer Situation so präzise an eine Umgebung z.B. erinnern können, dass sie
den Weg führen können bis zu einem bestimmten Haus usw., also ein klares inneres Erkennen. Ob das
ein Wieder-Erkennen ist oder ein Neuerkennen auf Grund der Nichtgetrenntheit unserer Geistes-
9. Karmapa, Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins Lama Tilmann, Möhra 2013
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ströme, ob wir Zugang haben zu einem Erleben, das zeitgleich in anderen Geistesströmen abrufbar ist,
das sei dahingestellt.
Ich selbst gehe aufgrund meiner eigenen Erfahrungen von vielen Leben aus, die wir bereits gelebt
haben, und ich gehe auch davon aus, dass es Geistesströme gibt, die all das erleben, was hier ange-
sprochen wird: diese unterschiedlichen Erfahrungen von totaler Qual in den so genannten Höllenbe-
reichen bis hin zum Verweilen in subtilsten Samadhis wie in den Götterbereichen der Form und
Formlosigkeit. Gleichzeitig halte ich aber das Vorgehen Trungpa Rinpoches in den USA der 70iger
Jahre, als er dort den Dharma etablierte, für sehr hilfreich. Er hat den Westlern wie der Buddha zu
seiner Zeit in Indien die Möglichkeit eröffnet, all die Geistesbereiche als gegenwärtiges Erleben
innerhalb einer menschlichen Psyche zu verstehen. Das entspricht Unterweisungen, die man in den
Kommentaren finden kann, nach denen die sechs Daseinsbereiche allesamt in unserem Geist jetzt
erfahrbar sind.
Die traditionelle Erklärung ist, dass wir uns relativ leicht in diese Bereiche hineinfühlen können, weil
wir sie schon durchlebt haben und diese Muster latent in uns vorhanden sind. Das sei dahingestellt.
Für die Erklärung von Ursache und Wirkung braucht es zumindest ein Verständnis, dass wir aufgrund
der Art und Weise, wie wir denken und dann auch sprechen und physisch handeln, in diese Erfahrens-
bereiche hineinkommen können. Aufgrund der Art und Weise, wie wir mit unserem Geist umgehen,
stehen uns diese sechs Daseinsbereiche offen. Dahingestellt ist, ob die Prozesse, die in diese Erlebnis-
bereiche hineinführen, nach dem Tod aktiv sind oder nicht, ob unser Gewahrsein im Tod stirbt oder
nicht. Wenn es weiter geht, dann besteht eigentlich kein Grund zur Annahme, dass sich diese Muster,
diese Möglichkeiten solchen Erlebens aufgelöst hätten. Dafür gibt es keinen wirklich triftigen Grund.
Wenn das Gewahrsein weiter geht, warum sollten sich die grundlegenden Muster, in denen es funktio-
niert, ändern?
Ich selbst gehe davon aus, dass im sogenannten Tod eigentlich gar niemand stirbt, sondern dass sich
nur Geist und Körper voneinander trennen, und dass der Geist, so wie es auch in Erfahrungen außer-
halb des Körpers jetzt im Leben schon erfahrbar ist – in bestimmten Formen der Meditationspraxis
und auch beim Träumen – auf ähnliche Art weiter geht.
Nach diesen vorbereitenden Bemerkungen zurück zu Karmapas Unterweisungen.
Es geht den buddhistischen Lehrern mit den Unterweisungen zu Karma um einen wichtigen Punkt:
Die Unterweisung zu Karma soll zur Folge haben, dass wir unser Leben auf geschickte Art und
Weise selber in die Hand nehmen können. Das ist der Punkt! Es ist die Beschreibung der Mög-
lichkeit, durch unser Denken, Sprechen und sonstiges Handeln das Leben zu gestalten. Und zwar nicht
nur dieses Leben, sondern auch zukünftige Leben. Damit setzt sich der Buddha ab von der damals
herrschenden Karma-Lehre, in der von einer Prädestination die Rede war. Es wurde den Menschen
damals auch nicht nahe gelegt, ihr Leben zu verändern, denn sie würden ohnehin immer wieder im
Rahmen ihrer Kaste, im Rahmen ihrer Familie so weiter gehen, immer wieder; und was ihnen im
Leben passiert, ist ohnehin schon vorher bestimmt. Dazu sagt der Buddha: „Nein!“
Bestimmte Kräfte haben dazu geführt, in welcher Situation wir uns jetzt wieder finden und ein
geschicktes Arbeiten mit diesen Kräften wird dazu führen, dass sich diese Situation entsprechend der
weiter wirkenden Kräfte entwickelt und verändert, und prinzipiell ist alles möglich. Es gibt keinen
Grund, jemanden in seiner jetzigen Situation festzuschreiben und zu sagen: „Dein Leben ist ohnehin
schon total vorherbestimmt.“ Allerdings ist es auch nicht so, dass es überhaupt noch nicht vorbestimmt
wäre. Wir sind kein unbeschriebenes Blatt. In uns wirken ja bestimmte Kräfte, Muster schon so erheb-
lich, dass es schwer ist, da auszusteigen, beziehungsweise Veränderungen vorzunehmen. Wir kennen
diese Schwierigkeit, aber es ist möglich. Und der Weg der Befreiung ist ein Weg des geschickten An-
wendens der uns zur Verfügung stehenden Möglichkeiten, diese Kräfte zu gestalten.
Die Handlungen von Körper, Rede und Geist
Wie es hier im ersten Satz heißt, geht es also um das innere Wissen, was zu tun und was zu lassen ist,
und zwar nicht als moralische Vorgabe, sondern was gut tut und was schädlich ist, was uns und
9. Karmapa, Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins Lama Tilmann, Möhra 2013
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anderen gut tut und was für uns und andere schädlich ist. Es geht darum, dieses feine Gespür zu ent-
wickeln. In der buddhistischen Ethik handelt es sich nicht um zehn Gebote, wie wir sie aus dem
Christlichen kennen, sondern es werden zehn Arten von Handlungen beschrieben, die eigentlich
immer hilfreich sind, und zehn Gruppen von Handlungen, die eigentlich immer schädliche Auswirkun-
gen haben.
Die drei Arten von Handlungen des Körpers: 1. Leben zu schützen, Kranke zu pflegen, nicht zu töten ist eigentlich immer heilsam.
2. Besitz zu respektieren, freigebig zu sein, zu schenken statt an sich zu reißen ist normalerweise
heilsam. Es verhindert Streit und bringt ganz viel Gutes, es nährt Freundschaft im Leben.
3. Bestehende Beziehungen zu respektieren und sexuelle Beziehung mit jemandem zu pflegen,
der reif und frei ist und diese Beziehung mit einer Klarheit zu leben, Freundschaften zu
stützen, Beziehungen zu schützen, die um uns herum bestehen, das ist normalerweise heilsam.
Das verringert die Verwirrung in dieser Welt, es schafft Vertrauen.
Die vier Arten von Handlungen der Rede: 1. Die Wahrheit zu sagen, aufrichtig zu sein und nicht zu lügen ist normalerweise heilsam.
2. Harsche Worte zu vermeiden und einfühlsam zu sprechen ist normalerweise heilsam.
3. Üble Nachrede zu vermeiden und im Anderen Verständnis für die Schwierigkeiten bestimmter
Menschen zu wecken ist normalerweise heilsam.
4. Sinnloses Plappern, Geschwätz zu vermeiden und Sinnvolles, das Herz Berührendes zu
sprechen ist normalerweise heilsam.
Ausnahmen gibt es auch: Geplapper, Geschwätz kann durchaus mal das sein, was das Herz öffnet.
Eine Lüge kann durchaus auch einmal sinnvoll sein. Es gibt Ausnahmen, aber normalerweise ist es
das.
Die drei Arten von Handlungen des Geistes: 1. Normalerweise ist es hilfreich, Greifen, Festhalten, Verlangen, Habenwollen, Gier aufzulösen
und eine großzügige innere Haltung einzunehmen, ein Teilen-Können. Das ist der Bereich, in
dem es um Begierde und innere Freigiebigkeit, um Nichthaften geht.
2. Hass, Ärger, Zorn, abspaltende, aggressive Tendenzen aufzulösen und mitfühlende, verbin-
dende Gedankenmuster zu kultivieren ist normalerweise heilsam.
3. Aus mangelndem Gewahrsein, Nicht-Wissenwollen auszusteigen, all diese Schutzmechanis-
men, die Gewahrsein verhindern, aufzulösen und mehr Gewahrsein in Situationen zu bringen
bis hin zu tiefem Seinsverständnis, ist heilsam.
Das sind die zehn nicht heilsamen und die zehn heilsamen Handlungen, um die es in der buddhis-
tischen Lehre geht. Keine wird verabsolutiert. Jeder dieser Hinweise bleibt immer situationsbezogen.
Im Grunde genommen geht es darum, dass uns die Unterweisung über diese Handlungen zu einer
immer feiner werdenden Betrachtung stimuliert, um zu erkennen, welche Auswirkungen die eigenen
Handlungen haben. Und dieses feine Hineinschauen in die tatsächlichen Auswirkungen des eigenen
Denkens, Sprechens und Handelns ist elementarer Teil der buddhistischen Geistesschulung. Letzten
Endes geht es darum herauszufinden, was ich tun möchte und was ich lassen möchte, was ich kulti-
vieren möchte und was ich auflösen möchte. Um dieses Hinschauen zu verstärken und einfachen
Menschen, die nicht so fein reflektieren können oder wollen, eine Richtlinie zu geben, wird ganz klar
von den zehn nichtheilsamen und von den zehn heilsamen Handlungen gesprochen. Es braucht eine
ethische Richtlinie.
Wir müssen daran denken, dass der Buddhismus Volksglaube war. Er war in den Ursprungsländern
die Volksreligion. Wir haben hier einen tibetischen Text vor uns, und die allermeisten Tibeter – Mön-
che und wenige Händler, die lesen und schreiben gelernt haben, ausgenommen – waren Analphabeten.
Wenn man der buddhistischen Ethik begegnet, muss man sich klar machen, dass es sich dabei um
Richtlinien für ein ganzes Volk handelt. Viele von uns hier haben sehr viel Übung in differenziertem
Hinschauen, überlegen sich die Dinge, nehmen sie sich zu Herzen. So können wir noch etwas näher in
das eigentliche Wesen der buddhistischen Lehre kommen, wo es dem Buddha gar nicht darum ging,
irgendwelche Regeln aufzustellen. Diese Regeln, die hier als zehn zusammengefasst sind, hat der
9. Karmapa, Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins Lama Tilmann, Möhra 2013
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Buddha gar nicht so plakativ als Essenz seiner Lehre verkündet. Es heißt, die ersten Jahre habe er
überhaupt keine Regeln aufgestellt. Sie sind im Laufe der Zeit als Ratschläge entstanden und dann
auch zusammengefasst worden.
Die drei Geistesgifte
Wir können die Auswirkungen unserer Handlungen selber betrachten:
Wenn ich mich in Aggressivität verstricke, so sehr, dass ich jemanden totschlagen könnte oder es
sogar tue, wo landet mein Geist? Was passiert dann mit meinem Geistesstrom? Wenn sich das auch
noch wiederholt, wenn ich gar meine eigene Mutter umgebracht habe – die Beziehung zur eigenen
Mutter ist eine karmisch verstärkende Beziehung – was passiert mit dem eigenen Geist? Es entstehen
Schuldgefühle, quälenden Gefühle, Albträume. Da kriegen wir einen Geschmack von Höllenbe-
reichen, die in unserem eigenen Geist zugänglich sind.
Genauso ist die Grundhaltung der Begierde, des Habenwollens, nie genug zu bekommen total
quälend. Ständig von Verlangen gequält zu sein, den ständigen Mangel in sich zu spüren, nie gesättigt
zu sein ist das, was mit Hungergeist beschrieben wird. Mit einer Existenz, in der das ganze Streben
darauf ausgerichtet ist, diesen quälenden Mangel, Hunger und Durst, das Sicherheitsbedürfnis irgend-
wie zu stillen. Es wird beschrieben wie eigentlich nichts, was auch immer man in den Mund nimmt,
was auch immer man erfährt, dieses Bedürfnis stillen kann. Es ist die quälende Folge von Mustern, die
in uns aktiv sind und die aus diesem Bereich stammen.
Unbewusstheit zu verstärken, sich immer wieder einfach nur abzulenken mit Alkohol, Drogen und
dergleichen zu betäuben, führt in immer stumpfere Geisteszustände. Das wird durch den Tierbereich
symbolisiert. – Das soll keine Abwertung der Tiere sein, aber Tiere stehen doch als Symbol dafür,
ständig von Angst geplagt zu sein, immer unruhig zu sein und dieser Unruhe eigentlich nur im Schlaf,
in der Dumpfheit entfliehen zu können. Wenn man Tiere beobachtet, so stehen sie z.B. als
Wiederkäuer einfach da oder sie verbringen viele, viele Stunden des Tages im Schlaf wie unsere ge-
liebten Hunde und Katzen. Wenn wir Vögel beobachten wie sie Körner picken, so sind sie ständig in
Unruhe. Es ist für sie schwer, einen geschützten Raum zu finden. Diese Unruhe kommt durch Angst,
und die Angst kommt durch das ständige Nichtwissen, ob sie geschützt, ob sie sicher sind. Das ist das
grundlegende Muster von mangelndem Gewahrsein. Nur dort, wo Gewahrsein ist, können wir sicher
sein. Wo wir nicht bewusst sind, wo wir uns nicht auskennen wird immer der Geschmack von Un-
sicherheit bleiben.
Genau da setzen wir mit unserer Praxis an. Wir gehen diese drei Geistesgifte, die ich hier in ihren Aus-
wirkungen kurz beschrieben habe, an. Wir entdecken ihre Wirkung und verstärken sie nicht weiter.
Wir unterlassen das, was diese Kräfte in uns stärkt und kultivieren das, was hilft sie aufzulösen:
Freigiebigkeit, Liebe, Mitgefühl, Gewahrsein. Wenn diese Kräfte genährt werden, dann kommen als
Folge davon Qualitäten zum Vorschein. Als Folge von Freigebigkeit wird die Freude stärker, als Folge
von Liebe nehmen Selbstwertgefühl und Offenheit des Geistes zu. Mitgefühl hat dieselben Folgen. Als
Folge von einer Haltung, die hilft, Harmonie herbeizuführen, beginnen wir, immer mehr harmonische
Erfahrungen zu machen. Als Folge von zunehmendem Gewahrsein kommen wir mehr im Körper an.
Wir sind mehr im Erleben der Natur um uns herum. Wir kriegen mehr mit, was bei anderen läuft. Wir
sind verbundener. Natürlich bringt das ein Gefühl von Ruhe und von Sicherheit, weil wir viel mehr
gewahr, viel präsenter sind.
Wenn dann noch das Entwickeln von Weisheit weiter geht und wir beginnen, die Zusammenhänge
von Ursache und Wirkung zu durchschauen, dann fühlen wir uns dem Leben nicht mehr ausgeliefert
wie ein Ballon, der von den Wellen des Schicksals hin und her geworfen wird. Wir beginnen uns mehr
zu fühlen wie ein Boot, das zwar immer noch den Wellen ausgeliefert ist, aber eine Richtung beibehal-
ten kann. Wir haben ein gewisses Steuermittel in der Hand. Wir wissen, dass wir über die Art, wie wir
mit dem Geist umgehen und wie wir als Folge davon mit unserer Rede und unserem Handeln darauf
Einfluss nehmen können, wie wir die Wellen durchkreuzen. Wir wissen, wie wir mit den Schicksals-
wellen des Lebens so umgehen können, dass sie sogar noch unser Mitgefühl, unsere Liebe und unsere
Weisheit stärken, und dass wir aus jeder Herausforderung ein kleines bisschen mehr gekräftigt heraus-
9. Karmapa, Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins Lama Tilmann, Möhra 2013
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gehen. Wir kriegen allmählich Wind auf die Segel, wir haben das Ruder fest in der Hand und können
einen Kurs in unserm Leben steuern. Das geschieht aufgrund unseres tiefen Verständnisses. Wir ver-
stehen die Auswirkungen unseres Denkens, Sprechens und Handelns immer besser und nutzen unseren
Entscheidungsspielraum, um immer häufiger auf die Seite des Heilsamen zu gehen. Es geht darum,
ausreichend Gewahrsein, Geistesgegenwart zu haben, wo uns die Muster schon wieder wegreißen
wollen: „Ah! Das tut nicht gut! Lass mich versuchen, das einmal anders zu machen!“ Wir versuchen
es und haben die Wirkungen davon. Diese Wirkungen gehen uns nicht verloren, sie bleiben bei uns,
sie folgen uns. Wer darin Übung bekommt, sieht wie das eigene Leben leichter wird.
Nicht, dass die Wellen aufhören würden, aber die kleineren Wellen machen einem schon gar keine
Angst mehr. Die mittleren Wellen sind zu meistern und die großen Wellen packen uns zwar und
überwältigen uns noch, aber wir richten uns schnell wieder auf, als ob wir ein unsinkbares Boot mit
einem Kiel wären, der das Boot immer wieder aufrichtet. Diesen inneren Kiel, der das Boot immer
wieder aufrichtet, nennt man Zuflucht. Das ist diese innere ganz klare Ausrichtung. Wir wissen,
worum es uns geht. Das ist wie die innere Aufrichte. Wir haben eine Verankerung, eine Ausrichtung
im Leben, was immer wieder dazu führt, dass wir in die Spur zurück finden, dass wir selbst bei
schlimmem Unwetter irgendwie noch herausfinden. Nicht, dass wir die großen Künstler sind und jedes
Unwetter meistern könnten, aber nach dem Unwetter geht es weiter. Irgendwann steigt die Kraft, mit
stärkeren Sturmböen umzugehen. Diese Kraft steigt durch zunehmendes Gewahrsein, durch zu-
nehmendes Geschick im Umgehen mit dem eigenen Geist. Was denke ich? Wohin lenke ich meine
Aufmerksamkeit? Welche Bedeutung gebe ich den herausfordernden, widrigen Emotionen, die mich
fortreißen wollen? Diese Kraft steigt.
All diese Fähigkeiten, die ich eben beschrieben habe, sind Verständnis von Karma. Sie sind das Ver-
ständnis der Auswirkungen unseres Umgangs mit dem eigenen Geist. Sprechen und Handeln sind nur
die verlängerten Arme des Denkens. Eigentlich brauchen wir nicht ständig alle drei zu erwähnen.
Verbales und physisches Handeln sind eigentlich die Verlängerung der Sichtweise, der geistigen Ein-
stellung, grob gesagt des Denkens.
Als ich als Praktizierender der buddhistischen Geistesschulung zu verstehen begann, dass eigentlich
der gesamte Weg der Geistesschulung Ursache und Wirkung ist, war das für meine innere Entwick-
lung ein Augenöffner. Eigentlich ist alles Ursache und Wirkung, die ganze Zeit. Wir hören hier z.B.
Mahamudra-Instruktionen, hin und wieder gebe ich euch Hinweise. Wir machen aber nichts anderes
als mit Ursache und Wirkung zu arbeiten. Wir lenken unseren Geist auf eine bestimmte Weise, erlau-
ben ihm dadurch bestimmte Erfahrungen zu machen und das hat Auswirkungen.
Teilnehmerin: Den Ausspruch von Alfred Weil aus dem Buch „Karma“ finde ich genial: „Karma ist
ein Wind, der immer weht. Entscheidend ist, wie wir unsere Segel setzen.“
Ein Spruch von Lao Tse. „Wenn der Wind der Veränderung weht, bauen die einen Steinmauern und
die anderen Windmühlen.“
Super! Danke! Ich habe euch also mit anderen Worten nichts Neues gesagt. Das sind die kleinen Aha-
Erlebnisse. Man kann manchmal den gesamten Dharma auf eine Formel bringen, auf eine Sache redu-
zieren. Es geht eigentlich immer um Wirkungen. Deswegen findet die zentrale Praxis der buddhis-
tischen Geistesschulung mit dem statt, was wir die geistigen Gestaltungen nennen. Da finden wir all
die Emotionen wieder. Da finden wir die heilsamen Geistesfaktoren und die nichtheilsamen, die stets
wirkenden Geistesfaktoren, die das Objekt identifizierenden Geistesfaktoren, kurz: die 51 Geistesfak-
toren. Die gesamte Arbeit der buddhistischen Geistesschulung findet in diesen Gestaltungen statt.
Wie gehen wir damit um? Wie gestalten wir? Der Sanskritbegriff für Gestaltungen ist sanskara. Kara
ist der Verbstamm von Karma. Die geistigen Gestaltungen sind da, wo Karma wirkt, wo Ursachen
Wirkungen setzen. Wie ich denke, fühle, die Welt sehe, welche innere Haltung und Motivation ich
habe, genau das gestaltet meine Welt und damit die Welt, denn ich habe keine andere.
Dazu noch ein Zitat von Buddha Shakyamuni: „Alle sechs Daseinsbereiche sind Geist.“ Ein anderes
Zitat, das – glaube ich – bei Shantideva steht: „Wer hat den glühenden Boden der Höllenbereiche er-
schaffen?“ Die Antwort: „Alles ist nur der eigene Geist.“
9. Karmapa, Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins Lama Tilmann, Möhra 2013
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Damit weist der Buddha darauf hin, dass wir uns gar nicht darüber zu unterhalten brauchen, ob es die
Daseinsbereiche gibt oder nicht gibt. Es gibt solches Erleben. Es gibt Erleben in Versenkung, unbe-
rührt, das begriffliches Denken ausgeschaltet, ein inerter Zustand. Es gibt das total qualvolle Erleben,
und es gibt die Zwischenformen. All dieses Erleben ist gestaltet, es ist jeweils die Folge einer Art, mit
dem Geist umzugehen.
Jetzt geht es um – wie im nächsten Punkt behandelt wird – das Aussteigen aus dem Daseinskreislauf.
Daseinskreislauf ist das Kreisen in Mustern. Wenn wir vom Aussteigen aus Samsara hören, hören wir
eigentlich Aussteigen aus dem Leben, als würden wir das Leben verlassen. Darüber spricht der
Buddha nicht. Der Buddha hat zur Frage, „Was ist mit einem Erleuchteten, wenn er stirbt? Lebt er
weiter? Geht das weiter?“ immer geschwiegen. Es ist kein Samsara mehr, was dann kommt. So viel
war klar, weil die Muster der Verstrickung beendet sind.
Der Asiat hört ‚Aussteigen aus dem Daseinskreislauf’ anders. Für einen Asiaten bedeutet das, aus den
Automatismen auszusteigen. Denn Automatismen führen – weil Ursachen gesetzt wurden – automa-
tisch zu einem neuen Erleben in Verstrickung. Daraus gilt es auszusteigen. Dann mag man sich
darüber streiten, ob es dann noch ein Zurückkommen in diese Welt gibt, wie das Erleben danach
aussieht. Klar ist, dass es, wenn dieser Geistesstrom sich wirklich aus den Mustern der Verstrickung
befreit hat, kein Wiederkehren in Verstrickung gibt. So viel ist klar.
Das waren die Erklärungen zum Kapitel über die Auswirkung von Handlungen. Tut mir doch den Ge-
fallen und lasst euren Blick noch mal kurz über diese beiden Absätze gleiten. Gibt es noch etwas, das
ich noch erklären sollte?
Teilnehmer: Wie ist das mit den erwähnten Ausnahmen zu sehen, wenn man Gelübde genommen hat?
Wenn man Gelübde genommen hat, sollte man möglichst keine Ausnahmen machen. Die Ausnahmen
muss man gut vor sich selbst und auch vor anderen vertreten können, aber es gibt sie. Ein Beispiel:
Gendün Rinpoche hat mich einmal gebeten, einen Brief zu schreiben, wo er mich aufforderte, eine
Unwahrheit zu schreiben, um den Empfänger dieses Briefes vor ganz schweren Emotionen zu
schützen. Das hat mich sehr betroffen gemacht, aber es war das allerbeste Vorgehen, denke ich. Ich
konnte das dann guten Herzens tun.
Wenn sich jemand umbringen möchte und es etwas gibt, das ihn dazu veranlassen würde, es wirklich
zu tun, dann muss man lügen, damit er das nicht erfährt. Man muss dem Menschen eine Chance
geben, weiterzuleben und vielleicht allmählich damit klar zu kommen, was er nicht weiß. Oder er soll
es nie wissen. Es gibt Situationen, in denen ein höheres Gut zu schützen ist und das aufrichtige
Sprechen zurücktreten muss. Das sind ganz diffizile Diskussionen, und ich glaube, da gibt es keine
endgültigen Lösungen. Es gibt immer nur das Abwägen in der Situation.
Teilnehmerin: Kannst du vielleicht noch etwas zu den karmisch verstärkenden Beziehungen sagen?
Ja, ich dachte mir, dass das vielleicht noch nicht klar genug herauskommt. Es gibt bei der Analyse von
Ursachen und Wirkungen eine Feineinstellung. Dasselbe Handeln hat etwas unterschiedliche Auswir-
kungen, je nachdem in Bezug auf wen diese Handlung ausgeführt wird. Die klassischen Verstärker
von Handlungen sind zum Beispiel unsere Eltern. Die eigenen Eltern umzubringen ist normalerweise
eine noch stärkere negative Handlung als jemanden umzubringen, der einem fremd ist. Den Lehrer
oder die Lehrerin zu beschimpfen, die einem unheimlich viel Heilsames beigebracht haben, ist stärker
als jemanden auf der Straße zu beschimpfen. Karmisch verstärkend ist z.B. auch, Kranke und Hilflose,
Schwächere hart anzugehen, zu übervorteilen oder gar zu missbrauchen. Dies ist viel schlimmer als
mit Gleichstarken solches Verhalten zu zeigen. Wenn die Beziehung eine sehr intime ist, oder eine
Beziehung zu jemandem, der schutzbedürftig ist und man verhält sich rücksichtslos, das nennt man
karmische Verstärker. Das trägt dem Bezogensein auf Andere Rechnung. Man muss zusätzlich noch
innere Hürden überwinden. Das ist so, wie wenn ich ein kleines Kind zusammenschlage. Dann hat die
Aggressivität noch mehr Barrieren in meinem Herzen weggespült, als wenn ich jemanden
zusammenschlage, der gerade dabei war, eine Frau zu vergewaltigen. Das ist etwas ganz anderes.
Diese innere Dynamik hinterlässt dann auch Spuren.
9. Karmapa, Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins Lama Tilmann, Möhra 2013
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Wir wissen ja, dass in unserer Gesetzgebung genau dieselben Dinge berücksichtigt werden. Im Grunde
genommen ist unsere heutige Gesetzgebung ein guter Spiegel für ein recht subtiles Verständnis von
Karma. Es gibt mildernde Umstände, es gibt verschärfende Handlungsbestände, das wird entsprechend
zur Kenntnis genommen und wirkt sich im Urteil aus. Aber in der buddhistischen Geistesschulung
schaut man die Spuren an. Man sieht, wie sehr Menschen aufgrund von schädlichen oder heilsamen
Handlungen leiden bzw. sich freuen.
Das typische Beispiel für einen heilsamen Verstärker ist ein Buddha. Einem Buddha ein Blümchen
darzubringen oder auch nur so einen Gedanken zu haben, scheint aufgrund der Qualitäten, die in dem
Moment wahrgenommen werden, sehr starke Auswirkungen zu haben. Das wirkt noch stärker, als
wenn wir unserer Tochter ein Blümchen zum Geburtstag auf den Tisch stellen. Es ist anders, weil wir
in dem Moment mit einem so starken Erleben innerer Qualitäten verbunden sind. Das nennt man
karmische Verstärkungen. Die sind nicht per se gleich. Im scholastischen Umgang mit diesen
Unterweisungen entsteht das Problem, dass man kategorisiert: Mutter und Vater sind immer verstär-
kend; Kranke, Schwache, Alte sind verstärkend; Kinder sind verstärkend; spirituelle Lehrer und voll-
kommen Erwachte sind verstärkend. Im Grunde genommen sind diese Beziehungen aber nur dann ver-
stärkend, wenn innerlich eine Bewusstheit besteht. Wenn ich gar nicht weiß, wen ich vor mir habe und
es ist meine Mutter, die ich aber nie gekannt habe, dann ist es anders.
Teilnehmer: Wie sieht das aus mit Tieren? Tiere sind ja hilfloser als wir Menschen.
Ja, es geht immer darum, was innerlich stattfindet. Wenn ich gar nicht spüre, wie hilflos zum Beispiel
ein Tier ist und es brutal behandle, kann das sehr starke Folgen auf die eigene innere Entwicklung ha-
ben. Darum geht es. Es geht um die Auswirkung unterschiedlicher Handlungen und es geht um eine
Differenzierung. Es geht darum, uns Kriterien an die Hand zu geben, dass wir genauer hinschauen und
unterscheiden lernen. Wir merken dann z.B.: „Ah! Diese Beziehung gehört noch ganz anders gewür-
digt als eine andere Beziehung.“ Wenn ich meine Tochter, meinen Sohn vernachlässige, so hat das viel
stärkere Auswirkungen auf meinen Geist und auf den Geist meiner Kinder, als wenn ich jemand ande-
ren vernachlässige.“
Man kriegt durch dieses genaue Hinschauen immer mehr Anstöße, um fein wahrzunehmen. Diese Un-
terweisungen sind nur dazu da, um solch feines Betrachten auszulösen. Karmapa schreibt ja nur ganz,
ganz kurz darüber. Es gibt immens viele Bücher über Karma. Ich habe mir damals die Mühe gemacht,
dies wirklich ausführlich zu studieren, es gibt Bände von Vasubhandu und Asanga, die die Grundlage
für die Betrachtung von Karma legen. Da geht es über mehrere hundert Seiten um ganz feine Be-
schreibungen der Auswirkungen von Handlungen. Eigentlich sind es Beschreibung der Kriterien, um
Handlungen ein bisschen besser differenzieren zu können.
Teilnehmer: Da wäre die eine Ebene, was so innerpsychisch unter Umständen passiert, dass eine
Dynamik in Gang kommt, eine innere Beurteilung, wenn man sich z.B. den Eltern gegenüber falsch
verhalten hat. Dann gibt es aber noch eine andere Ebene, dass es scheinbar eine Auswirkung hat im
Anderen, wenn zum Beispiel ein Kind geschlagen wurde, dann hat es Auswirkungen in dessen
Gewahrseinsstrom.
Eindeutig! Und es gibt noch eine soziale Komponente. Alles zusammen erst gibt das Gesamtbild einer
Handlung. Erst wenn alle Auswirkungen berücksichtigt wurden, haben wir wirklich das Gesamtbild.
Es ist nicht eine nur intrapsychische Betrachtung. Ich glaube, darauf wolltest du hinaus. Alle Betroffe-
nen werden berücksichtigt und auch wie sich das Umfeld als Ganzes entwickelt. Vergehen gegen die
Natur haben z.B. tatsächlich karmische Auswirkungen in dem Sinne, dass es sich um Respektlosigkeit
handelt, dass es mangelndes Verantwortungsgefühl für andere Lebewesen beinhaltet, und so weiter
und so fort. Nicht nur die unmittelbare Auswirkung der Gier auf den eigenen Geist, sondern auch die
katastrophalen Folgen spielen eine Rolle.
Teilnehmerin: Kannst du ganz kurz noch etwas zum Thema Bereuen sagen. Das ist ja etwas, was wir
im Alltag immer wieder haben: Handlungen bereuen, aber ohne wieder eine Erwartung dabei zu
haben, denn dann ist der Segensstrom ja auch wieder unterbrochen. Wie können Personen etwas
aufrichtig bereuen?
9. Karmapa, Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins Lama Tilmann, Möhra 2013
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Ja, ganz kurz. Ich habe es letztes Jahr, glaube ich, in den Unterweisungen zur Vajrasattva-Praxis er-
klärt. Ein vollständiges Aufräumen mit Schuld erzeugenden Handlungen findet durch das Anwenden
der vier Kräfte statt.
Die vier Kräfte bestehen zunächst aus der Kraft des Bekenntnisses, des eigentlichen Bereuens. Ich
sehe die schädlichen Auswirkungen einer Handlung und im Erkennen der Auswirkung bereue ich es
und ich lege es offen, ich bekenne es. Das gehört zusammen.
Zweitens, die Kraft der Umkehr. Die Reue allein reicht noch nicht, ich muss in mir die Kraft ent-
wickeln, nach Möglichkeit nie wieder so zu handeln – nach Möglichkeit. Ich fasse den Entschluss. Das
nennt man die Kraft der Umkehr, ich wende mich ab von dieser Art zu handeln.
Drittens, da ich weiß, dass ich schwach und fehlbar bin und dass da Muster in mir aktiv sind, die mich
verleiten könnten doch wieder so zu handeln, brauche ich die Kraft der Stütze. Ich muss unterstützen-
de Kräfte freisetzen, die mir helfen werden, in der nächsten herausfordernden Situation nicht wieder in
dieses Muster zu tappen. Traditionell sind das die klare innere Ausrichtung und das Mitgefühl. Also
hier Mitgefühl im Sinne von tiefem Mitgefühl und auch Weisheit, das Erkennen, das Durchschauen
der Muster. Auf Buddhisten-Deutsch: Zuflucht und Bodhicitta sind die beiden großen Stützen, um
nicht wieder rückfällig zu werden. Es gibt aber noch viele andere Stützen. Alles, was ich tun kann. Ich
kann z.B. meinen Partner bitten, mich zu stützen, mich zu erinnern und rauszuholen aus was auch
immer es ist, wenn die Versuchung wieder kommt. Auch das sind Stützen, Vereinbarungen mit
anderen. Oder eine Therapie zu machen.
Aber da sind wir schon bei der vierten Kraft. Das ist die Kraft der Heilmittel, auch Gegenmittel ge-
nannt. Damit die Reue, die Umkehr und auch die Stützen wirksam werden, müssen wir dann, wenn
wir gar nicht in Versuchung sind wieder so zu handeln, an den Mustern arbeiten, die genau das
auflösen, was normalerweise vorher zu diesem Handeln geführt hat. Das nennt man die Kraft der
Heilmittel.
Das sind die verschiedenen „therapeutischen Maßnahmen“, kann man sagen, die zu verstärktem
Mitgefühl, weniger Fixierung, durchdringender Weisheit und dergleichen führen, damit wir dann tat-
sächlich gefeit sind, aufgrund dieser stark wirkenden Mitgefühls- und Weisheitskräfte nicht wieder in
diese Muster zu tappen. Das sind die vier Kräfte, die es für ein völliges Bereinigen braucht. Wenn
diese vier Kräfte angewendet werden, dann ist auch Schluss mit Schuldgefühlen. Wir haben so
gründlich aufgeräumt. Wir sind wie jemand, der eine total miese, verdreckte Bude hatte und es nie
schaffte, dort aufzuräumen und es irgendwann schafft. Wir können richtig freudigen Herzens allen
unsere saubere Bude präsentieren. Wir haben innerlich aufgeräumt, das ist jetzt dieses Gefühl. Es gibt
keine Schuldgefühle mehr, wirklich vorbei.
Ja, jetzt aber genug der Worte, das war jetzt eine Stunde begriffliches Denken, begriffliches Aufneh-
men. Jetzt brauchen wir ein bisschen Ruhe zum Verdauen. Oder habe ich noch eine wichtige Frage
irgendwo übersehen?
Teilnehmer: Was passiert, wenn ich bereut habe, versprochen habe, es nicht mehr zu machen, eine
Stütze nehme und Mitgefühl habe, dann aber sehe, dass ich mit dem, was ich gemacht habe, beim
Andern auch Leid verursacht habe?
Dieses Leid, das wir beim Andern verursacht haben, können wir nicht mehr rückgängig machen. Das
fordert uns heraus, unsere Vergangenheit und unser Handeln tief anzunehmen und darin im Grunde
unsere Menschlichkeit, unsere Fehlbarkeit tief anzunehmen. Da hilft natürlich, wenn sie noch leben
und wenn sie zugänglich sind, um Vergebung zu bitten und die eigene Betroffenheit aufzudecken. Das
hilft und wirkt mildernd, aber rückgängig machen gibt’s ja nicht.
Aber auch da müssen wir ein bisschen aufpassen, dass wir nicht mit unserer Bitte um Vergebung eine
Retraumatisierung quasi auslösen beim Andern. So manche Menschen wollen von uns gar nicht mehr
angesprochen werden auf das Schlimme, das früher war. In unserem Wunsch, Vergebung zu erfahren,
dürfen wir die anderen nicht instrumentalisieren und meinen, sie müssten uns jetzt Vergebung geben,
weil wir damit nicht zurechtkommen. Da ist wieder der Respekt vor dem Anderen zentral und wir
finden Wege – z.B. mit der Vajrasattva-Praxis – diese Vergebung immer wieder zu erfahren und in ein
9. Karmapa, Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins Lama Tilmann, Möhra 2013
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heiles, rundes, authentisches Sein einzutauchen, in dem wir selber ganz zum Buddha werden, uns ganz
heil erleben können.
Und die Verantwortung?
Die Verantwortung bleibt immer bei den Handelnden. Die Verantwortung für unser Denken, Sprechen
und Handeln bleibt, und die betroffene Person hat auch ihre eigene Verantwortung dafür, wie sie mit
den Situationen umgeht. Aber da haben wir nichts zu sagen. Wir müssen für all das, was wir ausgelöst
haben, schon die volle Verantwortung übernehmen. Wir haben es nicht in der Hand, aber für das, was
wir getan haben, gerade das, dafür haben wir die Verantwortung.
Meditation
Jetzt pflügen wir so ein bisschen im Leeren und machen eine Verdauungsmeditation, in der wir gar
nichts mehr zu tun haben und doch sind wir dabei, heilsame Geisteszustände zu kultivieren. Einfach
durch das Loslassen und Seinlassen – einfach lassen, alles lassen wie es ist. –
* * *
Meditation
Lasst uns direkt in die Meditation eintreten. –
Wir machen weiter mit dem, was wir gestern Nachmittag und heute Morgen schon praktiziert haben.
Öffnet die Augen weit. – Die Anweisungen sind immer nur für diejenigen, die das machen wollen.
Alle anderen können so meditieren, wie es ihnen richtig erscheint. – Wir öffnen die Augen weit, so
dass das Blickfeld den gesamten Raum umfasst. – Der Blick ist ruhig, aber auf nichts fixiert. – Wir
können aufwärts schauen, geradeaus schauen, abwärts schauen. Die Richtung des Blickes spielt ei-
gentlich keine Rolle, wenn wir innerlich das Gefühl haben, in den Raum, in die Weite zu schauen. –
Diese weite, geräumige Haltung nehmen wir auch innerlich ein und nehmen bei voller Präsenz,
Geistesgegenwart wahr, was sich innerlich an Regungen zeigt. –
Solange wir unabgelenkt bleiben, entsteht gar kein Denken. Wenn wir etwas weniger bewusst sind,
kommt es zu Denken und das nutzen wir dann, um wieder vermehrt gewahr zu sein, und zwar indem
wir unser Bewusstsein direkt aufs Denken selbst lenken, auf diese inneren geistigen Bewegungen. –
Wir brauchen dabei gar nichts zu tun. Es ist tatsächlich so, dass wir das Denken, diese denkenden
Bewegungen erkennen wie Zeichnungen im Wasser, die von selbst verfließen. –
Der visuelle, weite, offene Raum gibt uns ein Gefühl für den inneren weiten Raum. Unser Geist ist
weit wie der Himmel, in dem die verschiedenen Regungen auftauchen wie Wölkchen, die in der Weite
verpuffen, sich wieder auflösen. –
Wichtig ist, eine willkommen heißende Haltung einzunehmen. Alle Regungen sind willkommen, sie
werden einfach nur als solche wahrgenommen, ohne dass wir uns mit den Inhalten beschäftigen. –
Wir achten darauf, dass wir keine Anstrengung dabei machen, dass wir alle unnötige Anstrengung
auch noch irgendwie entspannen, als würden wir ganz sanft diesen Himmel des Gewahrseins erleben.
Ohne Verhärtung. –
GONG –
Wir machen eine kleine Pause und merken uns diese Weite, die wir gerade gespürt haben. Wir lassen
sie nachwirken, auch in der Pause. –
Wir üben noch einmal so wie heute Morgen und verbinden diese Weite mit dem Atem. –
Ich will es diesmal mit einem anderen inneren Bild für euch versuchen. Stellt euch vor, ihr sitzt ganz
ruhig an einem großen Weiher oder einem kleinen See, der völlig ruhig ist. – Spiegelglatte Oberfläche.
In der Oberfläche des Weihers spiegelt sich der Himmel. Es spiegeln sich auch ein paar Bäume vom
Ufer, und dann und wann steigen von Fischchen, die wir nicht sehen, Luftblasen auf. Die Wellen
verlieren sich wie Zeichnungen im Wasser. – Wir atmen ein und atmen aus, ganz sanft, mit weitem
Gewahrsein. Und während wir so unserem Atem verbunden sind, steigen dann und wann Gedanken
auf, wie die Bläschen im Wasser. Wir bemerken sie, brauchen aber nichts mit ihnen zu tun. –
Die Bewegungen des Atems sind spürbar, wir spüren den gesamten Körper. Der Geist ist so weit wie
der Himmel, der sich auf der Wasseroberfläche spiegelt. –
9. Karmapa, Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins Lama Tilmann, Möhra 2013
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Atem – Weite – sanftes Gewahrsein. –
Immer, wenn wir uns etwas verlieren, finden wir zurück. Wir merken wie wir sitzen, atmen, der Blick
in die Weite geht. – Vielleicht noch einmal das innere Bild, am Ufer eines Weihers zu sitzen.
* * *
Erfahrungen der Teilnehmer
Teilnehmer: Ich muss was loswerden: Aufgrund einer Erfahrung, die ich in der Pause vorher gemacht
habe, konnte ich dir jetzt nicht folgen, obwohl deine Anleitungen immer so hilfreich sind. Ich bin in
der Pause wieder die Wiese hinauf gegangen und habe beim Runtergehen auf einmal so ein Glücks-
gefühl bekommen. Ich war früher Leistungssportler und habe schon lange wegen Knieschmerzen
aufhören müssen, und auf einmal dachte ich mir, ich möchte laufen. Und ich bin gelaufen, und das
war so, als ob ich früher gelaufen wäre. Das hat mich so berührt, dass ich mich immer noch damit
beschäftigt habe. Das war eine ganz tolle Erfahrung. Ich hab’s nicht loslassen können.
Also, das verzeihen wir dir. – Das ist ja eine total beglückende Erfahrung. Hast du dafür irgendeine
Erklärung?
Ja, schon – ich denke, das ist die Vorbereitung. Ich merke das immer mehr, es geht immer so in
Etappen. Gestern auch, zuerst war im Raum überhaupt keine Sammlung, dann gehe ich raus, war viel
in Bewegung und nach einer Viertelstunde war auf einmal Ruhe da. Dann gehen wir da rein und da
drinnen war auf einmal totale Ruhr. Da war also zuerst wenig, dann mehr und danach totale Ruhe
gestern. Und heute war’s auf einmal in der Pause so.
Danke!
Ich habe euch in der letzten halben Stunde zwei aufeinander aufbauende Meditationsanweisungen
gegeben. Ich würde gerne ähnlich wie heute Morgen von euch Rückmeldungen hören. Hat das bei
euch einen Unterschied gemacht? Welchen Unterschied hat es vielleicht gemacht?
Teilnehmerin: Mir war der Weiher zu klein.
Hast du ihn ein bisschen größer gemacht?
Ich hatte das Bild von der großen Weite und von einem See, also einem richtig großen See und
dahinter Berge und so. Und als du dann sagtest, mit so einem Weiher, da dachte ich, och – das ist mir
eigentlich viel zu klein, das möchte ich nicht so gerne. Dann habe ich wieder den großen See
genommen.
Ja prima. Kannst du mir eine Frage beantworten? (Hält ein silbernes Bonbonpapier hoch) Wie groß ist
der Ozean, der sich in diesem kleinen Spiegel spiegelt?
Ja, verstehe!
Wie groß ist der Himmel, der sich in einem kleinen Weiher spiegelt? Ja? Das war der Punkt. Es
braucht so wenig. Aber ich kann das Bedürfnis verstehen, dass da einfach Weite rein soll. Aber dann
ging’s dir gut mit der Praxis an dem großen See? War das denn anders als vorher die Instruktion,
einfach nur in die Weite zu schauen?
Ja, da war so viel Wasser und See und Meer.
Und das rührt dann noch zusätzlich was an, diese Atmosphäre schwingt dann noch mehr mit. Ich höre
heraus, dass es für dich hilfreich war, dass das so mitschwingen konnte.
Teilnehmerin: Für mich war die zweite Anleitung ganz spannend. Ich habe das noch nie so erlebt,
durch diese Vorstellung, die du durch die Luftblasen, bzw. der Gedanken, die so quasi von unten
aufsteigen, gegeben hast. Normalerweise habe ich das Bild, dass sich die Gedanken oben befinden.
Und da war der Geist da oben in dieser Weite geparkt, und ich hatte ganz stark das Gefühl, dass die
Gedanken, die Emotionen so aus dem Körper heraus steigen, viel mehr als rein aus dem Geist heraus.
9. Karmapa, Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins Lama Tilmann, Möhra 2013
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War das in irgendeiner Weise hilfreich, oder störend oder was hat das dann letzten Endes mit deiner
inneren Befindlichkeit gemacht?
Es war hilfreich, dass das so von unten gekommen ist. In der Vorstellung konnte es sich nach oben hin
wieder auflösen.
Teilnehmer: Ich erlebe Gedanken sehr zentral im Kopf. Für mich ist dann diese Art der Meditation
hilfreich, den Fokus auf die Ferne zu legen. Durch den Blick in die Ferne lösen sich die Gedanken auf.
Das ist so, wie wenn die Aufmerksamkeit in die Ferne gehen würde, aus dem Körper hinaus.
Was ihr beide beschreibt, zeigt sehr deutlich, wie unser Erleben innerhalb einer bestimmten Sichtweise
stattfindet. In der Sicht, dass Denken im Kopf stattfindet, ein zentriertes Denken. Das Einnehmen einer
anderen Sicht oder Haltung ermöglicht neue Formen des Erlebens. Z.B. das Aufsteigen von Gedanken,
als würden sie aus dem Körper aufsteigen, oder in die Ferne zu schauen ermöglicht, nicht mehr so
identifiziert zu sein mit dem, was im Kopf los ist. Das sind aber alles Sichtweisen. Wir merken an
diesen Beispielen, wenn ich die Meditations-Instruktionen variiere, wie schon kleine Veränderungen
ziemliche Auswirkungen haben. – Karma vor Ort. Wir sehen, dass kleine Veränderungen der Ein-
stellung, der Sicht, des Umgehens mit den Gedanken schon erstaunliche Auswirkungen haben.
Teilnehmerin: Ja, das passt dazu: Heute Morgen sagtest du, wenn man das Kinn hebt, dann ist das wie
eine Einladung an die Gedanken. Ich habe mir gedacht, Einladung? Das ist eigentlich etwas Schönes.
Natürlich kam auch sofort: Warum will ich mich einladen, und ähnliches. Als wir jetzt die Meditation
gemacht haben, da war das sehr weit, und dann habe ich aber gemerkt, dass das Kinn gar nicht hinten
war, das war da oben. Das war toll.
Das war ja ein ziemlicher Unterschied zu heute Morgen! Auch wieder: ein Wort, kleine Änderung der
Sichtweise, oder große Änderung und schon ist da ein anderes Erleben in der Folge der anderen Ein-
stellung. Unglaublich.
Teilnehmerin: Ich hatte das ein bisschen umgekehrt. Ich hatte am Anfang ein Gefühl von Weite, und
sobald ein Gedanke kam, war der anknüpfende Gedanke, als ob ich den zu mir ziehe, als ob der
Gedanke in meinem Kopf säße und damit war die Weite weg. Ich habe versucht, in dieser Weite zu
bleiben und da war das auch mit dem Auflösen schwieriger. Da kam so ein kleines Glücksgefühl und
dann war ich sofort mit diesem Glücksgefühl weg gedämmert. Ausruhzustand.
Beim zweiten Bild mit den Luftbläschen, ich glaube, das war etwas sehr Konkretes, das hat mich eher
wieder fester gemacht.
Da kannst du die Auswirkung auch sehen, dass ein so konkretes Bild eher für dich hinderlich war. Das
hat dann etwas zu sehr gebunden. Ich hoffe, du hast dich dann frei gemacht davon. Das ist ja immer
die Kunst, sich frei zu machen von einer Vorgabe, wenn wir merken, dass sie uns jetzt gar nicht so gut
tut.
Teilnehmerin: Das Bild des Weihers habe ich als unglaublich freundlich empfunden, und ich hatte zu
Beginn auch einen bestimmten Weiher meiner Kindheit präsent. Durch diese Stille der Oberfläche ist
dieser Weiher immer durchsichtiger geworden und irgendwann hatte ich das Gefühl – er verlor dann
auch an Farbe, ganz durchsichtig, still – dass dies der Geist ist, und ich hatte ein ganz tiefes Gefühl
der Freundschaft mit diesem Geist. Aber es war nichts da, was das Gegenüber dieser Freundschaft
war. Diese liebevolle Freundschaft war einfach da und das war der Geist. Und dann kam deine
Anweisung, und dieses Bild war dann weg und danach hatte ich kein Bedürfnis mehr, das
wiederzubeleben. Das war dann, wie du es beschrieben hast, gemalt in dieses Wasser.
Das Bild hatte seine Wirkung und war dann nicht mehr notwendig, es war überflüssig geworden. Übri-
gens habe ich diesen Wechsel eingeführt, weil ich in der ersten Phase meinte, ziemliche Anspannung
zu spüren, in diesem Blick in die Weite. Ich habe gedacht, das mache ich jetzt ganz kurz, ich möchte
euch da heraus holen, aber ich möchte euch auch ermöglichen, den Unterschied zu erleben, sodass ihr
durch eine freundliche Atmosphäre, die aber auch sehr symbolträchtig ist, in eine viel entspanntere Art
des Schauens in die Weite kommt. Und da entstand dann dieses innere Bild. Was du beschreibst, war
das, was mir tatsächlich vorschwebte, nämlich viel freundlicher mit dem eigenen Geist umzugehen
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und nicht wie so ein Dompteur, der ihn zähmen möchte, sondern viel vertrauensvoller. Das war eigent-
lich mein Wunsch.
Teilnehmerin: In der zweiten Übung ist der Druck weggefallen, den ich bei der ersten Übung beim in
den Körper Hineinhören und in die Weite Gehen so massiv gespürt habe. Dann habe ich mir den
Weiher vorgestellt und da war so eine Handbewegung, das hat dann so Flocken ins Wasser hinein
gebracht und die Gedanken, die gekommen sind – sehr wenige Gedanken – die waren im Wasser wie
Flocken. Das war dann weg und der Atem wurde immer feiner, es war wie ein richtiges Fließen, ein
sehr schönes Gefühl. Es war überhaupt nicht anstrengend.
Danke, das war auch ein Anliegen von mir, dass es zu einem noch integrierteren Sein kommt, dass wir
Atem, Körperempfindung mit weiter Schau und aufsteigenden Gedanken verbinden und es so zu einer
heilsamen, recht runden Präsenz kommt.
Teilnehmerin: Bei mir hat die erste Anweisung zu so einer Leblosigkeit geführt, dass ich mich dann
eigentlich gar nicht mehr spüre, so eine Substanzlosigkeit, die ich früher verwechselt habe mit
Gewahrsein und wo ich jetzt einfach merke, das tut mir gar nicht gut. Und ich habe dann beschlossen,
deinen Anweisungen nicht zu folgen und habe diese Vitalität wieder gesucht. Das hat mir dann auch
gut getan und als du das zweite Bild, die zweite Anweisung gegeben hast, war das für mich wie so eine
Befreiung wieder hin zu dem, wo ich eigentlich denke, das war dann Gewahrsein. Dann ist wieder
etwas passiert, da sind wieder Gedanken aufgetaucht, vorher war einfach nichts. Das ist, wie wenn ich
diesen Halt durch so etwas Konkretes brauche, um im Erleben zu bleiben.
Es erscheint mir auch so, dass wir eigentlich alle durch dieses Konkrete im Körper und in den Sinnen
verankert sind, die auch durch dieses Bild des Weihers aktiviert werden. Da passiert auch etwas, das
tut uns gut. Bei dieser Meditation, die wir gemacht haben – Punkt vier der Instruktionen zur Geistes-
ruhe – entsteht oft so etwas Blockierendes, dass wir die geistigen Regungen wie durch eine Bewusst-
heit blockieren. In diese Falle tappt man häufig. Ich habe diese kleine Veränderung eingeführt, um
genau diese Blockade, die ich auch im Raum spürte, die offenbar nicht alleine du erlebt hast, sich
lösen konnte. Denn wenn wir das über längere Zeit machen, werden wir steril, leblos.
Teilnehmerin: Ich habe schon gestern einen großen Unterschied zu diesem Thema gemerkt. Am
Anfang hatte ich diesen Wächter so stark als Bild, gleich nachdem die Anweisung kam, den Geist als
Stütze so offen zu lassen. Das war wie Tontauben schießen. Die Gedanken kamen und ich hab einen
nach dem anderen abgeschossen. Das war toll, weil es immer wieder frei war. Und dann dachte ich
mir, dass es doch eigentlich Freunde sind. Dieses Feindschaftliche fiel dann weg und dann war das so
beglückend, die abzuschießen. In dem Moment, wo das zusammen trifft, war es sofort wieder so
sprühend, schön, klar. Und dann kam das Thema mit den Emotionen und dass es sich vielleicht lohnt,
das doch noch mal ein bisschen mehr entstehen zu lassen, genauer zu gucken, was da eigentlich
entsteht und das zumindest zu erlauben. Und das war heute so präsent. Das war das Gefühl, als wenn
meine Kinder zu mir kommen und mir erzählen, was sie haben möchten oder nicht haben möchten,
und wie ich eigentlich weiß, was dahinter steht. Ich weiß ja, dass das eigentlich nur dieser Wunsch ist,
sicher zu sein.
Und so konnte ich die Gedanken heute auch ein bisschen mehr sichern. Zum Beispiel diese Dar-
stellung von Tara hinter dir. Ich denke die ganze Zeit, die muss ich im Wohnzimmer hängen haben.
Und das habe ich einfach entstehen lassen und dann gemerkt, ja – einfach was dahinter steht und das
dann sich auflösen lassen.
Ja, danke. Ihr merkt an dieser Beschreibung wie Integration stattfindet. Das ist spürbar. Was du jetzt
gerade beschreibst, dieses liebevolle Hinhören, als wären es die Stimmen deiner Kinder, die zu dir
sprechen, das kommt sehr stark in einer späten Entwicklung des Mahamudra zum Ausdruck, in der
Praxis des Tschö. Von Matschig Labdrön, Begründerin des Tschö, wurde ja schon gesprochen. All den
emotionalen Mustern, den so genannten Göttern und Dämonen, die in unserem Geist auftauchen und
auf die wir normalerweise anhaftend und ablehnend reagieren, hören wir liebevoll zu wie eine Mutter,
die ihren Kindern zuhört. Wir lassen sie sein, antworten darauf, gehen auf eine nährende Art und Wie-
se mit ihnen um, und dadurch können sie sich auflösen.
9. Karmapa, Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins Lama Tilmann, Möhra 2013
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Das ist die eigentliche Geisteshaltung des Mahamudra, die du sehr gut beschrieben hast. Du hast
offenbar selber mit dir in diese Richtung weiter gearbeitet. Das ist sehr berührend für mich und ich
möchte euch eigentlich alle ermutigen, diese innere Haltung, diese freundschaftliche, wohlwollende
Haltung den eigenen Gedanken gegenüber einzunehmen, wo wir wohl sehen, dass wir sie abschießen
könnten wie Tontauben. – Das ist klasse, sie lösen sich wirklich auf, sie sind kein Problem. – Und
doch sind sie Träger von Inhalten, die nicht von ungefähr kommen. Nur die Inhalte abzuschießen, hilft
nicht, die Muster aufzulösen. Die Muster wollen auch gesehen werden und das Bedürfnis, das sich in
diesen Mustern ausdrückt, z.B. nach Sicherheit und geliebt zu werden und dergleichen. Das will
gesehen und auch quasi – wie Thich Nhat Hanh das sagt – umarmt, also aufgenommen werden.
Wenn sich in unserem Umgehen mit Gedanken die beiden Haltungen von Weisheit und Mitgefühl
verbinden – nicht nur der Weisheitsaspekt, der die Gedanken als substanzlos durchschaut, sondern
auch der Mitgefühlsaspekt, der ihre Bedingtheit erkennt und die Nahrung hinein bringt, die es braucht
– können sich diese Muster auflösen.
Teilnehmerin: Ich finde es sehr eindrücklich, wie diese Weite gleichzeitig in meinem Körper war, wo
ich gerade eine OP hatte und sonst immer so ein bisschen gucken muss, wie ich sitze. Das war total
weg, das war eine unheimliche Freiheit, das fand ich total schön. Gleichzeitig war da die innere
Erlaubnis, wenn ich jetzt was verändern muss, dann darf ich das auch. Ich muss nicht darüber
nachdenken, ob es stört. Das war so ein Fluss, das war ganz schön.
Ich war dann auch in dieser Weite und habe dann irgendwann die Wörter gar nicht mehr gehört, oder
die Bilder. Ich habe gehört, dass was gesprochen wird, aber ich war nicht mehr dabei. Das war auch
so ein gleiches Gefühl von: ‚Ich bin einfach.’ Irgendwann kam dann dieser Moment: ‚Das ist so schön
und das soll nicht aufhören.’ Dann war ich natürlich draußen.
Teilnehmerin: Ich habe diese zwei Übungen sehr, sehr verschieden erlebt. Ich habe heute Morgen mit
ganz vielen Empfindungen gekämpft: Trauer, ganz tiefe Trauer, so ein Ohnmachtsgefühl. Und ich
hatte Probleme mit dieser Fixierung. Ich fand es erleichternd, dass ich dann wegsinken konnte und
einfach spüren und gucken, und es hat sich aufgelöst. Diese zweite Übung habe ich als ganz, ganz
wohltuend erlebt und das Wasser war so ruhig, und dieses Blubbern hat mich innerlich so bewegt, es
war so: ‚Alles darf kommen, du kannst dir das anschauen!’ Das war so eine einsame Gegend, so
etwas Schönes, dieser flache See. Ständig kam da was, es hat mir keine Angst gemacht, keine
Bewegung in mir, es war so ein Annehmen. Es hat mich zutiefst erfreut.
Teilnehmerin: Ich habe eine sehr, sehr ausgeprägte Imaginationsfähigkeit und so konnte ich sehr
schnell ein unglaublich detailliertes Bild sehen. Je mehr du gesagt hast, desto klarer und deutlicher
habe ich alles gesehen. Ich saß am Rand, die Wolken, die Bäume, die Luftblasen, es war sehr schön
und sehr friedlich. Dann, als du sagtest, jetzt könnten Gedanken kommen, war es mir auf einmal so
wie, ‚Das ist ja eine völlig künstliche Welt, in der ich bin!’ Ich hatte das Gefühl, ich habe überhaupt
gar keinen Zugang zu meinem eigenen Geist. Hier können überhaupt keine Gedanken kommen, weil
ich mir das ja alles so unglaublich brillant und deutlich vorstelle. Das war ruhig und friedlich, aber
dann schaltete sich so ein Gedanke ein: ‚Das kann nicht so gemeint sein, du bist ja gar nicht bewusst,
sondern bist ja völlig in deiner Imagination.’ Deswegen bin ich dann ausgestiegen, weil ich das Ge-
fühl hatte, ich mache das jetzt falsch, weil ich gar keine Chance hatte, meine Gedanken anzuschauen,
weil ich ja so in meinem Bild war.
Jetzt weiß ich nicht, ob das eigentlich gerade der Sinn der Sache ist, dass dadurch keine Gedanken
kommen sollen, oder ob ich es einfach zu doll mir vorgestellt habe oder …
Ja, das ist gut, dass du fragst. Was du jetzt beschreibst, das könnte so oder so sein. Wenn wir Visuali-
sationen im tibetischen Buddhismus zu diesen Praktiken bekommen, dann sind die meistens dazu ge-
dacht, uns in etwas Unabgelenktes hinein zu führen, sodass anderes gar nicht mehr aufsteigt, dass so
eine ganz stabile Präsenz in dieser Welt ist. Aber genau da flüchten sich Menschen in diese Welten,
stabilisieren sich darin und klammern anderes aus. Das ist letzten Endes nicht die Absicht solcher
Visualisationen im Vajrayana, sondern es geht darum, aufgrund der Visualisation zu verstehen – und
zwar genau das, was du gerade verstanden hast – dass wir uns in Vorstellungswelten befinden und
dann den Rückschluss ziehen, dass wir uns ja ständig in solchen selbst erzeugten Vorstellungswelten
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befinden. Nun lassen wir doch einmal in diesen Vorstellungswelten das zu, was wir nicht ständig
kontrollieren und öffnen damit den inneren Raum für das, was – wie es heißt – aus dem Alaya-Be-
wusstsein, aus dem Speicherbewusstsein aufsteigt. Das Bild dieser Luftbläschen ist ein Bild dafür, wie
Geistesinhalte aufsteigen aus nicht kontrollierten, noch nicht bewussten Geistesräumen. Das war der
eigentliche Sinn des Bildes; einen Rahmen zu schaffen, in dem tatsächlich etwas aufsteigen kann. Du
hast es geblickt und bist aus dem Bild ausgestiegen und hast dann offenbar einfach ohne Bild weiter
praktiziert. Damit hat das Bild aber auch seine Wirkung getan und du hast zusätzlich noch gelernt,
dass wir ganz schön stabil in Welten sein können, wo alles andere ausgeklammert ist.
Ich bin relativ schnell ausgestiegen, als das mit den Luftblasen schon kam, ich habe nicht wirklich
versucht zu schauen, was da aus dem Wasser an meinen Gedanken kommt. Wenn ich versucht hätte,
länger drin zu bleiben, wäre es dann möglich gewesen, innerhalb dieses Bildes mehr an die …?
Ach ja, wenn man ein Bild zu stark stabilisiert, dann verhindert es vieles andere. Du hast es schon
richtig gemacht. Es war wirklich nur als Rahmen gemeint. Bei den meisten ist es so, dass ein Bild
kommt und etwas auslöst. Dann wird das Bild vergessen und der Prozess geht weiter.
Ich habe ja ein paar Minuten später noch einmal sanft an das Bild erinnert: „Wenn es euch hilfreich ist,
dann nehmt es ruhig wieder auf, um wieder in diese Gelöstheit hinein zu finden.“ Wenn man durch-
gehend drin bleibt, dann verhindert das Bild, dass andere Prozesse stattfinden können.
Teilnehmerin: Diese verschiedenen Bilder, die du angeboten hast, haben starke Auswirkungen gehabt,
und ich bin ins Experimentieren geraten. Ich habe gedacht, dass ich mir eine ganz andere Welt
vorstellen kann oder vielleicht ist es für mich wichtiger, wenn der See hinter mir ist, oder … Es hat
auch mit dem Bild zu tun, wo der Buddha sitzt. Ist es eigentlich egal? Ich kann uns auch auf den Kopf
stellen usw. Ich habe angefangen, wie ich das sonst im Traum erlebt habe, versucht: Kann ich jetzt
fliegen? Usw. Ich fand das ganz spannend, habe aber gedacht, dass das eigentlich völlig an der
Übung vorbeigeht. Ich habe aber immer gemerkt, dass es eine Auswirkung hat. Ich habe mich also
ganz befreit von dem, wie ich mich sonst vorstelle, einfach gerade sitzend und so, immer wieder in
ganz andere Positionen, Sitzpositionen, nach hinten schauend und nach oben und nach unten
gebracht, es hat immer eine Auswirkung. Das fand ich unheimlich interessant.
Ja, das ist phantastisch, also ich habe da nichts einzuwenden. Jetzt schließe ich diesen Austausch ab,
damit wir noch ein bisschen für was anderes auch Zeit haben.
Es geht mir bei den Übungen und auch danach bei dem Austausch immer darum, dass wir alle mehr
darüber lernen, wie wir mit dem Geist umgehen können. Wie wir ihm gut tun können, also heilsamen
Umgang, und wie wir ihn auch in Engen und Blockaden hinein führen. Nicht, dass ich in irgendeiner
Weise beabsichtige, euch extra in eine Blockade zu führen, aber das passiert eben. Und es geht darum,
zu sehen, wie uns auch die bestens gemeinten Meditationsinstruktionen in Blockaden führen können,
und dass wir Lösungen dafür finden und diesen Lösungen vertrauen. Damit wir unserer eigenen
Fähigkeit, Lösungen zu finden für das, was uns gut tut, vertrauen.
Das erscheint mir so ein wesentlicher Punkt. Gerade im Vajrayana gibt es so viele Vorgaben, was man
mit dem Geist machen kann, und dabei wird das Prinzip manchmal nicht genau genug erläutert und
verständlich gemacht. Das Prinzip ist dieser kreative Umgang mit dem eigenen Geist. Was jetzt gerade
so schön beschrieben wurde, nennt man die Entstehungsphase. Da findet Schöpfung statt, wir er-
schaffen innere Welten. In diesen inneren Welten, die da entstehen, entwickeln wir den Blick auf die
Natur dieses Geschehens. Wir beginnen zu durchschauen, dass all unser Erleben geistiges Gestalten
ist, dass alles die Natur hat, wie Zeichnungen im Wasser zu vergehen, oder wie Wölkchen im Himmel
oder wie Schneeflocken auf einem heißen Stein usw., dass alles diese Natur hat, aber dass wir auch
eine Wahl haben.
Wir können uns immer mit dem Blick in diese Natur hinein befassen, wir können aber auch den
Inhalten Aufmerksamkeit schenken und schauen, woher denn diese Bläschen auftauchen, was da
kommt, was ihr Inhalt ist, worauf sie hinweisen, und so auf vielfältige Weise unseren Weg gehen. Bis
zum Schluss – und das ist immer der Schluss der Praxis – sich all dieses Gestalten auflöst und wir in
einfachem So-sein ruhen. Dann merken wir: das ist immer da. Welten entstehen und vergehen. Grund-
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legend ist immer dieses feine, offene, vibrierende Gewahrsein da, völlig unabhängig davon, ob es
denkt oder nicht denkt, ob Wahrnehmung stattfindet oder nicht. Das ist die Grundlage des Seins.
So durchlaufen wir mit unseren Meditationen Zyklen des Erforschens unserer Welt, unseres inneren
Erlebens. Wir nutzen manchmal bestimmte Methoden, um bestimmte Verständnisprozesse anzuregen,
und wenn sie sich vollzogen haben, können wir mit anderen Methoden weiter arbeiten, und allmählich
kennen wir uns richtig aus in unserem Geist. Mit der Zeit sind wir sehr, sehr vertraut mit dem, wie bei
uns bestimmte Geisteszustände entstehen, wie sie sich auflösen und sind damit wieder voll bei den
Unterweisungen von Buddha Shakyamuni. Wenn ihr euch das anschaut, was da im Satipatthana-Sutra
steht, dann ermutigt er die Praktizierenden zu untersuchen, wie ein Gedanke entsteht, wie eine Emo-
tion entsteht und wie sie sich auflösen. – Wie wird der Geist eng, wie wird der Geist weit? Wie
entsteht Verspannung, was führt zu Entspannung? Ist noch Haften vorhanden? Wenn ja, woher ist es
gekommen? Wodurch löst es sich auf? Was verstärkt das Anhaften?
Diese Fragen findet ihr alle schon in den Lehrreden von Buddha Shakyamuni über das Entwickeln von
Gewahrsein. Im Satipatthana-Sutra und im Mahasatipatthana-Sutra wird das alles sehr, sehr schön
beschrieben. Und genau das machen wir. Das führt zu diesem Gewahrsein. Wir werden uns bewusst,
was los ist, was Sache ist, wie der Geist funktioniert. Wie Verstrickung funktioniert und wie es zu ei-
nem gelösten Sein kommt. Das sind wir dabei zu untersuchen. Wenn wir uns darüber nicht aus-
tauschen würden, würde uns etwas Wesentliches fehlen. Wir könnten nicht andocken an die Erfahrung
von anderen. Das ist für mich immer mit das Schönste, eure Berichte zu hören, weil wir so alle Anteil
daran haben und merken, dass das, was wir selber erfahren, sich im Rahmen unserer Gruppe zum Teil
auch verallgemeinern lässt. Das sind allgemeine Prinzipien, die da offenkundig werden. Es funktio-
niert offenbar nicht nur in meinem Geist so, es scheint auch bei anderen so abzulaufen.
Und das gibt eine Sicherheit. Von dieser Sicherheit habe ich vorhin bei den Unterweisungen zu Karma
gesprochen: „Ah! So mit dem Geist umzugehen hat diese Auswirkung. Anders mit dem Geist
umzugehen, hat andere Auswirkungen.“ Diese Sicherheit entsteht, und dadurch kann ich mein Leben
in die Hand nehmen, weil ich allmählich lerne, wie ich meinen Geist ausrichten kann und mir die
Möglichkeit gebe, das auch zu tun.
Teilnehmer: Es heißt, der Geist ist grenzenlos. Nach meiner Erfahrung, Sinneseindrücke natürlich
finden im Raum statt, aber bei den Gedanken. Es ist mir noch nie gelungen, außerhalb des Kopfes zu
denken. Ich habe es immer wieder versucht, aber es ist mir nie gelungen. Jetzt frage ich mich, ob das
begriffliche Denken notwendigerweise an meinen Körper gebunden ist.
Ja, solange wir im Körper sind und ein Gehirn haben, wird das Denken immer im Gehirn stattfinden.
Ja, der Geist, ich kann mich überall hindenke. Aber wenn ich schau, wo das passiert, erlebe ich es
immer nur im Kopf.
Ich habe das noch nie als Ziel gehabt, außerhalb meines Kopfes zu denken. Das interessiert dich auf-
grund der Frage, ob das Denken ans Gehirn gebunden ist?
Ein Lehrer hat einmal gefragt, wo Gedanken stattfinden. Das hat mich beschäftigt.
Aber du hast ja auch keinen Beweis dafür, dass sie im Kopf stattfinden.
Im Erleben finden sie im Kopf statt.
Na ja, das ist eher so dein wissenschaftliches Wissen.
Nein, das ist mein Erleben.
Dein Erleben?
Es ist mir, wie gesagt, nicht gelungen, also außerhalb des Kopfes zu denken.
Aha. Ich weiß, dass Leute zum Beispiel sagen können, „Ah ja, ich verlagere jetzt mal so das Gefühl,
wo ich denke, in den Bauch.“ In Asien, wo man über die Funktion des Gehirns nicht so Bescheid
wusste, haben viele immer so vom Herzen her gedacht.
9. Karmapa, Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins Lama Tilmann, Möhra 2013
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Das bleibt dann trotzdem im Körper. Mir geht’s darum, ob begriffliches Denken quasi an Materie
gebunden ist.
Tatsächlich ist die Frage, ob es in der Vorstellung möglich ist, zu denken, dass außerhalb des Körpers
gedacht wird. Es gibt genug Patienten in der Psychiatrie, die das denken. Es ist offenbar möglich, dass
Gedanken außerhalb des Körpers entstehen, die fremd, als außerhalb des Kopfes wahrgenommen wer-
den. Aber die eigentliche Frage wäre ja, wie weit Denken und Körper überhaupt eins sind. Die Ant-
wort darauf ist wohl, dass – solange wir in diesem Körper sind, solange der Geistesstrom mit dem
Körper verbunden ist – Körper und Denken untrennbar miteinander verbunden sind. Unabhängig von
unserer Vorstellung. Auch bei denen, die denken, dass sie außerhalb denken, auch bei denen sind Kör-
per und Geist verbunden.
Die Frage geht weiter: Was passiert nach dem Tod? Gibt es begriffliches Denken in dem Sinn oder
gibt es da anderes Erleben?
Offenbar gibt es alles Erleben, aber ich weiß das ja auch nicht. Ich habe ja auch nicht direkten Zugang.
Da gibt es Belehrungen.
Da gibt es Belehrungen, das ist ganz klar. – Alle sechs Sinne funktionieren weiter, nachdem sich
Körper und Geist getrennt haben. Darüber gibt es sehr detaillierte Beschreibungen. Da gibt es Beleh-
rungen. Aber wenn ich diese Belehrungen weitergebe, dann zitiere ich Belehrungen und spreche nicht
mehr aus der eigenen Erfahrung.
Gendün Rinpoche wurde z.B. danach gefragt, wie es jemandem geht, der in diesem Leben geistesbe-
hindert war, oder wie es einem Kind nach dem Tod geht. Oder ob wir einem Kind, das stirbt, nach
dem Tod dieselben Unterweisungen geben wie einem Erwachsenen, der stirbt. Da war für Gendün
Rinpoche z.B. ganz klar – egal, welche Entwicklungsstufe jemand in diesem Leben hatte oder ob er
eine durch das Gehirn bedingte geistige Behinderung hat –, das alles ist nach dem Tod weg. Man kann
ganz normal kommunizieren bei voller Möglichkeit zu verstehen. Unterweisungen darüber gibt es zu
Hauf, mündliche und geschriebene Instruktionen. Daran mangelt es nicht; nur an – jetzt in diesem Fall
– meiner Fähigkeit, dir aus Erfahrung darauf zu antworten.
Mir ist dazu noch eine Kleinigkeit eingefallen. Vor kurzer Zeit hat mir in München ein Hirnforscher,
der sein Leben lang vehement die These vertreten hat, dass Denken immer von einem intakten Gehirn
abhängig ist, etwas Interessantes erzählt. Er musste sich einer Operation unterziehen, und während der
Operation kam es zu erheblichen Zwischenfällen. Über mehrere Minuten war sein EEG auf der Null-
Linie. Das bedeutet, das Gehirn war ohne irgendeine Funktion. Er ist aber wiederbelebt worden und
zurückgekommen. Genau für die Zeit, in der er klinisch tot war – Null-Linien-EEG – hatte er absolut
präzise Erinnerungen und konnte seinen Kollegen detailliert beschreiben, was sie gesprochen haben,
wie aufgeregt sie waren, was sie alles angestellt haben, um ihn zurück zu holen. Ich kann euch den
Link gerne schicken, ich habe seinen Namen leider vergessen.
Teilnehmer: Ich habe ein Erlebnis aus meiner Studienzeit, wo ich in der Klinik gearbeitet habe und
selber auf Station dabei war. Ein Patient hatte die Augen zu, wir hatten Null-Linie, und er hat danach
genau gesagt, wer was gemacht hat.
Der Hirnforscher hat nach seinem Erlebnis ein Buch darüber geschrieben und ist jetzt ein vehementer
Verfechter der These, dass Wahrnehmen und Denken nicht mit dem Gehirn zusammenhängen. Da
seine Erfahrung unbestreitbar dokumentiert ist und er als Hirnforscher auch alle Elemente hat, um
solch eine Erfahrung auf dem jetzigen Stand der Wissenschaft einzuschätzen, ist das ein ziemliches
Zeugnis für das, was die buddhistischen Lehrer immer behaupten und was viele Menschen schon
erleben. Und du sagst jetzt auch, dass du es damals während deines Studiums erlebt hast. Ich habe
auch schon Chirurgen getroffen, die das erlebt haben; auch einen Chirurgen, der immer wieder genau
solchen Beschreibungen nachgegangen ist. Aber wenn es zu so einer Konversion von einem Hirn-
forscher führt, der vorher ganz anderer Anschauung war, und dann diese Position jetzt vertritt, das ist
schon interessant.
Für die restliche Viertelstunde ermutige ich euch zu konsequentem Nichtstun.
9. Karmapa, Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins Lama Tilmann, Möhra 2013
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11. Die sachliche Bedingung: Das richtige Meditationsobjekt
Das ist die dritte der vier Bedingungen für die Mahamudra-Erfahrung, die sogenannte sachliche oder
objektive Bedingung. Der Ausdruck das richtige Meditationsobjekt ist ziemlich nahe am Tibetischen.
Man könnte auch sagen, die richtige Ausrichtung für die Meditation.
[13.2] Durchtrenne vollständig alles Festhalten an begrenzten Auffassungen, die durch Definitio-
nen und begriffliches Denken entstanden sind, und lass Gewissheit entstehen, dass das, was zu
nichts im Widerspruch und allem überlegen ist, die unwandelbare Natur, der natürliche Zu-
stand, die Natur der Phänomene ist. Das ist das richtige Meditationsobjekt, die sachliche Bedin-
gung. Sich so Gewissheit zu verschaffen, ist der elfte Punkt.
Der Erfahrung von Offenheit – Leerheit, Offenheit, zeitloses Gewahrsein – gehen Bedingungen
voraus. Die eine ist, dass wir gerade mit nichts anderem beschäftigt sind. Das nennen wir Entsagung,
der Geist wird gerade von nichts anderem in Anspruch genommen. Das zweite ist, dass eine von den
vier Arten von Lehrern aktiv wird. – Durch menschliche Lehrer, den Segen einer Textstelle, die Kraft
der Natur des Geistes selbst oder durch Situationen wird etwas ausgelöst bzw. frei gesetzt, was den
Geist auf die wahre Natur des Erlebens richtet.
Als Beispiel dazu die berühmte Geschichte eines Zen-Mönchs, der beim Fegen des Hofes einen Stein
an die Brüstung fegt und durch das Klack-Geräusch an der Brüstung ein Satori erlebt, einen Moment
wirklicher Öffnung. Er war mit nichts anderem beschäftigt, das war die Bedingung der Entsagung. Der
Lehrer der Situation hat den Geist so ausgerichtet, dass der Mönch nicht beim Klang an sich war,
sondern sich im Moment, wo der Klang entstanden ist, mit der Natur des Erlebens verbinden konnte.
Das richtige Meditationsobjekt ist hier nicht der Klang des Kiesels an der Brüstung, sondern das Ein-
treten in die Erfahrung von „Wie ist das eigentlich zu erleben?“ und darin die nicht fassbare Natur des
Gewahrseins zu erleben. Das ist das richtige Meditationsobjekt, die richtige Ausrichtung der Medita-
tion.
Es geht also darum, nicht bei den Inhalten zu bleiben, sondern bei dem ‚Wie’. Wie vollzieht es sich?
Wie ist das Gewahrsein, das all dies wahrnimmt? Normalerweise würde man ja denken: „Klack! Das
ist ein Kiesel.“ Wir hören den Geräuschen zu und meditieren auf die Geräusche. Aber auf die Ge-
räusche zu meditieren, ist nicht die passende Ausrichtung für die Meditation um Mahamudra zu erfah-
ren. Wir müssen die Geräusche loslassen und in die Natur der Erfahrung eintreten können. Da entsteht
Mahamudra. Oder: Ihr streicht euch z.B. über das Gesicht. Wir können dabei bleiben, das Streicheln
zu fühlen. Aber wenn wir in das Gefühl hineingehen: „Wie ist es zu fühlen?“, dann geht es nicht mehr
um das Streicheln, sondern um das ‚Wie’ der Erfahrung, wie ist es zu fühlen? Und wir treten in diesen
magischen Raum ein, wie es ist zu erleben. Das ist das Wunder des Lebens überhaupt. Die Magie allen
Lebens ist dieses Gewahrsein, das nicht mehr am ‚Was’ haftet, sondern sich seiner eigenen Natur
bewusst wird. Darin öffnet sich das tiefe Erkennen.
Jetzt sind es noch Begriffe, mit denen ich versuche, euch darauf hinzuweisen, hinzudeuten. Ich gehe
noch einmal Satz für Satz, Zeile für Zeile durch, was Karmapa da schreibt:
Durchtrenne vollständig alles Festhalten an limitierenden, begrenzenden Auffassungen.
Limitierende Auffassungen sind, wenn wir z.B. sagen: „Das ist so!“, „Das ist nicht so!“ Immer wenn
wir schon eine Idee darüber haben, wie etwas ist. Wir haben z.B. schon so oft den Klang von
Steinchen gehört und unbewusst haben wir die Idee: „Ah! Steinchen klingen so.“ Weil wir zu wissen
meinen, wie Steinchen klingen, hören wir gar nicht mehr zu. Wir hören gar nicht mehr hin, wenn so
ein Kiesel ans Holz knallt und sind dadurch getrennt von der unmittelbaren Erfahrung.
Unseren Partner schauen wir z.B. gar nicht mehr richtig an, wir kennen ihn ja schon seit zehn oder
zwanzig Jahren. Wir haben eine Vorstellung, und diese Vorstellung ist limitierend. Sie ist einengend,
begrenzend, weil sie uns das direkte, augenblickliche Erleben unmöglich macht. Man nennt das im
9. Karmapa, Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins Lama Tilmann, Möhra 2013
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Dharma die Vorstellung über Existenz und Nichtexistenz. Da schwingt etwas Philosophisches mit,
aber subjektiv bedeutet es für uns dieses Gefühl, schon zu kennen, schon zu wissen.
Um in ein direktes Erleben zu kommen, geht es darum, diesen Anfängergeist – wie Suzuki Roshi ihn
genannt hat – zu entwickeln, diesen ganz frischen, naiven Geist. Es ist die Haltung, als hätte ich etwas
noch nie erlebt. Das ist ja auch so. Ich habe den jetzigen Atemzug noch nie erlebt. Aber das muss ich
mir erst klar machen. Um diesen jetzigen Atemzug wirklich spüren zu können, muss ich mir klar
machen, dass ich ihn noch nie vorher geatmet habe und ihn nie wieder atmen werde. Ich habe schon
Millionen Mal geatmet, aber der jetzige eine Moment der Erfahrung – jetzt … der gerade … der da …
der da – dieser eine Moment ist nur ein einziges Mal. Es gibt ihn vorher nicht und nachher nicht. Da
finden wir aus diesen einengenden, limitierenden Vorstellungen heraus. Wir schreiben nichts mehr
fest. Wir sind ganz im Sein, sogar ohne Momente von Zeit festzuschreiben. Wir sind einfach im Fluss
dieses Erlebens.
Wir müssen alle Definitionen, auch Dharma-Definitionen – was das Erwachen ist, was Leerheit ist,
wie die Meditation zu sein hat – loslassen. Definitionen, Begriffe ermöglichen ein gewisses
Verständnis, und wenn wir uns diesem Verständnis annähern, müssen sie hinter uns gelassen werden.
Wir können nicht die Meditation eines anderen ausüben. Wir können nicht das praktizieren, was in
den Büchern steht. Meditation findet im nicht fassbaren Jetzt statt. Alle Begriffe, alle Definitionen
wirken hinderlich dafür. Sie stellen sich zwischen uns und das direkte Erleben. Obwohl sie so hilfreich
sind, müssen Begriffe zurückbleiben, wenn es um das direkte Erleben geht. – Es sei denn, wir machen
den Begriff zum direkten Erleben. Aber auch dann tritt der Begriff zurück. Liebe z.B. ist ein abstrakter
Begriff, der für uns ganz viel bedeutet, aber er ist nicht das Erleben von Liebe. Der Begriff, den ich
mir mache von dem, was Liebe ist, muss im Erleben von Liebe zurücktreten, muss losgelassen
werden. Dann kann ich wirklich fühlen, dann kann sich das Erleben einstellen. Man kann dann
nachträglich noch einen Begriff dafür benutzen.
Alle Begriffe – Ich und Du, Sein und Nichtsein, wirklich und nicht wirklich –, auch die schönsten
Dharma-Begriffe, haben nichts zu suchen in der unmittelbaren Meditation. Durchtrenne all das heißt:
Lass all das los.
… und verschaffe dir Gewissheit, dass das, was zu nichts in Widerspruch steht und allem
überlegen ist, diese wahre unwandelbare Natur ist, der natürliche Zustand, die Natur der
Phänomene – Dharmata.
Mit verschaffe dir Gewissheit – man kann auch sagen lass Gewissheit entstehen – ist gemeint: Sei so
präsent, dass Gewissheit entsteht. Es gibt eine Art zu meditieren, präsent zu sein, die diese inneren
Ahnungen zur Natur des Geistes, zur Natur der Phänomene nährt und diesem ahnenden Wissen Raum
gibt, sich zu entfalten. Das wird oft ‚die Schau des nicht zu Sehenden’ genannt oder das ‚Nichtsehen’.
Das ist mit verschaffe dir Gewissheit gemeint. Damit sind Bewegungen im Geist gemeint, all diese
verschiedenen Lhagtong-Fragen, durch die wir uns Gewissheit verschaffen: „Wer meditiert da eigent-
lich?“ „Wie ist es zu sein?“ Diese Fragen stoßen die existentielle Thematik an und brauchen keine
begriffliche Antwort. Sie sind nur dafür gedacht, diesen inneren Raum des Erlebens zu öffnen. Wir
nutzen sie, um uns Gewissheit zu verschaffen und immer wieder klar zu sehen. –„Aha! … Aha! …
Aha! …“ Gar nicht mehr als das, nur dieses nicht Definierbare, dieses nicht fassbare, völlig gewahre
So-sein. „Aha! …“ Das ist immer wieder da. Ein Ich, einen Geist mit Farbe und Form und einem Ort
kann ich nicht finden! Da ist nichts zu finden, aber immer wieder, immer wieder: „Das da!“ Das, was
ich das Gewahrsein nenne oder das Zeitlose, das nicht Benennbare, Numinose. – „Dieses da!“
Das nennt man sich Gewissheit verschaffen, immer wieder hin zu schauen, die Entdeckung zu vertie-
fen. Zuerst einmal sind es Entdeckungen, die noch sehr stark begrifflich eingepackt sind, und
allmählich wird es immer leichter und braucht auch gar keine Benennung mehr. Wir werden so
vertraut damit, dass es unser Zuhause wird. Das ist dann nicht mehr das Ich, das in ein Zuhause geht,
sondern dieser Geistesstrom ist Zuhause im Erleben selbst und braucht keine Artefakte mehr, braucht
keine künstlichen Begriffe, um sich abzusichern, dem Ganzen einen Namen zu geben und zu sagen:
„Das ist es!“ All das löst sich auf und innen drin entsteht eine Gewissheit. Bei den meisten Menschen
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ist es ein gradueller, allmählicher Prozess. Es gibt wenige Meditierende, bei denen das so eine klare
Erfahrung ist, die dann die volle Gewissheit hinterlässt. Das ist sehr selten.
Das nennt man den natürlichen Zustand oder das natürliche Sein, die Soheit, das So-sein. Das sind
verschiedene Begriffe für das, was das eigentliche Meditationsobjekt ist. Darum geht es eigentlich.
Wenn wir uns bei den Objekten verkehrt ausrichten und z.B. bei der Atemmeditation dabei bleiben,
den Atem zu zählen, dann sitzen wir ein Leben lang und zählen. Wir haben dann mit dem Atem ein
Meditationsobjekt, das sich als Hindernis für die Mahamudra-Erkenntnis auswirkt. Wir sind in einer
Fixierung auf ein Meditationsobjekt. Obwohl es zunächst so hilfreich war, um Geistesruhe zu ent-
wickeln, wirkt es sich hinderlich aus, wenn wir zu lange daran festhalten und nicht in die subtileren
Dimensionen des Erlebens gehen. Irgendwann müssen wir das Zählen lassen. Wir müssen die beob-
achtende Distanz zum Atem aufgeben und zum Atem werden. Wir müssen es atmen lassen, es geht um
das atmende Erleben. Da sind wir auf dem richtigen Weg und kommen dann in dieses Ahnen, Schauen
hinein, in das nicht Fassbare. Das ist hier gemeint mit dem richtigen Meditationsobjekt. Das ist die
objektive oder sachliche Bedingung.
12. Die unmittelbare Bedingung: Frei von Hoffnung und Furcht
[13.4] Frei von Haften an Meditation aufrichtige Ausdauer hervorzubringen und dabei keine
Gedanken der Hoffnung und Furcht zu hegen, wie: „Ich meditiere, ich soll meditieren, ich habe
meditiert; es ist gut, wenn Meditation entsteht; schlecht, wenn keine entsteht“, also frei von
allem Hoffen und Befürchten zu sein, ist die unmittelbare Bedingung [für das Eintreten in
Mahamudra]. In ungekünsteltem Sein zu praktizieren ist daher der zwölfte Punkt. Das waren
die vorbereitenden Übungen.
Einer Erfahrung von Mahamudra unmittelbar vorausgehend ist immer ein Freisein von Hoffnung und
Furcht. Das ist das, was unmittelbar vorausgeht. Der Geistesmoment gerade vorher ist frei von
Hoffnung und Furcht. Das ermöglicht, dass der Geist sich tatsächlich in diese große Offenheit hinein
weitet.
Die vier Bedingungen:
1. mit nichts was auch immer verstrickt sein – Entsagung;
2. durch Lehrer, durch Text, durch die Situation oder durch eine Ahnung von der Natur des
Geistes selbst inspiriert sein, wie so ein Türöffner, ein Geistöffner
3. die Aufmerksamkeit auf das Eigentliche richten, auf die Natur der Erfahrung und nicht die
Objekte, die Inhalte der Erfahrung
4. frei von Hoffnung und Furcht, nichts wollen und nichts vermeiden wollen
Wenn diese vier Bedingungen zusammen kommen, dann entsteht Mahamudra. Mahamudra selbst ist
nicht bedingt, aber es gibt Bedingungen, die das Auftreten von Mahamudra ermöglichen. Solche Be-
dingungen versuchen die Meister bei Ermächtigungen oder bei Erklärungen zu Mahamudra, bei spe-
ziellen Übertragungssituationen zu schaffen. Und das kann manchmal dann auch tatsächlich so funk-
tionieren. Gendün Rinpoche erzählte uns davon. Auf seinen Reisen in Deutschland gab es Menschen,
die seine Unterweisungen hörten und dann nur noch das Zuhören da war. Entsagung war klar da,
nichts anderes war dem Geist präsent. Dann war da der Lehrer, der aus dem Erleben sprach. Der Geist
der Zuhörer wurde durch die Worte ausgerichtet auf die wahre Natur des Erlebens. Es gab überhaupt
keine Anstrengung, wo sie gar nicht merkten, dass sie meditierten. Und es kam zu Momenten der
Erkenntnis. Wenn diese Bedingungen so zusammen kommen, dann ist das jederzeit möglich.
Das sind die vier wesentlichen Bereiche, denen wir langfristig in unserer Praxis Aufmerksamkeit
geben sollten. Es geht darum, immer mehr in diese Richtung zu gehen.
Gibt es dazu Fragen?
Teilnehmer: Heute Vormittag in der Pause habe ich eine tolle Erfahrung gehabt. Und zwar bin ich
hinauf gegangen und habe mich auch in die Sonne hingestellt, ein paar Minuten. Und es war
überhaupt nichts, keine Gedanken, ich habe nicht vorgehabt, irgendetwas zu tun. Und dann gehe ich
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hinunter und da war ich so offen in meinem Geist. Ich habe jemanden gleich umarmen müssen, und
auch einen zweiten und dritten habe ich umarmt. Ich war total offen… ich habe nichts vorgehabt.
Ja, Erfahrung von Offenheit, einfach so. Das hättest du auch zu Hause haben können.
Nein, nein! Da war schon das Sitzen wichtig. Ohne Sitzen wäre das nicht gewesen, sicher nicht.
Was wir so Geist nennen, das, was so gewahr ist, das ist einfach phänomenal. Wenn wir es wirklich
loslassen, ihm alle Freiheit geben, wie viel Schönes wir damit erleben können, ist unglaublich. Un-
glaublich, einfach so! Es ist so ein Geschenk, einen Geist zu haben! Ich sage ja nicht, dass den jemand
hat, aber ich kann mich auch nicht anders ausdrücken. Es ist phantastisch, was wir erleben können,
wenn wir uns entspannen und öffnen. Es ist doch völlig egal, ob es sich um das Erwachen handelt oder
um irgendwas anderes. Hauptsache, diese Qualitäten zeigen sich.
Meditation
Lasst uns gemeinsam hinein fühlen in dieses fließende Erleben, das wir immer wieder „jetzt“ nennen.
– Befindlichkeiten, die sich abwechseln, … Stimmungen, die durch rauschen, … viele, viele
Sinneswahrnehmungen, … denken. –
Was bleibt von einem Gedanken, wenn er gedacht wurde und schon der nächste da ist? –
Was bleibt von einem Gefühl, ob es nun Freude ist oder Trauer, nachdem es erlebt wurde? –
Manchmal werden all diese Erfahrungen verglichen mit Wellen im Wasser. –
Manchmal wird ein Gedanke verglichen mit einer Zeichnung im Wasser. –
Teilnehmerin: Was ist das, wenn man etwas wahrnimmt, das gar nicht da ist? Was ist zum Beispiel mit
einem Geräusch?
Das hält man für eine Halluzination.
Ja, aber das passiert doch manchmal. Wir haben mitgekriegt, dass manche in der Meditation jetzt
akustisch was gehört haben, was nur sie gehört haben.
Ja, ja, das gibt es häufig, das sind innerlich entstehende Geräusche.
Heißt das, dass ich jetzt schizophren bin?
Nein, es geht uns allen so. Das kann in allen Sinnesbereichen sein. Beim Hören ist es oft, es kann auch
mal beim Sehen sein, auch im Spüren und Fühlen. Man kann z.B. davon überzeugt sein, dass eine
Ameise über den Rücken läuft, aber da ist gar nichts. Es gibt in jedem Sinnesbereich solche von innen
her entstehenden Empfindungen. Denen begegnen wir in der Meditation mit der gleichen Haltung wie
allem anderen auch.
Ist das dann eine Art Reinigung, die so hochkommt?
Da bin ich mir nicht so sicher. Es gehört einfach mit dazu. Es ist so ein Durchgangs-Phänomen. Ob
das eine Reinigung ist, weiß ich nicht. Wenn es stärker wird, dann empfehle ich, doch zum Arzt zu
gehen. Nimm es einfach mit Humor. Ich praktiziere ja auch schon paar Jahre und mir passiert das
immer noch, dass solche Parästhesien auftreten und dann wieder verschwinden. Dabei bin ich auch
von diesem Erleben überzeugt, aber da war gar nichts. Ich bin auch noch nicht zum Arzt gegangen,
würde es aber auch nicht als eine Reinigung bezeichnen. Es ist einfach etwas, das auftaucht.
Teilnehmer: Ist dir schon mal passiert, dass dir Tränen gekommen sind?
Ja, ja. Das ist mir auch schon passiert. Ist das eine Reinigung?
Ist das schon lange her bei dir?
Nein, das ist nicht lange her. Und auch da weiß ich nicht immer, woher sie kommen. Die kommen
manchmal einfach. Da kann ich nur sagen: „Offenbar bin ich ziemlich berührt!“ Manchmal kann ich
selbst das nicht mit Sicherheit sagen, die kommen einfach.
Ist es dir gerade so gegangen? Ja, das geht mir auch jetzt noch oft so.
9. Karmapa, Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins Lama Tilmann, Möhra 2013
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Teilnehmerin: Meine Empfindung jetzt ist ganz eigenartig. Der Raum, alles ist irgendwie so dicht ge-
worden, die Farben so intensiv … irgendwie komisch.
Danke, ja. So etwas ist eindeutig Teil dieser Erfahrungen, die auftreten – unsere Farbwahrnehmung,
Raumwahrnehmung ändern sich. Das bleibt auch nicht so. Interessant, was sich da alles so verändern
kann. Ihr wart ziemlich ruhig jetzt in der Meditation – Mittagsschläfchen oder echte Ruhe? Das war
eine echte Ruhe, nicht? Ihr wart ziemlich friedlich.
Wir haben zu Anfang der Meditation, ohne dass ich es so benannt habe, ein bisschen über Wandel und
Veränderlichkeit kontempliert. Ich habe ein paar Dinge über die Natur der Gedanken, der Emotionen
gesagt – wie Wellen im Wasser, wie Zeichnungen im Wasser. Für mich hat dieses Bild der Zeichnun-
gen im Wasser eine starke Wirkung, wenn ich es mir im richtigen Moment bewusst mache.
Teilnehmerin: Auf mich auch. Ich denke, weil ich dann nicht darüber nachdenken muss. Ich kann das
Bild einfach sehen …
Ja, das ist die Kraft der Bilder. Darüber braucht man nicht mehr darüber nachzudenken, das wirkt. Es
kann dann noch lange nachwirken.
Teilnehmerin: Als du das mit den Wellen gesagt hast, da habe ich mir überlegt, ob sie unbewusst von
mir kommen, oder ob sie mich erreichen.
Und?
Ich habe keine Lösung gefunden.
Wie wär’s mit beidem? Stellt euch vor, wir alle sitzen in einer großen Badewanne. Alle plätschern und
machen Wellen. – Wenn ich viel Zeit habe, dann ist eine meiner beliebten Übungen, in der Badewanne
zu liegen und zu versuchen so still zu werden, dass keine Wellen mehr entstehen. Das geht nicht. Es
bleibt immer noch der Herzschlag, und selbst wenn die Atmung ganz fein wird, verursacht der
Herzschlag noch Wellen. Das ist vergleichbar mit der Vitalität unseres Geistes – wenn wir sie nicht
irgendwie abmurksen. Da ist eine Vitalität im Geist, die bewirkt, dass immer ein bisschen was los ist.
Es ist eine vibrierende Grundaktivität.
Andere Beobachtungen noch zur Meditation, zur Praxis?
Teilnehmerin: In der Badewanne kann ich ganz entspannt und auch ruhig werden. Wenn ich jetzt hier
sitze und relativ viel Spannung habe, habe ich manchmal das Bedürfnis, auch mal laut zu schnaufen
oder mich zu bewegen. Du hast ja gesagt, dass so was vom Körper kommt. Wenn ich zu Hause aber
allein sitze, da könnte ich dem auch mal nachgeben. Oder ist es besser, dann …
Es gibt dazu eine wunderbare Form der Meditation. Ich hatte mir schon überlegt, ob ich sie euch an-
bieten soll, aber wir sind dafür vielleicht zu Viele. In dieser Form des meditativen Seins werden wir
ganz still und spüren dann, welche Bewegungen der Körper machen möchte. Wir machen diese Bewe-
gungen dann ganz sanft einfach so mit. Der Körper sucht sich seinen Ausgleich, und irgendwann
kehren wir zurück in eine Haltung, in der wir dann bleiben. Bei mir ist es oft das Sitzen. Dann ist erst
einmal lange Zeit Ruhe, weil sich die körperliche Ausgeglichenheit eingestellt hat. – Du hast ja eine
lange Krankengeschichte hinter dir, da könnte es sehr hilfreich sein, täglich oder jeden zweiten Tag so
eine Meditation mit sanfter Bewegung, mit Strecken und Dehnen zu machen, bis du merkst, dass sich
alles ausgeglichen hat. Darin verweilst du dann.
Teilnehmerin: Können wir das nicht trotzdem machen? Ich habe auch den Bedarf nach mehr meditati-
ver Bewegung.
Ja, wir werden sehen.
9. Karmapa, Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins Lama Tilmann, Möhra 2013
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Wiederholung der vier Bedingungen
Worum geht es bei den vier Bedingungen?
Teilnehmer: Entsagung, Lehrer für die Inspiration, richtiges Meditationsobjekt, jenseits von Hoffnung
und Furcht.
Gebt nun bitte jeweils eine kurze Erklärung zu jeder dieser Bedingungen. Was bedeutet Entsagung?
Teilnehmer: Entsagung von den Gedanken, Festhalten loslassen, Fixierungen loslassen.
Ja, Fixierungen loslassen, Anhaftungen loslassen können, ins Fließen kommen.
Teilnehmerin: Einfaches Leben, damit man nicht vom Wesentlichen abgelenkt wird.
Auch das gehört dazu.
Teilnehmerin: Das zu leben, was einem gut tut.
Das ist ein ganz wesentlicher Punkt! Leben, was einem wirklich gut tut. Nicht aufgeben, was einem
gut tut, sondern leben, was einem gut tut und das aufgeben, was einem nicht gut tut.
Wie war das mit den Lehrern? Da gab’s doch mehrere?
Teilnehmer: Menschlicher Lehrer, Texte, Dharmakaya und Lehrer der Situation.
Ja, Dharmakaya – die Natur des Geistes – und die Situationen.
Was ist das Wesentliche an jedem dieser vier Lehrer?
Teilnehmer: Der menschliche Lehrer, der äußere Lama, hat die Aufgabe, den inneren Lama zu akti-
vieren.
Das ist seine Aufgabe, ja. Was bedeutet ‚Übertragung’ in dem Zusammenhang oder ‚Übertragungs-
linie’?
Teilnehmerin: Dass der Lehrer in der Lage ist, dem Schüler den richtigen Weg zu zeigen.
Ja genau, das ist die Essenz der Übertragungslinie. Was ist denn mit den Texten gemeint?
Teilnehmerin: Die korrekte Orientierung.
Ja, eine verlässliche Orientierung und Inspiration zu finden. Was ist mit dem inneren Lama gemeint?
Teilnehmer: Der kommt dann, wenn ich den äußeren Lama nicht mehr brauche.
Teilnehmerin: Wenn ich die Einsicht in die wahre Natur gewonnen habe und sie sozusagen stabil
immer wieder hervorrufen kann und bewusst reingehen kann.
Genau, das ist der springende Punkt. Einen verlässlichen Zugang zu dieser inneren Dimension des Er-
wachens, zur Natur des Geistes, zu haben, sodass wir uns tatsächlich auf diesen Lehrer stützen
können. Dann löst der innere Lama den menschlichen Lehrer ab.
Und wie beschreibt man den Lehrer der Situation?
Teilnehmerin: Man muss das Gefühl des Erwachens bereits erlebt haben, damit es in einer Situation
wieder aktiviert werden kann.
Ja, die Situationen sind uns ein Anstoß, dass wir uns an die wahre Natur der Erfahrung erinnern. Die
Situationen lösen diese Art des Erlebens immer wieder aus, sie verstärken es. Natürlich sind Situatio-
nen auch Lehrer auf der relativen Ebene, wo wir Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge – Karma und
Muster, Schleier und dergleichen – verstehen. Aber vom Lehrer der Situation spricht man eigentlich
erst dann, wenn er immer wieder dieses Gewahrsein stimuliert, das tiefe Gewahrsein.
Eine kurze Erklärung zum richtigen Meditationsobjekt?
Teilnehmerin: Im Erleben anzukommen.
Ja, ist das eigentlich ein Objekt?
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Mehrere Stimmen: Ja!
Teilnehmerin: Eine Erfahrung, dass wir Gewahrsein anhand eines Objekts erleben.
Loslassen.
Teilnehmer: Richtig meditieren ist kein Objekt.
Genau! Hier wird ein bisschen absurd formuliert. Was hier ‚richtiges Meditationsobjekt’ genannt wird,
ist das klassische Nicht-Objekt: das Loslassen aller Fixierungen. Ihr erinnert euch noch, dass die limi-
tierenden Anschauungen losgelassen werden. Das heißt, die Ausrichtung in der Meditation, die wirk-
lich ins Erwachen führt, ist, die äußeren Objekte, die Bezugspunkte loszulassen und in dieses Sein
jenseits aller Limitierungen zu gehen. Das ist der springende Punkt bei der richtigen Ausrichtung in
der Meditation.
Die letzte der vier Bedingungen war nicht so schwer zu verstehen – frei von Hoffnung und Furcht – ist
aber ziemlich schwierig zu leben. Sich hinzusetzen um zu meditieren, dabei nichts vor zu haben und
trotzdem gewahr, präsent zu sein, ist fast die Quadratur des Kreises. Es ist ungefähr so, wie etwas tun
zu wollen, ohne es zu beabsichtigen. Im Grunde genommen geht es darum, bereit zu sein zu erwachen,
ohne es zu wollen. Das ist eigentlich gemeint mit ‚frei von Hoffnung und Furcht’. Wir haben eine
innere Ausrichtung, wir lassen alles Bestreben, alle Fixierungen los, und dann findet wirkliche Hinga-
be statt. Dann lassen diese Kontrollmechanismen los und wir treten ab. Dieses Ich tritt ab, die Kon-
trolle tritt ab und wir überlassen uns der fließenden Erfahrung in dem Wissen, dass dieses Vertrauen,
das da entstand, ohnehin der einzige Weg ist.
Letzten Endes ist es dann nicht mehr schwierig, aber es ist sehr schwierig auf dem Weg. Es ist immer
wieder genau dieser Punkt, alles Wollen loszulassen. Das wird dann ganz verlässlich. Die Erfahrun-
gen, die dann auftauchen, wenn wirklich alles Hoffen und Befürchten losgelassen wird, sind total
verlässlich. Aber diese Instruktion war für mich zunächst ein Enigma, ein eigentlich nicht zu lösendes
Rätsel. Wie soll denn das gehen, etwas frei von Hoffen und Befürchtung zu tun?
All das, was wir hier über Meditation als Vorbedingung für Mahamudra gesagt haben, geht dann auch
ins Handeln hinein. Wir sind also im Handeln, in der Begegnung mit anderen, ebenfalls frei von Ver-
strickungen; stets bereit, stets inspiriert, von dem Lehrer der Situation, der Natur des Geistes und so
weiter zu lernen, auch vom Anderen. Der Andere ist dann Teil der Situation, und wir lernen aus dem,
was in der Situation entsteht. Jenseits aller limitierenden Vorstellungen handeln wir in diesem Gegen-
wartsbewusstsein, frei von Hoffnung und Furcht.
Was wir hier als die vier Grundbedingungen für die Mahamudra-Praxis beschrieben haben, sind auch
Grundvoraussetzungen für erwachtes Handeln. Es ist immer wieder die Einheit der Lehre; es gibt
nichts Zusätzliches zu lernen. Was wir in der Meditation lernen, ist schon das, was wir für das
Handeln brauchen. – Sichtweise, Meditation und Aktivität.
Meditation
Wenn ich mir innerlich sage: „Ich meditiere jetzt!“, dann bedeutet das: „Ich bin jetzt ganz da!“ …
Ganz da mit allem, was ist, bzw. im Erleben von was auch immer kommt. –
Da ist kein Zurück-zucken oder Ausweichen, wenn Unangenehmes kommt und kein Festhalten, wenn
angenehme Erfahrungen entstehen. –
Fragt einmal in euch hinein: „Bin ich bereit, jetzt eine halbe Stunde mutig diesen Ort des Erlebens
einzunehmen, diesen Kraftplatz einzunehmen – komme was wolle?“ –
Langeweile, Alleinsein, Schmerzen, Spannungen, was auch immer für Gedanken auftauchen mögen;
auch Angenehmes, Freude. … Bei allem den Einen Geschmack der Bewusstheit kosten. … Alles Erle-
ben ist dieses Gewahrsein, ist durchdrungen von diesem nicht fassbaren Gewahrsein. –
Diese Bewusstheit zu spüren, zu leben, zu sein, hat etwas sehr Belebendes. Es ist in sich ein Quell der
Frische. Der Buddha sprach von der Freude, bewusst zu sein. –
9. Karmapa, Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins Lama Tilmann, Möhra 2013
61
Zum Abschluss widmen wir was auch immer wir an Heilsamem erfahren haben, was wir verstanden
haben. Wir widmen es dem Erwachen aller Lebewesen. Und gleich nachdem wir es sozusagen in den
Raum gegeben und allen Lebewesen geschenkt haben, nehmen wir eine innere Geisteshaltung ein, als
hätten wir es auch nie besessen, als hätten wir nie meditiert, nie etwas erkannt. Wir identifizieren uns
nicht mit dem, was war. Eine echte Widmung ist auf der relativen Ebene ein Akt des Herschenkens,
und auf einer tieferen Ebene sind wir nicht mehr identifiziert mit dem, was gerade war.
Rezitation der Schlussgebete und des Dewachen-Gebetes.
Die Bedeutung dieses Dewachen-Gebetes ist, dass wir das Vertrauen in unseren eigenen Geist stärken,
sodass wir den Sterbeprozess in solch einem Vertrauen in die mitfühlend weise Kraft des Geistes erle-
ben, dass wir unmittelbar, nachdem sich Körper und Geist getrennt haben, wieder in diesem Vertrauen
sind. Man nennt es auch das Vertrauen in Amitabha, den Buddha des grenzenlosen Lichtes. Das
grenzenlose Licht ist die natürliche Strahlkraft des Geistes und Tschenresi oder Avalokiteshvara ist
wie der Bote, der uns in diese Erkenntnis hineinführt.
Dewachen ist nicht ein Ort irgendwo in einer dieser Galaxien Richtung Westen. Dewachen ist in unse-
rem Geist, im Bewusstsein. Wir können es durch Vertrauen erreichen. Es wird beschrieben, dass wir
in Dewachen in einem Lotus geboren werden, und dass wir – symbolisch gesprochen – in diesem
Lotus bleiben müssen, dass der Lotus geschlossen bleibt, solange wir noch nicht das Antlitz Ami-
tabhas sehen können. Das ist die Zeit, die es braucht, um wirklich diese erste Mahamudra-Erkenntnis
erfahren zu können. Der Lotus öffnet sich sofort für diejenigen, die im Sterbeprozess so tief loslassen
können, dass sie direkt in die natürliche Strahlkraft des Geistes eintreten können. Das nennt man das
‚Sehen des Antlitzes von Buddha Amitabha’.
In Dewachen, dem Land der Großen Freude, wiedergeboren zu werden, bedeutet, dass wir in der Lage
sind, die Erfahrungen so zu nutzen, dass wir nach und nach immer stabiler, immer kontinuierlicher in
dieser Mahamudra-Erfahrung sind und beste Bedingungen vorfinden, um diese Praxis innerlich weiter
fortzusetzen. Das ist eigentlich mit Dewachen gemeint. Dewachen als Ort der Praxis ist eine geistige
Dimension, in der ständig die Inspiration zu spüren ist, die von Buddha Amitabha, diesem grenzen-
losen Strahlen des Buddha-Gewahrseins, ausgeht. Es begleitet uns überall hin und das ist das wesent-
liche Merkmal von Dewachen.
Ach ja, und wer nicht warten kann, kann Dewachen auf Erden praktizieren. Wir können hier schon in
Dewachen leben und alle Situationen nutzen.
Morgenmeditation
Mit einem tiefen Gefühl für die Qualitäten unserer inneren Ausrichtung auf das Erwachen und
verbunden mit allen Lebewesen sprechen wir die Gebete.
Rezitation: Zuflucht und die Vier Unermesslichen
Die Zuflucht verschmilzt mit uns. – Dann lassen wir unseren Geist über die Grundbedingung unserer
Existenz kontemplieren. Zunächst die Dankbarkeit dafür, dass wir jetzt schon wieder die Gelegenheit
haben, uns dem Wesentlichen zu widmen, dass uns solch ein kostbarer Morgen geschenkt wird, in
dem erneut die Bedingungen zusammen kommen, um den Dharma zu praktizieren. –
Wir denken an all die Menschen, die gerade jetzt was auch immer ihre Uhrzeit auf diesem Planeten
sein möge, im Überlebenskampf beschäftigt sind, kaum Zeit haben zu reflektieren, wenig Anstöße für
die innere Entwicklung und kaum sozialen Freiraum haben. – Wir entschließen uns, die guten
Bedingungen, die wir im Moment haben, wirklich zu nutzen und dazu beizutragen, dass auch andere
so gute Bedingungen finden. –
Wir lassen unseren Geist weiter wandern und kontemplieren über Vergänglichkeit, Unbeständigkeit,
Wandel und den jederzeit möglichen Tod. … Über diejenigen, die sterben, über die Toten wird meist
nicht lange gesprochen. Doch viele, die jetzt unser Alter hätten, sind schon gestorben … und so
mancher von uns ist nur noch dank der modernen Medizin am Leben oder durch wirklich glückliche
Umstände, die den Tod gerade noch einmal abgewendet haben.
9. Karmapa, Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins Lama Tilmann, Möhra 2013
62
Wir kontemplieren tiefer den Wandel als die Grundbedingung allen Lebens. Wir brauchen die Ver-
gänglichkeit nicht zu beklagen, sie ist die Quelle allen Lebens. – Ohne Wandel kein Leben. –
Dann kontemplieren wir, wie innerhalb dieser ständigen Prozesse, die das Leben ausmachen, Kräfte
wirken – nicht nur physikalische, biologische – sondern auch die Kräfte des Handelns, des Denkens,
des Sprechens. –
Wie ich denke, was ich sage, was ich tue, beeinflusst die Welt, beeinflusst mein Erleben und das Erle-
ben all derer, die mit mir in Kontakt kommen. Ich entschließe mich, bewusst zu handeln, verantwort-
lich, respektvoll, würdig, auf das Erwachen ausgerichtet. – Ich beachte dabei, wo wirkliches Glück zu
finden ist und welches Denken, Reden, Handeln weitere Verstrickungen nährt. Ich kontempliere meine
eigenen Verstrickungen. – Wo bin ich unfrei? Wo erzeuge ich immer wieder, ohne es wirklich zu
wollen, Enge des Geistes, Leid und Anspannung? – Was sind die kleinen Schritte, die ich heute gehen
möchte? Worauf möchte ich mich heute konzentrieren? Welche Qualitäten möchte ich heute in den
Mittelpunkt stellen? –
Mit dieser klaren inneren Ausrichtung widme ich mich dann der eigentlichen Meditation als Ausdruck
meiner Übung in liebevollem Gewahrsein und all den anderen Qualitäten, die tatsächlich heilsam sind.
Lasst uns gemeinsam den Reinigungsatem und die Vasenatmung praktizieren. Diejenigen, die nicht
mitmachen wollen, können einfach im stillen Sitzen üben.
Stellt euch beim Einatmen vor, dass regenbogenfarbiges Licht durch die beiden Nasenlöcher einströmt
und innerlich alles füllt, und dass euch mit dem Ausatmen dunkles Licht verlässt als Symbol für alles,
was ihr jetzt gerade loslässt – alle Verstrickungen, alle Negativität.
Praxis des Reinigungsatems und der Vasenatmung
Wer bei der Sieben-Punkte-Haltung etwas Mühe mit den Handgelenken hat, kann die Fäuste nach
außen drehen und so bei durchgestreckten Armen meditieren. Das ist dann die umgekehrte Haltung für
das Handgelenk. Die Streckung der Wirbelsäule ist das Wesentliche. Natürlich können wir uns in
dieser Haltung nicht so gut fixieren, weil die Ellenbeugen anders stehen. In der korrekten Haltung
können wir den Ellenbogen ein bisschen drehen, und dann wackelt nichts mehr. Da ist keine Kraft
mehr nötig. Diese Drehung der Ellbogen bewirkt, dass die Arme wie zwei stabile Pfosten stehen und
man sich da richtig hinein hängen kann. Ich fühle mich in dieser Haltung wie ein Kleiderständer.
* * *
Teilnehmerin: Wie fühlen sich deine Schultern an?
Meine Schultern fühlen sich gut an. Sie sind es gewöhnt. Diese Haltung ist sehr gewöhnungsbedürftig.
Teilnehmer: Also am Anfang muss sich das nicht gleich entspannt anfühlen?
Nein! Wenn das der Fall wäre, so wäre es ein absolutes Wunder. Ich habe das noch bei niemandem
erlebt. Bei fast allen hat das direkt auf den Geist Auswirkungen. Man merkt, dass das begriffliche
Denken eigentlich nicht mehr so leicht wie sonst geht. Es ist mehr so etwas Offenes. Das entsteht bei
allen, aber körperlich ist es sehr schnell unangenehm.
Teilnehmer: Ist es dann ratsam, da auch mal kurz rein zu gehen und dann wieder raus?
Genau, kurz rein, kurz raus, dann wieder sitzen, dann noch einmal ein bisschen…
Ich zeige es euch nochmals. Die Ellenbeuge dreht sich und dadurch drückt der Arm gegen die Seite
des Körpers. Es entsteht ein ganz starker Druck auf den Brustkorb, wo sich Energiebahnen befinden,
die durch diesen Druck abgedrückt werden. Das hat auch eine Auswirkung auf das begriffliche Den-
ken. Dadurch entsteht weniger begriffliches Denken.
Teilnehmer: Was ist mit der Spannung in der Leiste?
Wenn du in der Leiste Spannung spürst, sitzt du nicht hoch genug. Du musst das Kissen höher
machen, denn ansonsten hältst du, ohne es vielleicht zu merken, mit den Muskeln innerlich gegen den
Druck der Arme, damit du gerade sitzen kannst. Wenn du höher sitzt, fallen deine Beine runter und du
kannst die Aufrechte leichter halten und kannst unten loslassen.
9. Karmapa, Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins Lama Tilmann, Möhra 2013
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Teilnehmer: Kann ich unter das Fußgelenk etwas Weiches drunter legen?
Ja, mach das. Die Fußgelenke sind am Anfang nicht ganz so geöffnet und erst wenn sie sich so am
Boden anschmiegen können, wird es angenehm. Aber solange wir in den Gelenken noch eine gewisse
Steifheit haben, ist es gut, sie ein bisschen zu polstern.
* * *
Versucht, euch selbst in der Meditation zu führen. Aktiviert und öffnet alle sechs Sinne und bringt in
die sechs Sinne dieses entspannte Gewahrsein hinein. Körper spüren, hören, sehen, riechen,
schmecken und wahrnehmen, was innerlich los ist. Überall dieselbe nicht wertende annehmende
Geisteshaltung. – Schaut doch einmal hin, ob dieses Sitzen mit offenen Sinnen ein Erleben ist, in dem
ein Ich zu finden ist. Schaut hin, wie das überhaupt ist mit diesem Ich. Meditiert da jemand oder nicht?
* * *
9. Karmapa, Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins Lama Tilmann, Möhra 2013
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Zweiter Teil: Die Hauptpraxis
Punkte 1 – 3: Wiederholung Kurs 1, Teil 2
Der zweite Teil des „Marig münsel“ hat zwei Teile: Geistesruhe und Intuitive Einsicht. Karmapa be-
ginnt die Unterweisungen zur Geistesruhe mit den Schlüsselunterweisungen zu Körper und Geist, und
zwar zunächst mit der Haltung. Diesen Teil haben wir in Kurs 1 bereits besprochen, aber ich finde es
gut, die Beziehung zwischen Körper und Geist noch einmal herauszuarbeiten.
1. Schlüsselunterweisungen zu Körper und Geist: Die Haltung
Es gibt allgemein viele Möglichkeiten, wie meditative Versenkung (Samadhi) entsteht. Doch ei-
nen Punkt zu kennen bewirkt, dass keine Hindernisse und Blockaden auftauchen und fehlerlose
Geistesruhe und Einsicht, sowie die Erfahrungen und Erkenntnisse des natürlichen, zeitlosen
Gewahrseins mühelos erscheinen. Dieser Punkt wird als die Vairocana-Körperhaltung gelehrt.
Diese Methode lässt mühelos die meditativen Versenkungen der Aufbau- und Vollendungsphase
und die Erfahrungen von Freude, Klarheit und Nichtdenken entstehen, die bei Anfängern von
der Haltung des Körpers abhängen.
Wenn ich das lese, ist für mich immer noch sehr überraschend, dass mit Körperhaltung so viel im
Geist bewirkt werden kann. Das war für mich auch schon überraschend, als ich diese Unterweisung
zum ersten Mal erhielt. Ich habe dann diese Körperhaltung intensiv geübt und kann tatsächlich bestäti-
gen, dass sie diese Qualitäten hat, die hier beschrieben werden. Allerdings nicht, ohne dass der Geist
beteiligt ist. Das Beispiel, dass ein Affe einen Menschen in dieser Haltung sitzen sah, ihn imitierte und
dann darüber auch das Erwachen erlangte, halte ich für gute Werbung. Aber damit soll beschrieben
werden, wie automatisch bestimmte Prozesse im Geist ablaufen. Für diese Haltung wird auch tatsäch-
lich der tibetische Ausdruck trulkor angewendet, was Körperübung, Yoga oder auch ‚automatische
Prozesse im Körper’ bedeutet. Wir bedienen uns dabei gewisser Automatismen. Ich zeige euch die
Haltung noch einmal, damit ihr euch erinnert. In dieser Vairocana-Körperhaltung werden sieben
wichtige Punkte berücksichtigt. Zunächst sieht sie etwas gequält aus, man fühlt sich auch erst einmal
eher wie in einer Zwangsjacke als befreit. Aber mit der Zeit ist es tatsächlich so, dass diese Haltung es
unmöglich macht, an einer Emotion festzuhalten. Setzt euch einmal in diese Haltung, wenn ihr ärger-
lich seid. Wie lange könnt ihr den Ärger da wohl festhalten? Das braucht eine Menge Anstrengung!
Teilnehmerin: Geht das mit jeder Armlänge?
Ja, ich habe damals auch gedacht, meine Arme wären zu lang. Aber diese Übung ist so wirkungsvoll,
weil sie alles streckt. Sie streckt die Wirbelsäule, sie schafft Raum für alle Organe, sie bewirkt, dass es
in den Armen und Beinen gut zirkuliert.
Dabei geht es um Folgendes:
[14.3] Um die nach unten ausscheidenden subtilen Energien unter Kontrolle zu bringen,
bringe die Beine in die Vajra- oder in die Sattva-Haltung.
Ich habe die halbe Vajra eingenommen, einfach nur mit dem rechten Fuß oben, man könnte auch beide
Füße nach oben legen, dann wäre es die volle Vajra-Haltung.
Teilnehmer: Ist das nötig?
Nein, nicht unbedingt. Die halbe Vajra-Haltung wirkt auch ganz gut. Ich hatte links Knieprobleme und
musste mir die Hälfte des Meniskus heraus operieren lassen und bin daher nicht so gerne in der vollen
Haltung. Es geht aber trotzdem. Der zweite Punkt ist:
Damit die subtilen Energien des Erd-Elementes im Zentralkanal verweilen, strecke deine
Wirbelsäule wie ein fein zulaufendes Rohr.
9. Karmapa, Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins Lama Tilmann, Möhra 2013
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Es geht also tatsächlich um die Streckung der Wirbelsäule. Ich habe diese Haltung damals mit chro-
nischen Rückenproblemen kennen gelernt und konnte nach anderthalb Jahren mit dieser Haltung, die
ich an die zwei, drei Stunden pro Tag eingenommen habe, konstatieren, dass meine Rückenprobleme
vollständig weg gegangen waren. Das war schon einmal ein guter Nebeneffekt.
Um die subtilen Energien des Wasser-Elementes in den Zentralkanal zu führen, halte die
Hände unterhalb des Nabels in der Versenkungs-Mudra.
Die Mudra für meditative Versenkung ist normalerweise das Ineinander-legen der Hände im Schoß,
die rechte auf der linken. Hier drückt man die Hände in die Leisten, wobei noch zusätzlich mit den
Daumen Energiekanäle in den Ringfingern abgedrückt werden. Den Ringfinger kann man über dem
Daumen falten. Die ausgestreckten Zeige- und Mittelfinger liegen in der Mitte übereinander, die
rechten Finger auf den linken.
Richte zudem beide Schulterblätter gleichermaßen auf.
Die Schulterblätter stehen ein bisschen hoch und sind gleichermaßen gerade. Man setzt sich tatsäch-
lich zum Üben vor eine Tür mit Glas oder vor einen Spiegel, um wirklich sehen zu können, ob sie
ausgewogen sind.
Um die subtilen Energien des Feuer-Elementes in den Zentralkanal zu führen, halte den
Hals leicht gebeugt wie einen Haken.
Wenn man das Kinn ein bisschen senkt, spürt man, dass die höchste Stelle vom Kopf tatsächlich noch
mehr ins Zentrum rückt und ein ganz, ganz feiner Druck auf die Kehlgegend ausgeübt wird.
Um die subtilen Energien des Wind-Elementes in den Zentralkanal zu führen, halte den
Blick etwas gesenkt entlang der Nasenspitze, wobei die Augen weder weit offen noch ge-
schlossen sind.
Nasenspitzen haben ja sehr unterschiedliche Formen, nicht? Etwas abwärts, so vielleicht zwei, drei
Meter vor uns den Blick auf den Boden fallen zu lassen, hilft noch zusätzlich, die Energien etwas zu
sammeln. Das Windelement vermehrt innerliche Aufgewühltheit, daher ist es wichtig, den Blick ruhig
zu halten. Wenn der Blick sehr unruhig ist, kommt der Geist auch nie zur Ruhe.
Zunge und Lippen sind natürlich entspannt, und die Zunge berührt den Gaumen.
[15.2] Aufgrund dieser Körperhaltung klären sich die Bewegungen des begrifflichen Denkens
von selbst und viele Qualitäten wie nicht-begriffliche Präsenz und dergleichen erscheinen. Allein
durch das Beherzigen dieser Schlüsselpunkte für den Körper werden Körper und Geist freudig,
ruhig und ausgeglichen.
Man muss natürlich auch nachgeben. Es ist nicht so, dass man völlig automatisch, auf jeden Fall –
komme was wolle – durch das Einnehmen dieser Haltung in einen offenen Geisteszustand kommt.
Man kann natürlich trotzdem festhalten und sich dieser Körperhaltung innerlich widersetzen. Aber
wenn wir bereit sind loszulassen, dann bewirkt diese Haltung das. Das habe ich viele, viele Male er-
fahren. Sie erleichtert das Loslassen, für das wir ohnehin schon bereit sind. Diese nicht-begriffliche
Präsenz ist eine innere Erfahrung, als könnten sich keine Gedanken mehr einnisten. Nun kann ich aber
jetzt tatsächlich in dieser Haltung unterrichten, also funktioniert begriffliches Denken trotzdem.
Die Anfangswirkung dieser Haltung war, dass es aufgrund des starken energetischen Unterschiedes,
der sich einstellte, schwierig war, diese normalen, verstrickenden Gedanken aufrecht zu erhalten. Das
löste sich dann tatsächlich leicht auf. Wenn man vertrauter wird, dann kann man in dieser Haltung
tatsächlich auch visualisieren.
Es ist auch möglich, diese Haltung einzunehmen, ohne die Arme durch zu strecken. Eigentlich gehört
es dazu, aber wir können uns in dieser Haltung auch ohne das zusätzliche Durchdrücken der Arme
üben und darauf achten, dass wir sehr aufrecht, mit leicht eingezogenem Hals, ineinander gelegten
Händen sitzen, wie es hier beschrieben wird. Tatsächlich hat Karmapa in dieser Unterweisung die
Beschreibung der durchgedrückten Ellenbeugen extra weggelassen. Er hat die Haltung so beschrieben,
9. Karmapa, Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins Lama Tilmann, Möhra 2013
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dass wir sie auch im normalen Vajrasitz ausführen können. Er schreibt nichts von dem Druck gegen
den Rippenkasten, der in der anderen Beschreibung mit dazugehört. Karmapa lässt uns diese Mög-
lichkeit offen, um uns darauf hinzuweisen, dass wir als Anfänger die Körperhaltung nicht vernach-
lässigen sollten.
Tatsächlich ist es so, dass die Meditation nicht von einer spezifischen Körperhaltung abhängig ist. Wir
können in jeder Körperhaltung völlig offene Geisteszustände erfahren – im Liegen, im Stehen, auch
bei Bewegung. – Das ist nicht wirklich von einer Haltung abhängig. Aber es gibt für uns, die wir noch
ziemlich im Greifen sind, Haltungen, die das erleichtern. Es gibt Momente, in denen es leichter ist.
Wenn wir uns z.B. nach einer körperlichen Anstrengung hinsetzen – in den Texten heißt es ‚wie nach
getaner Arbeit’ –, dann ist es aufgrund des Unterschieds besonders leicht, Offenheit zu erfahren. Oder
wenn wir richtig gut ausgeschlafen sind, nach einem Mittagsschlaf, geht das auch ziemlich gut. Das
sind besondere Momente am Tag.
[15.3] Sitze weder zu angestrengt noch zu lasch. Dann stoße zunächst den verbrauchten Atem
etwas aus und verweile anschließend frei von jeglicher Anstrengung beim Ein- und Ausatem.
Einschub: Punkt 6 (Atem als Stütze):
Ich habe euch den Klärungs-Atem letztes Jahr gezeigt. Wir werden diese Übung wiederholen. – Putzt
euch vorher die Nase! –
Es gibt verschiedene Versionen dieses Klärens des verbrauchten Atems. Wir machen die aller ein-
fachste, mit den Händen auf den Knien, ohne zusätzlich den Arm durchzustrecken. Wir streifen mit
der rechten Hand hoch und gehen zum rechten Nasenloch, der Oberarm wird waagrecht gehalten.
Dabei nehmen wir folgende Mudra ein: der Daumen der rechten Hand liegt innen und wird vom
Mittel- und Ringfinger festgehalten, die beiden anderen Finger sind gestreckt. Die linke Hand liegt zur
Faust geschlossen am linken Knie. Wir atmen durch beide Nasenlöcher ein und dann nur durch das
linke aus, während der Zeigefinger der rechten Hand das rechte Nasenloch verschließt. Dabei öffnen
wir jeweils die linke Faust und strecken die Finger aus. Das machen wir drei Mal. Seitenwechsel und
dann drei Mal durch beide Nasenlöcher, die geschlossenen Hände auf den Knien. Achtet darauf, ganz
tief einzuatmen und ganz tief auszuatmen. Dann geht man in die Meditationshaltung, und zwar am
besten in die beschriebene Sieben-Punkte-Haltung, atmet nach dem letzten Ausatmen ein – verstaut
den Atem sozusagen im Bauchraum – und bleibt eine Weile ohne zu atmen. Das ist die Vasenatmung.
Dabei atmen wir erst aus, wenn die Hände auf den Knien angekommen sind. Es soll nicht so sein, dass
wir eingeatmet haben und dann herausplatzen, sondern auch das ist eine kontrollierte Bewegung. Was
ihr nicht hören könnt, ist, dass mein Ausatem lange, lange weitergeht, nachdem das Geräusch auf-
gehört hat. Der Atem geht so weit raus, wie es nur irgend möglich ist. Die Vasenatmung beschreibt
Karmapa etwas später im Text, in dem Teil, den ich dieses Jahr besprechen wollte:
Den Atem als Stütze nutzen und die drei Stufen geistiger Ruhe (6/1)
[21.1] Es gibt auch Methoden, den Geist mit dem Atem als Stütze zu sammeln: Halte den Atem
in der Vasenart und lasse den Geist ruhen, ohne abzuschweifen. Wenn du nicht mit der Vasen-
atmung arbeiten kannst, solltest du den Geist sammeln, indem du Atemzüge zählst und der-
gleichen [Methoden anwendest]. Zähle das Ein- und Ausatmen einschließlich der Atempause als
einen Atemzug. Zähle zuerst nur bis einundzwanzig und danach schrittweise bis hundert und
mehr. Zähle die Atemzüge, indem du den Geist einsgerichtet an den Nasenlöchern hältst und
schweife nirgendwo anders hin ab.
Zur Vasenatmung: Sammle den Geist durch Füllen und Ausstoßen indem du dreimal ausatmest, … – Wir haben jetzt drei Mal drei gemacht. Die Kurzversion ist, einfach nur dreimal durch beide
Nasenlöcher tief auszuatmen. Es hat sich aber bewährt, diesen neunfachen Reinigungsatem zu
machen, denn am Ende des neunten Atemzugs haben wir dann unser ganzes System schon sehr stark
mit Sauerstoff genährt und auch sehr viel Kraft zur Verfügung, sodass wir ohne Mühe in die Vasen-
9. Karmapa, Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins Lama Tilmann, Möhra 2013
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atmung übergehen können. Jemand, der diese Übung bereits gewohnt ist, ist mit drei Atemzügen
genauso gut vorbereitet. Mit Füllen ist gemeint, dass wir beim Einatmen nicht nur den Brustkorb
füllen, sondern dieses Füllvolumen durch das Zwerchfell nach unten verlegen. Wir üben also mit dem
Zwerchfell einen Druck nach unten aus, wodurch der Brustkorb wieder ein bisschen hereinkommt und
wir subjektiv das Gefühl haben, als wäre der Atem in den Bauchraum verlegt worden. Die Vase, die
wir hier halten, geht vom Becken bis unter das Zwerchfell, der Bauch öffnet sich, kommt heraus, und
darin wird die Energie kontrolliert. Energetisch haben wir von unten und oben einen Raum geschaffen,
der sich wie eine Vase anfühlt. Das ist mit Auffüllen gemeint.
… dann so tief wie möglich einatmest, den Atem hältst und ihn, wenn er nicht mehr unter dem
Nabel zu halten ist, dann vollständig ausstößt. Mache das immer wieder so, ohne den Geist
woandershin abschweifen zu lassen.
Man geht also innerlich mit der Aufmerksamkeit unterhalb des Nabels. Wenn der Atem da nicht mehr
zu halten ist, wenn dieser energetische Schluss, die Konzentration nicht mehr zu halten ist, dann stößt
man den Atem aus.
Das ist eine ganz kurze Instruktion für die Vasenatmung. Wer sie zu Hause anwenden möchte, sollte
sich immer wieder mit einem erfahrenen Praktizierenden besprechen und nachfragen, auch gemeinsam
üben, damit sich keine Fehler einschleichen. Man kann mit dem Atem so subtil sein ganzes System
beeinflussen und auch Fehler machen. Es ist deswegen sehr wichtig, diese Atmung korrekt und ohne
spirituelle Ambitionen, ohne Ehrgeiz zu machen. – Wenn man Deutschen sagt, so lange wie möglich
den Atem zu halten, dann machen sie das, bis sie fast platzen. Das bringt nicht das Erwachen sondern
nur energetische Probleme. – Wenn man diesen Reinigungsatem wirklich mit tiefem Vertrauen macht,
hat er einen stark energetisierenden Einfluss. Dann macht man dreimal die Vasenatmung und zum
Schluss verweilt man noch einige Zeit aufrecht in der Nachwirkung – in der Sieben-Punkte-Haltung
oder einfach mit den Händen im Schoß. Wir benutzen diese dynamisierende Atemübung, um in der
Nachwirkung zu sitzen und darin zu merken, wie einfach es doch ist, präsent und wach zu sein.
Teilnehmerin: Zum Einatmen für die Vasenatmung: Atmet man schon ein, während man die Haltung
einnimmt oder erst wenn man bereits in der Haltung ist?
Während man die Haltung einnimmt.
Teilnehmerin: Was bedeutet genau ausstoßen? Wie kräftig oder wie sanft?
Das Ausstoßen ist eigentlich bei den drei Malen etwas unterschiedlich. Das erste Ausstoßen von den
jeweils drei Etappen ist relativ lang und intensiv, aber nicht in voller Intensität. Das zweite ist sehr in-
tensiv und dadurch auch ein bisschen kürzer, und das dritte ist lang und sanft. Wir arbeiten dabei mit
verschiedenen Geisteshaltungen und verschiedenen Intensitäten. – Das ist aber auch so, wie sich das
natürlicherweise richtig anfühlt, denn wir wollen uns mit dem Ausatem ja auch nicht unbedingt einen
Hustenreiz schaffen. Beim dritten kommt ein ganz langer Ausatem und wir verweilen ein bisschen im
Ausatem. Wir bleiben da quasi im luftleeren Raum. Die Haltung dabei ist: zuerst klären, das zweite
Klären kann schon stärker sein und beim dritten Klären des Atems gehen wir in eine innere Sanftheit.
Es ist intensiv, aber gleichzeitig denken wir daran, eine sanfte Intensität zu erzeugen, wo wir wirklich
lange im Ausatem bleiben können und dann in die Haltung gehen.
Es handelt sich um ein Anschwellen und ein Abschwellen in der Ausstoßbewegung, und dieses
Ausstoßen ist zuerst lang und intensiv, dann noch intensiver aber kürzer, und zum Schluss ähnlich wie
das erste: lang, sanft intensiv mit einer langen Nachklangphase.
Wir üben das zum Abschluss noch einmal zusammen, um es ein bisschen zu verankern. Macht es bitte
sanft. Falls ihr beim Mitmachen vorhin schon gespürt habt, dass es sehr stark auf euch wirkt, dann
macht es jetzt ganz bewusst sanft. – Die geschlossenen Hände liegen auf den Knien, wir sitzen gerade,
die rechte Hand streift am Körper hoch, wir atmen ein und die rechte Hand schließt das rechte
Nasenloch. Dann stoßen wir den Atem durch das linke Nasenloch aus. –
Karmapa schreibt in Punkt 1 [15.2]: „Allein durch das Beherzigen dieser Schlüsselpunkte für den
Körper werden Körper und Geist freudig, ruhig und ausgeglichen.“
9. Karmapa, Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins Lama Tilmann, Möhra 2013
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Ist euch das passiert? – Einige nicken. Möchte jemand etwas dazu sagen?
Teilnehmerin: Noch eine Frage zur Durchführung. Wird unterschiedlich erklärt, mit welcher Seite
man beginnt?
Nun, wenn es jemand anders erklärt, ist es unterschiedlich.
Lama Lodrö: Wir haben bei den Trülkors immer mit links angefangen.
Ah ja, dann mache ich es anders. Wir können auch mit links anfangen.
Teilnehmerin: Hält man auch mit dem Beckenboden, wenn man das Zwerchfell runter drückt?
Ja, man hält mit dem Beckenboden. Man zieht innerlich die Sphinktermuskulatur ein bisschen an,
wenn man es braucht. Wenn man merkt, dass es sich energetisch da unten wie so ein Loch anfühlt, wie
ein bisschen offen, dann zieht man die Beckenbodenmuskulatur ein bisschen zusammen.
Teilnehmer: Ich habe das Gefühl, der Schwerpunkt geht nach unten und oben wird es luftiger.
Ja, es schafft mehr Raum oben, der Schwerpunkt geht ein bisschen nach unten, auf jeden Fall, ja.
Also im Normalfall wäre danach – wenn die Übung einigermaßen korrekt ausgeführt wird – die stille
Präsenz relativ natürlich da.
Lama Lodrö: Habe ich das richtig verstanden, dass du den Atem am Ende der Vasenatmung eine
Weile auch draußen hältst, oder ist das nur ein sehr langer Ausatem-Vorgang?
Ja, es ist einfach ein langer Ausatem-Vorgang. Beim dritten Mal wird empfohlen, ihn auch draußen
noch ein bisschen zu halten, beim letzten Mal. Aber da gibt es so viele Möglichkeiten, da muss der
Praktizierende auch selber sehen, was gut tut.
Teilnehmerin: Beim Atmen durch beide Nasenlöcher gab es jetzt zwei Varianten, einmal lange
Anhalten und ohne langes Halten, oder habe ich das falsch verstanden?
Ja, ja! Die ersten Male war ohne Anhalten einfach Einatmen – Ausatmen, Einatmen – Ausatmen,
Einatmen – Ausatmen, und danach kamen die drei Male mit Halten, das ist die eigentliche
Vasenatmung, wo wir den Atem halten.
Dann haben wir zwölf insgesamt, nicht?
Wenn du so rechnest klar, dann haben wir zwölf.
Teilnehmerin: Macht man diese Übung einmal am Tag oder öfter?
Man kann die Vasenatmung auch häufiger machen. In der Übungsphase macht man sie einmal am
Tag, und später kann man vielleicht ein zweites Mal dazu nehmen. Ich bin diesbezüglich sehr
vorsichtig, sodass ihr davon nicht zu viel macht. Besprecht euch! Man kann schon mehr machen, aber
ihr seid vom Energiesystem so unterschiedlich. Deswegen mag ich keine Empfehlung geben. Die kann
z.B. für robuste Naturen passen, aber jemandem, der viel empfindsamer ist, nicht so gut tun. Die
Vasenatmung stimuliert stark und bewirkt sehr viel, und wir sollten sie erst einmal ein paar Wochen
lang täglich einmal machen und schauen, was sie überhaupt für Auswirkungen hat. Man würde gar
nicht vermuten, dass so eine kleine, kurze Übung so intensiv sein kann. Im Drei-Jahres-Retreat macht
man sie einmal pro Sitzung, also vier Mal täglich. Es gibt da verschiedene Möglichkeiten. Morgens ist
ein guter Zeitpunkt, um uns aufzuwecken.
Zurück zu den Schlüsselpunkten für den Geist:
[15.3] Sitze weder zu angestrengt noch zu lasch. Dann stoße zunächst den verbrauchten Atem
etwas aus und verweile anschließend frei von jeglicher Anstrengung beim Ein- und Ausatem.
Nach der Übung wird der Atem in keiner Weise beeinflusst. Das passiert nur in der Übung.
Frische (innerlich) die Vorbereitungen etwas auf… Das bedeutet, dass wir uns der Kostbarkeit der
jetzigen Situation dankbar bewusst werden. Wir bedenken die Vergänglichkeit, Kürze und
9. Karmapa, Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins Lama Tilmann, Möhra 2013
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Unwägbarkeit des Lebens und richten wir uns dadurch innerlich aus. Wir geben unseren Handlungen
eine klare Richtung, indem wir Ursache und Wirkung bedenken und schauen, ob unsere Handlungen
langfristig zu innerer Offenheit und Freiheit beitragen. Dies hilft uns auch, uns nicht auf allzu
kurzfristige Ziele in diesem Leben auszurichten.
…und denke nicht an vergangene Aktivitäten oder „Das werde ich in Zukunft tun“. – Lasst also
dieses Planen sein und lasst das Grübeln sein über etwas, das schon war. Jetzt wird meditiert. –
Indem du ohne Ablehnen und Annehmen… d.h. ohne irgendetwas abzulehnen im eigenen Geist
und ohne irgendetwas anderes haben zu wollen, anzunehmen. Damit ist gemeint, ohne etwas
kultivieren zu wollen. Es ist einfache Präsenz, nichts wird mehr kultiviert.
…im gewöhnlichen Bewusstsein verweilst, in unbeeinflusster Frische, gelöst und natürlich, wird
dein Geist flexibel und meditative Versenkung entsteht.
Das sind die Schlüsselpunkte für den Geist:
Weder zu angestrengt noch zu lasch, was den Körper und Geist angeht
Die Vorbereitungen etwas auffrischen. Das bedeutet mit Dankbarkeit, Gewahrsein der Ver-
gänglichkeit, klarer innerer Ausrichtung und natürlich auch Bodhicitta den Rahmen schaffen.
In der Meditation alles Nachdenken über Vergangenheit und Zukunft sein lassen und in der
Gegenwart nichts vergegenständlichen, sondern ohne etwas abzulehnen oder etwas anderes
haben, kultivieren zu wollen, im gewöhnlichen Bewusstsein verweilen, in unbeeinflusster
Frische. Es ist also ganz wesentlich, nichts manipulieren zu wollen. Immer präsent mit dem
was jetzt gerade ist, nicht mit dem, was schon war, oder mit dem, was noch nicht ist, gelöst
und natürlich.
Dann wird der Geist flexibel. Der tibetische Ausdruck, der hier mit ‚flexibel’ übersetzt wird, bedeutet,
dass der Geist für alles gebraucht werden kann, er wird einsetzbar. Man kann ihn für alle Aufgaben
nutzen. Er ist so flexibel, er ist brauchbar, dass man ihn auf etwas lenken kann, wenn man ihn einfach
stabilisieren möchte. Er kann einfach im offenen Raum verweilen, er kann auch untersuchen, ana-
lysieren – was auch immer gerade gebraucht ist.
Da diese Schlüsselpunkte für Körper und Geist das Fundament der Meditation bilden, sollten sie
beharrlich geübt werden. Dies ist der erste Punkt [beim Entwickeln von Geistesruhe].
2. Den Geist mittels eines visuellen Objektes stabilisieren
[16.1] Wenn der Geist so nicht verweilen kann, verwenden wir Bezugspunkte. Wir richten den
Blick auf etwas Äußeres wie ein Stück Holz, einen kleinen Stein, eine Buddha-Statue, eine Kerze,
den Himmel – was auch immer geeignet ist.
Wir haben letztes Jahr mit diesen Objekten ein bisschen experimentiert.
Wir denken nicht über die Farbe, Form usw. dieser Stütze nach und vermeiden, uns zu sehr
anzustrengen oder uns in Achtlosigkeit zu verlieren. – Wir üben also zwischen den Extremen, uns
zu sehr anzustrengen oder zu sehr zu fokussieren, wenn wir auf ein äußeres Objekt meditieren. Wir
beschäftigen uns nicht viel zu sehr damit, verlieren uns aber auch nicht in Achtlosigkeit, d.h. dass wir
das Objekt gar nicht mehr wahrnehmen.
Das Objekt dient nur als Anker um [mit seiner Hilfe] den Geist unabgelenkt zu halten und alle
anderen Bewegungen des begrifflichen Denkens zu unterbinden.
[16.3] Oder wir richten unsere Aufmerksamkeit auf die Silben, die für die wahre Natur von
Körper, Rede und Geist aller Buddhas stehen: ein weißes OM, ein rotes AH und ein blaues
HUM, bzw. – falls uns das mehr liegt – einen weißen, roten und blauen Punkt, die wir vor uns
aufmalen oder visualisieren.
9. Karmapa, Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins Lama Tilmann, Möhra 2013
70
Da geht Karmapa mit den Instruktionen von äußeren Stützen – Objekte, oder etwas, das wir noch für
ein Objekt halten, wie den Himmel – zu einem visualisierten Objekt. Um den Übergang von äußerem
Objekt zu visualisiertem Objekt zu schaffen, können wir uns das Visualisierte auch aufmalen. Dann
meditieren wir z.B. zunächst auf diese drei Lichtpunkte oder Silben, die wir uns aufgemalt haben,
nehmen dann das Aufgemalte weg und sehen weiterhin das, was vorher gesehen wurde. Damit sind
wir schon beim Visualisieren. Wir lernen, ein inneres Bild zu visualisieren und entdecken dadurch,
dass es eigentlich gar keinen Unterschied macht, ob es ein inneres Bild ist oder ein äußerer visueller
Eindruck. Was die inneren Prozesse angeht, ist es dasselbe, es bewirkt dasselbe. Es handelt sich um
dieselben Prozesse, aber diese Lichtobjekte, die wir innerlich visualisieren, können uns natürlich
überall hin begleiten, sie stehen immer zur Verfügung, während die äußeren Objekte wechseln und oft
auch nicht diese Intensität entfalten, wie die inneren Vorstellungen.
Kurz: Wir halten den Geist auf einem geeigneten visuellen Objekt, bei dem es leicht fällt,
einsgerichtet zu verweilen.
Wie man den Geist ruhen lässt: Da nirgends ein Wesenskern zu finden ist, hält man nirgendwo
mit dem Intellekt fest; man lässt den Geist ruhen, wenn er ruht, und gehen, wenn er sich bewegt.
Ohne ihn kontrollieren zu wollen, lasse ihm freien Lauf.
Das ist das eigentliche Ruhen-lassen. Ruhen lassen bedeutet, gar nicht mehr mit dem eigenen Geist zu
kämpfen, aber ihm auch nicht zu folgen. Dann kommt er wirklich zur Ruhe.
[16.5] Durchschneide energisch alle Zeichen begrifflichen Denkens wie „Ich meditiere“ und „Ich
meditiere nicht“, sowie die Hoffnung, der Geist möge verweilen und die Angst, dass er nicht
verweilt. – Befreie dich aus Hoffnung und aus Angst und diesem affirmativen Denken „Ich meditiere
jetzt!“ oder „Ach! Mensch, es klappt nicht, ich meditiere doch nicht!“ und diesem inneren Ausdruck
von unserem Wollen. Lass es sein! – Ohne absichtlich auf etwas zu meditieren, lasse Ablenkung
nicht für einen Augenblick zu und übe so, dass der Achtsamkeit Rechnung getragen ist.
Es ist wichtig, sich im Guten von der Praxis zu trennen, kurze, aber häufige Sitzungen zu
machen, in denen wir uns mit Klarheit und Freude sammeln, und sie immer wieder [rechtzeitig]
zu unterbrechen als Übung, nie der Meditation überdrüssig zu werden.
Dieser Hinweis mit Sitzungen aufzuhören, solange es uns noch gefällt, ist unglaublich wichtig. Wir
sollten nie in diese Falle tappen zu denken: „Jetzt geht es gerade gut, jetzt mache ich ein bisschen
länger!“, sondern aufhören, solange es noch Spaß macht. Dann freuen wir uns immer schon aufs
nächste Mal.
[17.3] Wenn es dir leicht fällt, den Geist mit einer von diesen Stützen zu sammeln, die dir ent-
spricht, dann tue das. Es ist auch möglich, sie alle der Reihe nach zu praktizieren. Falls es mit
einer gelingt, ihn zu sammeln, so reicht das aus, und dann ist es unnötig, mit allen zu üben, als
würde man eine Liste abhaken.
Kurz: Den Geist mit einer visuellen Form zu sammeln, ist der zweite Punkt.
* * *
Ich möchte mit euch jetzt die Grundübungen machen, das Öffnen der sechs Sinnestore. Wir nutzen
dabei die sechs Sinnesempfindungen als Stütze für unsere Praxis. Dafür zunächst der nächste Ab-
schnitt. Karmapa schreibt:
3. Das Vertiefen der Sammlung mit anderen Sinneswahrnehmungen
[17.4] Sobald der Geist mit visuellen Wahrnehmungen gesammelt wurde, richten wir ihn schritt-
weise auf Klänge, Gerüche, Geschmäcker und Fühlempfindungen als die Objekte von Ohren,
Nase, Zunge und Körper. Dabei nutzen wir vor allem Wahrnehmungen wie klare Geräusche,
starke Düfte und dergleichen. Wir erfassen sie mit dem Haken unabgelenkter Achtsamkeit,
wobei wir natürlich und gelöst verweilen, ohne irgendwie zu untersuchen, ob etwas gut, schlecht,
9. Karmapa, Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins Lama Tilmann, Möhra 2013
71
groß, klein usw. ist. Wenn sich der Geist mittels beliebiger Wahrnehmungen gesammelt hat,
unterbrechen wir, solange noch Klarheit vorhanden ist, und ruhen uns aus, bevor es zu Trübung
kommt.
Meditation
Wir nehmen eine Körperhaltung ein, die uns Klarheit ermöglicht und zugleich entspannt ist. –
Die Augen sind offen, der Blick etwas gesenkt. – Wir spüren den Körper. Das bedeutet, dass wir viele
Empfindungen spüren. Angefangen von den Fußsohlen, … den Zehen, über die Knöchel, die Waden,
… die Schienbeine, … die beiden Knie, … die Oberschenkel … bis hinauf ins Becken. … Das Gesäß,
… die Hüften … und den Unterkörper als Ganzes. – Unterschiedlichste Empfindungen, die wir gar
nicht zu benennen brauchen. Es reicht, sie zu erleben, sie bewusst werden zu lassen, ohne irgendetwas
mit ihnen zu tun. – Dann gehen wir vom Beckenraum langsam weiter aufwärts: unterer Bauchraum,
… unterer Rücken … und wandern weiter hoch … in die Nabelgegend, … in den Oberbauch, zugleich
steigen wir auch den Rücken nach oben, … spüren auch die Taille, … den Brustbereich, … den
mittleren und oberen Rücken, … den gesamten Brustkorb bis hinauf zu den Schultern, … den Rumpf
als Ganzes. … Von den Schultern hinab in beide Arme, Oberarme, … Ellenbeugen, … Unterarme, …
Handgelenke, … Handrücken, … Handflächen, bis in die einzelnen Finger hinein: … die Daumen,
Zeigefinger, Mittelfinger, Ringfinger, die kleinen Finger, bis in die Fingerspitzen. … Beide Arme als
Ganzes mit den Handflächen … bis hinauf zur Schulter … den gesamten Rumpf dazu … den Unter-
körper … dann weiter mit dem Nacken … den Rest der Wirbelsäule aufsteigend … Kehle … Hals …
Unterkiefer … Rachen … Mundhöhle … Lippen … Nasenregion … Wangen … Ohren … Schläfen …
Augen … Augenbrauen … Stirn … den Hinterkopf … die ganze Scheitelregion … den Kopf als
Ganzes … Nacken und Hals … den gesamten Oberkörper … den gesamten Unterkörper … und
schließlich den Körper als Ganzes. Wir erleben viele, viele Empfindungen, ohne dass wir gegen eine
dieser Empfindungen ankämpfen oder sie speziell kultivieren. –
Das Hören meldet sich … Geräusche, Klänge. – Wie ist es, zu hören? – Wie ist es, gleichzeitig den
Körper zu spüren, zu hören und zu sehen? – Riechen und Schmecken nehmen wir auch mit dazu. –
Immer wieder aktivieren wir das Gewahrsein der Sinneserfahrungen. – Spüren, … hören, … sehen, …
riechen, …schmecken … und mit dem Gewahrsein, was innerlich vor sich geht. – Bilder, Gedanken,
die feinen Gefühlstönungen oder starke Emotionen, … Stimmungen. –
Wie ist es, zu sein? – Diese Frage braucht keine Antwort, nur immer wieder hin spüren, … ein frisches
Erleben in den sechs Sinnen. –
Wenn sich Denken einstellt, reicht es, dass wir uns bewusst machen, bewusst werden: „Denken“.
Genauso wie in den anderen Sinnesfeldern: „Sehen“, „Hören“, „Spüren“.
Wenn ich jetzt die Pause einläute, bleibt einfach gewahr. Beobachtet, was geschieht, wenn ihr euch
„Pause“ erlaubt. – GONG
Karmapa schreibt dazu:
[18.2] Zwischen den Übungsperioden lassen wir das Seil der Achtsamkeit nie abreißen. Dafür
senken wir den Blick entlang der Nasenspitze und achten darauf, dass körperliche und sprach-
liche Aktivitäten wie Laufen, Sitzen und Reden nicht zu intensiv oder zu viel werden, und
unterbrechen zudem im Geist den Strom begrifflichen Denkens.
Wer im Retreat ist und daran arbeiten möchte, seine Aufmerksamkeit zu vertiefen, achtet auch in den
Pausen darauf, dass nicht zu viel Intensives passiert. Wir achten darauf, dass wir uns nicht im starken
begrifflichen Denken verheddern, uns in Diskussionen mit anderen über alles Mögliche austauschen,
und dass wir bei der Arbeit – Laufen steht hier für körperliche Beschäftigung – immer noch in der
Lage sind, diese Achtsamkeit aufrecht zu erhalten. Ihr merkt es sehr schnell. Es gibt vielleicht eine
Pause von zehn Minuten, Gespräche gehen los und … wo waren wir gerade mit unserer Aufmerksam-
keit? Es ist nicht tragisch, aber es geht darum, was wir möchten. Ob wir auch während des Sprechens
so präsent bleiben wollen, im Fließen und in Zentriertheit zugleich, dass das Sprechen zu einer Übung
in Gewahrsein wird; dass die körperliche Aktivität zu einer Übung in Gewahrsein wird. Besonders
schwer ist die Computerarbeit, die zieht uns ganz schnell in eine Form des Seins, in der wir nicht mehr
9. Karmapa, Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins Lama Tilmann, Möhra 2013
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richtig verbunden sind mit dem Körper, den Sinneswahrnehmungen und es uns schwer fällt, eine
wache Präsenz, die etwas mehr ist, als nur das, was gerade gefordert ist, aufrecht zu erhalten.
Da ist die Empfehlung von Karmapa – 16. Jahrhundert, er schrieb vorwiegend für Mönche und Non-
nen und ein paar Yogis, die auch unterwegs waren –, darauf zu achten, dass die körperlichen, sprach-
lichen und geistigen Aktivitäten in den Pausen nicht stärker sind als unser feines Seil der Achtsamkeit
verträgt. Wenn es stabiler wird und wir mit der Achtsamkeit mehr und mehr integrieren und begleiten
können, dann können wir uns mehr zumuten. Das Gewahrsein bleibt dann kontinuierlich präsent und
begleitet auch herausfordernde Situationen ununterbrochen.
Sich schrittweise an meditative Ausgeglichenheit zu gewöhnen ist der dritte Punkt.
Das ist übrigens die Frage an jeden von euch: Ist das überhaupt etwas, was ihr möchtet? Wenn ihr das
möchtet, dann sind diese Ratschläge relevant. Wenn es euch kein Anliegen ist, dann sind sie es nicht.
Wenn wir wollen, dass unser Alltag von diesem Gewahrsein, von dieser Geistesgegenwart durch-
drungen und davon begleitet ist, aber uns nicht die Möglichkeit dazu geben, weil der Umgang mit uns
selber immer wieder kontraproduktiv ist, sollten wir uns nicht wundern, denn dann provozieren wir
diesen Widerspruch immer wieder selbst. Wir haben den Wunsch, dass das Gewahrsein, die Achtsam-
keit in alle Aktivitäten hinein wachsen, aber gleichzeitig torpedieren wir diese Unternehmung durch
unser eigenes Verhalten. Das müssen wir selber klar kriegen. Entweder sagen wir uns: „Das mache ich
nur im Retreat.“, oder „Ich will das im Alltag auch!“ Wenn man nicht mehr voll in der beruflichen
Aktivität steckt, kann man es sich einrichten. Man kann dosieren, wie viel Intensives man herein
nimmt, wie häufig man sich Pausen schafft. Man fragt sich, wie man mit dem Wechsel von Aktivi-
täten und Pausen umgeht, sodass weitere Fortschritte in dieses Gewahrsein hinein möglich sind. Ich
muss mich das auch ständig fragen und mir anschauen, wie ich mit meinem Alltag umgehe.
Das wären die Schritte, die wir zu integrieren hätten: Immer wieder die sechs Sinnesfelder mit Acht-
samkeit antippen. „Wie fühlt es sich im Körper an, im Hören, Sehen, Riechen, Schmecken, im inneren
Gewahrsein der geistigen Bewegungen?“ Immer wieder im Fühlen zu sein, im Spüren, im Wahr-
nehmen, und dieses Wahrnehmen dann allmählich mit einer tieferen Schau zu durchdringen, dass wir
mehr im „wie“ sind als im „was“. Es geht nicht darum, was wir wahrnehmen, sondern: „Wie ist die
Qualität des Seins?“, „Ist da eine Enge oder ist da eine Weite?“, „Ist das eine Fixierung oder ist da ein
Fließen wahrzunehmen?“ und „Wie kann ich dieses Fließen, diese Weite unterstützen im Sein, im
Handeln, im Wahrnehmen?“, „Was unterlasse ich vielleicht, weil es sich als nicht förderlich heraus-
stellt?“
Teilnehmerin: Wie geht man mit Müdigkeit um?
Der erste Weg ist, zu schlafen. Die erste Frage ist, ob die Ursache für die Müdigkeit Schlafmangel ist
oder ob man sonst irgendwie überfordert ist. Ist es eine Müdigkeit, die nicht durch Schlafmangel oder
Überarbeitung bedingt ist und auch nicht durch Stoffwechselerkrankung und dergleichen und ich z.B.
schon morgens nach dem Aufstehen müde bin, dann nehme ich es erst einmal als eine geistige Müdig-
keit. Müdigkeit ist ein sehr feiner Indikator. Müdigkeit kann sich schon einstellen, wenn mir nicht klar
ist, was mein Lebenssinn ist. Wenn ich das kläre, kommt wieder Energie, dann habe ich wieder das
Gefühl, am richtigen Ort zu sein, in die richtige Richtung zu gehen, und das gibt mir Kraft. Wenn es
all das nicht ist, dann kann ich mit der Müdigkeit so arbeiten, wie mit jeder anderen Sinneserfahrung.
Ich lenke meine Aufmerksamkeit in das Erleben der Müdigkeit: „Wie ist es, müde zu sein?“ Es gibt
auch verschiedene Hinweise, sie zu verscheuchen, indem ich für frische Luft sorge oder warme Klei-
dungsstücke ablege. Frische macht direkt wach.
Aber wenn es auch all das nicht ist, dann gehe ich mit der Müdigkeit, ich höre auf, gegen sie zu
kämpfen. Das ist die beste Methode. Ich bin im Erleben der Müdigkeit – alles wird müde, die Augen
fallen zu, aber innerlich bin ich weiterhin aufmerksam und spüre genau, wie es sich anfühlt, müde zu
sein, wie der Körper zusammen sinkt, alles ganz schwer wird – aber innerlich bin ich gewahr. Ich ver-
folge, wie sich die Müdigkeit innerlich entwickelt und mache dabei erstaunliche Entdeckungen: Ich
kann im Müde-sein gewahr bleiben und das bewirkt, dass ich nach relativ kurzer Zeit – es kann bis zu
einer Viertelstunde dauern – in eine Frische zurück finde, als wäre ich durch einen Tunnel gegangen,
in dem aber immer ein kleines Licht war. Ich habe das Licht des Gewahrseins nicht verloren, es geht
9. Karmapa, Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins Lama Tilmann, Möhra 2013
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durch diese Müdigkeit hindurch. Das hat etwas Befreiendes, weil ich das Seil der Achtsamkeit nie
habe abreißen lassen. Die Müdigkeit war kein wirkliches Hindernis, ich bin gar nicht eingeschlafen,
sie war nur eine andere Erfahrung als die sonstigen Erfahrungen. Ich habe sie voll erlebt und erfahren,
dass die Müdigkeit aufhört, ein Feind zu sein.
Das Kämpfen aufzugeben ist die Mahamudra-Art, mit Müdigkeit umzugehen. Aber gleichzeitig
sollten wir sicher gehen, dass es nicht auch andere Gründe hat wie zu viel gegessen, zu warm, nicht
genug geschlafen, kein klarer Lebenssinn, des Lebens überdrüssig, Stoffwechselerkrankungen etc.
Teilnehmerin: Am Ende der Mandala-Opferungen wird von den beiden Ansammlungen gesprochen.
Was soll das bedeuten?
Wir sprechen davon, dass wir mit zwei Beinen zur Erleuchtung gehen, mit Mitgefühl und Weisheit.
Die Ansammlung von positiver Kraft ist das Bein des Mitgefühls und die Ansammlung von Gewahr-
sein ist das Bein der Weisheit. Die Ansammlungen sind das Stärken dieser beiden Beine. Durch
heilsames Handeln stärken wir die Kräfte des Mitgefühls und zugleich auch Weisheit. Immer wenn
wir zusätzlich Gewahrsein entwickeln, stärken wir die Fähigkeit zur Einsicht und damit die Weisheit.
Teilnehmer: Was bedeutet es, wenn beim Meditieren so ein Knistern im Kopf oder Körperzuckungen
auftreten?
Wir laufen den verschiedenen Empfindungen, die sich einstellen, nicht hinterher. Wir nehmen sie
wahr. Wenn diese Empfindungen einmal für ein paar Stunden oder Tage stärker sind, bedeutet das,
dass sich Energiebahnen öffnen, sich Knoten lösen. Wenn unser Energiesystem noch nicht richtig
durchlässig ist, dann kommt es häufig zu solchen Zuckungen. Das sind noch Blockaden im Energie-
system. – Diese Sprache scheint mir diesbezüglich am sinnvollsten zu sein. – Wenn wir geistig und
körperlich durchlässiger werden, lösen sich diese Zuckungen. Ich erlebe es so, dass – wenn ich aus
einer Anstrengung in den Schlaf finde – ich im Schlaf solche Zuckungen habe, weil sich das alles im
Schlaf entlädt und sich wieder einspurt. Das geschieht, weil sehr viel Anspannung da war, weil geistig
und körperlich sehr viel zu tun war. Man kann gar nicht so genau trennen, wo die Anspannung hinein-
wirkt. Wenn so etwas in der Meditation kommt, nehmen wir es relativ nüchtern zur Kenntnis und
entspannen weiter. Wir nehmen diese Empfindungen, die sich auch im Körper zeigen, einfach zur
Kenntnis, ohne etwas daraus zu machen. Das ist keine Einladung, an irgendwelche Stellen des
Körpers, wo etwas auftaucht, ‚hin zu meditieren’. Wir bleiben in einer Gesamt-Körperwahrnehmung,
die die beste Stütze ist, um das alles auszugleichen. Eine Gesamt-Körperwahrnehmung, die gleicher-
maßen alle Körperteile wahrnimmt, aktiviert, aber auch das Fließen ermöglicht, ist das Beste, das wir
tun können, um zu einer Harmonisierung all dieser Vorgänge beizutragen. Sobald wir mit der
Aufmerksamkeit in einzelne Bereiche hineingehen, stimulieren wir dort stärker und woanders weniger.
Da muss man schon wissen, was man tut.
* * *
Nachdem euch das Sitzen bereits ziemlich beansprucht hat, schlage ich vor, dass ihr die folgende
Meditation auch im Stehen machen könnt. Andere können gleichzeitig im Sitzen praktizieren. Das
macht überhaupt keinen Unterschied. Wir können stehend oder sitzend gleichermaßen praktizieren.
Meditation im Stehen oder Sitzen
Wenn das Stehen zu viel wird, könnt ihr euch zwischendurch hinsetzen. – Ich weiß nicht, wie es bei
mir kommt. –
Im Stehen ist es einfacher, wach zu bleiben, präsent zu bleiben, weil wir auch ein bisschen auf das
Gleichgewicht achten müssen. Bitte tut das auch! Bleibt präsent! –
Es gibt kein richtiges oder falsches Stehen. Es bewährt sich allerdings, die Gelenke nicht einrasten zu
lassen. Das ist vorübergehend zwar erleichternd, aber kann dazu führen, dass wir aus dem Gleichge-
wicht kommen. –
Wir spüren die Stabilität des Stehens bzw. Sitzens, die Beweglichkeit, die Aufrechte. – Ich überlasse
euch jetzt selbst in der Praxis und schlage den Gong in einer halben Stunde. –
9. Karmapa, Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins Lama Tilmann, Möhra 2013
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* * *
Morgenmeditation
Lasst uns die Visualisationen von Zuflucht und Bodhicitta und die Kontemplationen über den kost-
baren Menschenkörper und Vergänglichkeit in der Reihenfolge machen, wie sie im Text beschrieben
werden. –
Wir beginnen damit, den Körper zu spüren, ob die Haltung für uns passt, sodass wir eine halbe Stunde
relativ unbeweglich sitzen können. – Dann lassen wir die Zufluchts-Visualisation wie von selbst
kommen. Wir fühlen uns hinein … stellen uns vor, wir sitzen oder stehen auf einer großen Wiese. – Es
ist ein wunderbarer Morgen, die Sonne scheint und wir spüren, wie sich um uns herum unsere
Angehörigen versammeln, der Vater zur Rechten, die Mutter zur Linken, die nächsten Angehörigen
um uns herum, … Partner, Geschwister, Kinder. – Wir nehmen uns Zeit, sie einzeln ins Bewusstsein
zu rufen, … unsere Freunde. – Dann lassen wir unsere Vorstellung weiter wachsen, bis der gesamte
Raum um uns herum von Lebewesen gefüllt ist, auch von Tieren, auch von Lebewesen aus anderen
Daseinsbereichen. –
Zwischen uns und dem Ufer des Sees, der sich vor uns in wunderbarer kristallblauer Farbe erstreckt,
befinden sich Menschen, mit denen wir es manchmal etwas schwierig haben. Auch sie haben ihren
Blick nach vorne gewandt und spüren die Inspiration, die vom Zufluchtsbaum ausgeht, der inmitten
des Sees aufsteigt … mit einem enormen Stamm, der sich in fünf Ästen unterteilt und dessen ausla-
dende Äste bis an den Horizont reichen. –
In der Mitte sind die Meister und Meisterinnen, die uns inspirieren. Traditionellerweise die Linie, in
der wir praktizieren, darüber sind die Lehrer und Lehrerinnen der anderen Linien. – Direkt auf dem
Ast, der zu uns kommt, mit seinen vielen Verzweigungen, sind die Meditationsgottheiten, die Jidams.
– Von uns aus gesehen zur Linken sind all die Buddhas, aus diesem Zeitalter und vielen, vielen ande-
ren Zeitaltern. Darunter Buddha Shakyamuni, der Medizinbuddha und viele andere. –
Auf dem hinteren Ast sind all die Lehren untergebracht, wie eine riesige Bibliothek, die aber erklingt
mit den Worten der Unterweisungen. In welche Unterweisung wir auch immer hinein hören möchten,
erklingt sie, wir können sie hören und verstehen. – Von uns aus gesehen rechts sind die Sanghas der
verschiedenen Traditionen, die großen Bodhisattvas, die nahen Schüler des Buddhas. Hier finden wir
Tschenresi (Avalokiteshvara), Manjushri, Vajrapani, Shariputra, Maha Maudgalyana und all die ande-
ren. –
Dann konzentrieren wir uns stärker auf die Mitte des Zufluchtsbaumes, in der wir den Urbuddha ent-
decken, leuchtend blau, Vajradhara (Dordje Tschang). – Er verkörpert alle Qualitäten des Erwachens.
–
Bevor wir die Zuflucht singen, nehmen wir uns noch ein bisschen Zeit, die immensen Dimensionen
der Zuflucht vor uns und aller Lebewesen um uns herum zu erspüren. –
Wohin das Auge schaut, überall vor uns sind erwachte Wesen und überall um uns herum sind Lebe-
wesen, die sich nach wirklichem Glück und nach Befreiung sehnen. – Mit dem Wunsch, dass sie alle
ihren Weg finden mögen, richten wir uns jetzt auf Buddha, Dharma und Sangha aus.
Rezitation: Zuflucht und Vier Unermessliche
Wir stellen uns vor, wie die Zuflucht – all die Quellen der Inspiration – immer stärker in Licht er-
strahlt und sich ganz in Licht auflöst. Dieses Licht tritt ein in Stirn, Kehle und Herz aller anwesenden
Lebewesen und erfüllt sie mit Segen und Vertrauen, mit Inspiration. Auch wir werden ganz davon
erfüllt. So verschmilzt die Zuflucht in uns und wir ruhen für einen Moment in Meditation. –
Dieser Moment kann auch länger sein, wenn der Geist ruhig bleibt, dann gibt es nichts zu tun. –
Bevor wir uns aber verfangen in Gedanken über den Tag, über gestern und morgen, richten wir uns
aus mit den Kontemplation über das kostbare Menschendasein, Vergänglichkeit usw. –
Wir bedenken, was für eine unglaubliche Gelegenheit uns gegeben ist, heute mit wachen Sinnen und
ausreichend Zeit mit dem Wesentlichen arbeiten zu können, mit dem, was wir Dharma nennen, den
Weg des Erwachens. Wir entwickeln tiefe Dankbarkeit für diese ungeheuer privilegierte Situation. –
9. Karmapa, Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins Lama Tilmann, Möhra 2013
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Wir lassen innerlich einige der Faktoren bewusst werden, die dazu beitragen, dass solch eine Situation
entsteht. –
Die Anstrengungen vieler Menschen haben dazu geführt, dass wir im Moment relativ friedvolle
Umstände haben, … genug zu essen, … Kleidung, … ein Dach über dem Kopf, … ein Dharmazen-
trum, … bis heute erhaltene Dharmalehren, die uns zur Verfügung gestellt werden. Dank an die
Generationen und Generationen von Menschen, die sich darum bemüht haben, … Dank an unsere
allernächsten Angehörigen, die uns die Möglichkeit dazu geben, die uns groß gezogen haben, die uns
begleiten. – Die einzige Art, wie wir diesem Dank wirklich gerecht werden können, ist, diese Situation
gut zu nutzen. Sie wirklich zu nutzen für das, was der tiefste Sinn unseres Lebens ist. –
Wir bedenken, dass diese Situation sehr schnell vorbei sein kann. Ganz konkret kann es uns selbst hier
im Retreat passieren, dass wir einen Anruf bekommen, der uns aus diesem Retreat heraus reißt, dass
wir krank werden. Und wir wissen nicht, ob wir nächstes Jahr immer noch diese Bedingungen haben,
viele Bedingungen können sich unterdessen ändern. –
All diese Bedingungen sind veränderlich. Zusätzlich ist unser Leben, unser menschlicher Körper so
vielen Einflüssen ausgesetzt. Sicher ist nur, dass wir sterben werden, und wann, kann niemand von uns
sagen. –
Wir können uns als Erinnerungsstütze Begebenheiten ins Gedächtnis rufen, die uns das veranschau-
lichen: So liegt z.B. ein Arzt aus meinem Städtchen seit Monaten im Koma, weil er sich an Popcorn
verschluckt hat. So schnell kann das gehen. –
Wir nehmen diese Erinnerung an unsere Vergänglichkeit, diese Unbeständigkeit der Bedingungen als
zusätzliche Inspiration, als zusätzlichen Motor, um uns jetzt ganz der Praxis zu widmen im Entwickeln
eines liebevollen Gewahrseins. –
Für zehn Minuten überlasse ich euch ganz eurer inneren Praxis. –
* * *
Bemerkungen der Teilnehmer
Ist euch die Übung mit dem Stillen Sitzen klar? Was machen wir mit unserem Geist beim Stillen
Sitzen?
Zähmen.
Den Geist zähmen? Wie geht das?
Den Geist immer wieder zurückholen.
Ja, den Geist immer wieder herausholen, wenn er sich verfängt, und wieder zum Atem bringen. Das ist
der erste Aspekt, den Geist immer wieder aus der Verstrickung, aus dem Aufgewühlt-sein in die Ruhe
hinein zu bringen.
Worum geht es noch?
Den Geist dorthin lenken zu können, wo man ihn haben möchte. Ihn heraus zu holen, wenn er sich
verfangen hat. Und auch durch den Blick das Erleben zu erweitern, der Raum wird weiter. Auch um
weitere Räume kennen zu lernen, aber auch, um ihn zu erkennen.
Ja, und es ist ein Kennenlernen des eigenen Geistes, ein Beobachten und auch ein Durchschauen seiner
Mechanismen. Erkennen in vielen Schichten: Kennenlernen und Erkenntnis dessen, wie er eigentlich
ist, wie er funktioniert. Da kommen wir schon in den Bereich der Einsicht. Das ist der zweite große
Aspekt der Meditation.
Wer möchte welchen Geist erkennen? Denn da ist mein Geist – und da bin ich.
Das ist doch nur ein sprachliches Konstrukt. Das Gewahrsein erkennt sich selbst.
Wenn über die Sinneswahrnehmungen Impulse reinkommen, nicht zu reagieren.
Ja, dieses Üben, nicht automatisch zu reagieren, sondern die Freiheit zu haben, Impulse auch durch
rauschen zu lassen, auf einige einzugehen, aber auf eine freie Art.
9. Karmapa, Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins Lama Tilmann, Möhra 2013
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Es ist eine Trainings-Situation. Man zieht sich von all dem, was im Alltag auf einen einströmt, zurück
und nimmt ein Stück dieser Trainings-Situation wieder in den Alltag mit.
Was nimmst du da mit?
Gelassenheit, in Situationen nicht reagieren zu müssen.
Ja, wie vorhin. Gelassenheit, nicht in automatischen Mustern zu funktionieren.
Einblicke zu bekommen, was der wahre Geist ist.
Das ist die tiefere Einsicht – tiefes Sehen, Verstehen, Erkennen der wahren Natur unseres Seins. Dass
wir unser Leben, wie all das funktioniert, tief durchschauen und darin auch eine Befreiung erlangen.
Wir machen überraschende Entdeckungen. Die Meditation schärft unsere Wahrnehmung, unsere Prä-
senz, wir werden weniger abgelenkt und kriegen immer mehr mit: „He, dieses Ich, das was erkennen
will, wo ist denn das eigentlich?“, „Das Ich, von dem wir immer sprechen, was ist denn das eigent-
lich? Wer will da etwas scheinbar Getrenntes erkennen?“ Es ist da nichts Getrenntes. Die Einheit des
Erlebens und diese nicht fassbare Qualität aller Erfahrungen, die uns manchmal so stark das Herz
zusammen schnüren, oder uns so unglaublich glücklich machen, all diese enormen emotionalen
Reaktionen, die wir in uns haben – die uns haben – gilt es zu durchschauen.
Ich fasse noch einmal zusammen: Die drei großen Phasen in der Meditation sind
den Geist beruhigen
Einsicht entwickeln
im Sehen, in der Einsicht verweilen Teilnehmerin: Zum selbst befreienden Geist fällt mir als Anker bei verwirrenden Gedanken spontan
das klassische Bild von ineinander verschlungenen Schlangen ein, die sich auf mysteriöse Art wieder
entwirren. Man weiß nicht, wie es geschieht, aber es geschieht. Mir hat dieses Bild immer sehr gehol-
fen, wenn ich mich in gedanklich verschlungenen Situationen gefunden habe.
Danke. Die Schlangen, die sich selbst wieder entknoten, sind eines der berühmten Bilder im Maha-
mudra. So funktioniert unser Geist, er entwickelt sich von selbst aus allen Verwicklungen.
Es gibt übrigens etwas, das in diesen Prozessen Stabilität bewirkt. Das ist die Kraft des heilsamen
Handelns; die Kraft, des von Liebe, Mitgefühl und Weisheit getragenen Handelns in Beziehung, im
Austausch mit anderen, mit der Welt um uns herum. Dieses bezogene liebevolle Handeln wirkt stabili-
sierend in diesem ansonsten unerträglichen karmischen Chaos. Das sind die starken heilenden Kräfte,
die dann auch eine Kontinuität des Erlebens in heilsamen Bereichen ermöglichen. Dadurch wird unse-
re so unsichere Existenz hinein genommen in ein Beziehungsnetz, in dem wir sinnerfülltes Handeln
leben. Von Liebe und Weisheit getragenes Handeln ist sinnerfüllt und bewirkt, dass wir in dieser
Dynamik eine klare Ausrichtung haben, dass dieser Strom des Seins immer wieder durch die Kraft von
Liebe und Mitgefühl ausgerichtet wird und nicht orientierungslos ist. Das gibt in der Dynamik Stabili-
tät. Ein klassisches Beispiel hierzu ist ein Pfeil, der abgeschossen wird und unbeirrbar sein Ziel
erreicht. Wenn unsere Motivation so klar ist, gibt das Kraft in der Ausrichtung, in der Bewegung. Man
kann nicht sagen, dass der Weg des Pfeils eine Sicherheit wäre, aber es ist eine Stabilität in der
Bewegung.
Anweisungen für die folgende Meditation
Es gibt drei Aspekte von Meditation:
Der erste Aspekt ist, den Geist sich sammeln zu lassen – Praxis der Geistesruhe. Dadurch klärt sich
der Geist. –
Diese Klarheit nutzen wir, um genauer hin zu schauen, mehr mit zu bekommen. Wir lenken den
ruhiger, flexibler gewordenen Geist in die interessanten Bereiche hinein; in ein Gefühl hinein, in eine
Emotion, in den Ich-Gedanken, der auftaucht. Wir lenken diese Bewusstheit und praktizieren intuitive
Einsicht. – Das ist Einsichts-Meditation, der zweite Aspekt. –
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Der dritte Aspekt ist, wenn es zu einem Erkennen gekommen ist, in der Nachwirkung des Erkennens
zu verweilen. – Das ist das eigentliche Mahamudra, das Verweilen in der Schau des Nicht-zu-Sehen-den, in der Schau dessen, was eigentlich ist. Das ist Mahamudra.
Wenn wir meditieren und lange Phasen still sind, habe ich das Bedürfnis, euch zuzurufen: „Denkt
daran, nicht einfach nur zu sitzen und die Zeit irgendwie herum zu kriegen, sondern denkt daran, einen
der drei Aspekte der Meditation zu praktizieren, etwas zu stärken. Wenn der Geist aufgewühlt ist,
brauchen wir mehr Geistesruhe, wenn er ruhig ist, nutzen wir die Klarheit und schauen ein wenig: Was
ist die Natur dieses Gewahrseins? Wie ist es, zu sein? Wie findet das Ganze statt? Wenn es zu diesem
„Aha!“ kommt, dann verweilen wir in der Offenheit nach dem 'Aha'. So einfach ist das.
Als kleine Hilfestellung üben wir das jetzt gemeinsam:
Meditation
Wir beginnen mit dem Sammeln des Geistes. – Wir nehmen wieder den königlichen Einstieg über den
Körper, spüren die Empfindungen im Körper, spüren unsere Haltung. –
Da ist viel körperliches Erleben. – In diesem vielfältigen Erleben ist eine Qualität spürbar, die Be-
wusstheit, das Gewahrsein. Erleben ist von Bewusstheit begleitet, seine Natur ist, gewahr zu sein. –
Das Heben und Senken des Brustkorbes, … die Empfindungen, die mit dem Atem einhergehen, …
auch das, was wir Atem nennen, ist körperliches Erleben. – Ein Strom von Empfindungen. –
Wenn die automatischen Vorgänge des Atems bewusst werden, wenn bewusst wird, dass ein Erleben
des Atems kommt, dann deshalb, weil Erleben immer die Qualität des Gewahrseins, der Bewusstheit
hat. Diese Qualität der Bewusstheit zieht sich durch all die verschiedenen Empfindungen des Atems. –
Nehmen wir das Hören hinzu. Geräusche, Klänge sind Hör-Erleben. Immer, wenn wir Klänge und
Geräusche wahrnehmen, ist das ein Erleben, eine Erfahrung. Obwohl die Geräusche so verschieden
sind, ist da die eine Qualität der Bewusstheit, des Gewahrseins, die all dieses Erleben durchdringt. –
Nehmen wir das Sehen hinzu, visuelles Erleben. So viele Dinge sind zu sehen, aber da ist immer die
eine Qualität, die im sehenden Erleben stets bleibt, die Bewusstheit. –
Wie ist es, zu sehen? Wie ist es, zu hören? Wie ist es, zu spüren? – Wie ist diese Bewusstheit? –
Dann nehmen wir noch das Riechen hinzu und dann das Schmecken. –
Gerüche, die Düfte wechseln, … es bleibt eine Erfahrung von Bewusstheit, Gewahrsein im riechenden
Erleben. –
Ohne Bewusstheit gibt es kein Riech-Erleben, kein Seh-Erleben, kein Hör-Erleben, kein Körper-
Erleben. –
Wie ist es mit dem geistigen Erleben ohne äußere Objekte? Das Erleben der Gedanken, Gefühle, der
inneren Vorgänge, Stimmungen, Bilder, Klänge. –
Ohne Bewusstheit kein Erleben, kein Gefühl oder Denken. –
Wer ist sich jetzt all dessen bewusst? Ist da wer? –
In der Mahamudra-Sprache nennen wir das ‚aus sich selbst heraus gewahres Gewahrsein’. –
Wir nennen es auch gewöhnliches Bewusstsein, weil nichts Spektakuläres daran ist. –
* * *
Bewusstsein ist ja ganz nett, aber so bewusst zu sein, ist ziemlich anstrengend! – Was haben wir denn
jetzt gerade praktiziert? –
Teilnehmer: Vipassana.
Ja! Vipassana.
Teilnehmer: Wir haben den Geist beruhigt und dann hinein geschaut.
Hat das Hineinschauen aufwühlend gewirkt oder beruhigend, oder weder noch?
Letztes Jahr wollte ich mich nur beruhigen. Ich wollte immer nur in Frieden sein. Das ist dieses Mal
ganz anders. Jetzt habe ich Interesse daran, zu schauen und das hat mich beruhigt.
Wenn du jetzt schaust, was macht das mit dir?
9. Karmapa, Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins Lama Tilmann, Möhra 2013
78
Es hat mich beruhigt.
Wie ging es anderen?
Teilnehmerin: Mich hat es auch beruhigt.
Teilnehmer: Ich habe ein Zucken gehabt und habe mich gefragt, wo das jetzt war.
Was war das für ein Zucken? Ich hätte gerne, dass du es noch genauer beschreibst.
Ein innerliches Zucken, fast wie ein Selbst-vergessen.
Teilnehmerin: Ich war sehr schläfrig, aber nicht kontinuierlich, sondern immer dann, wenn ich in die
Sinneswahrnehmungen gehen wollte. Das kam wie ein Hammer, mir gingen fast die Augen zu. Da hab
ich mich dann herausgeholt und mit dem Atmen bin ich wieder wacher geworden. Diese offene Wahr-
nehmung finde ich irritierend.
Hast du eine Vermutung, woher diese Müdigkeit, diese Dumpfheit kommt?
Ja, vielleicht ein Sträuben, aber das ist für mich ganz untypisch.
Ja, aber total typisch für die Art von Situation. Es ist wichtig, dass du den Mechanismus spürst. Es
könnte ein Widerstand, ein gegenläufiges Streben sein. Aber meistens ist so etwas die Folge von ‚zu
sehr wollen’; die Offenheit zu sehr wollen und der Laden geht runter.
Zu sehr bemüht bewusst zu sein. Ja, das kenne ich.
Je nachdem, wie man karmisch und konstitutionell gebaut ist, reicht es für manche Menschen aus, sich
nur in eine Dharma-Unterweisung zu setzen und schon schlafen sie ein. Sie kommen hoch motiviert
und allein schon der Wunsch, alles aufzunehmen, führt dazu, dass sie nichts mehr mitkriegen. Die
Unterweisung ist vorbei und sie sind wieder in voller Wachheit! Das gibt es abgewandelt in immer
feineren Formen bei jedem Versuch, besonders bewusst zu sein. Es werden andere karmischen Kräfte
stimuliert, die wir als Widerstand oder gegenteiliges Streben benennen können. Das sind Schleier, die
bewirken, dass zu starkes Wollen genau die Gegenreaktion auslöst. Die Lösung wäre weniger zu
wollen. Etwas sanfter herangehen und die Bewusstheit eher kommen lassen als erzeugen. Einladen –
sich dafür öffnen, kommen lassen – aber nicht erzeugen wollen.
Teilnehmerin: Ich war erst sehr beruhigt und dann geschah etwas, das ich jeden Abend bewusst
erlebe, wenn ich einschlafe. Es ist, als würde ich eine Treppe runter fallen. Zuerst war eine Ruhe, aber
dann war es so, als wenn ich irgendwo hineinfallen würde. Ich war sehr präsent.
Hast du dich fallen lassen? Was war am Ende der Treppe? War da ein Aufprall?
Nein! Ich kann es schwer beschreiben. Ich kann es nicht mehr fassen, es war etwas Klares.
Eine Treppe ins Bodenlose?
Sie hat mir keine Angst gemacht, weil ich sie kenne. Jede Nacht weiß ich: „Jetzt geht’s ab!“, aber jetzt
war so etwas anderes. Es war eine Wachheit, aber es war nichts festzuhalten.
Ja, es ist einfach so. Die Sprache ist manchmal etwas dürftig, um so etwas zu beschreiben. Lassen wir
es, wie es ist.
Teilnehmer: Ich habe Schwierigkeiten gehabt, zwei Zustände zu verstehen bzw. den Unterschied nicht
verstehen zu können: bewusst zu sein und nicht bewusst zu sein, also etwas weg gedriftet sein. Wenn
ich bewusst bin, ist das dann ein Moment der Wahrheit? Was ist, wenn ich nicht bewusst bin? Was ist
da der Unterschied? Was ist das, was da dann anders ist?
Das möchte ich auch mal wissen! Was ist denn das Erleben, wenn du weniger bewusst bist oder weg
driftest? Wie verändert sich das Erleben?
Ich weiß nicht, das kann ich doch erst sagen, wenn ich wieder da bin. Dann weiß ich: „Ich war weg
gedriftet.“
9. Karmapa, Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins Lama Tilmann, Möhra 2013
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Findet dann da Erleben statt?
Ja, offensichtlich bin ich ja nicht bewusstlos. Manchmal kann ich ja auch hinterher sagen, was war.
Ja, wenn wir weg driften, findet immer noch ein Erleben statt, aber dessen Qualität ist viel nebliger,
unklarer und unschärfer als die Momente voll bewussten Erlebens. Wenn wir noch weiter weg driften
würden, würden wir einschlafen. Wenn wir bewusstlos werden, findet kein Erleben mehr statt, über
das wir noch irgendwie Auskunft geben könnten. Es findet etwas statt – der Geist geht ja weiter – aber
wir wissen nicht was.
Im Träumen findet ja auch Erleben statt.
Ja, im Träumen findet Erleben statt – das ist mit Bewusstheit gekoppelt und kann sehr präzise sein.
Traumerleben ist ein Erleben, über das wir relativ präzise Auskunft geben können, aber die Tiefschlaf-
phase ist bei den meisten Menschen stark verschleiert. Über die kann man kaum was sagen. Es sei
denn, wir erleben auch die mit Bewusstheit, was dann 'Erhellende Klarheit' genannt wird. Es ist Teil
der Praxis, sogar da noch bewusst zu bleiben. Also Bewusstheit überall, manchmal präzise und stark
und dann in einem Zwischenzustand, der im Nachhinein gerade noch beschreibbar ist, aber sich eher
im Kontrast zeigt.
Es ist ja nicht befriedigend, wenn Achtsamkeit einmal da ist und dann wieder nicht.
Die Behauptung der Mahamudra-Lehrer ist, dass alles Erleben, alle Erscheinungen – nangwa –die
Natur des Dharmakaya hat, des zeitlosen Gewahrseins, unabhängig vom Inhalt.
Die erste Untersuchung, die wir anstellen müssen, ist: Habt ihr in der Meditation im Körper-Erleben,
Hör-Erleben, Seh-Erleben, im Riechen und Schmecken die Qualität der Bewusstheit spüren können,
unabhängig von den Inhalten? War da etwas Ähnliches oder gleich Bleibendes trotz der verschiedenen
Geräusche, Körperempfindungen? Habt ihr das erspüren können? – Ich möchte von euch einfach nur
„Ja“ oder „Nein“, oder wo Schwierigkeiten waren. Ich brauche eure Rückmeldungen.
Gut, das ist wahrnehmbar geworden.
Die zweite Frage: Wie ist es, wenn ihr die Bewusstheit des Hör-Erlebens mit der Bewusstheit, z.B. des
Seh-Erlebens oder des Körper-Erlebens vergleicht? Ist die Qualität der Bewusstheit ähnlich oder
unterschiedlich? Wie ist es denn?
Teilnehmer: Riechen geht bei mir am tiefsten. Das Sehen kann ich eher kontrollieren.
Aha, da schwingt mit, als ob das Riechen alle Kontrollen unterlaufen würde und es beim Sehen noch
eher möglich wäre, eine Distanz aufrecht zu erhalten.
Teilnehmerin: Ich habe den Unterschied deutlich bei Körperwahrnehmung und Hören gespürt. Bei
der Körperwahrnehmung werte ich sehr stark in angenehm oder unangenehm. Beim Hören ist das
Phänomen des Hörens da und nicht so sehr das Geräusch als solches.
Ja, es ist für die meisten Menschen deutlich einfacher, mit dem Hören diese Bewusstheit ‚einfach nur
Hören’ hin zu bekommen.
Teilnehmerin: Bei mir gab es einen Unterschied zwischen Hören und Sehen. Beim Hören wechselte
das mehr, ich hatte auch laute Geräusche im Kopf und da kam so ein Fluss rein. Beim Sehen war es
statischer, und es war schwieriger, in die Bewusstheit zu finden.
Ja, wenn sich in unserem Gesichtsfeld wenig verändert, gibt das Seh-Erleben ein Gefühl von etwas
sehr Statischem. Sobald sich aber etwas verändert, merken wir das. Es braucht nur jemand vor uns die
Haltung zu verändern. Oder wenn wir unsere Augen wandern lassen, kommen wir mit dem Seh-Erle-
ben auch stärker in diese Erfahrung von Moment zu Moment. Es ist eine große Herausforderung für
die Meditierenden, im scheinbar statischen Sehen die Dynamik wahrzunehmen, dass wir ständig
sehen, dass ein ununterbrochenes Sehen als Prozess stattfindet, obwohl sich der Inhalt dessen, was
gesehen wird, kaum oder gar nicht wandelt. Trotzdem ist das Sehen selbst ein ständiger Prozess. Das
wird uns dadurch klar, dass wir sofort bemerken, wenn sich etwas verändert. Wir sind in einem ständi-
9. Karmapa, Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins Lama Tilmann, Möhra 2013
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gen Sehen und nicht im Sehen eines Bildes, das einmal abgespeichert wurde und dann statisch bleibt.
Selbst wenn man sich vor eine weiße Wand setzt, die sich garantiert während der gesamten Medita-
tionssitzung nicht sichtbar ändert, findet ein dynamisches Sehen statt.
Gibt es beim Hören eine ähnliche Erfahrung, wie das statische Sehen?
Teilnehmer: Die Stille.
Das Hören der Stille, solange bis uns ein Geräusch aufgeht. Stellt euch vor, ihr geht in einen Schall
isolierten Raum und geht mit dem Bewusstsein ins Hören. Hören findet statt – die Bewusstheit
aktiviert den Hörsinn und wir hören. Es ist ein Versuch zu hören, ohne dass sich darin etwas bewegt.
Dann merken wir, dass einiges los ist.
Teilnehmerin: Für mich war es so unterschiedlich, das Bewusstsein wahrzunehmen. In den verschie-
denen Sinnesbereichen war es recht einfach, aber beim Sehen ist es für mich schwierig. Ich habe die
Tendenz: „Eigentlich will ich die Augen zumachen“. Das Sehen strengt mich oft an.
Du könntest in deinem persönlichen Üben so weiter machen, dass du dich gezielt darin übst, völlig
entspannt zu sehen. Ein Sehen, ohne etwas sehen zu wollen, einfach nur schauen. Du nimmst alles
Identifizieren-Wollen, alles Wahrnehmen-Wollen raus, ziehst dich innerlich zurück und bist einfach
nur im Erleben dessen, wie es ist, wenn es schaut. – Wenn es anderen mit dem Hören z.B. so geht,
dann macht ihr das genauso mit dem Hören oder mit dem Fühlen des Körpers.
Jetzt zum Denken, den geistigen Bewegungen. Wie war denn das?
Teilnehmerin: Mir kam beim Hören der Gedanke des abhängigen Entstehens auf, ob das Geräusch
auch da ist, wenn ich es nicht höre?
Ja, das ist eine interessante Frage. Was ist dein Schluss?
Teilnehmerin: Ich habe da keinen Schluss. Ich denke schon eine ganze Weile immer wieder darüber
nach. Das ist wie ein Prozess, da immer wieder hin zu denken. Das kann ich nicht lösen. Als ich damit
aufgehört habe, kam ein leichtes Angstgefühl, eine Unruhe, den Herzschlag hören.
Hast du eine Erklärung dafür? Hast du einen Zusammenhang beobachten können?
Naja, dieser Teil: Was ist eigentlich Projektion, was ist nicht Projektion? Ich neige auch dazu, Dinge
nach außen zu projizieren, die mir dann wieder Angst machen. … So irgendwie.
Ja, das ist verunsichernd, wenn wir der Natur der Projektionen ein bisschen auf die Spur kommen, da
hinein schauen. Wir können die Frage, ob es ein Geräusch gibt, das wir nicht hören, schon ein
bisschen beantworten, zumindest eingrenzen. Wenn von Erleben oder von Erscheinungen – nangwa –
gesprochen wird, bezieht sich das immer auf ein tatsächlich gemachtes Erleben, auf eine Erfahrung.
Wenn es heißt, dass alle Erscheinungen Geist sind, bedeutet das nicht, dass die Dinge Geist sind,
sondern dass Dinge zu Erfahrungen werden. Ein Geräusch gibt es nur dann für uns, wenn es gehört
wird, wenn es eine Erfahrung wird. Die Natur dieser Erfahrung ist diese nicht fassbare, aber doch
deutlich wahrnehmbare Bewusstheit. Das ist die wahre Natur einer jeden Erfahrung. Jede Erfahrung
hat diese Qualität der Bewusstheit. Nicht gemachte Erfahrungen jucken nicht, können uns egal sein.
Wenn jemand anderer diese Erfahrung gemacht hat, dann gibt es dieses Geräusch in der Welt des
anderen.
Teilnehmer: Gibt es die Schwingung der Luft, auch wenn niemand sie sieht?
Frage einmal so: Wenn du die Schwingung der Luft nicht wahrnimmst, wer spricht dann über die
Schwingung der Luft?
Da gibt es aber einen größeren Zusammenhang....
Ja, das gibt es und darüber macht die buddhistische Lehre gar keine Aussagen. Die Frage, ob es jen-
seits von dem, was erlebt wird, was messbar ist, etwas anderes gibt, ist für das Erwachen irrelevant.
Das, was nicht erfahren wird, blockiert uns nicht, es blockiert nicht den Weg des Erwachens, es ist
nicht etwas, das uns zu Fixierung führt. Aber wenn wir in unserem Erleben ständig auf etwas Bezug
9. Karmapa, Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins Lama Tilmann, Möhra 2013
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nehmen, das außerhalb unseres Erlebens für real gehalten wird und wir in dieser Fixierung auf etwas,
das wir nicht verifizieren können, verharren, das blockiert. Ob es das gibt oder nicht, ist eine
Streitfrage, um die sich andere kümmern sollen. Es ist für das Erwachen völlig irrelevant.
Ob es einen Gott gibt oder nicht, ob es eine real existente materielle Welt jenseits der Erfahrungen
gibt, würden Buddhisten nicht abstreiten. Wir würden fragen: „Ist das erfahrbar oder ist es das nicht?“
Wenn es erfahrbar wird, dann ist es Erleben, und dieses Erleben ist von dynamischer Natur. Damit
können wir direkt etwas anfangen. Erwachen findet im Erleben statt, nicht außerhalb. Diese Frage ist
wichtig und darüber zerbrechen sich schon seit 3000 Jahren oder länger Praktizierende die Köpfe. Sie
ist für die innere Freiheit nur insofern relevant, als wir anerkennen müssen, dass wir uns auf ganz
heiklem Gebiet befinden, wenn wir Aussagen über etwas machen, das wir nicht verifizieren können.
Wir können x-beliebige Behauptungen aufstellen über das, was jenseits der Erfahrung ist. Wir können
über diesen Bereich alles behaupten, und wenn wir uns dann auch noch darauf beziehen und zum
Fokus unseres Lebens machen, sind wir in einer schwierigen Position. Wenn wir aber beim Erleben
bleiben, können wir Aussagen machen über die Welt aufgrund unseres Erlebens oder aufgrund unserer
Messinstrumente – Teleskope, die ins Weltall gehen, Teilchenbeschleuniger. Wir können Aussagen
machen über das, was durch anderes sekundär dann auch wieder für uns erfahrbar wird. Es gibt
Ausschläge auf einem Bildschirm usw.
Das ist eine spannende Diskussion, vor allem mit der Wissenschaft.
Ja, und die Wissenschaftsphilosophie hat sich diese Frage auch schon gestellt: „Gibt es eine Wirklich-
keit außerhalb des Messbaren?“ Und alle müssen zugeben: „Das ist reine Hypothese.“ Davon, was
nicht erfahrbar wird oder messbar ist, weiß keiner etwas. Alles andere ist dann Spekulation und wir
müssen den Bereich des Spekulativen klar als spekulativ benennen. – Da ist die buddhistische Lehre
total streng. Da lässt sich keine sichere Aussage treffen, weil es keinen Zugang zum direkten Erleben
gibt.
Aber es gibt Voraussagen, die dann überprüfbar sind. Auch wenn sie nicht direkt erlebbar sind, kön-
nen Aussagen getroffen werden, wie es später sein wird und wenn es dann später so ist…
Voraussagen aufgrund beobachtbarer Zusammenhänge, die alle aus dem Erleben stammen. Alle
Voraussagen stammen aus dem Erleben.
Auch wenn ich es nicht erlebe, kann ich nachher überprüfen, ob es stimmt, was ich voraus gesagt
habe. Das ist ja Wissenschaft.
Ja, aber Wissenschaft ist immer etwas Erfahrbares. Irgendwo hat ein Zeiger ausgeschlagen, irgendwo
hat es eine Erfahrung gegeben, ein Licht, eine Depolarisation, irgendetwas, das erfahrbar wurde, mess-
bar wurde. Wissenschaft ist nicht jenseits des Erlebens. – Das denken viele, aber das ist es nicht. Es ist
ein interpretiertes Erleben und das kann sehr verlässlich sein. Genauso, wie wir in unserem Erleben
ständig Interpretationen vornehmen, die auch ziemlich verlässlich sind. Man kann auch emotionale
Vorhersagen mit ziemlicher Präzision machen. Wir gehen z.B. immer wieder davon aus, dass der
Boden uns trägt, weil wir wiederholt die Erfahrung gemacht haben, dass er – obwohl er aus lauter
Teilchen besteht – nicht unter unserem Schritt nachgibt. Oder wir beobachten Naturprozesse und
sagen: „Ah! Die Äpfel werden dieses Jahr wohl etwas später reif als letztes Jahr.“ Das ist die Ver-
lässlichkeit immer wieder gemachter Erfahrungen.
Wie war es mit dem Beobachten des Denkens?
Teilnehmer: Beim Hören konnte ich das so klar zuordnen, da war der Tinnitus, sehr klar, und danach
eine andere Ebene, die ich auch sehr klar definieren konnte. Einige Gedanken konnte ich deutlich
wahrnehmen, aber dann waren viele Gedanken, die mehr als Strömung wahrnehmbar waren, also
nicht so klar. Beim Hören war es deutlich klarer.
Da wurden also unschärfere Bewegungen wahrnehmbar.
Ja, aber nicht so klar wie beim Hören, wo ich so klar wahrnehmen konnte.
9. Karmapa, Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins Lama Tilmann, Möhra 2013
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Ja, beim Hören müsste man schon an die Hörgrenze gehen, um unscharfe Wahrnehmungen zu haben.
Da, wo wir nicht mehr so scharf hören, haben wir dann dasselbe Phänomen wie beim Hinfühlen in
das, was im Geist vor sich geht, dass einiges ganz präzise ist und anderes gerade so erahnbar ist.
Teilnehmerin: Ich war ein bisschen schläfrig, aber dann kam sofort, dass der Geist da doch alles
wahrgenommen hat, was erscheint. Bei den Gedanken, war es sehr ‚ich’ im Sinne von „Ich mache die
Gedanken“.
Wo ist denn das Ich, das das immer macht?
Als ich darüber nachdenken wollte, kamen noch mehr Gedanken, da kam ein bisschen Unruhe.
Was du beschreibst, ist das „Es denkt“, und dieses „Es denkt“ nennen wir Ich. Das ist auch das Nor-
male. Was wir ‚Ich’ – Cogito, ergo sum – nennen, ist dieses Ding da. – Denken, Spekulieren, Fühlen
usw.
Teilnehmerin: Ich habe eine Trennung gespürt zwischen präzisen Gedanken, was die Sinneswahr-
nehmung betraf, und dem Wahrnehmen, dass ich denke. Dann ist das immer wieder gekippt, wurde
verschwommen und dann fingen Gedankenketten an. Ich hatte dann die Vorstellung, dass diese
Gedankenketten das Ich sind, weil es so einzelne Schnipsel aneinander setzt. Und diese Erinnerungs-
fetzen bezeichne ich als mein Ich. Das ist das, was mich umgibt und umwabert.
Das ist auch interessant. Du beschreibst, dass dann, wenn weniger Bewusstheit da ist, sich Gedanken
zu Gedankenketten ausformen können. Und diese weniger bewussten, halb bewussten Gedankenstruk-
turen, diese Ketten, die wären das Ich. Und das, wo die Bewusstheit rein kommt, wäre was?
Das ist präzise.
Gut, nennen wir das einfach das Präzise. Was du beschreibst, ist sehr nahe an dem, was wir auf dem
buddhistischen Weg als die zunehmende Klärung des Gewahrseins beschreiben. Das, was normaler-
weise aus buddhistischer Sicht ‚Ich’ genannt wird, sind all diese unbewussten emotionalen Muster.
Und wenn da Gewahrsein rein kommt, vereinfacht es sich und vereinfacht sich noch mehr, bis es
immer weniger zu diesen zusätzlichen komplizierenden Gedankenketten, zu emotionalen Assoziatio-
nen und dergleichen kommt. Was bleibt, wenn der Geist sich weiter klärt, ist dieses bewusste Sein, in
dem auch sehr präzise gedacht werden kann, aber ohne diesen ganzen Wust, der sich da dran hängt.
Wenn wir diesen Bereich, der weniger bewusst ist, ‚Ich’ nennen, dann wäre das eine Auflösung des
Ichs. Jetzt kann es aber sein, dass unser wahres Ich diese Bewusstheit ist, dieses bewusste Sein. –
Deshalb habe ich dich gefragt, wie du das nennen würdest, wenn du voll bewusst bist. Ist nicht
vielleicht das deine wahre Natur? Und das andere wären diese inneren Filme, die sich dann auflösen.
Da sind wir ganz nah an dem, wovon die buddhistischen Meister sprechen. Sie sprechen in einzelnen
Texten auch manchmal vom „wahren Selbst“. Sie haben diesen Ausdruck von den Hindus übernom-
men, er existiert aber durchaus in buddhistischen Texten. Und das ist es, was bleibt, wenn sich alle
Komplikationen aufgelöst haben. Das wäre, wenn wir in dieser Bewusstheit, die du beschreibst, weiter
gehen und noch klarer und noch klarer werden. Die bleibt nämlich. Und weil diese grundlegende,
liebevoll Bewusstheit bleibt, nicht gereinigt wird, sich nicht auflöst, wird sie in einigen Kommentaren,
wie z.B. im Chakrasamvara-Tantra, als das wahre Selbst beschrieben.
Es ist recht einfach: Das, was bleibt, ist das Eigentliche. – Es ist dann nicht mehr persönlich, das
wahre Selbst ist unpersönlich, nicht mehr individuell. Mein wahres Selbst und dein wahres Selbst –
das ist dieselbe Erfahrung. Es ist genau das, was bei jedem von uns bleibt, wenn wir diesen Prozess
des Nicht-Identifizierens durchlaufen.
Ist das die Aufhebung der Dualität? Wenn man ‚präzise’ erkannt hat, dass das bei allen gleich ist?
Ja, das, was bei allen gleich ist, diese Bewusstheit. Man kann es sehr einfach sagen: Wenn es nur noch
Erleben gibt und keine Absonderung aus dem Erleben, wenn es niemanden gibt, keine Instanz, keine
Gedanken, die behaupten, „Ich erlebe das.“ Wenn das Erleben einfach voll wird, das ist das nonduale
Sein. So einfach ist das!
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Wir erleben das ständig, nur bekommen wir es nicht mit, weil wir uns ja nicht absondern, weil da
keiner ist, der sagt „Ich“. Deshalb kriegen wir diese Momente gar nicht mit, obwohl sie sehr häufig
auftauchen. Es ist das volle Erleben, wo es keinen Erlebenden und etwas Erlebtes in der vermeint-
lichen Trennung gibt. Wenn die Einheit von Erlebendem und Erlebtem erfahren wird, wenn das ein
Erleben ist, dann sind wir in diesem nondualen Gewahrsein. Darum steht am Ende des Ngöndro von
der Auflösung all dieser Trennungen wie Seher, Gesehenes und Sehen oder Gebender, Gegebenes und
Geben. Das ist eigentlich Mahamudra. – So einfach ist das! Einfaches Sein ohne zusätzliche interpre-
tierende Abtrennung. Dann steht immer noch die Frage im Raum: „Ist denn das funktional?“ „Kann
man damit gut leben?“ – Sehr gut! Man macht deutlich weniger Fehler. Da ist eine ganz wache
Bewusstheit.
Teilnehmer: Es geht um etwas, das ich schon länger habe, aber ich habe dafür keinen Begriff. Ich
habe das Gefühl, dass ich Sachen nicht persönlich erlebe. Damit meine ich, dass das, was auftaucht,
nicht persönlich ist. – Es taucht ein Geräusch auf, das ist nicht persönlich, ein Schmerz, der nicht
automatisch zu Leid führt, denn er ist nicht persönlich. Ein Gedanke taucht auf, er ist nicht persönlich,
er ist einfach. Aber in dem Moment, wo ich nicht persönlich bin, bin ich offen für den nächsten
Gedanken, fürs nächste Gefühl.
Ja, absolut, da findet dann auch kein Festhalten statt.
Es erscheint mir kühl, keine Reibung.
Ja, es ist keine Reibung mit der Natur der Dinge. Wir sind in Einklang, weil wir nicht ein persönliches
Ding aus dem Erleben machen.
Ich habe das schon ein paar Mal erlebt, aber dieses Mal habe ich den Eindruck gehabt, dass es ohne
Reibung ist.
Das ist ganz spannend, was du beschreibst. Wenn wir das nicht richtig verstehen, können wir aber in
einem riesigen Missverständnis landen. Es gibt die Möglichkeit, sich aus dem Erleben soweit zu dis-
tanzieren, dass das Erleben selbst als unpersönlich wahrgenommen wird. – Das ist jetzt nicht das, was
du meinst. Wenn wir aufgrund von Ängsten, Traumata in der Kindheit, nicht in der Lage sind, uns
völlig einzulassen, weil es schmerzhaft ist, dann gehen wir soweit raus aus dem Erleben, dass uns das
Erlebte selbst als unpersönlich vorkommt. – Du hast persönlich einen langen Weg hinter dir, wo du an
dem gearbeitet hast. Wenn wir uns voll einlassen und es zu einer vollen Präsenz kommt, die nicht
mehr interpretativ weiter verarbeitet wird, verliert das Erleben den Geschmack des Persönlichen und
kommt in ein Fließen, wo keine Reibung mehr stattfindet, weil es nicht mehr in diesem Wollen und
Nicht-wollen drin ist. Das sind Momente in unserer Erfahrung, die uns den Weg weisen.
Es gibt Schulen, vor allem im Theravada, die ganz stark diese innere Haltung betonen, dass wir sie
beim Meditieren einnehmen und die Unpersönlichkeit eines jeden Erlebens wahrnehmen. Dass also in
einem Geräusch, einer Körperempfindung und dann auch in einem Gedanken, der auftaucht, gar nichts
Persönliches ist, mit dem wir uns auseinandersetzen müssten oder was zu einer Reibung, zu Spannung
führen würde. Das ist ein Prozess der Des-Identifikation, den wir nutzen, um uns aus der Verstrickung
zu lösen.
Wenn man das aber pathologisch angeht, also falsch versteht, dann führt das zu einer Distanzierung
aus dem Erleben. Daran kranken manche buddhistische Praktizierende, sie lassen sich nicht mehr ein
auf das Erleben und schweben quasi darüber. Sie lassen sich nicht ein auf die direkte Begegnung, auf
den Schmerz, auf die Liebe, was auch immer spürbar wird, sondern bleiben in der sanft beobachtenden
Distanz: „Ich praktiziere das Spiel der Phänomene!“, „Ich bin im Erleben dieses Spiels!“ Dabei sind
sie immer der geschützte, distanzierte Beobachter. Das ist kein Weg des Erwachens, das ist eine ze-
mentierte Ego-Festung, aus Schutz! Da sind Mechanismen dahinter, die es notwendig machen, sich so
zu schützen. Der Weg des Erwachens geht voll ins Erleben rein, und im Erleben wird die wirkliche
Natur des Erlebens erfahren als nicht persönlich. –
Ich hoffe, ich konnte das irgendwie rüber bringen. Es ist ein so wichtiger Punkt für die Praxis!
9. Karmapa, Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins Lama Tilmann, Möhra 2013
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Teilnehmerin: Geht das dann immer zusammen mit Bodhicitta? Ist das direkt damit verbunden? Je
unpersönlicher ich die Gedanken sehe, umso mehr bin ich eigentlich verbunden. Das fängt mit dem
Körpergefühl an. Je mehr ich das Körperempfinden mit allen Wesen im Raum um mich herum spüre,
umso weniger persönlich nehme ich das, was ich spüre, was ich sehe und mit den Gedanken letztlich
auch.
Ja, dadurch dass wir uns so total einlassen und dieses nicht persönliche Erleben einfache Bewusstheit
ist, öffnet sich so viel in uns. Da entsteht Bodhicitta, da sind wir mit allem und jedem verbunden. Und
das ist für uns auch ein innerer Gradmesser. Wir können innerlich spüren, wie verbunden wir sind, wie
wir tatsächlich im direkten Kontakt, im Erleben sind. Es wird wirklich warm in uns. Während das
andere Erleben, wo der vermeintliche Mahamudra-Praktizierende das Spiel der Phänomene betrachtet,
ein distanziertes Erleben ist. Da wird nichts warm, da ist kein wirklicher Austausch.
4. Dumpfheit und Aufgewühltheit beseitigen: Den Geist stabilisieren
Meditation
Beim Zufluchtnehmen sind wir von Vielen umgeben, um uns, vor uns, …
Wir lassen als Erstes unsere Aufmerksamkeit untersuchen, wie es uns jetzt gerade geht. Wie fühle ich
mich jetzt? Im Körper und im Geist, … Stimmungen? – Fühle ich irgendwo Anspannung? Ist Weite
spürbar? – Bin ich eher auf der aufgewühlten Seite, oder eher etwas schläfrig oder dumpf? – Was
brauche ich jetzt gerade? –
Falls der Geist dumpf sein sollte, empfiehlt Karmapa, die Bewusstheit auf eine weiße Lichtsphäre zu
richten, zwischen den Augenbrauen, erbsengroß, glitzernd, rund und strahlend klar. Wir richten den
Geist auf diese Weise auf die glitzernde Lichtsphäre zwischen den Augenbrauen, aber sorgen auch
dafür, dass wir genug frische Luft an den Körper bekommen. Diejenigen, die das Gefühl haben, sie
sind eher schon auf der aufgewühlten Seite, können eine schwarze erbsengroße Lichtsphäre visualisie-
ren – glitzernd und rund – die sich auf Höhe der Meditationsmatte befindet, direkt unter dem Sitz, eine
schwarze Lichtsphäre. –
Jetzt müsst ihr entscheiden. Wenn ihr nicht wisst, was euch gut tut, dann beginnt mit der weißen Licht-
sphäre zwischen den Augenbrauen. – Um den Geist aufzufrischen, richten wir den Blick noch etwas
nach oben, in die Weite, so dass auch viel Licht durch die Retina nach innen dringt, und visualisieren
zusätzlich diese kleine Sonne zwischen den Augenbrauen, strahlend weiß. –
Lasst uns das mal für fünf Minuten machen. Die einen mit der schwarzen Lichtsphäre, die anderen mit
der weißen. Entwickelt ganz stark die aufhellenden Qualitäten der weißen Lichtsphäre und die beruhi-
genden der dunklen Lichtsphäre. – Denkt daran, trotz aller Aufmerksamkeit entspannt zu bleiben. –
Wer es lieber hat, kann sich natürlich auch einen entsprechenden Buddha in dieser Farbe vorstellen, in
diesem Licht. –
Jetzt machen wir eine kleine Pause und visualisieren gar nichts mehr. –
Wir fangen wieder an. Wenn ihr es ausprobieren wollt, dann visualisiert jetzt das Gegenteil zu vorhin.
Wer weiß visualisiert hat, kann jetzt die schwarze Lichtsphäre unterhalb visualisieren, vielleicht eher
so eine ganz dunkelblaue Lichtsphäre, fast schwarz – schwarz ist ja eigentlich kein Licht – unter dem
Sitz, ganz beruhigend. Diejenigen, die jetzt weiß visualisieren, stellen sich die Lichtsphäre ganz
aufhellend, stimulierend vor. –
Wir können diese schwarze Lichtsphäre – im Moment erbsengroß – ein bisschen größer werden
lassen, so wie ein Gummibällchen. – Dann stellen wir uns vor, dass diese schwarze Sphäre noch tiefer
nach unten geht, in den Keller unter uns, dann in die Erde. Sie geht wie an einem schwarzen Faden
weiter und weiter nach unten, bis wir das Gefühl haben: „Ja, da ist es richtig!“ – Schaut, welche Größe
für euch stimmig ist. –
Noch ein, zwei Minuten. – Zum Abschluss machen wir diese schwarze Verankerung noch einmal
richtig groß und schön schwarz. Ganz, ganz groß – und die, die beim Weißen sind, machen die weiße
Lichtsphäre extrem strahlend, extrem hell. –
9. Karmapa, Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins Lama Tilmann, Möhra 2013
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Dann machen wir die schwarze Sphäre wieder klein, erbsengroß und zurück auf die Höhe der Matte,
eine kleine schwarze Erbse. Wir lassen es sich auflösen, lösen den Blick. Genauso auch für die weiße
Erbse zwischen den Augenbrauen. Mit einem letzten Strahlen verblasst es, und die Visualisation ist
ganz vorbei. –
Schaut hin! Fühlt hin, wie es euch geht. Seid ihr dadurch aus dem Gleichgewicht gekommen oder hat
sich ein Gleichgewicht eingestellt? Fühlt ihr euch? –
Meditiert einfach weiter, während ich euch den Text dazu vom 9. Karmapa vorlese:
[18.4] Um nun Fehler wie Dumpfheit und Aufregung zu beseitigen, stelle dir [wenn der Geist
dumpf ist] zwischen den Augenbrauen eine weiße Lichtsphäre vor – erbsengroß, glitzernd, rund
und strahlend klar – und richte deine Aufmerksamkeit darauf.
Bei anderer Gelegenheit [wenn der Geist aufgewühlt ist] richte deine Aufmerksamkeit auf eine
schwarze Lichtsphäre – ebenfalls erbsengroß, glitzernd und rund, die sich auf Höhe der Medita-
tionsmatte befindet.
[18.5] Bei Dumpfheit richte die Bewusstheit auf die weiße Lichtsphäre und schaue in den Him-
mel. Erfrische den Körper mit kühler Luft oder bespritze dich mit kaltem Wasser. Nimm
leichtes Essen zu dir und sitze nicht am Feuer und in der Sonne.
[19.1] Ist das Bewusstsein aufgewühlt und der Geist sehr aktiv, richte den Blick und die Auf-
merksamkeit auf die schwarze Lichtsphäre. Vom Verhalten her, halte dich warm, massiere dich
und nimm nahrhaftes Essen zu dir.
[19.2] Ist es weder dumpf noch wild, richte Blick und Bewusstsein auf eine kleine blaue Licht-
sphäre oder einen blauen Gegenstand zwischen Sonne und Schatten direkt vor dir.
Lasst uns das gleich einmal machen. Ein schönes, leuchtendes Blau, so wie der strahlende Himmel im
Herbst, weder hell noch dunkel – azurblau, vor uns, genau dort, wo der Blick von selbst hin fällt. – In
einem Bereich, der weder grell hell ist noch dunkel. Visualisiert diese vibrierende, blaue Lichtsphäre,
die einfach im Raum schwebt. –
Dann lassen wir auch das wieder los. Und Karmapa erklärt:
Zuerst gibt man sich einen Anstoß „Ich werde jetzt auf solch eine Lichtsphäre (etc.) meditieren“.
Ist sie dann klar – erscheint sie klar vor unserem inneren Auge –, prima; wenn nicht, denke einfach
„So etwas ist da“. – Im Vertrauen, dass es einfach da ist, auch wenn ich es nicht klar sehen kann. –
Dann, ohne sie näher zu untersuchen, lässt man den Geist natürlich darauf ruhen, so wie er ist,
und zwar so, dass er einfach gerade nicht abschweift. – Also minimale Anstrengung, gerade so,
dass der Geist darauf ruhen bleibt. – Unterbreche diese Sitzung, so lange noch Klarheit vorhanden
ist und meditiere dann wieder. Mache kurze, häufige Sitzungen und sammle so den Geist.
Nehmt euch die Zeit, das einmal durchzulesen und schaut, ob es dazu noch irgendwelche Fragen gibt.
Fragen
Teilnehmer: Ich hatte Schwierigkeiten bei der Visualisation. Es kam dann einfach so, dass ich mir
diese blaue Lichtsphäre im Herzen vorgestellt habe. Ich fand das sehr angenehm und erhellend.
Ja, das kann durchaus einfacher sein. Es ist ein bisschen schwierig, diese blaue Lichtsphäre so weit
außerhalb von sich zu visualisieren. Ich fand das auch nicht so einfach, im Herzen wäre es einfacher
gewesen. Schön, dann hast du das ja für dich gut gelöst.
Teilnehmer: Die Visualisation mit der weißen Lichtsphäre im Stirn-Chakra habe ich noch nie so
gemacht. Das hat richtig gut wach gemacht. Und die Kopfschmerzen, die ich hatte, sind auch weg.
Sieh mal an! Die Visualisation mit der weißen Lichtsphäre zwischen den Augenbrauen ist auch eine
sehr bekannte Übung. Im ausführlicheren Werk des 9. Karmapa wird diese Stelle ‚Sitz des Form-
bewusstseins’ genannt. Ich weiß nicht genau, was ich damit anfangen soll. Man nennt das ja das Dritte
9. Karmapa, Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins Lama Tilmann, Möhra 2013
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Auge. Es scheint ein Ort zu sein, der sehr stimulierend wirkt und das kann auch bei subtilen Formen
von Schläfrigkeit richtig gut wirken und die vertreiben.
Teilnehmerin: Es hat auch sehr stimmungsaufhellend gewirkt.
Stimmungsaufhellend ist es obendrein. Ja, es ist ein neues Antidepressivum!
Ich hatte vorher die ganze Zeit die dunkle Sphäre, weil ich eigentlich ziemlich lebendig war. Und dann
habe ich gemerkt, dass das noch einen ganz anderen, einen positiven Effekt hat, ohne dass man
aufgeregt ist.
Richtig, es wirkt nicht aufwühlend.
Teilnehmer: Ich habe das noch nie gemacht, und ich war bis zum Schluss entspannt und habe das
blaue Licht gesehen und war total überrascht, dass ich das sehen kann.
Es ist schön, dass dieses blaue Licht dann auch so stabil einfach da sein konnte. Ich bin sehr daran
interessiert, noch zu hören, ob ihr überhaupt Unterschiede wahrgenommen habt zwischen dem hellen,
weißen und dem dunklen Licht.
Teilnehmerin: Ich habe das weiße Licht als so leicht machend erlebt, das Herz wurde so leicht und
weit, das fand ich sehr angenehm. Erstaunlich fand ich auch die Erfahrung mit der dunklen Kugel.
Das war auch ganz angenehm. Es war so, als wäre die Perle unter mir ganz erleuchtet, ganz hell und
dann fing das an, so als würde Wärme aufsteigen. Sehr angenehm. Und es fiel mir auch schwer, das
Blaue außerhalb von mir vorzustellen.
Hast du durch diese Übung in ein Gleichgewicht gefunden? Offenbar ja?
Ja, es fühlte sich sehr harmonisch an.
Teilnehmer: Da ich mich weder sehr aufgewühlt noch sehr müde fühlte, hat mir am Anfang genau
dieser mittlere Aspekt gefehlt. Ich hab mir gedacht, dann probiere ich es irgendwie in der Mitte, das
habe ich kurz versucht zu finden, habe es aber gelassen und bin relativ bald zwischen den anderen
beiden dann gewechselt. Ich fand das Schwarz eher sogar in eine Schläfrigkeit führend. Für mich hat
es eher so etwas dumpf Machendes bewirkt, es zog die Augen runter. Das tiefer gehen zu lassen hatte
etwas sehr nach unten Ziehendes, angenehm, aber das war dann einen Moment fast auch leicht
bedrohlich. Dann bin ich hoch gewechselt zum weißen Licht, das hatte etwas Öffnendes und nach
oben etwas Klares. Es war dann ganz angenehm, dass das Blaue noch nachgereicht wurde, dass der
mittlere Punkt eben noch zu finden war. Ich dachte, wenn ich ihn nicht visualisieren kann, dann denke
ich mir, dass der da ist, und dann ist auch gut.
Sehr schön. Die Lösung von vorhin mit der Visualisation im Herzen ist auch eine klassische. Das ist
wohl für manche auch eine gute Lösung.
Die kam mir jetzt nicht, weil ich sowieso diesen weiten Blick hatte. Aber da draußen war das Licht
unsichtbar.
Teilnehmerin: Mit dem Blauen konnte ich erst einmal im Moment nichts anfangen. Ich habe mir erst
einmal die Farbe im Raum vorgestellt, und plötzlich wurde es ein Schlüsselloch, durch das ich
hindurch blickte, voll in den offenen Raum. Also hinten durch.
Super, was hatte das dann für Auswirkungen auf dich?
Klarheit, Weite, klares weites Gewahrsein.
Teilnehmerin: Bei mir war es mit dem weißen Licht beginnend, so diese Mischung von Konzentration
und Kontemplation gleichzeitig. Geht das denn? – Ja. – So habe ich das auch noch nie gemacht, war
wohltuend. Das Schwarze war von Anfang an wie so ein Hineinsitzen, das war von Anfang an wie ein
schwarzer Sitz und das Gefühl wie im Schoß von Mutter Erde geborgen zu sein. Das gab große
Stabilität einerseits, Kraft. Und dann war wie so eine innere Achse, die sie verbindet.
9. Karmapa, Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins Lama Tilmann, Möhra 2013
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Ja, klar. Diese Übung gibt es, wenn jemand damit arbeiten möchte, zwischen den beiden abzu-
wechseln. Da entsteht eine Erfahrung, wie beide gleichzeitig präsent sind, das ist dann diese Achse. Es
ist dann sehr stark ausgeglichen. Wobei es hier noch diese blaue Lichtsphäre gibt.
Ja, das ist schwerer. In der Vorstellung war das blaue Licht nicht so ideal.
Teilnehmerin: Ich konnte mich am Anfang nicht entscheiden und habe dann mit dem weißen Licht
angefangen. Dieses weiße Licht hat dann aber immer in mir so einen Ton gemacht. Der war ein
bisschen schrill und wurde immer schriller. Ich habe gedacht: „Wieso hörst du einen Ton?“ Da war
ich ein bisschen irritiert und dachte: „Geh in die andere Richtung.“ Ich habe dann zu der dunklen
Farbe gewechselt, und da war auch ein Ton, aber der war viel angenehmer, der war so dumpf und
voller. Damit konnte ich besser sein in dem Moment. Am angenehmsten war es eigentlich mit dem
Blau, denn da war gar kein Ton. – Da hast du aber Glück gehabt. – Ich finde diese Wahrnehmung ein
bisschen irritierend, dass es so intensiv wird mit dem Ton, den ich aber eigentlich nicht höre, da ist ja
nichts hier.
Ja. Das ist dir jetzt zum ersten Mal so passiert, ja?
Ich kenne dieses Unangenehme schon, aber dass es so schrill war, das war jetzt schon …
Ich habe jetzt natürlich auch keine Erklärung dafür, aber das Phänomen, dass Töne auftauchen, ist mir
wohl bekannt. Ich habe auch manchmal über Wochen und Monate hinweg bestimmte Töne gehört
während meiner Retreats. Es war sogar so stark, dass ich das Fenster aufgemacht habe, um herauszu-
finden, ob nicht irgendwo in der Ferne jemand die Gyalings spielt. Unser System macht so etwas.
Genauso wie Farben und Lichter auftauchen können, können auch Töne auftauchen. Man müsste ei-
gentlich für die Menschen unter uns, die stärker auditiv veranlagt sind, noch Meditationsübungen mit
Tönen entwickeln. ‚Visualisieren’ kann man nämlich auch mit Klängen. Man kann sich auch Klänge
vorstellen, innerlich hören und könnte damit auch sehr schön meditieren.
Dass so ein Ton mit einer Farb-Visualisation synchron auftaucht und, das habe ich auch schon gehört,
das ist nicht ungewöhnlich. Bloß kann ich es nicht richtig erklären. Ich weiß nicht, wie das innerlich so
zusammen wirkt.
Teilnehmer: Bei mir ist noch eine seltsame zusammenhängende Kette von Assoziationen aufgetaucht.
Bei dem Weißen praktisch das Universum im Entstehen, im Urknall und bei dem Schwarzen nachher
das Universum im Vergehen, wenn es wieder in den Ursprung zusammenfällt. Bei dem Blauen nach-
her war die Assoziation die blaue Erde von der Ferne zwischen dem Entstehen und Vergehen. Das
Dunkle war etwas beängstigend, bedrohlich dann auch.
Okay, warum nicht? Es ist schon klar, die Assoziation, die Gefühle gehen in die Richtung, die du
beschreibst. Das Belebende hat mehr mit Entstehen zu tun, das Schwarze mehr mit Auflösung, mit
dem Nichtsein. Na ja, und dann dazwischen, da ist was.
Der Grund dafür, dass Karmapa diese Methode hier aufgenommen hat, ist, dass wir subtile Techniken
lernen, mit denen wir unseren Geist tatsächlich etwas stabilisieren, etwas sammeln können. Das wird
uns jetzt nicht unbedingt helfen, um starke Aufgewühltheit und starke Dumpfheit aufzulösen, aber die
feineren Schwankungen. Es kann dann auch einmal ausreichen, um z.B. diese Nachmittagsschläfrig-
keit auszugleichen und uns ausreichend Impuls zu geben, um sie zu überbrücken. Oder es kann helfen,
einen aufgeregten, aufgewühlten, angeregten Zustand besser zu erden. Was auch gut ist, ist dieses
Abwechseln. Das Hin- und Hergehen zwischen den beiden hinterlässt, wenn man es dann sein lässt,
eine Ausgeglichenheit, auch wenn man vorher gar nicht recht wusste, was man braucht.
Das ist bei mir heute passiert. Ich wusste nicht, was ich jetzt eigentlich brauchen würde. Gut, aufgrund
meiner Erfahrungen habe ich gedacht, wir fangen mit dem Weißen an, das ist so allgemein für die
meisten erst einmal besser. Dann war ich überrascht, dass mir beides so gut tat und dass im Ab-
wechseln der beiden ein ganz stabiles Gleichgewicht entstanden ist. Das kenne ich auch von früher, da
habe ich wieder angedockt an frühere Erfahrungen. Das könnt ihr einfach mit nach Hause nehmen.
Das ist eine zusätzliche Methode, die ihr vielleicht einmal einsetzen könnt. Sie findet sich überall
wieder. Was hier als Prinzip beschrieben wird, findet sich in allen Visualisationen wieder: mit der
9. Karmapa, Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins Lama Tilmann, Möhra 2013
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Aufmerksamkeit nach oben gehen, helle Farben wirken stimulierend; dunkle Farben und mit der
Aufmerksamkeit nach unten gehen wirkt eher erdend, verankernd; in der Mitte bleiben ist mehr im
ausgeglichenen Bereich. Dieses Prinzip zu erfahren und dann anzuwenden, darum geht es jetzt im
Grunde genommen.
Vielleicht haben einige von euch schon die Instruktion bekommen zur Visualisation auf Buddha
Shakyamuni. Da stellt man sich einen großen Buddha Shakyamuni vor und wenn der Geist aufgewühlt
ist, geht man mehr auf den Thron, seine Beine und auf den unteren Bereich der Visualisation; wenn
der Geist dumpf ist, mehr zum Scheitel-Chakra, zu den Augen, den Haaren. Selbst da findet sich
dasselbe Prinzip wieder.
Teilnehmer: Ich habe das weiße Licht zuerst genommen, weil du es gesagt hast. Ich bin sehr müde,
weil ich wenig schlafe, sehr wenig, habe aber das Gefühl, dass ich nicht dumpf bin. Noch zu dem
gestern oder vorgestern: da ging es um blaues Licht beim Einschlafen. Ich schlafe zum Beispiel sehr
gern mit sehr grellem, weißem Licht. Dordje Sempa löst sich auf mit weißem Licht. Das heißt, das
weiße Licht ist für mich sehr angenehm. Jetzt war ich aber nicht dumpf, sondern halt müde. Und als
ich dann das Schwarze genommen habe, habe ich gemerkt, dass ich auf einmal einverstanden war mit
meiner Müdigkeit. Das Weiße war sehr gut und das Dunkle war, mich anzunehmen, wie es ist, müde
sein zu dürfen.
Müde sein zu dürfen, in die Schwere ruhig eintauchen zu dürfen und angenommen zu sein. Ein
bisschen das Prinzip von Mutter Erde, was jemand anderes angesprochen hat.
Merkwürdigerweise bin ich auf das hin weniger müde gewesen. Dieser Widerstand gegen die Müdig-
keit macht müde. – Eindeutig. – In dem Moment, wo ich meine Müdigkeit annehme, ist halt nur die
Müdigkeit da, die ich habe, aber nicht noch der Widerstand. Und dann habe ich tatsächlich meine
Lichter genommen, und das Blau, das kann sein, wo es mag, das ist einfach toll. Wie groß es ist, wo
immer es ist, es kann ganz scharf werden. Wenn dann sozusagen die Schärfe nachlässt, habe ich mir
erlaubt – weil ich ja Erfahrung mit dem schwarzen Licht habe – wie es ist, es mal nicht so scharf zu
sehen, und mit der Erfahrung, dass es nicht so scharf sein muss, ist es wieder scharf geworden.
Ja, auch dort. Das Annehmen führt dazu, dass es plötzlich möglich wird, ja.
Das ist ja nicht das, was gestern so war. In der Früh eine extrem neue Erfahrung und dann den Tag
über das heilsame Verwirrtsein. Und heute habe ich das Gefühl – ich weiß nicht, wie lange es anhält,
logischerweise – aber es geht so ins Jonglieren, ins Spielen rein. Wo ich gestern extreme Schwie-
rigkeiten hatte, da zu schauen, weil ich den Auftrag erfüllen wollte, nicht? – Zu schauen? – Heute
habe ich es so gemacht: ich schaue da hin, wenn es so weit ist. Und dann war es richtig, was ich getan
habe.
Ganz toll, ich bin wirklich glücklich darüber. Es wäre schön, wenn es bei allen so sein könnte, sich die
Erlaubnis zu geben, dann eine Unterweisung auszuführen, wenn sie sich stimmig anfühlt.
Das ist extrem wichtig. Ich habe gemerkt, was ich für einen Widerstand entwickle. Wenn ich mich
konzentrieren will, das ist anstrengend, wenn ich Interesse entwickle – das ist vielleicht nur
Haarspalterei –, dann ist es mühelos. Konzentrieren ist Kraft, Spannung; Interesse ist …
Ja, eindeutig. Wenn wir unabgelenkt z.B. beim Atem oder bei so einer Lichtsphäre bleiben wollen,
dann braucht es nicht den starken Entschluss: „Jetzt bleib dabei!“, sondern ein Interesse dafür. Ich
hatte ein bisschen Mühe bei dem Blauen zu bleiben. Was habe ich gemacht? Ich habe mir das Blau
pulsierend vorgestellt. Es wurde lebendig, und dann war es leicht, dabei zu bleiben. Wir müssen
irgendwie den Weg finden, uns dafür zu interessieren. Er hat eine Erdkugel gesehen. Das weckt
Interesse und bindet unsere Aufmerksamkeit mehr. Und so ist es auch mit dem Atem. Wenn die
Dharmalehrer sagen, „Meditiert auf den Atem, so als wäre es zum ersten Mal!“ , so ist damit dieses
Interesse gemeint, das Interesse, das den Geist ausrichtet; dieses Erkunden, Erforschen, etwas ganz
Frisches. Dieses Interesse ist der Geistesfaktor, der nach sich zieht, dass wir unabgelenkt bleiben
können. Es ist ein Interesse, das wach gehalten wird und frisch bleibt. Wenn das Interesse weg geht,
wird es anstrengend.
9. Karmapa, Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins Lama Tilmann, Möhra 2013
89
Teilnehmerin: Wenn ich die Visualisation nicht finde, oder wenn sie einfach nicht auftaucht oder wenn
ich es nicht visualisieren kann, dann beginne ich sie zu suchen: Wo ist sie denn? Ist sie klein? Ist sie
groß? Ist sie nah, fern? Dann entsteht sie auf einmal, denn irgendwo ist sie ja.
Genau. Sie ist ja in dir, schon als eine Möglichkeit und – wo steckt sie denn gerade?
Genau, sie ist irgendwann vorhanden. Sie überrascht mich dann, weil sie nicht so vorgefertigt ist.
Sondern sie ist entweder winzig klein, strahlend, oder riesengroß, oder – aber ich finde sie.
Das ist, wie wenn wir nach einer Erinnerung suchen. Wir haben eine Gedächtnislücke. Wir können das
Gesuchte nicht machen. Aber wir schaffen ein Feld, in dem es wiederkommen kann, indem es wieder
aufsteigen kann, und so gehen wir auch mit dem Visualisieren um. Wir lassen es kommen, wir lassen
es entstehen. Das, mit dem wir ohnehin schon vertraut sind, lassen wir auf neue Art wiederkommen.
Teilnehmerin: Ich habe noch einmal an diese Gleichzeitigkeit von Tönen und optischen Wahrnehmun-
gen gedacht. Mir ist dabei die Säuglingsforschung eingefallen, wo immer wieder beschrieben wird,
dass die Säuglinge eigentlich noch kein abgegrenztes „Ich“ haben und erst einmal nur so ein „Haut-
Ich“ sind, durch das die äußeren Einflüsse alle sehr, sehr ungefiltert hineingehen. Man hat das später
ja auch in der Körpertherapie oder in Träumen, dass es da eine ganz große Offenheit in dieser Zeit
gibt, was aber auch eine Ungeschütztheit ist, so ein fehlender Reizschutz. Und dass es vielleicht auch
etwas mit einer sehr, sehr großen Offenheit zu tun hat, wo dann ganz viele verschiedene Eindrücke
gleichzeitig hineinkommen, ohne dass man im Moment sortierten kann.
Ich verstehe es noch nicht so ganz. Also, dass Optisches und Akustisches …
Töne zum Beispiel, die dann vielleicht unangenehm erlebt werden.
Ja, und dann wäre die Vermutung, dass die jetzt wieder aufsteigen aus der Erinnerung? Ich verstehe
den Zusammenhang noch nicht ganz.
Das wäre eine Möglichkeit. Das andere ist, dass es einfach eine ganz große Offenheit ist, wo dann
plötzlich kein Schutz mehr vor äußeren Dingen da ist – warum auch immer, die einfach so ungefiltert,
vielleicht auch störend eindringen können.
Okay, dass wir beim Meditieren wieder in solch eine Offenheit eintreten, dass so etwas wie ein Phäno-
men ähnlich wie bei den Embryos oder Babys stattfindet.
* * *
Ich möchte euch etwas sehr Einfaches zeigen. Bleibt genauso sitzen, wie ihr jetzt sitzt. Das ist genau
richtig! Angelehnt, auf dem Stuhl, wunderbar! Macht es euch einigermaßen gemütlich. Wer das Be-
dürfnis hat, sich irgendwo anzulehnen, setzt sich einfach um oder nimmt sich einen Stuhl. Ich möchte
euch mit einer recht entspannten Form der Meditation vertraut machen.
Meditation
Nehmt, so gut ihr könnt, alle Spannung aus dem Körper raus, lasst die Schultern fallen, die Beine ab-
liegen. –
Der Körper ist völlig entspannt, entspannt und stabil zugleich, und dem Geist geben wir keinerlei Auf-
gaben. Aber wir beginnen, uns für den Geist selbst zu interessieren, wahrzunehmen, wie das Gewahr-
sein ist, wenn es keine Aufgabe hat. – Dieses gewahre Sein, es hat so eine Dauerpräsenz. Wir können
es gar nicht fort schicken, es ist immer da. – Ich erlebe es wie ein feines, inneres Vibrieren, eine ganz
feine Lebendigkeit des wachen Seins, die Möglichkeit, wahrzunehmen, das Grundpotenzial unseres
Geistes. –
Versucht nur nicht, nach etwas Besonderem zu schauen, es ist das jetzt gegenwärtige Bewusstsein. –
Manchmal wird es einfach Lebendigkeit genannt, die Lebendigkeit des Geistes, die immer da ist,
besonders spürbar wird, wenn wir nichts tun. –
Da gibt es nichts zu halten, nichts zu fokussieren. Es ist diese grundlegende Qualität des Fühlens, des
Seins. –
9. Karmapa, Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins Lama Tilmann, Möhra 2013
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Egal, ob wir müde sind oder aufgewühlt, das ist völlig egal. Diese Grundvitalität ist immer da. –
Diese vitale Kraft des Gewahrseins schwingt in allem mit, im Sehen, im Hören, im Spüren des Kör-
pers, in allen sechs Sinnen. – Wir brauchen sie nirgendwo suchen, denn sie ist sowieso überall. –
Prickelndes Sein, ohne irgendeinen bestimmten Fokus. Und auch spürbar, wenn ein Fokus da ist, ge-
nauso spürbar, wie wenn wir keinen Fokus haben. –
Lasst den Geist laufen, wohin er will! Völlig frei! –
* * *
Schaut, ob ihr in der Pause fein mit diesem prickelnden Grundgewahrsein verbunden bleiben könnt. Es
ist nichts Aufregendes, wir können es sowieso nicht wegschicken, es ist immer da. –
Hat jemand von euch den Eindruck zu spüren, was ich zu beschreiben versuche? Mag jemand was
dazu sagen?
Teilnehmer: Ich erlebe es gerne so, dass die wahre Heimat das Gewahrsein ist, das wäre das Grund-
vertrauen. Daraus ergibt sich für mich eine Frage: Wir sprechen davon, dass der Geist fließt, dass es
z.B. im Tod nur darum geht, dass der Geist quasi durch ein Tor fließt. Ich wollte fragen, ob dieses
‚Fließen’ ein glücklich gewählter Ausdruck ist. Fließen ist doch ein dynamischer Vorgang, eine
Bewegung. Entspricht dieses Fließen dem Grundvertrauen? Ist es nicht so, dass das Fließen davon
wegführt? Es bringt ja eine Bewegung hinein, die eigentlich in diesem Ruhen nicht stimmig ist. Meine
Frage geht auch in die Richtung, wie die Übersetzung des Wortes aus dem Tibetischen ist.
Die Übersetzung ist Strom oder Fließen, Kontinuität der Bewegung. Aber darauf komme ich noch zu
sprechen. Was du mit Urvertrauen beschreibst, ist genauso. Wenn wir in dieses so einfache Grundge-
wahrsein, das einfach immer da ist, eintreten und Vertrauen finden, wenn wir uns immer wieder
vertrauensvoll da hineinfallen lassen können, so wird das mit der Zeit diese Angst auflösen.
In diesem Grundgewahrsein ist Bewegung, aber es ist doch ganz ruhig. Es ist nichts Starres sondern
hat etwas Vibrierendes, Pulsierendes. Da sind Bereiche, die sich immer wieder gestalten, aber ohne
Gestalt anzunehmen. Es ist ohne Form und ohne Richtung, und deshalb ist es tatsächlich nicht so an-
gebracht zu sagen, dass etwas wie durch ein Tor fließt. Diese Art des Ausdrucks ist tatsächlich nicht
so glücklich. Dieses Grundgewahrsein ist mehr so, dass es selbst nachts, wenn man halb wach ist,
immer da ist. Obwohl man wach oder halb wach ist, kann man in diesem Grundgewahrsein ruhen. Es
geht nirgendwohin, es erzeugt auch keine Gedanken, es ist einfach so wie es ist. Der Körper ruht, und
der Geist ist völlig entspannt.
Bevor wir weiter sprechen und die Konzepte unsere Erfahrungen überlagern, spürt noch einmal hinein.
Hat euch das erfrischt oder müde gemacht?
Wenn wir so entspannt in dieses Grundgewahrsein eintauchen, ist das so wie ein Erfrischungsquell.
Ich fühle mich gerade so, als hätte ich eine Dusche genommen. Das hat so etwas ganz Erfrischendes.
Ich hatte ja keine Pause, kam aus einem schönen Gespräch herein, und bin jetzt völlig frisch. Das ist
doch interessant. Wir können diese Frische in unserem eigenen Geist erleben.
Teilnehmerin: Ich kenne das schon seit meiner Kindheit, dass es dahin fließt, wenn ich ruhig bin und
wenn nichts zu tun ist. Ich kann mich an Situationen erinnern, wo ich nachts einfach da gelegen bin,
da war innerlich eine Art Sphärenmusik zu hören, ich war einfach ruhig, es war ein Pulsieren, das
ständig weiter ging. Das ist auch in der Meditation so, und da habe ich aber immer versucht, zu
schauen, weil da noch was anderes sein müsste. – Du hast gestern von den kleinen Flitzern ge-
sprochen. – Ich dachte immer, da müsste doch unterhalb noch irgendwo was sein, aber es ist nichts zu
finden.
Ja, wenn wir da drinnen sind, dann sind auch keine kleinen Flitzer mehr.
Da spüre ich so ein Pulsieren, das weiter geht, es ist spielerisch, und dann kommt was, das geht
wieder weg, aber es ist immer dieses Weiterfließen da.
9. Karmapa, Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins Lama Tilmann, Möhra 2013
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Dieses Gefühl des Fließens kommt aus dem zeitlichen Empfinden, das noch vorhanden ist, dass wir
ein Gefühl von Verstreichen der Zeit haben. Wenn wir ganz eins werden mit diesem Gewahrsein,
wenn wir wirklich ganz da hinein loslassen können, dann ist auch dieses Zeitempfinden weg und
damit eigentlich auch die Beschreibung von etwas Fließendem. Die wird dann auch hinfällig, das ist
dann auch nicht mehr zutreffend.
Teilnehmerin: Ich hab das etwas anders empfunden, als Einladung. Der Geist hat keine Aufgabe und
er kann hingehen, wohin er möchte. Mein Geist ist wahnsinnig kreativ. Ich bin auch Künstlerin, und
bei mir war es sehr, sehr lebhaft, aber es war nichts Haftendes. Es fühlte sich an wie ein Kind, das
spielt. Es ist eine Farbe in mein Gesichtsfeld gefallen und da waren ganz flinke Assoziationen, es ist
etwas entstanden, was aber sofort wieder verging, dann war wieder ruhig. Ich hab die verblüffendsten
Sachen gesehen aber nicht gehalten. Es war nicht ein Zustand von totaler Ruhe, sondern sehr
lebendig, assoziativ und kreativ.
Ja, ganz fein! Dieses Grundgewahrsein ist in seiner Natur dynamisch und bringt alles Mögliche
hervor. Wenn wir es zulassen, wenn dafür eine Bereitschaft besteht, dann kann es alles Mögliche
hervorbringen und wenn da kein Haften ist, dann bleibt in allem, was da gestaltet wird, diese
Grunddynamik, dieses prickelnde Grundgewahrsein spürbar. Das ist so ein Spiel, das einfach entsteht
und vergeht, immer wieder. Das ist diese grundlegende Dynamik, die diese spielerische Kraft in sich
trägt, völlig anstrengungslos.
Teilnehmerin: Bei mir hat sich das anders angefühlt. Von prickelnd und vitalisierend war gar nichts.
Es war bei mir schwierig zu trennen zwischen dem denkenden Geist und dem, was an Gewahrsein
noch da ist. Dazwischen war ich auch zu schwer und müde, da hat der Geist wieder Ausflüge gemacht,
dann war er wieder weit weg, aber irgendwie ist er wieder zurückgekommen. Er hat also große
Bewegungen gemacht, das konnte ich auch nicht verhindern, er kam immer wieder zu mir mit den
ganzen Denkbewegungen, aber da ist auch was, was das mitkriegt und sich irgendwie nicht so
bewegen muss. Der Geist macht Ausflüge, aber es ist bei mir, was das mitkriegt. Es war nicht so das
Gefühl von Prickeln. Mach ich was falsch?
Nein, da ist nichts falsch zu machen. Es gibt immer nur das jetzige Erleben, und in deinem Erleben
war eben recht viel los. Da waren diese Ausflüge und dieses begriffliche Denken, und dabei ist es
schwieriger, die Grundqualität zu spüren. Aber du hast sie mitgekriegt. Du hast gespürt, dass da etwas
ist, das sich nirgendwohin bewegt, ein Grundbewusstsein, das all diese Ausflüge in sich trägt, sie hält
oder durchdringt. Das noch deutlicher zu spüren, ist speziell in den Pausen zwischen den Ausflügen
möglich. Aber dann merken wir auch, dass dieses Grundgewahrsein bei allen gedanklichen Ausflügen
mit dabei ist und dass es im Grunde genommen die wahre Natur all dieser Gedanken, Formen, Bilder,
Klänge usw. ist. Wir bekommen leichter ein Gespür dafür, wenn wir in Geistesruhe sind. Wenn wir es
einmal bemerken konnten, dann bleibt der Geschmack davon auch noch bei geistiger Bewegung.
Wenn die Pausen aber nicht so intensiv sind, dass wir dieses Grundgewahrsein spüren können, dann
ist es nicht leicht, es zu spüren, wenn man in intensivere geistige Bewegungen geht, die zusätzlich
auch noch Fixierungen mit sich bringen. Dann verliert sich dieses Gewahr-Sein, das sich seiner selbst
gewahr ist.
Teilnehmer: Bei Anweisungen wie vorhin, als Du keine Vorgaben gegeben hast – ich muss nichts
leisten –, entsteht für mich immer Weite und Licht. Ich erlebe es nicht als Kribbeln aber als unheim-
lich angenehm.
Es ist erstaunlich, was für ein Grad an Stabilität innerlich erfahrbar wird, ohne dass wir irgendeine
Vorgabe haben; dass so eine innere Stabilität spürbar wird, wenn wir den Geist in die Freiheit lassen.
Das ist sehr erstaunlich.
Meditation
Nach Möglichkeit nicht meditieren! –
* * *
9. Karmapa, Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins Lama Tilmann, Möhra 2013
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Manche von euch liegen doch nachts oft wach und haben einen unterbrochenen Schlaf. Schlafen zu
wollen aber nicht schlafen zu können, ist ziemlich anstrengend. Versucht doch einmal in diesen
Phasen, wo ihr nachts wach werdet, euch in dieses Grundgewahrsein fallen zu lassen und diese
schlaflosen Perioden durch ein ruhiges Verweilen im Vertrauen in dieses Grundgewahrsein zu über-
brücken. Dann kann es euch so gehen, dass ihr – obwohl ihr wenig geschlafen habt – eine gewisse
Frische spürt. Ich mache das eigentlich sehr selten, weil ich durchschlafe. Aber wenn ich mit meiner
Frau z.B. in einer Berghütte unterwegs bin und wir nebeneinander liegen, darf ich nicht schnarchen.
Mir bleibt dann nur die Wahl, mich halb wach zu halten und in dieses Grundgewahrsein zu gehen. Ich
bin dann am nächsten Tag voll fit und kann genauso wandern und alles machen wie sonst. Es braucht
nur eine gewisse Geistesgegenwart, nicht in den tiefen Schlaf zu rutschen, wo ich anfangen würde zu
schnarchen. Das hat wirklich eine Qualität von einfacher Präsenz, da bewegt sich dann gar nix. Da ist
kein Denken über irgendwas. Das ist einfaches So-Sein, man kriegt es auch mit. Es ist nicht non-dual,
nichts Besonderes, sondern nur dieses Grundgewahrsein mit einer gewissen Bewusstheit. Gut, dann ist
auch nicht so ein starkes Zeitempfinden da, es ist auch besser, gar nicht auf die Uhr zu schauen,
einfach alles sein zu lassen, völlig sorglos und einfach sein.
Das ist tatsächlich eine gute Möglichkeit, wenn man nachts wach ist, jedoch zu müde um aufzustehen
und zu wach um zu schlafen. Das kriegt man noch hin, man muss nur herausfinden wie! Der Geist
wird meist so lebendig und denkt dann doch alles mögliche Zeugs. Das ist das Schwierige, so ent-
spannt zu sein, dass einen nichts interessiert, man über nichts nachdenkt und dann in diesem So-sein,
in diesem Grundgewahrsein so zu verweilen. Über den Rest macht euch gar keine Gedanken. – Ob da
ein Beobachter ist oder nicht. – Bringt keinen Ehrgeiz rein. Nur dieses einfache Sein. Dann merkt ihr,
dass ihr mit etwas sehr Erfrischendem in Berührung kommt.
Teilnehmerin: Mir ging es am Anfang auch so, dass es komplett ruhig war. Und der erste Gedanke
dann war: „Ah, das wäre ja jetzt gut einzuschlafen!“ Das war nämlich so ein schönes, ruhiges Feld.
Dann kam auch was nach, ein paar Gedanken. Als du dann sagtest, dass wir darauf achten sollten,
dass wir nicht meditieren, dachte ich „Hm? Was meint er denn jetzt?“ Ich war dann ganz raus. Und
jetzt frage ich mich, wo denn bitteschön die Grenze ist. Denn ich glaube, Meditation läuft bei mir
manchmal gerade so ab. Und ich habe dann versucht, den Beobachter aufrecht zu erhalten. Ist das
dann der Unterschied, dass…
Oh, in dem Zusammenhang war ‚Meditation’ ein bisschen scherzhaft gemeint. In dem Fall war ge-
meint: Macht nichts mit Absicht! Lasst die Meditation von selbst entstehen. Das nennt man dann
Nicht-Meditation, wenn man gar nichts beabsichtigt, man einfach nur gelöst bleibt – Gedanken
tauchen auf, man bleibt gelöst. Was dann kommt, ist nichts Erzeugtes. Da kann man nicht sagen: „Ich
meditiere!“ Denn sobald man anfängt zu meditieren, verkorkst man wieder alles. So einfach war das
gemeint.
Also wenn ich wieder anfange zu denken, dann soll ich mir sagen: „Ah, jetzt hast du wieder gedacht!
Komm wieder zu dir zurück!“ – Stress! Ja, ich verstehe.
Teilnehmerin: Ich wollte noch sagen, dass ich diese Erfahrung, nicht schlafen zu können, gemacht
habe. Während meiner Berufstätigkeit – ich stand kurz nach fünf auf – habe ich festgestellt, dass
dieser Gedanke „Morgen bist du müde!“ mich sehr müde machte und auch mit Angst besetzt war, weil
ich oft auch im Außendienst war. Da merkte ich, dass mich das total verspannt. Dann hab ich mir
gedacht: „Naja, ich schau einmal, wie es mir morgen geht.“ Da war diese Neugier, und die hat mich
beruhigt. Da bin ich auch in dieses Nicht-Denken gegangen. Auch wenn ich manchmal nur drei
Stunden geschlafen habe, war ich am nächsten Tag immer fit. Ich bin kurz nach fünf aufgestanden,
hab noch meine Praxis gemacht. Ich kann mich nicht an einen einzigen Tag erinnern, an dem ich nach
nur drei Stunden Schlaf müde war. Das hat mich sehr erholt. Aber der Gedanke „Morgen bist du
müde“ hat mich fokussiert und ich hab nicht schlafen können.
Teilnehmer: Mich hat das voll erfrischt, es war gleichzeitig so lebendig. Wo du sagtest, wir sollten
nicht meditieren, war ich mir nicht so sicher, es war einfach … nicht gemacht …
9. Karmapa, Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins Lama Tilmann, Möhra 2013
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Ja, dann lassen wir das so! Wenn da noch Anstrengung ist, das spürst du ja selbst. Genau die Anstren-
gung wird uns müde machen. Es geht wirklich um das Anstrengungslose. Und das geht nur durch
lösen, lassen, nichts wollen und mit allem zufrieden sein was kommt. Es geht um diese Grundhaltung.
Das ist dann mühelos und deshalb ist es auch erfrischend und erholsam.
Teilnehmer: Bei mir ist es dann so, dass das nachwirkt und so viel Gestaltungskräfte und Energien frei
werden, dass ich mich frage, wie ich mit dieser Energie umgehe. Da wache ich nachts auf, da ist viel
Energie, die durch den Körper strömt. Was mach ich dann mit der Energie? Der Geist kann da durch
den ganzen Körper wandern, er kann rein und rausgehen. Da sind ja auch Kräfte, die da freigesetzt
werden, wo ich dann merke, dass ich auch wieder schauen muss, dass ich die wieder eingefangen
bekomme, um mit ihnen umzugehen. Statt Ruhe erlebe ich oft so eine Lebendigkeit, die dann auch eine
Gestalt annehmen kann. Ist das dann Gewahrsein? Weil den Geist muss ich dann eher anbinden oder
was auch immer.
Dem musst du Raum geben. Das Bändigen gibt es zwar auch als Methode, ist dann aber auch wieder
anstrengend. Dann bist du so wie der Dompteur deines eigenen Geistes. Du kannst aber auch noch
weiter aufmachen und diese große Wachheit dann tatsächlich einfach sein lassen. Das ist nicht so
einfach.
Bei so großer Wachheit kommt ja auch Angst dazu, was dann passiert, wenn ich dem noch mehr Raum
gebe.
Ja, genau! Dieselbe Meditation, dieses Grundgewahrsein ist dann auch ein tolles Mittel, damit umzu-
gehen – in dieses Grundgewahrsein gehen, in dem es nichts zu tun gibt. Das fortzusetzen, bringt dann
auch ein Gleichgewicht hinein. Wenn diese Wachheit kommt, sind wir natürlich begeistert, es kommt
Faszination hinein, das Ganze geht ab und wir sitzen dann auf einem schnellen Ross.
5. Den Geist ohne Stütze ausrichten: Anspannung und Laxheit vermeiden
Meditation zu Karmapas Text
Nehmt eine bequeme, aufrechte Haltung ein.
[19.5] Blicke mit weit geöffneten Augen in den Himmel vor dir, ohne den Blick auf irgendetwas
zu richten. –
Diesmal schauen wir nicht nach unten, sondern einfach vor uns in den Raum. Einfach nach vorne
schauen … ganz natürlich wird das Kinn dabei etwas gehoben. –
Denke über gar nichts nach, sei einfach unabgelenkt. – In der Erfahrung des Seins. –
Mache dir keine Gedanken darüber, was ist, was nicht ist, über Vergangenheit oder Zukunft. –
Postiere lediglich mit großem Eifer den Späher der Achtsamkeit, so dass du nicht abschweifst …
und lasse den Geist entspannt, weich, ungekünstelt und frisch. … Lasse den Geist nicht einen
Moment abschweifen wie beim Einfädeln von Garn in ein Nadelöhr, … still wie das Meer ohne
Wellen, … ohne etwas durch Anstrengung hervorbringen zu wollen, … wie ein Adler, der durch
die Lüfte segelt, … frei von allem Hoffen und Befürchten.
[20.3] Bleibst du unabgelenkt, gibt es kein begriffliches Denken. –
Doch kaum schweifst du ab, regt sich wieder das Denken. –
Erkenne die geistigen Regungen sobald sie entstehen, –
schaue sie direkt an und lasse den Geist dann wie zuvor. –
[20.4] Erkenne so die geistigen Regungen, wie sehr sie auch ausschweifen; –
lasse den Geist ohne jegliches Aufhalten oder Ermutigen, Mögen oder Nichtmögen auf ihnen
und betrachte sie mit den Augen der Weisheit. –
Mache so das Denken selbst zur Stütze, den Geist zu sammeln und lasse ihn darin ruhen. –
Den Geist vor zu viel Anspannung oder vor zu viel Laxheit zu bewahren, ist der fünfte Punkt.
9. Karmapa, Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins Lama Tilmann, Möhra 2013
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* * *
Erfahrungen der Teilnehmer
Teilnehmer: Das habe ich vorhin draußen gemacht, wo es aber viel einfacher war, weil die Augen
gerade in den Raum schauen. Hier fallen mir die Augen immer zu.
Es braucht doch etwas Übung dafür. Am leichtestes fällt einem diese Übung, wenn man auf einem
leicht abfallenden Berghang oder Hügel sitzt und die Weite wirklich vor sich hat. Aber es ist auch
möglich, wenn wir hier im Raum sitzen, einfach den Blick gerade zu lassen.
Teilnehmerin: Mir fällt es leicht, sie ganz offen zu haben oder ganz geschlossen. Aber die Position
dazwischen ist für mich schwierig. Welche Absicht steckt dahinter, die Augen in unterschiedlichen
Positionen zu halten?
Um damit eine Wirkung auf den Geist zu erzielen. Du bist eigentlich selber die maßgebliche Instanz,
um herauszufinden, was denn wirklich gut tut. „Wie richte ich die Augen, wenn ich aufgewühlt bin?
Wie richte ich die Augen, wenn ich müde bin?“ Oder zur Übung von jetzt z.B.: „Ist es eher ein guter
Zeitpunkt, um so etwas zu versuchen?“ Wir sind noch in der Verdauungsphase vom Mittagessen. Wir
sind eher etwas schwer und die Augen fallen uns zu. – Das erklärt auch die Schwierigkeit bezüglich
der ersten Frage. – Dabei ist es hilfreich, mit weit offenen Augen zu meditieren, weil das zusätzliche
Klarheit und Weite bringt. In einen leuchtenden, offenen Himmel hinein zu meditieren, stimuliert noch
zusätzlich das Gewahrsein.
Vielleicht merken wir dann, dass bei weit offenen Augen in einem manchmal so viel los ist, dass man
den Blick lieber ein bisschen senkt, da ein kleineres Blickfeld gut tut und eine gewisse Beschränkung
beruhigt.
Geschlossene Augen öffnen innere Räume, man kommt leicht in Kontakt mit inneren Räumen, aber es
ist auch eine Abschottung von der Umwelt. Das hat Vor- und Nachteile.
Teilnehmerin: Ich hatte das Gefühl, dass ich mit offenen Augen viel mehr diese Bewusstheit finden
konnte, weil ich ein größeres Blickfeld hatte. Wenn ich nichts fixiert habe, habe ich sehr groß und
offen wahrgenommen. Ich fand ganz bemerkenswert, dass ich mich viel verbundener gefühlt habe und
das Herz öffnete sich mit dem Blick zusammen. Es war sehr erfüllend.
Genau, das ist eine der wesentlichen Wirkungen.
Wie blieb denn der Geist? Blieb er denn ruhig? Habt ihr Denken bemerkt oder war da kein Denken?
Teilnehmerin: Er blieb zunächst ziemlich lange klar. Mit dieser Wachheit habe ich schneller bemerkt,
wenn er wegging. Er ging weg, aber es waren kleinere Bläschen, die aufstiegen. Es war alles
transparenter. Mit diesem weiten Blick war mein eigener Geist viel transparenter und ich hatte das
Gefühl, ich habe die Gedanken schneller bemerkt.
Interessant.
Teilnehmerin: Ich habe zuerst den Blick fixiert und das Gefühl von Anspannung gehabt. Als du dann
die Anweisung gesprochen hast: „Nichts fixieren“, merkte ich, wie sich alles entspannte, der Blick
entspannte sich. Die Stelle, auf die ich fokussiert war, ist irgendwie in die Weite gegangen und ich hab
ein sehr, sehr schönes stabiles Empfinden bekommen. Aber ich hab auch alles hier wahrgenommen,
auch diese Gedankenflitzer. Es war nichts Begriffliches, eine enorme Gelöstheit und trotzdem eine
Klarheit und sehr, sehr große Präsenz.
Da waren kleine flitzende Regungen, aber nichts, was sich begrifflich ausgeformt hat.
Teilnehmerin: Ich fand es in der ersten Hälfte sehr offen, weit und konzentriert, und es war wenig
Denken da. Und dann – ich denke, ich habe den Kopf zu hoch gehalten – hatte ich ziemliche Nacken -
und Schulterschmerzen bekommen. Das hat mich sehr abgelenkt. Wahrscheinlich muss man auch da
Erfahrung sammeln und so ein Mittelding in der Haltung finden, um sich nicht zu verspannen.
9. Karmapa, Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins Lama Tilmann, Möhra 2013
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Ja, das ist klar. Wenn der Kopf in Richtung Nacken geht, entsteht Spannung. Daher ist es sehr
hilfreich, eine Höhe zu finden, die einem gut tut – auch für den Nacken.
Teilnehmer: Der Erlebende tritt zurück. Vom Bauchgefühl steigt eine gewisse Freude hoch, aber das
Herz explodiert noch nicht. Das Herz wird immer größer und zerspringt beinahe vor Freude. Ich hoffe
immer, dass das wieder passiert. Wenn es sich anfühlt, als ob die Freude wieder kommt, dann will ich
sie wieder, und schon ist es auch wieder vorbei.
Wir ziehen immer den Zapfen raus, das ist schon recht so. Lass es einmal ziemlich normal sein. Es ist
schon ganz hilfreich, sich in der Normalität an das So-Sein zu gewöhnen, ohne dass wir unbedingt so
starke Freude zu erleben brauchen. Die Freude kommt von selber. Es wird sich eine feinere Freude
einstellen. Eine Freude, die gar nicht so stark als Freude zu bemerken ist, aber die durchgängig ist, die
sich dann auch nicht so schnell wieder auflöst. Es ist eine andere Qualität von Freude, die dann
kommt.
Habt ihr das Anstrengungslose gespürt? So wie ein Adler, der durch die Lüfte segelt?
Teilnehmerin: Ich fand es anstrengungslos, nicht zuzuhören. Bei vielen Passagen habe ich gar nicht
hingehört und habe das auch so im Hören wieder losgelassen.
Das ist eine Art zuzuhören, die sehr hilfreich ist, bei dieser Art von Meditations-Unterweisung. Hören,
umsetzen und schon zu dem werden, was da kommt.
Von Umsetzen weiß ich gar nicht, ich bin einfach im Raum geblieben.
Ja, genau!
Denken
Karmapa beschließt diese Übung mit dem Hinweis: Mache das Denken selbst zur Stütze. Zwischen-
durch geht es darum, den inneren Blick auf die geistigen Regungen zu richten, stabilisiert durch Weite
und Offenheit. Und dann bemerken wir, dass – solange wir unabgelenkt sind – gar kein begriffliches
Denken da ist. Aber wenn wir uns ein bisschen ablenken lassen, entsteht wieder Denken. Die
Aufmerksamkeit auf das zu richten, was da los ist – auf diese geistigen Regungen – ist das, was
Karmapa mit dieser Unterweisung meint: ‚Mache das Denken selbst zur Stütze.’
Was passiert, wenn ihr eure Aufmerksamkeit auf das Denken richtet? Was passiert dann?
Teilnehmerin: Es löst sich auf.
Ja, das ist die allgemeine Beobachtung. Wenn wir die Aufmerksamkeit auf das Denken richten, lösen
sich die Gedankenformen auf. – Und dann?
Teilnehmerin: Gewahrsein.
Es ist einfach nur mehr Gewahrsein übrig. Geht euch anderen das auch so? – Ist doch spannend oder?
Kann es denn so leicht sein? Wir richten die Bewusstheit auf die Gedanken, auf das Denken, das wir
wahrnehmen, und es schmilzt wie Schneeflocken im Sonnenlicht – ziemlich schnell.
Teilnehmer: Bei mir kamen Gedanken hoch, die ich aber nicht festgehalten habe. Ich war gewahr,
obwohl ich Gedanken hatte. Ich habe gedacht, obwohl ich gewahr war.
Das ist in Ordnung. Du hast in dem Moment die Bewusstheit nicht direkt auf die Gedanken gelenkt,
sondern warst ihrer einfach bewusst und hast ein bisschen weiter gedacht, das geht auch. Da ist eine
etwas andere innere Haltung den Gedanken gegenüber. Das kriegen wir dann mit, wir können
tatsächlich mit Beobachter weiter denken. Es geht darum, selber herauszufinden, was für eine innere
Haltung wir kultivieren.
Ist denn das hilfreich so? Ist dieses Hinschauen, worauf sich diese geistigen Regungen dann auflösen,
hilfreich? Wofür könnte das hilfreich sein?
Teilnehmerin: Weil man auch seine Muster erkennt. Die Muster hinter den Gedanken, die einen so in
Angst und Spannung versetzen.
9. Karmapa, Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins Lama Tilmann, Möhra 2013
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Wenn du dann das Bewusstsein darauf richtest?
In meinem Körper merke ich sehr oft eine Verspannung und auch eine Angst, und wenn ich da
reinschaue, merke ich, wie sich das alles so auflöst. Ich beobachte oft Muster aus meiner
Berufstätigkeit, z.B. unter Termindruck zu arbeiten, immer gerecht zu werden usw. und das über
Jahrzehnte. Dieses Muster bemerke ich immer wieder, aber es löst sich immer wieder. Auch wie ich
jetzt im Alltag funktioniere.
Was du beschreibst, ist eine Bewusstwerdung dieser Muster und durch das Gewahrsein werden sie
schwächer und haben weniger Kraft über dich. Der Prozess, den wir vorhin besprochen haben, ist noch
mehr im Moment des Erlebens. Wir bemerken, etwas bewegt sich, eine Regung kommt, ein
begriffliches Denken; wir richten den Blick darauf und merken gar nicht, was es für ein Muster ist. Es
findet gar keine Analyse statt, sondern bereits im Schauen ist es wieder weg und es entsteht wieder
Geistesweite und Ruhe.
Merkt ihr, dass das ein bisschen ein anderer Prozess ist?
Worum es dem Karmapa hier geht, ist, dass es – wenn wir lernen, den Geist auf das Denken zu rich-
ten, und das begriffliche Denken sich gerade wieder auflöst – dann eigentlich gar keine Ablenkung
mehr gibt.
Merkt ihr, dass es ein bisschen anders ist? Ich meditiere z.B. auf den Atem. Es kommen Gedanken und
ich gehe wieder zurück zum Atem. Dann bin ich wieder unabgelenkt beim Atem.
Hier sind wir in der Weite. Es taucht Bewegung auf und wir richten den Blick darauf, nirgendwo
anders hin. Im Schauen auf die Gedanken ist wieder dieses weite Gewahrsein. Ich bin nicht weg von
der Ablenkung sondern ich bin auf den Gedanken gegangen und entdecke da wieder das Gewahrsein,
die Weite. Merkt ihr, dass da ein Unterschied ist, wie wir hier mit dem Geist umgehen?
Wenn wir lernen, so mit dem Geist umzugehen, dass wir in den Gedanken selbst schauen, uns einfach
gewahr mit dem Denken verbinden, dann sind wir immer nur solange abgelenkt, wie wir es nicht
merken. In dem Moment, wo wir es merken, bekommt es unsere volle Aufmerksamkeit, und darunter
kann sich dieses unbewusste Denken nicht mehr fortsetzen. Im Lichte des Gewahrseins geht das
irgendwie nicht weiter. Es hat davon gelebt, dass wir nur halb bewusst waren und nicht ganz
mitbekommen haben, was da läuft. Sobald wir wieder voll mitbekommen, was läuft, ist die Luft
draußen, dann ist wieder diese Weite da.
Wenn wir so praktizieren, führt es dazu, dass wir die Angst vor Ablenkung und Gedanken verlieren,
und dass wir es bei stärkeren emotionalen Gedanken auch anwenden können. Das ist ein anderes
Umgehen mit dem eigenen Geist, eine andere Form zu meditieren.
Diese Form zu meditieren war im Theravada, im südlichen Buddhismus, lange Zeit unbekannt. Das
wird jetzt in den Vipassana-Kreisen gelehrt dank des Kontakts mit den tibetischen Lehrern. Es ist eine
Spezialität der Mahamudra-Tradition, Gedanken als Stütze der Meditation zu nehmen. Aber sie sind ja
gar keine Stütze, merkt ihr das?
Karmapa schreibt: Mache so das Denken selbst zur Stütze, den Geist zu sammeln. Was passiert?
Gedanken tauchen auf und sind Anlass dafür, noch mehr gewahr zu werden. Der zunächst unbewusst
auftauchende Gedanke führt zu einer vermehrten Bewusstheit, die sich auf das Denken richtet. Denken
ist nicht mehr da, die Stütze verschwindet. Das hört auf, und wir sind gesammelt wieder in dieser
Weite, in dieser Offenheit. Das heißt, das auftauchende Denken hat dazu geführt, da, wo wir weniger
bewusst geworden waren, erhöhte Bewusstheit zu entwickeln und hat dadurch zu einer tieferen
Sammlung beigetragen – in der Weite.
Das ist eine spezifische Methode, mit dem Geist umzugehen, wie sie in der Mahamudra-Tradition
gelehrt wird, aber jetzt auch weltweit in allen Traditionen umgesetzt wird. Als ich z.B. im Vipassana-
Zentrum Beatenberg diese Meditation einführte, war das für die Teilnehmer neu. Sie war kaum
bekannt und wurde wenig geübt, denn es musste immer ein Objekt vorhanden sein.
9. Karmapa, Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins Lama Tilmann, Möhra 2013
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Was dann passiert, ist, dass Gedanken zwar Auslöser für eine vermehrte Bewusstheit sind, aber
schlussendlich die Weite des Gewahrseins selbst Gegenstand der Meditation ist. Wir meditieren
eigentlich in der Weite des ruhigen Gewahrseins. Das Gewahrsein beginnt, sich selber gewahr zu sein,
sich selbst zum Inhalt zu haben. Und das ist eine ganz spannende Bewegung im Prozess des Meditie-
rens, denn das ist unabhängig von sonstigen Sinneserfahrungen. Wenn dann noch etwas auftaucht,
egal welche geistige Regung – egal aus welchem der sechs Sinne sie kommt, ob ein Klang etwas
auslöst, etwas Visuelles, eine Körperempfindung oder ein abstrakter Gedanke – eine Regung wird
wahrgenommen, sie bekommt die Aufmerksamkeit und das Gewahrsein in der Regung wird wieder
entdeckt.
Teilnehmerin: Gehören Bilder, die entstehen, auch zum begrifflichen Denken? Ist das auch eine
Regung?
Das gehört auch zu den geistigen Regungen. Es ist vorbegriffliches Denken. Aber es gehört zu diesen
geistigen Regungen, die auftauchen, und sie bekommen diese Aufmerksamkeit. Sie brauchen sich gar
nicht aufzulösen. Wir richten die Bewusstheit nicht darauf, damit sich diese Regungen auflösen,
sondern weil da etwas geschieht, das sich zunächst bei weniger Bewusstheit entwickelt hat. Und das
bekommt dann volle Bewusstheit. Was dann passiert, werden wir herausfinden. Da wir ohne Anhaften
hineinschauen, scheint sich alles immer wieder aufzulösen, nicht?
Teilnehmerin: Ich habe dazu ein Gefühl wie mit Welle und Ozean. Wenn so ein Gedanke hochkommt
und sich das Bewusstsein darauf richtet, das ist wie ein kleiner Magnetismus, ein Sog. Das Bewusst-
sein schluckt dann irgendwie diesen Gedanken, nimmt ihn auf, und er verschwindet. Das hat für mich
auch was Grünes.
Lass es einfach so, die Beschreibung kann ich total nachvollziehen. Es lässt sich so wie auch mit dem
Bild des Auflösens beschreiben. Diese Bewusstheit hat etwas Unwiderstehliches, und man kann das
als Sog beschreiben. – Als Staubsauger mit einem grünen Sack. – Aber bleib nicht beim Bild. Egal,
welches Bild auftaucht, es wird die Erfahrung verstellen. Lasst auch das Bild wieder los, dann kann
noch mehr kommen. Es können sich verschiedene Arten zeigen, wie sich der Prozess vollzieht.
Teilnehmerin: Ich mache immer wieder die Erfahrung, dass – wenn in der Meditation Ablenkung ist
und ich diese Gedanken oder Bilder anschaue, die dann verschwinden – in mir eine gewisse Frustra-
tion entsteht. Da ist dann nichts mehr, wo ich mich orientieren oder festhalten kann. Dann bin ich fast
froh, wenn wieder eine Ablenkung kommt, wo ich wieder hineinschauen kann und meinen Geist
beschäftigen kann. Dieses ganz Ruhige, was Manche so angenehm empfinden, finde ich so ein
bisschen öde. Ich suche die Bewegung des Geistes.
Es geht vielen Menschen so. Schau mal in diese Phasen, wo keine Bewegung ist, und werde da noch
ein bisschen mehr gewahr, sodass du die vibrierende frische Qualität des „Nur-so-Gewahrseins“ noch
deutlicher wahrnimmst. Da braucht es noch einen Tick mehr Frische im Wahrnehmen dessen, was ist,
wenn gerade keine deutlichen Bewegungen sind. – „Was ist denn da eigentlich? Wie fühlt sich das
an?“ – Gib noch mehr Aufmerksamkeit auf das, was da zwischen den Gedanken eigentlich noch ist.
Da steckt eigentlich die Lösung.
Was du beschreibst, wird im Kommentar von Karmapa der Durst zu denken genannt. Wir haben
Gedanken gerne. Ohne Gedanken zu sein, passt uns nicht so. Dann wissen wir nicht mehr so recht,
wer wir sind, und was wir hier machen. Da haben wir lieber noch Gedanken, dann wissen wir
wenigstens, was los ist.
In dieser Verunsicherung durch das Nichtdenken, in diesen Phasen zwischen den geistigen Regungen
steckt die existentielle Angst, nicht zu sein. „Wer bin ich, wenn ich nicht denke?“ Wenn man das
Descartes gefragt hätte? Das ist die am meisten verunsichernde Frage überhaupt.
Wer bin ich, wenn sich da keine geistigen Regungen zeigen und etwas deutlich wird? Wir wollen
wenigstens ein paar Bilder oder Klänge haben, oder wenn schon keine begrifflichen Gedanken, dann
irgendetwas anderes. Philosophen haben meistens genügend begriffliche Gedanken, mit denen sie das
alles füllen können und definieren sich über dieses Denken, das ist klar.
9. Karmapa, Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins Lama Tilmann, Möhra 2013
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Wir lösen das gerade auf und sind so weit gekommen, dass wir beginnen, die Räume zwischen den
Gedanken präzise wahrzunehmen. Das ist ein Riesenschritt in der Praxis. Auch wenn uns das verun-
sichert, wir machen weiter. Wir schauen weiterhin in diese Zwischenräume, und wir schauen auch in
die Gedanken. Die Gedanken und die Zwischenräume entpuppen sich als gar nicht so unterschiedlich
– zumindest das, was bleibt, wenn wir ins Denken hineinschauen. Das ist immer wieder dieses
Gewahrsein.
Teilnehmerin: Hier analysieren wir also nicht den Gedanken. Es geht nicht darum, die Muster
aufzudecken. Bedeutet das, ich schaue den Gedanken an, ohne zu wissen, was ich denke?
Fast. Wenn du darin geübt bist, dann kümmerst du dich nicht mehr darum, was du gerade gedacht hast
und nimmst nur mehr das Phänomen des Denkens ganz wahr. Das ist tatsächlich so.
Ich analysiere es zwar nicht, aber ich kriege es noch mit.
Das ist schon recht.
Der nächste Schritt wäre, dass ich nur denke.
Dass du die Bewegung sofort auch schon im Keim merkst, und dass du den Geist schon darauf lenkst,
bevor sich das richtig ausgeformt hat, und dass da auch so wenig Interesse am Inhalt des Denkens ist,
dass das zumindest nicht in der Erinnerung verbucht wird.
Wir müssen dann vielleicht aber auch noch über die Gefahr dieser Meditation reden. Diese Art zu
meditieren, kann nämlich missbraucht werden. Wir müssen nachher noch darüber sprechen, weil das
Hinschauen auf die Muster etwas so Wesentliches ist.
Ich habe mir in den letzten eineinhalb Jahren – seitdem ich mit Ronja zusammen lebe – verboten,
diese Art von Meditation, die ich euch jetzt beibringe, zu machen. Ich habe sie früher sehr viel
praktiziert, sie ähnelt der Mahamudra-Meditation, ist ihr sehr verwandt, kann aber missbraucht
werden, um immer wieder in diese Offenheit zu gehen, statt sich dem Inhalt des Denkens und der
Emotion zu stellen. Aber es ist gut, diese Möglichkeit zu haben, einfach auch in die Weite quasi
aussteigen zu können und die Regungen dann immer wieder in der Weite aufzulösen.
Wir sind mit dieser Übung noch nicht im richtigen Mahamudra angelangt. Wir sind in der Praxis von
Geistesruhe, und damit kann man auch verdrängen oder sich künstliche Freiräume schaffen. Das ist
die Schwierigkeit bei dieser Meditation.
Teilnehmer: Ich hab so eine Art Akne im Auge, und wenn ich mit den Augen entspanne, entsteht so ein
Schielen, und ich finde, es geht dann mehr in Richtung von Dumpfheit. Wenn ich die Augen nicht
entspanne, ist es zwar auch anstrengend, aber ich habe das Gefühl, dass es klarer ist.
Das kann ich gut verstehen. Wenn du dieser Schwierigkeit immer wieder begegnest, dann gibt es eine
andere Möglichkeit, das zu lösen. Wenn dein Blick z.B. auf dieses Tischchen fällt, kannst du dir
vorstellen, dein Blick geht durch den Tisch oder den Fokus hindurch in unendliche Weite. Anstatt in
die Weite zu schauen – irgendwohin, was für die Augen dann anstrengend und ablenkend ist und zum
Schielen führt – lässt du den Blick da ruhen, wo er gerade ruht, aber du fokussiert nicht die Oberfläche
des Objektes, sondern so, als ob du durch das Objekt hindurch in unendliche Weite schaust. Und dann
entdeckst du diesen Raum, den wir jetzt so entdeckt haben, überall – egal, wo du hinschaust. Denn
dieser Raum ist eigentlich ein geistiger Raum, es ist kein visueller Raum. Du kannst ihn dir zugänglich
machen, indem du mit deinem inneren Blick nicht an der Oberfläche von Gegenständen bleibst,
sondern innerlich gewissermaßen hindurch schaust. Dann brauchst du den Blick auch gar nicht zu
heben oder irgendwohin zu lenken.
Teilnehmer: Wenn ich die vorbegrifflichen Gedanken im Geist wahrnehme und loslasse, besteht hier
die Gefahr, unklar und indifferent zu werden?
Ja, diese Gefahr besteht. Unklar auch in dem Sinne, dass wir in einem Vermeidungsverhalten sind.
Wir benützen diese Art von Meditation dann aus Interesse an weniger Gewahrsein. Diese kleinen
Fischchen, die da auftauchen, diese kleinen Regungen können Ausdruck von unseren Schattenseiten
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sein, von emotionalen Mustern, und wenn wir die dann so einfach weg meditieren – das geht, das kann
man über Jahre machen – dann erleidet unser innerer Fortschritt im Bewusst-Sein unserer Muster,
Schaden. Deswegen muss man darauf hinweisen.
Obwohl diese Art zu meditieren, wirklich zusätzliche Freiräume öffnet, besteht auch eine gewisse
Gefahr, das ausschließlich zu machen. Man müsste manchmal umgekehrt meditieren und sagen: „Ich
möchte wissen, was da los ist und alles sehen, was da kommt. Ich möchte wissen, was für Fische das
denn sind.“ Interesse am Inhalt, an den Regungen, an den Stimmungen, an den feinen Gefühlen. All
diese feinen Gefühle zur Kenntnis nehmen. Dann würde man wirklich den umgekehrten Weg gehen.
Man würde sie sogar benennen. Sobald sie benennbar werden, würde man sagen: „Ah, das ist doch
etwas Ängstliches. … Da ist doch eine Stimmung von Trauer oder ein Gefühl von Alleinsein.“ Dann
würde man tatsächlich durch das Benennen helfen, dass sie noch deutlicher werden und dann auch
andere Assoziationen folgen können. Das ist dann gewissermaßen die umgekehrte Art zu meditieren
und sehr hilfreich, um emotionale Muster zu entdecken.
Teilnehmerin: Im Vipassana arbeitet man ja auch mit diesem Benennen, und es passiert oft, dass es
sich dadurch auflöst.
Das auch. Das Benennen ist oft ein ausreichender Grad von Gewahrsein, dass etwas, das vorher sein
konnte, weil es halb bewusst war, jetzt nicht mehr zu sein braucht, weil es voll ins Gewahrsein geholt
worden ist.
Wenn die Emotion kommt, und ich sie sofort benenne, löst sie sich auf.
Es ist ja offensichtlich, dass das ein zweiter Prozess ist. Da ist schon was, und das wird dann noch
benannt. Das ist hilfreich, um dieses Gewahrsein zu erzeugen. Aber wenn wir weitergehen wollen,
müssen wir auch das Benennen wieder aufgeben.
Wenn ich im Benennen bin, muss ich es wieder loslassen...
Es wird immer so wichtig genommen, dass es gerade schon wieder benannt werden muss. Eigentlich
können wir alles sich der Selbstbefreiung überlassen. – Was wir jetzt durch das Lenken der
Bewusstheit auf die geistigen Regungen gemacht haben. Wir haben die Selbstbefreiung der Gedanken
oder aller geistigen Regungen etwas unterstützt. Das ist eigentlich etwas, das spontan passiert, aber
wir haben dem ein bisschen nachgeholfen. Ihr scheint ziemlich viel davon erfahren zu haben. Das
Benennen beschleunigt auch diesen Prozess des Sich-Auflösens, sofern das Benennen nicht in ein
Analysieren übergeht und dann nicht mit einem weiteren Interesse verbunden ist. Das ist im Grunde
genommen ein desinteressiertes Benennen, wo es nur um Wahrnehmen geht, damit es sich auflösen
kann.
Das sind verschiedene Arten, mit dem Geist zu arbeiten. Alle sind sehr, sehr hilfreich, wenn wir ler-
nen, gut damit umzugehen.
Meditation
Wir schauen mit weit geöffneten Augen in den Himmel, in den Raum vor uns, ohne den Blick auf
irgendetwas zu richten. – Wir denken über nichts nach, sondern sind einfach unabgelenkt präsent. –
Wir machen uns keine Gedanken darüber, was es gibt oder nicht gibt, über Vergangenheit oder Zu-
kunft. – Wir postieren lediglich mit großem Eifer den Wachtposten der Achtsamkeit, sodass wir nicht
abschweifen. –
Wir lassen den Geist dabei entspannt, weich, ungekünstelt und frisch. – Nicht für einen Moment lassen
wir den Geist abschweifen wie beim Einfädeln von Garn in ein Nadelöhr. – So still wie das Meer ohne
Wellen. – Ohne etwas durch Anstrengung hervorbringen zu wollen, wie ein Adler, der durch die Lüfte
segelt. –
Frei von allem Hoffen und Befürchten. –
Solange wir unabgelenkt bleiben, gibt es kein begriffliches Denken. – Doch kaum schweifen wir ab,
regt sich wieder das begriffliche Denken. Erkenne die geistigen Regungen, sobald sie entstehen!
Schaue sie direkt an und lasse den Geist dann wie zuvor. –
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Erkenne so die geistigen Regungen, wie sehr sie auch ausschweifen. Lasse den Geist ohne jegliches
Aufhalten-Wollen oder Ermutigen, Mögen und Nicht-Mögen auf ihnen verweilen und betrachte sie
mit den Augen der Weisheit. –
Mache so das Denken selbst zur Stütze, den Geist zu sammeln, und lasse ihn darin ruhen. –
* * *
Jetzt haben wir diesen Blick geübt als einen Blick in den Himmel, in die Weite. Es gibt dieselbe Art zu
blicken, auch ohne die Augen zu heben, sondern indem wir einfach dort hinschauen, wo der Blick hin
fällt. Wir sprechen dabei in den Mahamudra-Unterweisungen vom Elefantenblick. Dieser Begriff
stammt wohl aus Indien und muss damit zu tun haben, dass Elefanten einen sehr stetigen Blick haben.
Stetig und weit, und dass sie gar nicht da hinschauen, wo sie jetzt gerade ihre großen Füße hinsetzen.
Das geschieht innerlich, der Blick geht in die Weite. Der Rest folgt. Und dieser stetige Elefantenblick,
den wir jetzt mit dem Blick in die Weite, in den Himmel geübt haben, ist eine gute Voraussetzung für
klares Bewusstsein. –
Merkt ihr jetzt die Nachwirkungen, während ihr in den Raum schaut? Da ist immer noch so eine
Qualität im Blick, die noch nachwirkt von dem eben geübten Blick. Es geht um diese Qualität des
ruhigen Verweilens ohne zu fixieren, angstfrei, ohne Hoffnung und Furcht. Wie eben auch das größte
Tier des Dschungels, es braucht vor nichts Angst zu haben. So ein weiter, offener Blick.
Bemerkungen der Teilnehmer
Habt ihr Unterschiede bemerkt zwischen drinnen und draußen?
Teilnehmer: Es war so ein Durchsehen durch ein Objekt.
Ja, so wie ich es vorhin auch erklärt habe. Man kann sich vorstellen, dass man durch die Objekte ins
Unendliche schaut.
Aber meine Frage bezog sich auf die Unterschieden zwischen drinnen und draußen. Was ist euch auf-
gefallen?
Teilnehmerin: Hier im Raum kann ich mehr beobachten, wie die Gedanken kommen, wie sie entstehen.
Draußen bin ich sehr viel mehr abgelenkt von Geräuschen und durch die Natur.
Damit hast du den wesentlichsten Unterschied angesprochen. Es ist zwar schön, draußen zu sein, aber
es ist sehr schwierig, draußen eine solche Stabilität zu finden wie in einem geschützten Raum, in dem
alles so stabil ist, dass die gedanklichen Bewegungen spürbar werden. Ich habe die Übung draußen
auch gemacht. Es ist möglich, all diese geistigen Bewegungen auch draußen wahrzunehmen, aber es
braucht eine noch schärfere, eine erhöhte Bewusstheit, um das wahrzunehmen.
Teilnehmer: Es kamen draußen Unmengen mehr an Regungen vor – Wind, Fliegen, Leute kamen zum
selben Platz –, sodass es schwer war von der Geistesqualität her im Gewahrsein zu bleiben.
Und das andere: Es war unterschiedlich vom Sitzen zum Stehen, zum Gehen. Du hast gerade den
Elefantenblick angesprochen. Ich bin den Hügel runter gegangen, hab den Blick auf das Tal gerichtet
gehalten und versucht, nicht auf meine Schritte zu schauen. Da war das Gefühl: „Es geht mich!“ Gar
nicht so im Gehen schauen wohin ich gehe, da blieb so eine Weite drin und da war auch was Ent-
spannendes, Beruhigendes. Und als ich hier unten war, wechselte das Schauen, da kam dann wieder:
„Wer ist da jetzt? Wer kommt zur Tür? Wer macht den Gong? ...“ Da war ich sofort mit den Dingen
beschäftigt und gleich wieder viel enger und gleich in der Emotion. Das war eine interessante Qualität
beim Gehen.
Kannst du uns noch den Unterschied zum Sitzen und Stehen beschreiben?
Beim Sitzen habe ich die meisten Regungen wahrgenommen. Ich saß da und es fiel auch schwer, in
den Himmel zu blicken, wenn die Sonne kam. Da war dann alles irgendwie störend. Ich habe dann den
Impuls verspürt aufzustehen, habe dem nicht gleich nachgegeben, bin aber dann doch aufgestanden.
Im Stehen mit dem Blick geradeaus war es dann schon ruhiger. In der Bewegung war es am freiesten,
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weil ich nicht so angestrengt war, irgendwas zu halten. Da war nur die Bewegung und ich war nur
damit beschäftigt, den Blick geradeaus zu richten und dadurch kam dann Entspannung hinein. Am
meisten angespannt gefühlt habe ich mich im Sitzen.
Teilnehmer: Mir kam es draußen viel frischer vor. Natürlich war mehr Ablenkung da, aber die ist ja
auch Werkzeug. Es fiel mir viel leichter, in wacher Präsenz zu sein. Da ist auch ein Gefühl, das ich
von früher auch schon kenne, z.B. am Meer zu sitzen und einfach nur zu schauen. Das ist jetzt nur in
der Erinnerung, da waren schon auch Gedanken mit Emotionen verbunden, aber ich kann mich auch
erinnern, dass es durchaus eben auch präsenter im Schauen war. Das Gefühl der Präsenz kenne ich
sehr gut von damals, obwohl es mir damals nicht bewusst war.
Es ist eine große Qualität des Meditierens im Freien, dass wir dort oft frischer sind, weil die Stabilität
des Meditierens drinnen auch etwas Einlullendes hat. Bei dem normalen Sitzen draußen, am Strand
usw. schleichen sich dann viel Gedanken ein und wir hängen ein bisschen unseren Gedanken nach.
Jetzt kommt zu dem äußeren stabilen Schauen die innere Schau, die wahrnimmt, was auftaucht, wenn
wir nicht so ganz präsent sind. Das ist diese zusätzliche Arbeit, die bei den meisten Menschen nicht
stattfindet, wenn sie draußen im Sonnenstuhl sitzen oder irgendwo in den Bergen an einen Felsen
gelehnt sind.
Teilnehmerin: Ich hatte draußen das Gefühl, dass viel von meinen geistigen Mustern deutlicher wurde.
Wenn wir drinnen zusammen sind, sind so viele Leute da und ich spüre manchmal so eine Enge und
Starrheit. Draußen kommt erst einmal das Glück über die Weite, da kommen viele Gedanken. Ich sehe
da, wie der Geist in großen Wellen geht. Die habe ich drinnen auch, aber da bleibe ich mehr so
angespannt. Draußen kam ständig was, aber es war so, wie der Geist eigentlich natürlich ist, ohne
dass ich denke: „Da sind jetzt ganz viele Leute, ich strenge mich jetzt viel mehr an!“
Ja, das ist noch der zusätzliche Unterschied. Erst einmal ist draußen ohnehin schon eher Bewegung
und dann noch keine Notwendigkeit zur Kontrolle, weil sich jeder ein Plätzchen irgendwo alleine
ausgesucht hat, wo er keine Rücksicht zu nehmen braucht. Da kommen wir dann schon näher dran an
das, was unsere persönliche Praxis ist, wenn wir alleine sind.
Teilnehmerin: Mir ist deutlich geworden, dass einfach so Weite entstanden ist, sobald ich raus ging,
ohne dass ich das will. Und als ich mich dann hingesetzt habe, war das plötzlich weg. Da dachte ich:
„Jetzt sitzt ich und muss meditieren. Jetzt muss ich was tun.“ Dann hab ich ganz lange auch mit dem
Wind herum getan, der zu laut war und auch zu kalt. Das ging dann gar nicht. Ich bin irgendwann
auch aufgestanden und ein Stück gegangen. Dann stand ich und bin mit dem Wind in die Bewegung
gegangen, und plötzlich ging das anders. Es war dann nicht mehr ‚was wollen’.
Das ist interessant, da ist es dir ähnlich ergangen wie der Teilnehmerin vorhin.
Aber ich bin dann zu einem Punkt gekommen, wo ich dann glaube, dass ich nicht mehr bewusst bin. So
als würde sich das alles auflösen. Und dann bin ich so in einem Zustand, wo ich im Nachhinein weiß,
wie sich das anfühlt, aber in dem Moment bin ich nicht bewusst, glaube ich. Es ist so, als würde ich
hinterher sagen: „Oh, was war das jetzt!“
Das hast du dann ein bisschen vergessen, nicht? Wir nehmen einfach wahr, was wir wahrnehmen
können und beschreiben es dann so gut wir können. Das ist ein Geschenk, das wir einander machen.
Es ist sehr interessant. Manchmal ist es offenbar leichter aus den Kontrollmustern auszusteigen, indem
wir mit der Bewegung gehen. Es hieß ja ‚ungekünstelt, ohne absichtlich etwas zu erzeugen’. Es war
jetzt z.B. euch beiden deutlich erfahrbar, indem ihr euch nicht mehr dem, was ist, widersetzt habt oder
versucht habt, etwas zu erzeugen, sondern in etwas Bewegtes gegangen seid.
Teilnehmerin: Ich hatte davor eine Erfahrung, als wir noch drinnen waren. Es war so schön, da un-
vorbereitet rein zu gehen, ich konnte mich dem hingeben. Und nachdem wir dann darüber gesprochen
haben, dachte ich: „Oh, das ist ja anspruchsvoll, aha, und nicht benennen, aha!“ Und es hat dann
später überhaupt nicht funktioniert. Ich hab bemerkt, dass ich mit so einem Anspruch in die Übung
gegangen bin, ich hatte Stress. Und ich weiß ja auch um dieses Muster und hab mir gesagt, „Ja ist
doch egal, es muss ja nicht funktionieren!“ Es war richtig schwer.
9. Karmapa, Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins Lama Tilmann, Möhra 2013
102
Super! Das ist eine Beobachtung, die so unglaublich wichtig ist. Zur ersten Erfahrung: Ich habe euch
überrascht. Ich leite gerne manchmal etwas ohne Erklärung an und erkläre nachher. Die Überraschung
lässt jeden einfach frisch sein, Anfängergeist, eine frische Erfahrung! Wenn wir das dann aber ein
zweites Mal machen, so ist es wie mit einer angenehmen Erfahrung im Leben, die wir wiederholen
möchten. Das geht nie, nicht? Die Herausforderung ist, uns auch mit all dem Wissen, das uns Sicher-
heit gibt in dem, was wir machen, auch noch entspannen.
Das geht schon Jahre, dass ich versuche, daran zu arbeiten und es erwischt mich immer wieder an
allen Ecken. Das frustriert mich einfach. Das war gestern auch so, und immer und immer.
Dafür gibt es Hilfestellungen. Ich habe im Rahmen der Mahamudra-Praxis die Anweisung bekommen,
zu meditieren wie ein Säugling mit sattem Bauch, so kann man aus dem Wollen raus kommen, aus
jeder Absicht. Einfach nur sein. Eine andere Anweisung ist, zu meditieren wie ein Strohbündel, dem
das Band durchgeschnitten wird, wie eine Garbe, die auseinander fällt. Es gibt viele Bilder. Nimm
diese beiden als zentrale Instruktionen für dich. Abgeben und nur sein. – Damals, als ich Baby war
und satt war, brauchte ich mich auch um nichts zu kümmern. Das kann ich jetzt auch einmal machen.
Aber du hast dabei eine große Bewusstheit, die ist einfach da, um die brauchst du dich nicht zu
kümmern. Das reicht.
Teilnehmer: Ich glaube, es ist eine Alters-Erfahrung: Ich bin ja der Älteste von allen, die heute
draußen meditiert haben. Ganz klassisch bürgerlich kommt mir da Caspar David Friedrich, der
ästhetische Aspekt, und es erinnert mich ganz klar an die Vergänglichkeit. Und da wieder das Thema
von Vertrauen und Hingabe, dann Selbstzweifel, ob ich mich der Vergänglichkeit so hingeben kann
und darin dann doch irgendwo einen Halt finden kann, ob es dann schon so etwas gibt – unser
Bedürfnis. – Das Thema von gestern – Wichtig war also die Vergänglichkeit und dann der Gedanke –
inzwischen hab ich ja auch schon ein Päckchen an Situationen und Unterweisungen usw. – warum nie
von Beerdigung gesprochen wurde. Es geht dabei nicht um die Beerdigung sondern um das Gefühl,
das sich bei einer Beerdigung einstellt, und ich glaube bei ganz vielen Menschen. Ich halte dieses
Gefühl für sehr, sehr wichtig, zumindest für mich persönlich, weil es mich in einen Zustand versetzt,
der eigentlich ähnlich ist wie in die Weite schauen – Vergänglichkeit. Und dann hier drinnen konnte
ich dann diese Vergänglichkeit nicht so erleben. Da waren mehr Menschen, das gibt mir ein Gefühl
von Sicherheit, und ich habe mir gedacht, dass ein Mensch, der schon ganz weit ist, keine Differenz
zwischen draußen und drinnen wahrnimmt. Der nimmt dann die Vergänglichkeit auch hier in dem
Raum wahr, in derselben Intensität wie draußen. Das fand ich ganz interessant.
Wer über Vergänglichkeit meditieren möchte und da Unterstützung braucht: Raus in die Natur! Das ist
klar. Da wird es richtig deutlich. Dein Paket an Unterweisungen hat noch nicht das komplette Ausmaß
erreicht, die Leichenacker-Meditation und Beerdigungs-Meditation stehen offenbar noch an. Eine
besonders tolle Variante ist, der eigenen Beerdigung zuzuschauen, sich vorzustellen, dass der eigene
Körper im Sarg liegt: „Das war es jetzt!“
Teilnehmerin: Mir fällt da eine Meditation ein, wo man sich seinen kostbaren Menschenkörper
vorstellt und es auch darum geht, dass man das Fleisch, die Knochen, alle Bestandteile vorstellt.
Das ist nicht gerade Teil des kostbaren Menschenkörpers. Das ist die berühmte Aufzählung von
Buddha Shakyamuni über die 37 Aspekte des Körpers, die wenig anziehend sind, über die wir
meditieren, um die Bedingtheit unseres Körpers zu erfahren, über das Zusammengesetzte. Selbst wenn
wir einen Kratzer auf der Haut haben, kommen wir uns schon unattraktiv vor. Wenn man von unserem
Körper nur eine Hautschicht entfernen würde, ist da nichts Attraktives mehr. Diese Kontemplation
wurde gelehrt, um das Haften am Körper – am eigenen und am Körper anderer – zu überwinden.
Wir widmen in dem Bewusstsein, dass wir alles herschenken und schließlich, dass gar niemand
meditiert hat, dass es gar niemanden gibt, der sich damit identifiziert, der da sitzt, der die Erkenntnisse
besitzt. Wir entlassen in die Offenheit hinein.
* * *
9. Karmapa, Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins Lama Tilmann, Möhra 2013
103
Morgenmeditation
Wir lassen vor uns wieder das Feld der Zuflucht entstehen, alle Wesen, die uns umgeben, und spüren
dabei die innere Ausrichtung, das was uns wirklich am Herzen liegt.
Rezitation: Zuflucht, Die vier Unermesslichen, Gebet an den Lama
Mit diesen Worten kommt die Zuflucht über unseren Kopf, löst sich auf und wird eins mit unserem
Geist. –
Aus diesem gelösten Sein heraus betrachten wir mit dem Auge der Weisheit unsere Situation als
Mensch. Wir erinnern uns an die Kostbarkeit der jetzigen Situation mit allen Möglichkeiten und güns-
tigen Bedingungen. Wir erinnern uns daran, wie vergänglich diese Situation ist und wie abhängig sie
von den vielen, vielen Bedingungen ist, die außerhalb unserer Kontrolle liegen. – Wir entschließen
uns, sie gut zu nutzen. Wir fühlen noch einmal hinein in unsere innere Ausrichtung. Worum geht es
mir wirklich, heute? –
Und jetzt lade ich euch ein, mit der neunfachen Atmung und der Vasenatmung ganz gute Bedingungen
zu schaffen für ein natürliches Verweilen.
Atemübungen
Wenn ihr wollt, könnt ihr diesen wachen, offenen Blick üben, mit weitem Gesichtsfeld, so als würdet
ihr in den Himmel schauen. – Ich stelle mir manchmal vor, ich sitze so wie der Buddha unter dem
Bodhibaum und schaue in die Weite. – Der Blick bleibt nirgendwo hängen und doch wird alles wahr-
genommen, auch innerlich. Alles wird wahrgenommen, ohne dass es zu einem Verhakeln kommt,
einem Vergegenständlichen. Wenn Denken bemerkbar wird, holen wir es ins Gewahrsein hinein. Wir
lassen es bewusst werden, und darin geht es den Weg der Selbstbefreiung. – Alle Sinne sind offen und
wir erleben waches Sein. –
Waches Sein, fließend, ohne in Körper und Geist irgendetwas zu fixieren. – Die feine Beweglichkeit
unseres Körpers ist auch ein Garant dafür, dass wir im Geist beweglich bleiben. –
Wenn wir länger in diesem wachen, frischen, fließenden Sein verweilen möchten, dann ist es gut, sich
wieder eines Ankers zu bedienen. Ich empfehle euch dafür den Atem. – Lasst uns das einfach ein
bisschen üben, diese Qualitäten der Weite, Frische, Offenheit mit einem leichten Bewusstsein des
Atems zu verbinden. Das hilft uns, über lange Zeit wach zu bleiben und nicht abzudriften. Zu Anfang
braucht es jeweils etwas mehr Achtsamkeit auf den Atem, ganz bewusstes Einatmen, der Übergang,
der Ausatem, das Verbinden mit den Körperempfindungen, die alle zum Atem gehören. Im Grunde
genommen lassen wir diese Empfindungen einfach bewusst werden. Und im Erleben dieser Empfin-
dungen bleiben wir so offen und weit wie wir das eben schon erlebt haben. Das ist in den Erfahrungen
geistiger Ruhe so ein Erleben, als würde sich unser Geist wie eine feine Daune, eine weiche Feder den
Bewegungen des Atems anpassen. Die Tibeter haben oft gesagt, der Geist reitet auf dem Atem, aber es
ist noch feiner als das. Es ist ein ganz sanftes Begleiten des Atems durch unser Bewusstsein. Und
wenn wir da hinein noch etwas mehr loslassen, dann kommt es zu einer zunehmenden Verschmelzung
von Bewusstheit – Gewahrsein – und den Körperempfindungen des Atems. Wir werden ganz zu dem
Erleben. –
Und wenn wir bemerken, dass wir gedacht haben ohne es zu merken, dann nehmen wir das Denken
ins Gewahrsein hinein und verbinden uns danach wieder etwas mehr mit dem Atem, eine gewisse
Verankerung. –
Was auch immer unser Erleben ist, es wird von diesem wachen, weichen Gewahrsein begleitet. –
* * *
Erfahrungen der Teilnehmer
Wie geht es euch mit der Anwendung des weiten Blickes? Konntet ihr das sofort umsetzen? Konntet
ihr an gestern Nachmittag anknüpfen? Oder gab es Schwierigkeiten?
Teilnehmer: Im ersten Teil war ich noch sehr abgelenkt, aber später ging es dann leichter, eine
Offenheit zu kriegen. Ich hatte mich m ersten Teil aber auch nicht wirklich darum bemüht, also ich
war eher fokussiert und habe versucht, bei mir zu sein und eher zu schauen, was für Gefühle gerade
9. Karmapa, Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins Lama Tilmann, Möhra 2013
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da sind. Im zweiten Teil versuchte ich dann, in diese Weite zu finden und es war dann auch mehr
Offenheit und mehr Raum. Das war dann leichter.
Hat dir geholfen, dich mit dem Atem zu verbinden?
Teilnehmerin: In Verbindung mit dem Atem geht es viel leichter. Gestern war es mir nicht möglich,
heute war in die Weite zu gehen und mich mit dem Atem zu verbinden viel besser. Es strengt mich
noch ab und zu an, dann schließe ich vorübergehend die Augen. Dann gehe ich wieder in die Weite
und es geht wieder leichter.
Ja, das ist gut. Es ist gut, sich zwischendrin Pausen zu geben.
Teilnehmerin: Mir ging es heute damit viel besser als gestern. Dabei haben mir die Bilder geholfen,
z.B. dieses kindliche Sein, weil ich mich da rausnehmen konnte. Normalerweise habe ich beim Medi-
tieren die Augen geschlossen, weil es sonst sehr anstrengend für die Augen ist. Aber das es war heute
nicht. Ich fand es sehr angenehm und war überrascht, dass das so gut geht.
Zwischendurch wird alles total nebelig, es gab einen Wechsel von Phasen der Klarheit und Phasen mit
diesem Nebeligen.
Es kann sein, dass es für dich auch hilfreich ist, einfach zwischendurch wieder die Augen zu schließen
und dann mit neuer Frische auch ins Visuelle hinein zu gehen.
Teilnehmerin: Ich war vorgestern und auch gestern draußen immer mit dem Atem verbunden. Ich hab
mich dann gefragt, ob ich auf den Atem fixiert bin, ob das eine ungute Fixierung ist. Oder ist diese
ständige Begleitung des Atems im Bewusstsein in Ordnung?
Ja! Das ist sehr hilfreich. Ich denke, das ist keine Fixierung sondern für dich eine vertraute Gewohn-
heit geworden. Die solltest du nutzen, denn die Gewohnheit trägt uns. Das ist das Schöne, dass das wie
von selber kommt, wenn wir uns schon längere Zeit mit dem Atem verbunden haben. Der Grund
dafür, dass wir auch ohne die Stütze des Atems oder überhaupt ohne Stütze meditieren, ist, weil uns all
diese Stützen im Sterbeprozess dann weggerissen werden. In all den Erfahrungen, wo wir nicht mehr
im Körper sind, wird uns die Atemmeditation nicht stützen können. Deswegen üben wir uns darin,
auch eine weite Offenheit mit allem, was kommt – hören, sehen usw. – zu üben, auch wenn es dann
keine Körper-Erfahrung gibt. Das ist der eigentliche Grund dafür. Dieser Grund liegt vielleicht ein
bisschen weit weg, aber das kann dann auch schon schnell passieren. Es ist gut, auch mit dem Geist
vertraut zu sein, ohne speziell mit dem Atem verbunden zu sein. Aber für jetzt ist der Atem wohl – da
sind sich fast alle Lehrer einig – das am besten geeignete Meditationsobjekt für die meisten Menschen.
Teilnehmerin: Ich habe noch eine Frage zur Position des Kinns. Wenn ich das alles wie eine
Schublade nach hinten gebe, dann ist es gut, auch mit dem Blick ist es gut. Aber wenn ich das Kinn
hebe, dann ist es so, als ob die Sammlung rausfließt. Soll ich das trotzdem weiter üben, oder kann ich
es so halten wie früher?
Tue einmal das, was dir gut tut. Du hast es schön gesagt mit der ‚Schublade’, so erlebe ich das auch.
Eine Schublade, die so ein bisschen nach innen geht, ist tatsächlich hilfreich, um den Gedankenfluss
etwas einzudämmen. Und das Strecken des Kinns wird als etwas beschrieben, das den Gedankenfluss
auch einlädt.
Teilnehmer: Mich beschäftigt jetzt, wie weit es möglich ist, alle Sinne gleichzeitig offen zu haben. Ich
nehme es so wahr, dass ich – wenn ein Geräusch auftaucht – dort hingehe mit dem Bewusstsein und
wieder zurückgehe, aber das schränkt das Bewusstsein in gewisser Weise ein.
Das ist immer so. Eigentlich können wir nicht alle Sinne gleichzeitig offen und dann auch noch in den
einzelnen Sinnen Präzision haben. Sobald wir in der Wahrnehmung etwas Präzision haben möchten,
dann privilegieren wir diesen Sinn für die Zeit, die nötig ist, um da deutlich hinzuspüren. Das ist also
ganz normal so. Dadurch, dass es Instruktionen gibt wie alle Sinne offen zu halten, merken wir, wie
das bei einzelnen Wahrnehmungen ist und dann verstehen wir den Geist. Du hast jetzt gesehen, dass es
genauso ist. So wie du es beschreibst ist es für alle Menschen.
9. Karmapa, Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins Lama Tilmann, Möhra 2013
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Zwei Wahrnehmungen gleichzeitig in voller Präzision zu erleben, geht nicht. Wir nehmen in einer
ganz schnellen Folge wahr. Aber diese Bereitschaft, in allen Bereichen ansprechbar zu sein, ist schon
etwas Typisches für Mahamudra. Es ist die Grundhaltung, in keinem Bereich unseres Erlebens irgend-
etwas auszuklammern. Aber das ist nur eine feine Bereitschaft und noch nicht die ganze Präzision.
Wenn dann etwas auftaucht, dann kommt es zu einer präzisen Wahrnehmung.
Teilnehmer: Zwischendurch kommt dann auch einmal ein Mantra in den Gewahrseinsstrom und das
erlebe ich dann als ganz aufhellend. Es macht leichter. Bei dem kann man dann ja auch gleich
bleiben.
Absolut. Du kannst statt des Atems ‚Karmapa kyenno’ als eine leichte Verankerung nehmen. Heute
kam es mir vor allen Dingen auch darauf an, euch mit dieser Sanftheit, Weichheit der Verankerung
noch ein bisschen mehr vertraut zu machen, wie sanft und wie weich wir dem Atem folgen. Und dass
es dieselbe Sanftheit ist, die das Denken wahrnimmt und dieselbe Sanftheit, die dann im Rezitieren
oder Spüren des Mantra mitschwingt.
Konntet ihr mit dieser Sanftheit was anfangen? Zunächst ist es in der Meditation ja so, wie wenn
Beobachter und Beobachtetes getrennt sind. Und wenn die beiden ganz nahe zusammen kommen,
dann ist es wie ein sanfter Kontakt, wo das Erleben ganz sanft von der Bewusstheit begleitet wird.
Konntet ihr das erspüren?
Teilnehmerin: Mir hat es sehr geholfen. Auch das Beispiel der Tibeter, die sagen ‚auf dem Atem
reiten’ und mit diesem Sanften. Das war dann plötzlich so ein: „Ah ja!“ Es war viel leichter auch mit
den Gedanken umzugehen. Gestern hast du das Beispiel eines Säuglings gebracht, und in mir tauchte
das Bild auf von einem Kind, das auf der Wiese liegt. Das fand ich sehr schön. Mir hilft es auch sehr,
diesen Wechsel zuzulassen, in die Weite zu gehen, dann kurz die Augen zu schließen und so.
Teilnehmerin: Ich hab diese Sanftheit sehr gespürt, als ich fast keine Gedanken mehr hatte. Wenn
welche da waren, dann habe ich auch gar keine Affekte mit den Gedanken verbunden. Das fand ich
sehr auffällig. Gleichzeitig habe ich so eine Gefahr bemerkt, ein satter Säugling zu werden und wieder
Energie zu verlieren. Ich weiß nicht, was ich damit machen soll.
Okay, einfach ein paar Jährchen älter werden, dann geht das schon.
Teilnehmerin: Für mich war es sehr hilfreich. Diese Sanftheit hat so ein durchgängiges Gehalten-
werden. Das Bild mit dem Reiten auf dem Atem war für mich sehr gut brauchbar und ich konnte das
sehr gut mit der Weite verbinden. So eine Vorstellung von in die Weite hinein reiten. Das war ganz
toll. Ich bin dann auch irgendwie ins Nichts reingeritten. So fühlte sich das an. Ich hatte nicht das
Gefühl, dass ich mich darin verlieren könnte, sondern ich habe ja den Atem als Stütze.
Die Bilder mit dem Reiten sind in der tibetischen Kultur häufig benutzte Bilder, weil sie ja alle
geritten sind, und es geht dann auch weiter, dass Reiter und Pferd wirklich eins werden. Die konnten
dann sogar auf dem Pferd schlafen, weite Ritte machen und ein bisschen einnicken, ohne vom Pferd zu
fallen. Das ergibt so eine Einheit, das Pferd weiß, wo es lang geht und Reiter und Pferd sind eins.
Diese Vorstellung kannst du vielleicht auch noch in das Bild hinein nehmen, also Reiten in diese
Offenheit und gar nicht mehr den Unterschied zwischen Atem und Beobachten zu spüren.
Teilnehmerin: Ich hab bei dieser Meditation verschiedene Phasen durchlebt. Ich habe beim Sitzen
bemerkt, dass mich irgendetwas bewegt und konnte deinen Anweisungen nicht so gut folgen. Ich fand
es einfach zu anstrengend zu schauen, weil es im Inneren wühlte. Dann habe ich versucht zu tun, was
mir gut tut, und das hast du in der 2. Sitzung gesagt, und da dachte ich mir: Ja, das ist gut, dass ich
nicht immer den Anweisungen folgen muss.
Ich habe gemerkt, dass der Blick nach unten, verbunden mit dem Atem diese Empfindung von
Unzufriedenheit in mir sehr, sehr schön gelöst hat. Ich hatte das Gefühl, innerlich gut angekommen zu
sein, und das verbunden mit so einem sanften Atem. Ich wusste auch gar nicht so genau, was dieses
Gefühl ist. Mir hat der Atem eigentlich geholfen, so sanft zu werden und das Kinn ein bisschen
eingezogen wie diese Schublade, hat mir Stabilität gegeben.
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Es ist mir auch ein Anliegen, dass die schwierigeren Empfindungen, Stimmungen ebenfalls von dieser
Sanftheit begleitet werden. Wir können ganz sanft gewahr sein, wie wir gerade traurig sind oder wie
wir gerade ein bisschen schräg drauf sind und vielleicht denken: „Das war dann doch der falsche Fuß,
mit dem wir aufgestanden sind!“ Das sanft zu bemerken, sanft den eigenen Schmerz zu bemerken, ist
ganz wichtig. Nicht nur die normalen Empfindungen sondern gerade auch die etwas unangenehmeren
Empfindungen mit dieser Sanftheit begleiten.
* * *
6. Den Atem als Stütze nutzen und die drei Stufen geistiger Ruhe (6/2)
Damit hatten wir ja schon angefangen. Ihr erinnert euch, dass wir die ersten beiden Absätze schon be-
sprochen haben? Da ging es um Atem insgesamt, um das Zählen des Atems und um die Vasenatmung.
Im dritten Abschnitt heißt es:
[21.4] Wenn du mit keiner der aufgezählten Stützen den Beginn geistiger Ruhe erfährst, verwen-
de eine andere Methode, welche auch immer geeignet ist. Bei Individuen der Gruppe mit unge-
wissem Potential entsteht Sammlung schon, wenn sie zwei bis drei Erklärungen erhalten. Doch
einigen fällt es schwer, in die Sammlung zu finden, selbst wenn sie viel praktizieren. Aber wenn
sie nicht verzweifeln und weiter daran arbeiten, ist es unmöglich, dass sie nicht entsteht. Dafür
braucht es einen erfahrenen Lehrer, der den Schüler einschätzen und dementsprechend Hinder-
nisse entfernen und Erfahrungen fördern kann.
In diesem Text hat Karmapa verschiedene Stützen für die Meditation der Geistesruhe angeführt, wie
ein äußeres visuelles Objekt, ein inneres visualisiertes Objekt, Sinneswahrnehmungen, oben und unten
binden mit Lichtpunkten, den Atem, das Blicken in die Weite des Raumes oder die Vasenatmung. Im
„Ozean des wahren Sinnes“ gibt er noch eine ganze Reihe solcher Hinweise.
Hier spricht Karmapa die Möglichkeit an, dass für uns keine der oben erwähnten Stützen geeignet ist
und wir noch etwas anderes brauchen. In diesem Fall sollen wir das einsetzen, was uns hilft.
Ein Teilnehmer erzählte mir, dass für ihn die Baum-Übung sehr hilfreich ist: still stehen und stehend
meditieren. So etwas kann sehr hilfreich sein, um direkt mit dem Geist in Berührung zu kommen. –
Nur um ein Beispiel zu nennen, an das ihr vielleicht nicht sofort denkt. Eigentlich ist alles willkom-
men, solange es die Wirkung hat, uns mit dem Geist vertraut zu machen und dazu beizutragen, dass
allmählich die einzelnen geistigen Regungen wahrnehmbar werden. Darum geht es eigentlich.
Individuen der Gruppe mit ungewissem Potential ist ein technischer Ausdruck, der sich auf Neigung
und Motivation von Praktizierenden bezieht. Es gibt z.B. Menschen, deren Potential abgeschnitten ist.
Das bedeutet, dass sie im Moment überhaupt nicht mit einem Wunsch zu erwachen in Kontakt sind
und dass sie sehr viel mehr Interesse daran haben, weltlichen Anliegen nachzugehen als den Dharma
zu praktizieren. Menschen dieser Gruppe kommen gar nicht zu Dharmakursen; sie haben kein
Interesse dafür, aber sie werden auch erwähnt. Dann gibt es die, die eindeutig die Motivation haben,
selber Befreiung zu finden, denen es aber zu viel ist, sich auf dem Weg der Befreiung um andere zu
kümmern. Sie sagen: „Jetzt aber mal schnellstens raus aus allen Verstrickungen! Ich muss so schnell
wie möglich den Weg der eigenen Befreiung finden!“ Das ist die Gruppe derjenigen mit der Moti-
vation der individuellen Befreiung. Die Gruppe jener, deren Motivation der Haltung eines
Pratyekabuddhas entspricht, können wir einfach ausklammern; es gibt sie seit zweitausend Jahren
nicht mehr. Und dann gibt es die Gruppe der Praktizierenden, die eindeutig den Wunsch haben:
„Wenn ich einen Weg der Befreiung gehe, dann soll er unbedingt allen anderen auch zugutekommen.
Für mich kommt gar kein anderes Erwachen in Frage als ein Erwachen, wo ich bereit bin, mich um
alle Lebewesen zu kümmern!“ Das ist der Bodhisattva-Weg mit der Gruppe der Praktizierenden mit
einem eindeutigen Bodhisattva-Potential.
Und dann gibt es die Ungewissen. Je nachdem, welche Unterweisungen sie treffen, werden sie mehr in
die eine oder in die andere Richtung motiviert; mehr in Richtung der individuellen Befreiung oder
mehr in Richtung Bodhisattva-Weg. Die meisten von uns gehören in diese ungewisse Gruppe. Deswe-
gen ist das auch die einzige Gruppe, die Karmapa hier anführt. Bei den anderen ist ohnehin klar, was
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sie möchten, was sie brauchen. Aber selbst bei denen, deren Potential noch ungewiss ist – es hängt
sehr davon ab, welchen Vorbildern sie begegnen – entsteht normalerweise eine gewisse Ruhe im
Geist, auch wenn sie nur zwei, drei Unterweisungen zur Praxis der Geistessammlung bekommen.
Wir hatten bis jetzt etwas mehr als zwei, drei Unterweisungen, und bei den meisten ist es im Laufe der
Zeit zu Erfahrungen einer gewissen Geistesruhe gekommen. Das bestätigt diese Aussage hier. Selbst
in unserer aufgewühlten Zeit ist es möglich, mit einigen wenigen Instruktionen eine gewisse Geistes-
ruhe zu finden. Allerdings besteht ein ziemlicher Unterschied, ob die Praxis in der Gegenwart eines
Lehrers stattfindet oder ob man allein zu Hause praktiziert. Es kann sogar passieren, dass jemand
während einer einzigen Unterweisung – z.B. in einer Abendunterweisung in einem Zentrum – so einen
Moment der Ruhe und Offenheit erfährt, aber dann zu Hause nicht in der Lage ist, wieder in diese
Ruhe und Offenheit hinein zu finden. Und genau diese Fähigkeit gilt es zu entwickeln.
Karmapa sagt: „Verzweifelt nicht (wenn keine Sammlung entsteht) und arbeitet weiter daran. Es ist
unmöglich, dass sie nicht entsteht.“ In jedem steckt das Potential, steckt die Möglichkeit, den Geist zu
entspannen, zu öffnen, zur Ruhe zu bringen, aber um das zu bewerkstelligen – führt Karmapa fort –,
braucht es erfahrene Lehrer, die wissen, wie man mit bestimmten Hindernissen umgeht.
Zum Beispiel wird es Praktizierenden manchmal selbst nicht klar, dass ihre Aufgewühltheit mit einem
Übermaß an Wollen, einem Übermaß an Motivation zu tun hat. Ein erfahrener Lehrer sieht das sofort
und gibt die entsprechenden Instruktionen zur absichtslosen Praxis. Es gibt natürlich noch viel feinere
Hindernisse, z.B. wie das Verhältnis zu den Gedanken ist, inwieweit der Praktizierende sie als Feinde
betrachtet. Der Lehrer gibt in so einem Fall zur rechten Zeit Instruktionen dazu, dass man Gedanken
nicht als Feinde betrachtet und wie man genau herausfindet, dass sie tatsächlich keine Feinde sind.
Es gibt so viele Kleinigkeiten, so viele Feinheiten. Es wurden im Laufe der Tage viele Feinheiten an-
gesprochen. Und genau diese Feinjustierung in der Praxis kann im Austausch mit einem erfahrenen
Lehrer geschehen, und dann wird sich unsere Praxis auch entwickeln. Das setzt natürlich voraus, dass
wir uns zeigen mit unseren Schwierigkeiten, dass wir sie ausbreiten. Wir beschreiben, was es denn ist,
wie es sich anfühlt, wenn wir immer so dumpf oder so aufgewühlt sind und nicht in Geistesruhe fin-
den. Dann kann Rat gegeben werden, und wir können ihn ausprobieren. Wir kommen dann mit unse-
ren Erfahrungen zurück, bekommen vielleicht noch einmal einen Rat, und wenn wir einige Male zum
Lehrer gekommen sind und seine Empfehlungen auch tatsächlich umgesetzt haben, dann ist eigentlich
davon auszugehen, dass jeder ein gewisses Maß an Geistesruhe finden wird.
[22.2] Wenn wir so die Meditation kultivieren, erscheint die erste Stufe geistiger Ruhe „wie ein
Wasserfall, der eine Klippe hinabstürzt“, wo die Gedanken zahlreich und grob sind.
Ich suche immer noch nach dem passenden Wort, um das Wort grob zu ersetzen. Im Tibetischen ist
nicht gemeint, dass die Gedanken grob sind im Sinne von aggressiv oder abwertend, wie grobe Be-
merkungen. Es ist gemeint, dass sie leicht zu sehen sind; sie sind groß wie Lastwagen, massiv, deutl-
ich. – Aber auch die kleinen auf der nächsten Stufe sind noch deutlich. – Auffällig, leicht identifizier-
bar… Auf dieser Stufe, die wie ein Wasserfall ist, werden wir nicht vom Wasserfall mitgerissen. Im
Unterschied zu vorher, wo wir völlig verwickelt in den Gedankenstrom, in die Erfahrungen sind und
nicht klar sehen, sind wir wie jemand, der vom Wasserfall etwas entfernt ist und dem Wasserfall der
strömenden Gedanken zuschauen kann. Es ist immer noch sehr viel los, aber innerhalb dieser enormen
geistigen Aktivität gibt es ein Gefühl von Ruhe. Da ist so eine Art ruhender Pol, von dem aus wir die-
se Aktivität wahrnehmen können. Das ist die erste Stufe geistiger Ruhe. Es kann also sehr viel los
sein, aber der Beobachter ist fest installiert und kriegt all das mit, ohne sich zu verheddern.
Es mag sein, dass sich dieser Beobachter so anfühlt, als würde er quasi im Wasserfall stehen. Das
Wasser rauscht über uns drüber, und wir machen nicht den Fehler, den Arm auszustrecken. Wir stehen
da in dieser kleinen Höhlung, es rauscht um uns herum, es tobt und macht, aber wir sind eher so wie
das Auge eines Orkans. Wir kriegen alles mit, aber das Greifen nach einzelnen Inhalten findet nicht in
solchem Maß statt, dass wir davon mitgerissen werden. Das wäre die erste Stufe, wo schon deutlich
geistige Ruhe erfahren wird, aber bei gleichzeitig starker geistiger Aktivität.
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Auf der zweiten Stufe, wenn die groben begrifflichen Gedanken verschwunden sind, mag ab und
zu plötzlich ein Gedanke entstehen, doch wird er erkannt, kommt er dadurch sofort von selbst
zur Ruhe und die Meditation fließt sanft dahin wie ein Strom.
In dieser zweiten Stufe von Geistesruhe ist das Gewahrsein selbst von einem strömenden Erleben
geprägt – nicht, dass es von A nach B geht, es ist eine lebendige Präsenz, ein lebendiges Gewahrsein
spürbar. Und darin kommt es hier und da zu Gedanken, die feinerer Natur sind. Sie sind meist nicht so
stark emotional, denn dazu ist zu wenig Haften im Geist. Diese feineren Gedanken werden im Mo-
ment ihres Entstehens wahrgenommen, ein bisschen so wie wenn in dem Strom Fische aus dem
Wasser springen würden. Der Geist ruht, hat eine weite Perspektive, und dann ist da plötzlich eine Be-
wegung. Sie wird sofort wahrgenommen, weil der Kontrast zu allem anderen sehr groß ist. Das Ge-
wahrsein nimmt diese Bewegung automatisch wahr, braucht gar nicht extra darauf gelenkt zu werden,
und es entsteht keine Gedankenkette. Es knüpfen sich keine weiteren Gedanken daran und der Fisch
verschwindet, der Gedanke löst sich auf. – Nicht, dass er in den Untergrund geht, sondern er löst sich
auf.
Das ist eine Erfahrung der Geistesruhe, in der wir ganz deutlich die Phasen zwischen den Gedanken
wahrnehmen, wo keine sonstige geistige Regung ist. Die Abstände zwischen den einzelnen Denkmo-
menten, wo eine klare geistige Regung bemerkt wird, werden immer größer. Man kann es sich so vor-
stellen, dass vom Wasserfall, wo es pausenloses Denken gab, der Bach kommt, sich dann allmählich
sammelt, den Berg hinunter fließt und es gibt immer mehr auch mal Phasen, wo das Wasser ruhig
fließt. Und dann kommt wieder eine Klippe, dann wieder eine Stromschnelle. Aber die Phasen, wo es
ruhig fließt, werden immer länger und dann kommt es wieder zu einer kleinen Turbulenz.
In dieser zweiten Stufe von Shine werden die Praktizierenden sehr vertraut mit diesen Phasen des
Nichtdenkens zwischen den einzelnen Gedankenmomenten. Und das ist die notwendige Voraus-
setzung, um einzelne Gedankenmomente untersuchen zu können. Um sie anschauen zu können, müs-
sen wir sie auch einzeln wahrnehmen können. In der Stufe des Wasserfalls ist es schwer, in die Natur
der Gedanken hineinzuschauen; sie sind noch nicht ausreichend differenziert. Das ist vergleichbar
damit, wenn wir ein Getreidefeld anschauen. Da sind ganz viele Ähren, und aus der Ferne sehen wir
nur das Feld. Wir sehen vielleicht das Schwingen der Ähren im Wind und es ist ein Gesamteindruck
da. Wenn wir nahe hingehen und dann eine einzelne Ähre wahrnehmen können, dann können wir sie
identifizieren und schauen, um was es sich eigentlich handelt.
Und so ist es auch mit den Gedanken. Wenn die Gedankenketten einfach durch rauschen und so viele
Assoziationen da sind, so viel los ist, dann kriegen wir – auch wenn wir nicht so verwickelt sind –
doch nicht wirklich mit, was die einzelnen Impulse sind, die da auftauchen. Es braucht noch eine
weitere Beruhigung des Geistes, um Impulse einzeln bemerken zu können. Dann bekommen wir auch
mit, wie lang so ein Impuls dauert, wo er herkommt, wo er hingeht, ob er in sich eine Kraft hat oder
nicht. All diese Betrachtungen und Untersuchungen stellen wir mittels der Geistesruhe an, um uns von
der Macht, die Gedanken scheinbar haben, zu lösen. Diese Geistesruhe wie ein sanft dahin fließender
Strom ist die Voraussetzung, um die Natur der Gedanken wirklich erkennen zu können.
Schließlich sind alle Gedanken, ob fein oder grob, verschwunden und man geht in einen Zustand
frei von begrifflichem Denken auf. In einer Erfahrung von Freude, Klarheit und Nichtdenken
findet man in eine gelassene, lebendige, strahlende, reine und transparente geistige Ruhe [die
„wie ein stiller Ozean im Licht der Sonne“ ist]. Bringe freudige Ausdauer hervor, bis eine solche
geistige Ruhe entstanden ist und auch wenn sie entstanden ist, praktiziere sie ununterbrochen
weiter. Das ist der sechste Punkt.
Diese dritte Stufe wird der Ozean genannt. Ein stiller Ozean, ein Ozean ohne Wellen im Licht der
Sonne. Karmapa verwendet den Begriff des stillen Ozeans in seinem anderen Buch, ich habe diesen
Begriff hier in eckigen Klammern eingefügt. Die Erfahrungen von Freude, Klarheit und Nichtdenken
beginnen schon auf der ersten Stufe von geistiger Ruhe. Bereits die Wasserfallstufe wird mit einer
gewissen Freude und einem Wohlgefühl erlebt, einfach weil die Verwicklung abgenommen hat. Und
je länger die Phasen des Nichtdenkens zwischen den einzelnen Erfahrungen in der zweiten Stufe
dauern, desto mehr kommt es auch zu diesen drei Erfahrungen von Freude, Klarheit und Nichtdenken.
Aber wenn wir in die Erfahrungen von Geistesruhe auf der Ebene des Ozeans eintauchen, dann sind
9. Karmapa, Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins Lama Tilmann, Möhra 2013
109
sie konstant, dann sind sie ständig vorhanden. Auf dem Weg dahin tauchen jede Menge Meditations-
Erfahrungen auf. Es kann in jedem der Sinnesbereiche zu Erfahrungen kommen, die etwas ungewöhn-
lich sind:
Der Körper kann sich plötzlich ganz leicht anfühlen oder ganz schwer; es können verschiedenste
Empfindungen von Hitze und Kälte auftauchen; es kann prickeln, vibrieren, Spannung und Entspan-
nung, Hitzeschübe und wie innerliche Ströme und Rauschen, … all das kann auftauchen. Die Fuß-
sohlen können einem wie verbrennen … Es gibt alles Mögliche, was da kommen kann.
Visuell – ganz abgesehen davon, dass wir manchmal verschwommen sehen und dann wieder klar, dass
wir manchmal wie so Lichträume um die Objekte sehen – entstehen solche Phänomene aber auch in-
nerlich, unser visueller Cortex fängt an ein bisschen zu spinnen und produziert Lichter und Farben.
Wir denken dann, dass wir ganz spirituell werden, weil wir so viele Farben sehen und alles so strah-
lend und schön wird. Aber das alles vergeht wieder, es bleibt nicht.
Mit dem Hören ist es genauso. Erst einmal gibt es verschiedene Hörempfindungen; seltsam, was wir
plötzlich alles hören können. Und dann beginnen wir aber auch, Dinge zu hören, die gar nicht da sind,
die innerlich entstehen. Auch das vergeht wieder.
Wir nehmen manchmal Gerüche wahr und wissen gar nicht, wo sie herkommen. Sie haben gar keinen
Ursprung in unserer Umgebung, wir riechen sie aber trotzdem total deutlich.
Mit den Geschmäckern ist es genauso, wir haben plötzlich irgendwelche Geschmäcker im Mund.
All das sind Phänomene, bei denen es sich um das Entlassen von Energien in unserem energetischen
Körper handelt. Im Grunde genommen tauchen diese Erfahrungen auf, wenn sich Energien vor einer
Blockade stauen. Wir sind blockiert, wir haben irgendeine Fixierung im Geist, die bewirkt, dass sich
auch im Körper und in den Sinneswahrnehmungen etwas blockiert. Dann kommt es vor dem Lösen
der Blockade zum Anwachsen einer sogenannten Meditations-Erfahrung. Wenn sich die Blockade
löst, kommt danach noch einmal eine andere Erfahrung. Eine Erfahrung, wo das, was vorher war,
völlig vorbei ist, und dann entstehen Erfahrungen von Offenheit, von Strömen und dergleichen, die
Lösung in diesem Bereich.
Die Meditierenden denken immer, dass diese besonderen Erfahrungen Anzeichen für tiefe Praxis
wären, aber sie sind nur Anzeichen für eine noch nicht aufgelöste Blockade. Auch innerlich, gedank-
lich, ist jede Menge an sonstigen Erfahrungen möglich. Aber all diese Meditations-Erfahrungen sind
Ausdruck von Blockaden. Und wenn die sich lösen, dann kommt es regelmäßig zu den Erfahrungen
von Freude, Klarheit und Nichtdenken. Das sind die immer bleibenden Erfahrungen, die kommen
immer wieder. Die anderen kommen nie wieder. Man hat eine solche Erfahrung einmal im Leben –
war vielleicht ganz schön – aber sie kommt nicht wieder. Man kriegt sie auch nie wieder hin, man
kann sich abstrampeln, sie zu erzeugen, aber es geht nicht. Wirklich!
Teilnehmer: Ich finde das nicht witzig sondern sehr gut.
Ja! Ein Glück ist das so! Die lachen ja, weil sie sich ertappt fühlen. Wir hätten ja so gerne solche Er-
fahrungen, und wir haben auch hier und da schon einmal an so etwas angehaftet. Es ist doch total
befreiend, dass der ganze Zirkus, den wir da erleben, gar nicht wieder kommt. Das einzig Verlässliche
ist, dass – wenn der Geist sich öffnet, ruhiger und entspannt wird – es immer zu Erfahrungen von
Wohlgefühl im Körper und einer gelassenen Freude im Geist kommt. Und diese Erfahrungen werden
dann auch immer stabiler. Das ist verlässlich, weil der Geist einfach so ist. Wenn unser Geist nicht
belastet ist, ist er freudig. Das gehört zur Natur des Geistes. Wenn wir nicht freudig sind, dann sind
wir irgendwo verhakelt.
Teilnehmer: Es bedarf nicht jedes Mal dieser Blockadelösungen, dieser Erscheinungen, man kann
auch ohne diese Erscheinungen in die Ruhe finden, oder?
Man kann auch ohne diese Erscheinungen in die Ruhe finden. Aber wenn man wirklich in die tiefere
Geistesruhe eintritt, vollzieht sich der Weg dahin schon so, dass eine ganze Reihe Meditations-Erfah-
rungen auftauchen. Es gibt natürlich Unterschiede bei den Praktizierenden, nicht alle haben so viele
Erfahrungen. Aber es heißt in den Texten – und so habe ich es auch erlebt –, dass bei denen, die inten-
siv praktizieren, die Meditations-Erfahrungen so zahlreich sind wie die Blumen auf einer Sommer-
wiese. Da taucht dann jede Menge Zeugs auf, nur merken wir es vielleicht gar nicht so, weil wir
9. Karmapa, Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins Lama Tilmann, Möhra 2013
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ohnehin ziemlich entspannt damit umgehen und gar nicht so ein dickes Ding daraus machen. Denn
auch die negativen Erfahrungen gehören dazu. Wir wollen ja immer die angenehmen Erfahrungen,
aber auch Erfahrungen von totaler Kälte und Finsternis usw. gehören dazu. Das ist uns oft nicht be-
wusst, weil wir das Augenmerk immer auf die angenehmen Erfahrungen legen, aber ihr Gegenteil
gehört auch dazu.
Teilnehmerin: Wenn ich dann so innerlich – egal ob ich in Richtung Angst gehe oder ob ich begeistert
bin – während der Meditation erlebe, ist das aber im Grunde genommen schon wieder die nächste
Trübung oder das nächste Anhaften, hab ich gerade gedacht… vielleicht auf einer ein bisschen
subtileren Ebene sozusagen…
Eindeutig. Aber so subtil ist das gar nicht.
Und wann kommt der Punkt, wo ich mich freuen darf?
Das ist die Frage! Die allgemeine Instruktion ist, sich mit nichts zu identifizieren, was da auftaucht.
Und das führt dazu, dass es eben im Erleben von verschiedenen Erfahrungen nicht zu diesen starken
Schwankungen kommt. Wir bleiben relativ stabil und das gibt dann so eine gelassene innere Freude,
die viel mit Vertrauen zu tun hat, mit Vertrauen in den eigenen Geist; so kann man es am ehesten
sagen. Diese gelassene Freude ist verlässlich, wenn man da noch weiter loslässt, dann wird sie noch
stärker, noch stabiler. Wenn wir an der Freude haften, dann verschwindet sie sofort wieder. Haften und
Freude gehen nicht miteinander zusammen.
Teilnehmer: Kann es sein, dass nach einer Lösung auch so ein starkes Angstgefühl entsteht? Dass es
ein Anhaften an der Freude ist und ein Greifen nach der Freude und ein Nachdenken über die Freude,
die entsteht, und dass das dann auch zu einer starken Angst führen kann.
Ja, das gehört auch mit dazu, weil wir uns in dem was sich löst immer in unbekanntes Gebiet weiter
vor wagen. Wenn sich Blockaden lösen, führt uns das in ein neues Erfahrungsgebiet, und das kann
wieder mit einer Angst zu tun haben vor dem Unbekannten. So begleiten uns auf dem Weg der Praxis
eigentlich ständig Befürchtungen, Ängste vor dem Unbekannten und Hoffnungen, etwas Angenehmes
oder Bekanntes wieder zu finden oder zumindest etwas, woran man sich festhalten kann. Der Prozess
der Geistesruhe ist im Wesentlichen ein Prozess, diese Hoffnungen und Ängste zu entspannen und
gewahr zu bleiben, komme was wolle.
Teilnehmer: Also kann man sich dann so wie an das Gewahrsein erinnern in diesem Zustand, klar zu
werden, ins Gewahrsein gehen und nichts damit zu machen, eher weiter zu werden?
Ja, man kann sich da selber den Dienst erweisen, sich daran zu erinnern: „Hier und jetzt! Bleib jetzt
einfach gewahr, mach jetzt keinen Film da daraus!“ Egal ob es Angst ist oder anhaftende Freude:
„Bleibe Zen!“ Wirklich entspannt in dem Sinne, gleichmütig.
Teilnehmerin: Wenn ich gute Meditationsphasen habe, ist der Geist ruhig. Manchmal nehme ich dann
wie so Grauschleier wahr, ich nenne das „Schlieren“.
Ist das eine visuelle Erfahrung?
Eher nein. Es ist eine Raum-Erfahrung, wie leichtes Grau im Raum. Hast du einen Tipp, wie ich damit
umgehen kann?
Ja, das ist eine häufige Erfahrung, die normalerweise durch ein Zuviel von Wollen entsteht. Da ist
hilfreich, sich noch weiter zu entspannen, dann klärt sich das.
Ich habe gedacht, das wäre eine Trübung, eher Dumpfheit.
Es ist eine Trübung! Aber die entsteht durch das Wollen. Die Dumpfheit ist die Reaktion auf das zu
starke Wollen. Es ist unglaublich! Wir denken, wir müssten uns noch mehr anstrengen, je mehr desto
dumpfer werden wir in dieser Art von Situation.
Teilnehmer: Ich habe noch eine Frage zu dieser zweiten Stufe, die du beschrieben hast, mit den
Pausen so quasi zwischen den einzelnen Gedanken oder inneren Erfahrungen. Zur Übung sozusagen
9. Karmapa, Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins Lama Tilmann, Möhra 2013
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im Alltag: Wenn ich übe, auf den Raum zu schauen und nicht auf die Objekte, also quasi das zu einer
bewussten Übung mache, den Raum oder die Pausen zu fokussieren und nicht das Objekt oder das
Subjekt. Findest du das sinnvoll, das auch bewusst zu üben und jetzt nicht nur entstehen zu lassen in
der Meditation?
Du schaffst jetzt eine Verbindung zwischen der Meditation auf den Raum als Stütze für Geistesruhe
und den Räumen, die zwischen den Gedanken entstehen. Das ist nicht ganz dasselbe, von dem wir hier
sprechen. Die Meditation auf den Raum und die Zwischenräume zwischen den Objekten kann ich dir
sehr, sehr empfehlen. Das ist eine Form zu meditieren, die uns aus der starken Fixierung auf Objekte,
auf Konkretes, die wir normalerweise haben, herausholt. Das ist sehr, sehr hilfreich. Während du das
praktizierst, tauchen wie vorher Gedanken und dergleichen auf, aber in der Grundhaltung des Nicht-
fixierens. Dieser Raum zwischen den Objekten ist nicht derselbe Raum wie die Zeitspanne zwischen
dem Auftauchen eines geistigen Impulses und einem anderen. Das war jetzt einfach eine Assoziation,
die bei dir entstanden ist.
Das ist nicht derselbe Raum?
Nein, das eine ist ja ein Raum der wahrnehmbaren Erfahrung von Objekten, aber du bist ja noch dabei
zu schauen. Wenn ich auf den Raum zwischen zwei Tischen schaue, heißt das ja nicht, dass deswegen
ein Zwischenraum zwischen den Gedanken entsteht. Der Gedanke ist ja nicht „der linke Tisch und der
rechte Tisch“. Ich kann ja genauso denken über den Raum dazwischen und da kann so viel innerlich
auftauchen. Es ist nicht plötzlich Pause im Denken, nur weil wir auf Raum meditieren. Das war eine
Assoziation bei dir, weil diese Meditation für dich offenbar sehr hilfreich ist. Sobald du in den Raum
schaust, scheint sich bei dir das Denken sehr stark zu beruhigen und so kam es bei dir zu dieser Ver-
bindung.
Teilnehmerin: Ich habe noch eine Frage zu den Blockaden. Ich bin hier durch die Zeiträume, in denen
wir meditieren, aufgefordert, die Zeit auch mit der Meditation zu füllen. Wenn ich es aber für mich
alleine mache, dann steige ich immer an einem bestimmten Punkt aus. Ich vermute mal, wenn eine
Blockade entstehen möchte. Es tauchen dann verschiedene Phänomene auf. Manchmal wird mir total
heiß oder ein Schmerz kommt oder eine innere Unruhe. Da hänge ich dann mein Denken dran, dass es
jetzt reicht und dass es mir nicht mehr gut tut. Hier ist es aber so, dass ich dann entscheide, „Jetzt
bleib doch einfach mal dran und lass dich wieder drauf ein!“ Das wiederum weckt dann aber einen
inneren Widerstand und ich bin mir einfach auch unsicher, ob das eine Blockade ist, die ich durch
fortgesetzte Meditation auflösen soll oder ob das ein authentischer Impuls ist, dass es reicht, dass ich
eine andere Form von Da-Sein wählen sollte, um einfach in Fluss zu bleiben. Wenn ich es dann
wirklich so fortsetze, hat es ein bisschen was Gewaltsames, so disziplinierte Willensentscheidung, die
dann auch in eine Anstrengung führt und bis jetzt nicht in dieses freudige Gewahrsein, das ich ja auch
kenne.
Da wäre jetzt zu schauen, ob es sich um ein Anschwellen und Abschwellen dieser Erfahrung handelt,
wenn du diesen Phänomenen gegenüber eine etwas andere Haltung einnimmst. Wenn du sie als eine
Herausforderung nimmst und dir sagst, „Okay, mal schauen was passiert, wenn ich jetzt dabei gelas-
sen bleibe, ich sitze weiter!“ Vielleicht eine minimale Veränderung der Körperhaltung, aber du bleibst
einfach dabei und schaust, was passiert.
Die klassische Unterweisung, die wir immer erhalten haben, war, drei solche Wellen durchzusitzen
und nach der dritten Welle, dann wenn es uns gut geht, aufzustehen und was anderes zu machen.
Wenn es aber eine ganz intensive Geschichte ist und es mir nicht gut zu sein scheint, dann ist es auch
völlig in Ordnung, direkt aufzustehen und zu sagen, „Okay, das passt jetzt nicht, ich zwinge mich hier
zu etwas! Ich manipuliere mich, das hat nichts mehr mit entspannter, gelöster Meditation zu tun!“ Wir
brauchen das nicht jedes Mal durchzuziehen, aber dieses Durchziehen – auf eine annehmende und ge-
lassene Art – macht uns vertraut mit diesen anschwellenden Erfahrungen, die uns ein Stückchen weiter
bringen. „Wie ist denn das jetzt möglich gewesen? Ich hatte eben so einen Schmerz im Knie, jeder
andere wäre aufgestanden, ich bin einfach sitzen geblieben und fünf Minuten später ist überhaupt kein
Schmerz mehr da! Wo ist denn der jetzt hin, was ist denn da los?“
9. Karmapa, Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins Lama Tilmann, Möhra 2013
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Diese Erfahrungen können wir nur machen, wenn wir sitzen bleiben. Wir sprechen hier von den klei-
nen Blockaden, sie machen sich innerhalb einer Meditationssitzung bemerkbar und lösen sich wieder.
Es gibt aber auch Blockaden, die von tieferer Natur sind. Immer wieder, eine Meditationsperiode nach
der anderen kommen wir an bestimmte Grenzen, wo ähnliche Phänomene auftauchen und es erst ein-
mal noch nicht möglich zu sein scheint, sich da hinein zu entspannen. Aber irgendwann, vielleicht
nach Wochen oder Monaten sogar, löst sich das dann. Es kann noch einen Kulminationspunkt geben,
aber dann kommt es zur Lösung, weil wir innerlich den Weg gefunden haben, damit auf neue Art um-
zugehen. Das sind die größeren Blockaden, und die kleineren Blockaden beschäftigen uns mehr als
unsere tägliche Arbeit. Von den größeren gibt es dann auch nicht so viele, das sind dann tiefe Ge-
schichten, die sich da lösen.
Teilnehmer: Ich habe manchmal Befindlichkeiten, die mich bedrängen und wenn ich dann hinschaue,
hab ich das Gefühl, ich weiß gar nicht, was mich bedrängt, es ist halt ein richtig großer Packen
Energie. Wer, welche Instanz entscheidet, dass mich das jetzt bedrängt? Denn wenn es mir gelingt,
damit anders umzugehen, ist es immer noch ein Packen Energie, aber es ist halt nicht mehr
bedrängend. Was mache ich, dass ich da manchmal rumlaufe und das Gefühl habe, jetzt tragen mich
meine Beine nicht mehr, und dann macht es so – schnipp – die Energie ist immer noch da, aber die
Kraft steht mir dann zur Verfügung.
Ich weiß nicht, ob es da wirklich eine Instanz gibt. Aus buddhistischer Sicht würde man sagen, es hat
eine Änderung der Sichtweise stattgefunden. Dasselbe Phänomen dieser Energie wird dann anders
wahrgenommen, und das hat mit Weisheit, mit Einsicht zu tun. Ob da eine Instanz ist, weiß ich nicht.
Es hat mit der Einschätzung der Situation zu tun, und wo mehr Weisheit reinkommt ist weniger
Widerstand und weniger Angst. Das hat sofort die Wirkung, dass unsere Energien dann wieder viel
freier fließen, uns die Beine wieder tragen und wir, obwohl wir eben gerade noch müde waren, wieder
frisch sind. Wir merken, dass der Energielevel immer noch wie vorher oder sogar stärker ist. Aber wir
kommen viel besser damit zurecht.
Und wenn wir uns beim Sitzen plötzlich so belastet, so schwer fühlen, oder plötzlich traurig werden,
so sind all das Erfahrungen in der Meditation. Ein tibetischer Lehrer zählt dieses plötzliche Aufsteigen
von Stimmungen, die keinen konkreten Anlass haben, auch zu den Meditations-Erfahrungen. Wir wis-
sen, dass sie aus dem Speicherbewusstsein kommen, aber eigentlich sind das Eindrücke von früher. So
wie früher schon einmal Energien in uns geflossen sind, so fließen sie auch jetzt, und sie bringen die
entsprechenden Stimmungen hervor. Die Körpertherapeuten sprechen sogar von einem zellulären Ge-
dächtnis, aber es ist ein Gesamtgedächtnis unseres Seins. Frühere Geisteszustände haben Spuren hin-
terlassen und wenn wir meditieren, dann geben wir einen offenen Raum, wir sind ja nicht dabei, zu
handeln. Und weil da offener Raum ist, können sich die Spuren von früher wie entladen, sie können
aufsteigen, sich zeigen, werden noch einmal durchlebt und einer neuen Lösung zugeführt. Das nennt
man karmische Reinigung, es ist der Prozess des Aufsteigens alter Spuren, alter Erinnerungen. Daran
sind alle sechs Sinne beteiligt. Diese Spuren können dann auftauchen, aber in einer annehmenden
Grundstimmung, und dadurch können sie einer anderen Lösung zugeführt werden. Das kann auch
beim Gehen oder beim Kochen oder sonst wo passieren, nicht nur in der Meditation, aber da wo ein
gewisser Raum, ein annehmender Raum besteht. Es ist ja auch in der Psychotherapie so. Da wird
dieser annehmende Raum geschaffen und darin kommen manchmal assoziativ alte Dinge hoch und
werden bewusst.
Das heißt, da bin ich dann noch nicht achtsam genug, dass ich anders damit umgehe?
Ja.
Was du von Psychotherapie so sagst, das kenne ich. Darum ist es dann auch so, dass mich solche
Zustände gar nicht schrecken, weil ich sie kenne. Was mich jetzt wundert, ist, dass ich nicht merke, an
welchem Punkt ich die Einstellung ändere.
Ja, dass es einfach passiert ist und du es nicht merkst. Und es kann auch sein, dass es gar nicht so eine
bewusste Entscheidung ist.
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Aber ich traue mir zu, dass ich das mitbekomme. Ich krieg das mit, wenn ich mich anders entscheide.
Nicht, dass ich im Augenblick bin, aber dass ich öfter mal nahe dran bin.
Es ist auch gar nicht so, dass man so viel anders machen müsste, manchmal ist es einfach nur die
Tatsache, dass man nicht noch einen oben drauf setzt. Die Dinge lösen sich ohnehin immer von selbst
auf. Und wenn es uns so oder so geht und wir es nicht noch schlimmer machen, dann geht es eben
seinen Weg und irgendwann löst es sich von sich aus auf, nichts bleibt. Die Erklärung von mir, dass es
sich um eine Änderung der Sichtweise handelt, ist nicht immer zutreffend. Manchmal ist es einfach
nur, dass man unterlässt, das Ganze noch schlimmer zu machen. Irgendwann hat es sich dann.
So einverstanden sein mit dem, was auftritt.
Auch beim Beispiel von vorher, wenn so ein Hitzephänomen auftaucht, müssen wir nicht speziell was
an der Sichtweise ändern. Wir bleiben einfach gleichmütig und entspannt und lassen es durchrauschen.
Es bleibt nicht. Man hat dann nicht an dem Punkt, wo es sich löst, etwas verändert. Es liegt einfach in
der Natur der Dinge, dass sie so durch rauschen.
Teilnehmer: Ich möchte noch zu den Meditations-Erfahrungen etwas sagen. Vorher in einer Sitzung ist
mir passiert, dass ich plötzlich so einen starken Juckreiz zwischen den Zehen bekommen habe. Ich
habe mir gedacht, ich stehe auf, ich halte das nicht aus. Ich hab das aber annehmen können, bin sitzen
geblieben und das hat sich total aufgelöst.
Ja. Genau so etwas meinte ich. Ich habe früher Sitzungen erlebt, wo ich mir wirklich nachher die
Socken runter gerissen habe, weil ich überzeugt war, ich hätte Verbrennungen auf den Fußsohlen. So
stark war das.
Teilnehmer: Ich wollte etwas fragen zum Thema: in die Weite schauen. Ich wohne mit Pflegekindern
zusammen auf einem Hof und hab viel mit denen zu tun und gebe ihnen Nachhilfe. Der jüngste
Pflegesohn schaut immer so wie abwesend, so wie wir das von dir gelernt haben. Er stiert so richtig in
die Gegend. Für mich ist es so, dass er abwesend ist und ich ihn wieder zurückholen muss, weil er
geistig überhaupt nicht da ist. Mich hat das ein bisschen verunsichert, weil das eigentlich kein
Zustand ist, den ich so erlangen will. Ich muss ihm immer sagen: „Kuck mal, was du gerade machst,
mach mal weiter“, um ihn wieder präsent zu haben. Der andere Pflegesohn ist manchmal auch so
abwesend, den lasse ich dann Liegestützen oder so irgendwas machen, damit er wieder da ist. Ich hab
damit ein Problem, also mir ist das ein bisschen unheimlich.
Ja, also da stimme ich dir voll zu, das geht überhaupt nicht in die richtige Richtung und das ist auch
nicht dieses wache In-die-Weite-Schauen mit einer inneren Beweglichkeit, sondern das Pflegekind
geht da in andere Welten, nicht? Das Beste, das wir tun können, ist, ihn vielleicht sanft einladen,
zurück zu kommen und vielleicht zu schauen, warum er in diese anderen Welten geht, und dass wir
diesem Bedürfnis, woanders hinzugehen, weil irgendetwas bedrohlich wird, Rechnung tragen und
schauen, dass wir dieses Bedrohliche etwas entspannen können.
Teilnehmerin: Ich weiß auch nicht, wie man mit Kindern irgendwas in diese Richtung machen kann.
Ich habe bei einem anderen Pflegekind durch Zufall einen Artikel über Yoga gelesen, und da waren
drei Übungen, zwei Asanas und eine Atemübung angeführt. Die Asanas konnte er irgendwie machen
und dann hat er die Atemübung angefangen, und nach zwei Atemzügen habe ich gemerkt: sofort
stoppen, das war so intensiv für ihn. Ich dachte, eigentlich bräuchte das Kind jemanden, der ihn
anleitet, in so was hineinzugehen.
Da bin ich ganz froh, dass du das so fein gemerkt hast. Denn ohne dass wir es merken, können wir
Kinder mit so etwas brutal überfordern Da müssen wir schon sehr aufpassen.
Teilnehmerin: Ich wollte nur auf diesen Film verweisen, der da wunderschöne Vorgaben gibt: „Free
the Mind.“ Da sind auch zum Teil Kinder, die solche Themen mit sich bringen und da wird ein
wunderschöner Umgang gezeigt, durchaus nachahmbar.
Dieser Film ist sehr zu empfehlen. Er sollte eigentlich in Dharma-Gruppen gezeigt werden. Er ist sehr
schön, sehr eindrücklich.
9. Karmapa, Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins Lama Tilmann, Möhra 2013
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Teilnehmer: Die Frage gestern Abend zu den Samadhis, wo keine Bewegung und kein Lernen statt-
findet. Wo sind denn Sackgassen, die zu vermeiden sind?
Diese Samadhis, wo kein Lernen mehr stattfindet, schließen sich an diese Erfahrung des Ozeans an,
wenn man aus diesem ozeangleichen Gewahrsein der Geistesruhe zunächst das unterscheidende Den-
ken sich völlig beruhigen lässt, sogar die unterscheidende Wahrnehmung sich beruhigen lässt und
dann ein rudimentärer Zustand von Sein übrig bleibt. Das schließt sich an die Erfahrung dieses ozean-
gleichen Verweilens an. Da kann es passieren, dass der Praktizierende den Geist nicht in der
Lebendigkeit hält, sondern wie in eine Sackgasse geht. Innerhalb der geistigen Ruhe der dritten Stufe
(wie ein Ozean) gibt es vier Stufen des Verweilens im Bereich der Form, die sehr hilfreich sind. Nach
der vierten geht es weiter in die formlosen Samadhis, die aus der Sicht des Erwachens nicht mehr so
hilfreich sind. Da gibt es zunächst die meditative Versenkung, wo der eigene Geist wie unendlicher
Raum wahrgenommen wird, dann kommt eine, wo das Bewusstsein als unendlich wahrgenommen
wird, die dritte nennt sich „Wahrnehmung von Nichts-was-auch-immer“ und die letzte heißt „Weder
Unterscheidung noch Nicht-Unterscheidung“. Wenn man sich in dieser achten Versenkung quasi
‚einnistet‘ und ausschließlich darin verweilt, findet kein Lernen mehr statt. Zum Lernen braucht es
Unterscheidung, ein feines Wahrnehmen all der vielfältigen Formen des Erlebens.
Das wäre, wenn man das so sagen kann, eine Abfolge im Erleben, jetzt sag ich mal, der verschiedenen
Stufen geistiger Ruhe, und dass man darin sich verliert, das ist eigentlich erst sukzessive oder …
Die Frage, die du stellst, ist: „Wann beginnt die Gefahr?“ Die Gefahr, dass ihr in diesen Samadhis
versackt, gibt es nicht, die ist erst einmal nicht relevant. Ich wünsche euch allen, dass ihr den Strom
und den Ozean erfahren könnt, und ich weiß euch auch gewappnet dafür, denn durch die vielen Unter-
weisungen, die ihr bekommen habt, ist ein grundlegendes „Ja“ zur Vitalität des Geistes bei euch vor-
handen. Und auch durch unsere jetzige gemeinsame Arbeit und durch eure Arbeit mit anderen Lamas
ist klar, dass es keine Verneinung des Denkens gibt. Diese Grundhaltung hat ja bereits bei euch Einzug
gehalten und deswegen könnt ihr ruhig eintreten in Erfahrungen des Nichtdenkens, ohne gleich zu
meinen, da würde jetzt die Gefahr lauern.
Ich hab diese vier Stufen in der ozeangleichen geistigen Ruhe auch erfahren, und die haben mir nur
Gutes getan. So tiefe geistige Ruhe zu erleben, macht es möglich, den Geist dann mit einer solchen
Präzision auf das Erleben zu richten. Gendün Rinpoche hat mir damals empfohlen, den Geist wieder
stärker zu aktivieren. Ich musste dann bewusst Gedanken erzeugen, weil keine Gedanken mehr da
waren. Er hat mir empfohlen, Gedanken wirklich zu erzeugen, sie reinzuholen und ihre Natur anzu-
schauen. Das ist dann mit einer solchen Präzision möglich, wie wenn du ein super Mikroskop oder
Teleskop geschenkt bekommst. Ein so ruhiger Geist ist ein super Instrument, um zu schauen und zu
verstehen. Man sieht die Dinge in einer Klarheit, wie sie sonst nie zu sehen sind. Das ist der Vorteil
dieser tiefen Geistesruhe. Der Geist wird so klar, dass man wirklich einfach alles anschauen kann, was
man möchte. Er ist ganz flexibel, er ist klar, wir können ihn dorthin richten, wo wir ihn haben wollen,
und dadurch entsteht Einsicht.
Das ist, was dann wirklich hilft. Weil der Geist so klar und wach geworden ist, entstehen diese intuiti-
ven Einsichten. Wenn ich damals von einem Lehrer fehlgeleitet worden wäre, dann wäre ich vielleicht
einfach ein paar Jahre – nicht dauerhaft, aber die ganzen Tage mit geringen Unterbrechungen – ein-
fach in so einem ganz stillen Sein aufgegangen, wo im Grunde genommen kein Interesse mehr am
Forschen besteht. Kein Interesse mehr, wirklich weiter zu kommen, weil es in sich so erfüllend ist. Da
ist dann der erfahrene Lehrer wirklich zur Stelle, um zu helfen, dass man sich dort nicht einnistet. Ich
hatte eine kleine Tendenz, mich da einzunisten, und da hat mich Gendün Rinpoche herausgeholt.
Das ist der Vorteil dieser Geistesruhe und da gibt es eigentlich keine Gefahr. Ihr seid jetzt schon
vorzeitig – vielleicht, viel zu früh – darauf vorbereitet, dass es nie um das Aufgeben der geistigen
Aktivität geht, sondern dass der Weg ins Erwachen im Durchschauen, im Erkennen der Natur der
geistigen Aktivität liegt.
Teilnehmer: Noch zu gestern: Ich bin nicht nur mit einem falschen Fuß aufgestanden sondern mindes-
tens mit zehn. Ich war komplett zu, komplett. Ich hatte das Gefühl, das war kilometerweit zu sehen,
9. Karmapa, Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins Lama Tilmann, Möhra 2013
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alles zu, zu, zu. Und dann, es war so klein und nur eine tausendstel Sekunde und danach ging das
dann so… Es gab einen Anlass natürlich und ich habe gesehen, das sind Muster von mir, und ich war
total verzweifelt, weil ich so war. Wie gefangen. Jetzt kann ich eigentlich nur sagen, “Ja, das ist durch
die Instruktion von ‚Weite und Gewahrsein’.“ Nicht schlagartig, aber in relativ kurzer Zeit ist das…
Meine Frage ist jetzt, ist das auch Lernen? Es war…
Das ist ein super Lernen. Da hast du richtig was durchgeschafft. Ja, ich hab’s gemerkt.
Und du hast auch gemerkt, wo es dann weg war.
Ja, das habe ich gemerkt, und auch, dass du es ausgehalten hast und da drin geblieben bist. Innerlich
hast du nach den Lösungen gesucht, du hast nach einem Weg gesucht, das erst einmal zu überleben,
und dann die Lösung. Wo kommt sie her? Dieses Halten-Können, Durchgehen-Können und Dran-
bleiben – nicht nach außen raus, sondern hier drinnen wach bleiben – ist ein riesiger Lernprozess.
Es war nicht mal wach, es war wirklich irgendwie so…
Aber das ist dann wirklich das, was gerade noch da ist. Und das ist ein Riesenlernprozess.
Abschluss
Was war wichtig in diesen Tagen?
Teilnehmerin: Das Sein. Ja, auch das meditative Sein; zu meditieren ohne Anspruch.
Teilnehmerin: Besser kennenzulernen, wie der Geist funktioniert.
Teilnehmerin: Für mich ist es diese geführte Meditation, wo ich einfach meinen Geist besser verstehen
kann. Danke für deine wunderbaren Qualitäten, wo ich das Gefühl habe, ich kann mich hier einfach
nur so sein lassen. Das ist ganz schön, entspannt.
Eine kleine Bemerkung zu diesen Qualitäten: Ein Glück, dass sie niemandem gehören. Wenn sie mir
gehören würden, dann würde ich richtigen Mist daraus machen. Gendün Rinpoche war diesbezüglich
ganz klar: Wenn sich in uns echte Qualitäten zeigen, sind das die Qualitäten der innewohnenden
Natur, die dann zum Glück nicht mehr so stark verschleiert ist. Diese Qualitäten gehören gar
niemandem. Wenn ihr Qualitäten in euch entdeckt, ist es gut, daran zu denken, dass sie umso weniger
persönlich sind, je mehr sie sich zeigen.
Teilnehmerin: Also für mich persönlich war es wichtig, noch einmal neu zu definieren, zu verstehen,
dass es nicht nur heißt, sich hinzusetzen und seine Mantras zu rezitieren, sondern alles einzuschließen
und zu verstehen, was Meditation eigentlich bedeutet – alles einzuschließen und weniger empfindlich
zu sein. Ich sitze zu Hause manchmal mit Ohropax und versuche zu meditieren… Das war wichtig.
Teilnehmer: Zusammengefasst, dass ich das Gewahrsein erleben kann als Ort des Vertrauens, eines
Vertrauens, das ich mir selbst erarbeiten kann, sodass ich praktisch unabhängig werde von der Zufuhr
von außen. Ort des Vertrauens.
Teilnehmerin: Für mich war es wichtig, dass du so konkret und detailliert auf unsere verschiedenen
Meditations-Erfahrungen eingegangen bist, sodass ich sowohl für mich selber lernen konnte, aber
auch von den anderen lernen konnte, weil da ja einiges immer mitschwingt, was ich auch erfahre. So
war es für mich ein intensiver Erfahrungsaustausch, wie ich mit den verschiedenen Störungen in der
Meditation umgehe, was ich sonst auf anderen Kursen nicht so detailliert höre.
Teilnehmerin: Für mich hat sich Meditation sehr aufgefächert. Keine so etwas mechanisch-statische
Angelegenheit mehr, weil wir eben sehr viel über unterschiedliches Herangehen erfahren haben. Es ist
fast wie ein Werkzeug und es hat sich dann ganz stark das Bewusstsein für den 'Anfängergeist'
geschärft. Und dieses „ohne Hoffnung, ohne Furcht“, das nehme ich ganz, ganz stark mit.
Teilnehmerin: Für mich war beeindruckend, dass die Meditation weggekommen ist von so etwas
Überhöhtem, schwer zu Erarbeitendem. Die Entwicklung ging hin zu etwas zutiefst Menschlichem und
ganz Normalem. Das hat zu tun einmal mit den Anweisungen, die so gefruchtet haben und dann aber
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auch mit den Erfahrungen, die die anderen geteilt haben und man sich da immer wieder erkennen
konnte und dass es auch so etwas ist, was wirklich jedem passiert auf die eine oder andere Weise. Es
gibt eben nichts Überhöhtes, es ist ganz einfach, so leicht auf einmal… sehr schön, ganz normal.
Teilnehmerin: Für mich war eine wichtige Erkenntnis, dass Methoden nur Methoden sind und keine
Pflicht, und dass jeder von uns die Erlaubnis hat, seinen eigenen Weg zu finden, der nach dem eigenen
Empfinden geht – wann fühlt es sich richtig an und wann kann ich es mit Freude und Hingabe
machen. Das ist wie eine ganz große Erlaubnis für mich. Das nimmt mich einfach aus der Pflicht und
aus dem Zuviel-Wollen heraus mit dieser Sanftheit, die damit einhergeht, vielen Dank dafür.
Teilnehmerin: Mir geht es ähnlich. Also einmal viel vertrauter geworden zu sein mit meinem Geist,
und „ich darf meinen Weg gehen“ mit den verschiedenen Methoden. Und diese Methoden hast du für
mich so nachvollziehbar gemacht, ich hab einfach ganz viel verstanden. Und ich nehme noch mal
wieder für mich mit, dass es darum geht, nicht zu wollen.
Teilnehmerin: Für mich war eine ganz interessante und spannende Erfahrung der Guru-Yoga. – Ich
hab damit immer in diesen Momenten experimentiert, wo ich irgendwie den Eindruck hatte, es geht
jetzt gerade nicht. Ich kann deinen Anweisungen nicht folgen oder ich kann jetzt nicht was bewirken.
Immer wenn dieses Wollen nach Bewirken aufkam, habe ich den Buddha machen lassen. Ich hab mich
sofort auf den Buddha besonnen, und dann entstand eine Mühelosigkeit, denn damit hab ich dieses
Machen abgegeben, und ich fand äußerst hilfreich, damit zu arbeiten.
Teilnehmer: Ich war sehr beeindruckt, dass es auch möglich ist, in einer doch relativ großen Runde so
konkrete Anweisungen für die persönliche Praxis zu bekommen und fand das sehr inspirierend, danke.
Den Dank geben wir mal weiter. Da hat es Lehrer im Hintergrund, die das möglich machen. Das ist
das lange Training mit Gendün Rinpoche gewesen, die vielen, vielen Situationen und Erfahrungen.
Teilnehmer: Ich bin dankbar für die Möglichkeit zur Erkenntnis, wo dann alles so wie der große
Geistesstrom ist. Ich bin dankbar für die Möglichkeit auszuwählen, was mir jetzt gerade in dem
Moment hilfreich ist, und in meiner Situation das zu nehmen, was mir hilft, um mich zu öffnen. Da
habe ich viel Bestärkung und Ermutigung erfahren und konnte mich lösen von einer bestimmten
Vorgabe hin zu einem Erkennen: „Was nutzt mir, um weiter zu kommen…“
Ja, es ist ziemlich praktisch geworden. So wie gesagt wurde: es ist in Reichweite, es ist nicht so weit
weg, die Methoden sind unsere Diener und nicht wir sind die Diener der Methoden. Jede Methode, die
wir einsetzen, dient unserer inneren Entwicklung und wir müssen sie anpassen, wenn es klemmt. Und
wir haben die Gesetzmäßigkeiten, auf die wir achten müssen, ein bisschen verstanden, sodass wir sie
sinnvoll anpassen können und wir sie nicht in einem wichtigen Punkt verpassen. Dann lasst uns doch
dieses Wesentliche noch einmal gemeinsam praktizieren. Das Sein, wie vorhin gesagt wurde.
Meditation
Ich führe euch kurz durch die Grundübung des Öffnens der sechs Sinne. Das ist immer sehr hilfreich,
um dann wirklich im Sein anzukommen. Wir spüren unsere Körperhaltung, und gehen dann in die
Empfindungen, die wir in den verschiedenen Teilen des Körpers wahrnehmen können. Manchmal
spüren wir den Kontakt mit dem Boden, doch manchmal spüren wir ihn noch gar nicht, wir spüren
anderes. – Unterkörper, Becken, Bauch, Oberkörper, Arme, Nacken und Hals, der Kopfbereich… die
feinen Empfindungen, die mit dem Atmen einhergehen… hören… sehen… riechen… schmecken…
die fünf äußeren Sinne weit geöffnet, mal hier, mal da… Empfindungen… Weite im Blick, Weite im
Spüren… ohne irgendetwas festzuhalten… und das Wahrnehmen der geistigen Regungen, all der
geistigen Regungen zusätzlich zu den Sinneswahrnehmungen. – Es gibt nichts Spezielles zu erkennen.
Es reicht, unseres Erlebens gewahr zu sein, gerade so, wie es eben jetzt ist. – Meditierend wir ein
Buddha. – Ob unruhig oder ruhig – alles ist Bewusstheit, Geist, Gewahrsein. – Obwohl wir ruhig
werden, ruhig sind, erleben wir eine Vitalität des wachen Seins, … äußerlich ruhig, innerlich total
lebendig. – Und jetzt entlassen wir noch zusätzlich den Meditierenden, alles Wollen, Suchen.
* * *
9. Karmapa, Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins Lama Tilmann, Möhra 2013
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Ihr braucht das natürliche Sein jetzt nicht einzupacken und mit nach Hause zu nehmen. Das wartet zu
Hause bereits auf euch. Und unterwegs ist es auch mit dabei. Es ist immer da, steht immer zur Ver-
fügung, es ist unser wahres Zuhause.
Teilnehmer: Ich bedanke mich bei euch, dass ihr mir die Arbeit so leicht gemacht habt. Was soll ich
jetzt noch sagen? Ich schließe mich meinen Vorrednern an, und hab tatsächlich noch was Eigenes
gefunden: Ich möchte mich ganz herzlich – Teilnehmer ist mir zu unpersönlich – bei dieser Gruppe
bedanken, dass wir an euren Prozessen teilnehmen konnten. Ich freue mich wirklich, diese Art und
Weise hab ich vorher nicht gekannt. Dann hab ich auch noch was entdeckt, was auch nicht unbedingt
meine Spezialität ist: Dankbarkeit. Und diese Dankbarkeit hat mit deinem Begleiten durch die
Prozesse zu tun, kraftvoll und zugleich dezent…
Dank
Mein Dank geht ebenfalls an euch, an jeden einzelnen von euch, weil mich das so berührt hat, wie ihr
euch mitteilt und wie ihr in so einer großen Gruppe Einblicke zulasst in euer ganz persönliches Erle-
ben. Dadurch entsteht so ein großer Reichtum, der eine traut sich und dann traut sich der andere und
dann hören wir, dass es möglich ist, damit weitere Schritte zu machen und das ermutigt uns und. Das
hat sich total natürlich angefühlt, da war gar nichts Gezwungenes, das floss von selber und das finde
ich einfach sehr, sehr schön. – Dadurch wird alles so leicht. Ich habe das Gefühl gehabt, das, was man
Meditieren nennt, Einsicht und Geistesruhe, alles wird eigentlich ziemlich leicht. Ganz besonders
auch, weil wir nicht versuchen, irgendwas auszudehnen. Ich bin auch so froh und dankbar, dass diese
einfachen Instruktionen der Mahamudra-Linie in dieser Einfachheit offenbar aufgenommen und umge-
setzt wurden. Da steht ja nirgendwo, dass es schwierig ist. Es ist gar nicht nötig, davon als schwierig
zu sprechen. Es ist einfach so, wie es ist. Ich bin einfach sehr glücklich und dankbar. Ich bin auch so
dankbar, dass ich jetzt mit Ronja da sein konnte, dass ihr sie so wunderbar aufgenommen habt und das
ist schon alles sehr klasse, sehr rund für mich, ein ganz rundes Gefühl. Ich freue mich dann schon aufs
nächste Mal. Wir werden immer mehr in diese Erfahrungsarbeit reingehen. Die Grundlagen sind dann
schon ein bisschen gelegt. – Es können schon auch noch Neue dazukommen, die nehmen wir
irgendwie mit auf den Dampfer. – Ich freue mich, es dauert sicherlich noch ein paar Jährchen, bis wir
diesen Text ganz durchgenommen haben.
Widmungsgebete
ENDE