massimo fagioli, psychiatrie als psychotherapie
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Sozialpsychiatrische informationen 4/2014 – 44. JahrgangTRANSCRIPT
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4/2014 – 44. Jahrgang
ISSN 0171 - 4538
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Sonderdruck
Psychiatrie als Psychotherapie
Zusammenfassung Der Text besteht aus Ausschnitten von ausführlichen Überlegungen des Autors aus dem Jahr 2004 zum Verhältnis von Psychiatrie und Psychotherapie. Diese Auswahl beginnt mit dem Hinweis, wie sehr Psychiatrie und Psychotherapie von der europäischen Geistesgeschichte abhängen. Diese ist von der Idee der Vernunft und der Rationalität als Identitätsmerkmal des Menschen geprägt, was eine Verteufelung (oder im Gegenzug dazu manchmal auch eine Idealisierung) des Irrationalen und der nichtbewussten Psyche mit sich bringt. Dann folgen Anmerkungen zu der Entstehungsgeschichte der Analisi collettiva, der spontan entstandenen therapeutischen Großgruppen, in die Fagioli seit 1975 involviert ist. Von den drei Konzepten, die der Autor für Kernbegriffe der Behandlung hält – therapeutisches Setting, Übertragung, Deutung der Beziehungsdynamik –, sind Bemerkungen zum Begriff Übertragung ausgewählt worden, die diesen Begriff neu definieren.
Autor: Massimo Fagioli Seiten 34 –37
Was uns bewegt – Ein Heft aus der Mitte der Redaktion
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Psychiatrie als Psychotherapie
Zusammenfassung Der Text besteht aus Ausschnitten von ausführlichen Überlegungen des Autors aus dem Jahr 2004 zum Verhältnis von Psychiatrie und Psychotherapie. Diese Auswahl beginnt mit dem Hinweis, wie sehr Psychiatrie und Psychotherapie von der europäischen Geistesgeschichte abhängen. Diese ist von der Idee der Vernunft und der Rationalität als Identitätsmerkmal des Menschen geprägt, was eine Verteufelung (oder im Gegenzug dazu manchmal auch eine Idealisierung) des Irrationalen und der nichtbewussten Psyche mit sich bringt. Dann folgen Anmerkungen zu der Entstehungs-geschichte der Analisi collettiva, der spontan entstandenen therapeutischen Großgrup-pen, in die Fagioli seit 1975 involviert ist. Von den drei Konzepten, die der Autor für Kernbegriffe der Behandlung hält – therapeutisches Setting, Übertragung, Deutung der Beziehungsdynamik –, sind Bemerkungen zum Begriff Übertragung ausgewählt worden, die diesen Begriff neu definieren.
Autor: Massimo Fagioli
Wir fassen die Psychiatrie als einen Bereich auf, der sich nicht mit den Störungen des Körperorgans Gehirn befasst, sondern mit den Erkrankungen der Psyche, und schon daraus ergeben sich grundsätzliche Unterschiede zur Körpermedizin. Die Psychiatrie hat eine andere Identität als die somatische Medizin. Der Begriff Psychotherapie macht alles aber noch komplizierter, denn er beinhaltet auch die Auseinandersetzung mit den bestehenden kulturellen und philosophischen Strömungen, mit den verschiedenen Entwicklungen der Gedankengeschichte. Die Psychotherapie ist nicht nur Heilkunst, sondern auch und vielleicht vor allem Geisteswissenschaft.
Studien über die Anatomie und Physiologie des Körpers gehören zweifellos zum Bereich der Wissenschaft. Aber wir sind zu der Auffassung gelangt, dass sich die Körpermedizin nicht mit dem befasst, was das spezifisch Menschliche ausmacht. Das spezifisch Humane hat mit dem Denken, mit der menschlichen Psyche und ihrer Funktionsweise zu tun, die sich von derjenigen der Tiere in wesentlichen Punkten unterscheidet. Für den menschlichen Körper gilt dies nicht in so radikaler Weise.
Dennoch ist der Psychiatrie als einem Zweig der Medizin eine wirkliche Autonomie von der Körpermedizin noch nicht gelungen. Das hat zur Folge, dass sie in ihren Forschungen die Methodik der experimentellen Medizin mit sich herumschleppt. Noch relevanter ist, dass die psychiatrische Behandlung weiterhin von der Idee ausgeht, man müsse äußere Substanzen in den Körper einführen, um
die Psyche zu modifizieren. Dahnter steht eine vielleicht nicht bewusst reflektierte, aber agierte Lesart psychischer Krankheit: Psychische Störungen entstünden, wenn bestimmte Substanzen nicht in der richtigen Menge vom Körper produziert werden. Psychische Störungen werden nicht mehr darauf zurückgeführt, dass es zum Verlust von Hirngewebe gekommen ist, aber die Grundidee einer pathologisch veränderten Sekretion körpereigenener Substanzen besteht weiter. Die sogenannte Humoralpathologie, d. h. die uralte hippokratische Lehre von den vier Körpersäften, deren Fehlzusammensetzung Krankheiten verursacht, scheint in der MainstreamPsychiatrie immer noch gültig zu sein.
Es scheint, als wolle die Psychiatrie die Idee nicht aufgeben, die Störungen kämen aus dem Inneren des Kranken und von nirgendwoher sonst. Damit tut sie so, als ob die menschliche Psyche grundsätzlich narzisstisch sei und die Menschen sich nicht gegenseitig beeiflussen würden. Dieses hartnäckige Festhalten an der inneren Entstehung mentaler Krankheit hinkt selbst hinter der Entwicklung der Körpermedizin hinterher. Mit der Entdeckung der Bakterien gegen Ende des 19. Jahrhunderts hat diese nämlich eine historische Wende vollzogen, indem sie die Idee akzeptierte, dass Krankheit auch von einer äußeren Realität, mit der der Organismus in Berührung kommt, verursacht werden kann.
Vielleicht hat dieser Stillstand oder sogar Rückschritt der Psychiatrie mit der Unfähigkeit zu tun, eine bestimmte philoso
phische Grundaussage zu überwinden. Ich meine damit die Begriffe »rational« und »nicht rational« und die Tatsache, dass das abendländische Denken vom Begriff des Logos geprägt ist. Seit fast dreitausend Jahren besteht die Überzeugung, dass die Identität des Menschen im Gebrauch der Vernunft bestehe, in einem Denken, das von der messbaren Wahrnehmung der Dinge ausgeht, um dann die kausalen Verbindungen zwischen den wahrgenommenen Objekten zu erkennen.
Nun mache ich zeitlich einen Riesensprung und lande in der Literatur des 19. Jahrhunderts, bei Edgar Allen Poe (1842), Louis Stevenson (1886) und Bram Stoker (1897). Die Protagonisten ihrer Romane – der Rote Tod, Mr. Hyde und Dracula – spielen auf etwas an, das schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts als »unbewusst«, d. h. als prinzipiell dem Wissen entzogen, als nicht erkennbar deklariert worden war. Dieser angsteinflößende Begriff , »das Unbewusste«, hat dann die folgenden zwei Jahrhunderte beherrscht, und sein Primat kommt einem Forschungsverbot hinsichtlich der nichtbewussten Psyche gleich. Glücklicherweise gibt es aber auch andere Autoren und Denker, zum Beispiel Paracelsus und Giordano Bruno in der Nachrenaissance und dann Shakespeare. Und Maler wie Caravaggio, ganz zu schweigen von Cézanne, Braque, Picasso, Miró, sind bei der Erforschung des Nichtbewussten weiter vorgedrungen, als dies der Psychoanalyse bisher gelungen wäre.
Nehmen wir den historischen Durchbruch in der Malerei mit Picassos »Demoiselles
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d’Avignon« aus dem Jahr 1907. Nachdem er in seiner blauen und rosa Periode in genialer Weise Bilder gemalt hatte, die man als figure coscienti, als Abbilder von etwas vorher bewusst Wahrgenommenem beschreiben kann, betreibt er mit den Demoiselles eine Art Entstellung oder Zerstückelung der dargestellten Figuren. Diese Zerstörung des Figürlichen lässt aber etwas erscheinen, das kein Abbild von etwas vorher Wahrgenommenem ist, sondern meines Erachtens die Darstellung von etwas ist, das noch nie im Bewusstsein war. Hätte die Zerstörung der Figur nicht dieses Bild (immagine) von etwas Undefinierbarem hervorgebracht, dann wäre es zu einer psychotischen Zerrüttung der Darstellung gekommen. Nicht so bei Picasso, der an keiner Psychose litt.
Deshalb postulieren wir die Existenz von bildlichen Vorstellungen im Menschen, die keine definierbaren Figuren sind, und behaupten, dass diese inneren Bilder (immagi-ni) weniger mit der Wahrnehmung als mit dem Denken, also mit dem Erkenntnisprozess zu tun haben. Wenn man als Italiener dem Wort immagine nachgeht, stößt man auf das lateinische imago. Aber es gibt auch deutsche Wörter, die uns fasziniert haben: Abbild, Bild, Vorstellung. Im Italienischen gibt es dafür nichts Entsprechendes, deshalb haben wir die Unterscheidung zwischen dem Begriff figura (Figur, Abbild) und imma-gine (Bild, bildliche Vorstellung) eingeführt. Diese Unterscheidung ist eine Konsequenz unserer Annahme, dass das menschliche Denken bei der Geburt einsetzt, und zwar in der Form bildlicher Vorstellungen. Man kann diese inneren Bilder des Neugeborenen als nichtbewusst bezeichnen, auch wenn die Psyche des Säugling nicht die spätere scharfe Trennung zwischen bewusst und unbewusst kennt.
Die Geschichte der Analisi collettiva
Ich möchte diese Geschichte kurz skizzieren, wobei ich häufig den Vergleich mit Nietzsche vornehme. Nach Meinung vieler ist er der Denker, der sich am meisten dem Irrationalen angenähert hat. Viel mehr als Freud, der eigentlich die Erforschung des Unbewussten aus Leibeskräften verhindert hat, weil es auch ihm um die Stärkung der Vernunft dem Unbewussten gegenüber ging. Auch er betrachtete das Nichtbewusste als fascinans et tremendum, als etwas Anziehendes und gleichzeitig Ungeheuerliches, dessen Ausbruch den Menschen zerstört.
Es ist Nietzsches Verdienst, den ewigen Konflikt zwischen Rationalität und Irrationalem, zwischen Indifferenz und Leidenschaftlichkeit, bei dem die Passionen angeblich zum Verderben führen und innere Gleichgültigkeit als einzige Lösung übrig bleibt, als die Dialektik von Apollinischem und Dionysischem neu formuliert zu haben, wobei er dem Dionysischen seine Existenzberechtigung zugestand.
Ich erwähne das, weil die Geschichte der Analisi collettiva mit einem ungewöhnlichen und dionysischen Bild beginnt: dem spontanen Zustrom von Scharen von Menschen in einer Aula der Universität Rom.1 Es hat bei uns lange Diskussionen gegeben, was wohl die Gründe für diesen ungeplanten Zustrom von Aberhunderten waren. Vielleicht hatte es mit dem Übergang von bisogni zu esigenze zu tun, von den materiellen »Bedürfnissen«, die dank des Wirtschaftswachstums in den Siebzigerjahren befriedigt schienen, zu innerlichen »Ansprüchen«, darunter der auf psychische Gesundheit. Es gab die politischen Begleitumstände, so die Folgeerscheinungen der 68erBewegung mit dem Versuch, sich aus der Depression und dem inneren Chaos nach der vorigen Euphorie zu retten. Einer Euphorie, für die der Begriff »libération du désir« (Befreiung des Begehrens) mitverantwortlich ist, als ein schleichendes Gift, das in Bernardo Bertoluccis »The Dreamers« (2003) ganz gut dargestellt wird.
Ohne weiter auf die psychischen Schwierigkeiten der 68er einzugehen, möchte ich behaupten, dass es in der ganzen 68erPhilosophie keinen wirklichen Versuch gab, die menschliche Psyche besser zu verstehen. Vorherrschend war der von Foucault, Marcuse, Deleuze und Guattari untermauerte Gemeinplatz, dass das Problem nur in der Repression, in der Unterdrückung psychischer Regungen bestehe. Das setzt die Idee voraus, dass die Psyche des Individuums a priori existiert, so wie ein schönes Pflänzchen, auf das sich leider der dicke Stein der Repression gelegt hat. Und es reiche, den Stein fortzuwälzen, um all das zum Vorschein zu bringen, was psychisch schon immer da war. Damit halten diese Denker, die das Leben von Millionen junger Menschen beeinflusst haben, trotz der von ihnen vorgenommenen Umkehrung der Erbsünde in Erbgüte immer noch an der biblischen Idee fest, der Mensch sei als eine statische Einheit erschaffen worden, für die keine Weiterentwicklung vorgesehen ist.
Aber vielleicht muss ich mehr Mut aufbringen und behaupten, dass im Grunde auch
Marx dieselbe Idee teilt. Auch er fordert einzig die Befreiung von bestehender Unterdrückung. Untersuchungen über eine psychische Realität, die sich noch nicht gebildet hat, über Fähigkeiten der Psyche, die erst entstehen müssen, gibt es bei ihm nicht. Marx betreibt gewissermaßen eine Idealisierung der Unterdrückten, Entwurzelten und Unglücklichen. Die skandalöse Idee, dass es in den menschlichen Beziehungen manchmal so etwas wie eine Komplizität von Opfern und Tätern gibt, liegt ihm fern. Liliana Cavanis Film Der Nachtportier (1974) ist dem Extremfall einer solchen Komplizität gewidmet, aber auch im Alltagsleben gibt es Beispiele dafür. Es gibt Beziehungen, die wir als »sadomasochistisch« in psychischer Hinsicht bezeichnen,2 und häufig anzutreffen sind Konstellationen, bei denen sich ein gefühlsarmer (schizoider) und ein depressiver Partner auf Jahre zusammenfinden.
Zurück zum unglücklichen Genie Nietzsche, der die Befreiung des – nein, nicht des Unterdrückten, sondern eines »Anders« hinsichtlich der Vernunft propagiert hatte. Er nannte es das dionysische Element, das sich dem Apollinischen widersetzt. Aber dann gibt es leider diese Tatsache, dieses statement, dieses Bild, das sich hinter seiner Biografie abzeichnet. Mit dem genialen Rebell, der dem herrschenden Denken widerspricht, um nicht »le désir«, sondern das »Dionysische« zu befreien, nimmt es ein schlimmes Ende: er endet psychisch krank im Hause seiner Schwester in Weimar. Die Erfoschung des »mächtig Dionysischen«, das wir als die irrationale Dimension in der Psyche auffassen können, scheint unweigerlich mit dem Zusammenbruch des Individuums zu enden.
Nach all diesen Vorbemerkungen komme ich zurück zum Beginn eines sozialen Phänomens, das sehr bald den Namen Analisi collettiva (Kollektive Analyse) erhielt. Am 12.3.1978 berichtete die Tageszeitung Cor-riere della sera darüber auf der ersten Seite und nannte das, was ich als Zustrom von Hunderten bezeichnet habe, »Psychoanalyse als Großversammlung an der Universität«.3
Da ist er, dieser Mix von eigentlich unvereinbaren Begriffen: »psychoanalytisch«, »Großversammlung« und »Universität«. Das Phänomen Großversammlung, den »ungeplanten Zustrom von Aberhunderten«, könnte man in die große Kategorie Volksbewegung einordnen, indem man es als spontane Regung eines gewissen Teiles der Bevölkerung ansieht. So etwas ist nichts Neues;
Fagioli: Psychiatrie als Psychotherapie
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meist drückt es religiösen Eifer aus oder ist Zeichen politischen Aufruhrs. Man kennt solche sozialen Regungen aber nicht als Ausdruck von etwas, das ... der Ausdruck »wissenschaftlich« will mir nicht über die Zunge. Der einzige Begriff, der mir angebracht scheint, ist ricerca, Erforschung, Forschung.
Es ging diesen Zighunderten von Menschen aber nicht nur um die Erforschung der Psyche im Allgemeinen, sondern ich möchte behaupten, dass ihr Interesse von Anfang an jener mysteriösen Welt galt, die seit fast zweihundert Jahren den Namen »Unbewusstes« trägt. Und das Erforschen des Unbewussten seitens der »Masse« begann an einer elitären Einrichtung, der Universität.
Es gibt aber noch einen weiteren Widerspruch. Traditionell wird es als Aufgabe der Psychoanalyse gesehen, sich mit dem Unbewussten zu befassen, ausgehend von der psychoanalytischen Behandlung. Dabei wird angenommen, dass dieselbe ohne Bezahlung nicht reüssieren kann. Mit den klassischen vier Sitzungen pro Woche ergibt das eine enorme soziale Selektion, die aber nicht auf dem Schweregrad der Erkrankung beruht, sondern einzig auf dem Einkommen. Eine Analyse können sich nur die vermögenden Schichten leisten, aber es ist ziemlich lächerlich anzunehmen, ein gültige Erforschung der unbewussten Psyche könne sich auf die Untersuchung einiger weniger privilegierter Personen beschränken. In der Analisi colletti-va hat es von Beginn an keine Selektion bezüglich der finanziellen Mittel und damit der sozialen Schicht gegeben. Sechs Jahre lang, von 1975 – 1981, sind die viermal pro Woche stattfindenden Sitzungen gratis gewesen. Als wir dann 1981 von der Universität in private, mit Kosten verbundene Räumlichkeiten umzogen, wurde die Lösung gefunden, dass jeder Teilnehmende anonym einen freiwilligen Beitrag leisten kann, aber nicht muss.4 So war die Freiheit der Teilnahme für jeden gerettet. Die Gewährung dieser Freiheit und der Respekt vor der Identität des Individuums, die nicht nach seinen finanziellen Mittel eingeschätzt werden darf, sind meines Erachtens methodische Grundvoraussetzungen für eine glaubwürdige Untersuchung der Psyche.
Um es noch einmal zu sagen: Die Supervisionsseminare, zu denen die Universität den Verfasser 1975 eingeladen hatte, verwandelten sich schnell in den Zustrom von Hunderten unbekannter Personen, die spontan verlangten, dass man ihre Träume interpretiere – und der Psychiater tat es. Die Tatsa
che, dass die Universität das Ganze nicht wirklich annahm, sondern lediglich einige Jahre lang tolerierte, zeigt meines Erachtens, dass die Universität selbst nicht sonderlich daran interessiert war, Forschung über das Unbewusste zu betreiben. Ein Forschungsprozess in diesem Bereich ist zustande gekommen, weil eine Menge von unbekannten Personen die Beziehung zu einem bestimmten Psychiater aufgenommen hat, der gerade eine neue Theorie des Unbewussten vorgestellt hatte.5
In unseren Diskussionen taucht immer wieder die Frage auf, ob diese Spontanregung als Anfangsphase einer community, einer Halt gebenden sozialen Gemeinschaft, anzusehen ist oder ob es da noch irgendetwas anderes, nicht unmittelbar Wahrnehmbares gab. Ist dieser Zulauf der Anziehungskraft einer einzelnen Person mit ungewöhnlich starker Identität zuzuschreiben? Oder ist es denkbar – zugegebenermaßen mit einiger Mühe, denn es handelt sich um kaum ersichtliche Faktoren –, dass die Persönlichkeit des Psychiaters weniger wichtiger war als die von ihm vorgeschlagene Theorie?
Nun ist es unrealistisch anzunehmen, dass es einer Menge anonymer Personen unterschiedlichster sozialer Herkunft auf Anhieb gelungen sein soll, die Neuartigkeit eines theoretischen Ansatzes zu erfassen. Dennoch möchte ich die Hypothese aufstellen, dass in dieser Menge das intuitive Gefühl bestanden haben könnte, hier sei so etwas wie ein neuer Ansatz aufgetaucht. Die Ahnung, dass diesmal der Begriff des Unbewussten in ernsthafterer Weise als sonst angegangen wurde, was zu einer neuen Sichtweise der Psyche führen konnte.
Hinzuzufügen ist noch, dass dieser Massenzustrom von Anfang die Form psychotherapeutischer Großgruppen annahm, deren Grundprinzip sich unter dem Begriff frustra-zione (Frustration, Versagung) subsumieren lässt. Das entspricht der von dem Psychiater in seinem ersten Buch dargestellten Methodik.6 Es gab keine politisch anfeuernden Diskurse, wie sie damals üblich waren, und es wurden auch keine existenziellen Tröstungen verabreicht. Von Beginn an nahm der Zustrom von Hunderten eine klar strukturierte Form an, die von anfänglich zwei Stunden Gruppenpsychotherapie. Diese rigorose Gestaltung der Treffen – peinlich genauer Beginn, Verlauf, in dem der Psychia ter die Mitteilungen der Teilnehmenden interpretiert, und Ende nach zwei Stunden, die dann auf drei und schließlich vier erweitert
wurden – ist in den Jahrzehnten danach nie modifiziert worden. Wenn man hier wiederum Nietzsche bemüht, der poetisch von apollinisch und dionysisch spricht, statt von rational und irrational, oder an den Ende des 18. Jahrhunderts entstandenen Gegensatz von Klassik und Romantik denkt, sieht es so aus, als ob diese scheinbar unvereinbaren Gegensatzpaare in der Geschichte der Ana-lisi collettiva ihre Koexistenz gefunden hätten.
Damit ist die Untersuchung aber alles andere als abgeschlossen. Es gibt noch viele Fragen, die der Beantwortung harren, zum Beispiel die, warum es – unter der geschätzten Schirmherrschaft Pablo Picassos – in der mehr als dreißigjährigen Existenz dieses Kollektivs niemals zu zerstörerischen Gesten gekommen ist. In einer Riesengruppe, die anfangs durchaus psychotische Züge aufwies, bei der das Verhalten der Personen absolut frei war und von einer einzelnen Person auch gar nicht hätte im Zaume gehalten werden können, ist dieses Verhalten niemals in Gewalt ausgeartet. Wiederum die Frage: Ist das dem persönlichen Charisma oder meinetwegen den therapeutischen Fähigkeiten eines bestimmten Psychiaters zu verdanken? Träfe das zu, wäre das Ganze ebenso faszinierend wie deprimierend, weil es nicht wiederholbar wäre. Interessanter erscheint die Hypothese, dass die die Ana-lisi collettiva auszeichnende gewaltfreier Koexistenz von bewusster, sozialer Realität und Freisetzung verborgener, »primitiver« Dimensionen in der Psyche einem bestimmten, 1971 veröffentlichen theoretischen Ansatz zu verdanken ist. Schließlich geht die Teoria della nascita (Geburtstheorie) davon aus, dass dank einiger spezifischer Dynamiken bei der Geburt jedes Menschen eine Psyche entsteht, die von der Befindlichkeit der Mutter unbeeinflusst und von Beginn an beziehungsfähig ist. Falls diese »UrPsyche« dann nicht infolge zwischenmenschlicher Destruktivität Schaden leidet, bringt sie das hervor, was immer das Unbewusste genannt wird, aber in Wirklichkeit die Fähigkeit besitzt, die menschliche Realität in viel sensiblerer Weise zu erkennen, als dies dem Vernunftgebrauch möglich ist.
Setting, Übertragung, Deutung
Wir kommen hier zu einem Grundkonzept der psychodynamischen Behandlung, der Übertragung. Darunter versteht man im Allgemeinen die angeblich unausweichliche Tendenz des Patienten, Bilder der Eltern auf
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die Figur des Analytikers zu übertragen. Der klassische Begriff der Übertragung beinhaltet, dass es in der Sitzung keine reale Beziehung zum Analytiker selbst gibt, weil der Analytiker immer jemand anderen darstellt. Damit wird aber eigentlich eine Situation postuliert, die monstruös ist, weil sie den Realitätsbezug verloren hat. Der Analytiker, der doch da ist, gibt sich nicht als jemand mit einer bestimmten Realität, mit der der Patient in Beziehung tritt; statt mit einer konkreten Person, soll sich der Patient mit Erscheinungen aus der Vergangenheit befassen.
In der Geschichte der Analisi collettiva gab es von Beginn an die direkte Beziehung zu einer Person, die am Anfang wohl hauptsächlich als Autor bestimmter Bücher gesehen wurde. Wenn wir nun trotz aller Kritik den Begriff Übertragung weiter verwenden, tun wir dies, indem wir seinen herkömmlichen Inhalt völlig umdrehen. Wir sehen die Übertragungssituation als eine Beziehung an, die realer ist als die meisten anderen Beziehungen. Dahinter steht die Behauptung, dass menschliche Beziehungen nur dann real werden – so real, dass sie Wahrheitscharakter erhalten – wenn die nichtbewusste Psyche ins Spiel kommt. Dabei wird seit Jahrtausenden das Gegenteil gelehrt, nämlich dass die Möglichkeit menschlicher Beziehung nur dann bestehe, wenn das Unbewusste, als verrückte antisoziale Dimension gesehen, ausgeschaltet sei.
Unseres Erachtens kann eine psychiatrische Beziehung, die auf Heilung abzielt, nur dann zustande kommen, wenn es zu einer Beziehung kommt, bei der die normale Befindlichkeit, das luzide Bewusstsein und Verhalten sozusagen in Klammern gesetzt werden, wenn es innerhalb des therapeutischen Settings gelingt, eine Indifferenz der Außenwelt gegenüber zu verwirklichen, die
aber kein Annullieren oder Negieren des Bestehenden ist.
Denn vielleicht kann man annehmen, dass die menschlichen Beziehungen, so wie sie augenblicklich üblich sind, nämlich vor allem rational, unserer Psyche Schaden zufügen. Ich stelle mir deshalb den Beginn jeder therapeutischen Gruppensitzung als etwas vor, das unbewusst das Bild von der Geburtssituation vorschlägt: den initialen Moment, in dem das Neugeborene die für ihn bedrohliche Außenwelt »wegdenkt«.
So kann ich endlich ein wenig Theorie auspacken und behaupten: Lässt man es zu, dass in der therapeutischen Sitzung eine rea le nichtbewusste Beziehung entsteht, kann es zu einer Wiedererschaffung – nicht Wiederholung – jener ersten zwischenmenschlichen Beziehung kommen, die jedes Kind erlebt. Die Fähigkeit zu der Beziehung mit der Mutterbrust, die jedem Kind eigen ist, ist unseres Erachtens die Konsequenz einer primordialen psychischen Realität, die wir Verschwindensfantasie nennen. Ihr ist die Entstehung der ersten mentalen Bilder zu verdanken, und dank ihrer realisiert das Kind etwas Grundsätzliches: nämlich dass sich die Identität des Menschen nicht in der Beziehung zur unbelebten Natur ausdrückt, sondern in den zwischenmenschlichen Beziehungen.
Anmerkungen
1 Ab dem Herbst 1975 hielt Fagioli Supervisions
kurs für junge Psychiater an der Universität Rom
ab. Unbeabsichtigt stellten sich immer mehr Per
sonen ein, bis sich Anfang 1976 in der brechend
vollen Aula eine unbekannte junge Frau meldete,
sie wolle einen Traum erzählen. Als sich Fagioli
darauf einließ, verstärkte sich der Zustrom weiter,
während die jungen Psychiater das Weite suchten.
Innerhalb kurzer Zeit gab es aufgrund der An
frage vier solcher »Seminare«, an denen jeweils
100 bis 200 Personen teilnahmen und in denen
sich Fagioli mit den Träumen der Anwesenden
auseinandersetzte. Diese »Seminare« bzw. thera
peutischen Großgruppen, die wöchentlich abge
halten werden, bestehen weiterhin, seit nunmehr
38 Jahren. Von Teilen der italienischen Presse sind
sie jahrzehntelang als Gefolgsschar eines Gurus
dargestellt worden. Die Psychiater und Psychothe
rapeuten, die 1992 die Zeitschrift »Il sogno della
farfalla« gegründet haben, nehmen zumeist an
diesen »Seminaren« teil. [A. d. Ü.]
2 Mit »sadomasochistischer Beziehungsdynamik«
ist eine Beziehung gemeint, in der die Partner sich
gegenseitig als Opfer des anderen erleben, der
als sadistisch und gemein erlebt wird, ohne sich
aber trennen zu können: »Ich kann weder mit dir
noch ohne dich leben.« Vgl. M. Fagioli, Todestrieb
und Erkenntnis (1972), Stroemfeld, Frankfurt a. M.
2011, Kapitel I. [A. d. Ü.]
3 G. Zincone, Psicoanalisi d’assemblea all’ Univer
sità, Corriere della Sera, 12.3.1978.
4 Wer will, steckt beim Herausgehen einen von
ihm selbst bemessenen Obolus, dessen Höhe nie
mandem mitgeteilt wird, in einen Plastiksack. In
der Analisi collettiva wird auch nie nach der Her
kunft oder dem Beruf der Teilnehmer gefragt, ihre
Namen sind meistens unbekannt. [ A. d. Ü.]
5 Im Zeitraum 1972 – 1975 hatte Fagioli die fol
genden Bücher veröffentlicht: 1972 Istinto di mor
te e conoscenza (Todestrieb und Erkenntnis, cit.),
1974 La marionetta e il burattino, 1975 Teoria del
la nascita e castrazione umana. [A. d. Ü.]
6 Vgl. M. Fagioli, Todestrieb und Erkenntnis, cit.,
Kapitel I.
Der Autor
Massimo [email protected]: [email protected]
Fagioli: Psychiatrie als Psychotherapie