massimo fagioli, psychiatrie als psychotherapie

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sozial psychiatrische informationen 4/2014 44. Jahrgang ISSN 0171 - 4538 Verlag: Psychiatrie Verlag GmbH, Ursulaplatz 1, 50668 Köln, Tel. 0221 167989-11, Fax 0221 167989-20 www.psychiatrie-verlag.de, E-Mail: [email protected] Erscheinungsweise: Januar, April, Juli, Oktober Abonnement: Print für Privatkunden jährlich 38,- Euro einschl. Porto, Ausland 38,- Euro zzgl. 15 Euro Versandkostenpauschale. Das Abonnement gilt jeweils für ein Jahr. Es verlängert sich automatisch, wenn es nicht bis zum 30.9. des laufenden Jahres schriftlich gekündigt wird. Bestellungen nimmt der Verlag entgegen. Redaktionsanschrift: beta89, Günther-Wagner-Allee 13, 30177 Hannover Redaktionssekretariat: Peter Weber Tel. 0511 1238282 , Fax 0511 1238299 E-Mail: [email protected] Redaktion: Peter Brieger, Kempten Michael Eink, Hannover Hermann Elgeti, Hannover Helmut Haselbeck, Bremen Gunther Kruse, Langenhagen Sibylle Prins, Bielefeld Kathrin Reichel, Berlin Renate Schernus, Bielefeld Ulla Schmalz, Düsseldorf Ralf Seidel, Mönchengladbach Annette Theißing, Hannover Peter Weber, Hannover Dyrk Zedlick, Glauchau Sonderdruck Psychiatrie als Psychotherapie Zusammenfassung Der Text besteht aus Ausschnitten von ausführlichen Überlegungen des Autors aus dem Jahr 2004 zum Verhältnis von Psychiatrie und Psychotherapie. Diese Auswahl beginnt mit dem Hinweis, wie sehr Psychiatrie und Psychotherapie von der europäischen Geistesgeschichte abhängen. Diese ist von der Idee der Vernunft und der Rationalität als Identitätsmerkmal des Menschen geprägt, was eine Verteufelung (oder im Gegenzug dazu manchmal auch eine Idealisierung) des Irrationalen und der nichtbewussten Psyche mit sich bringt. Dann folgen Anmerkungen zu der Entstehungsgeschichte der Analisi collettiva, der spontan entstandenen therapeutischen Großgruppen, in die Fagioli seit 1975 involviert ist. Von den drei Konzepten, die der Autor für Kernbegriffe der Behandlung hält – therapeutisches Setting, Übertragung, Deutung der Beziehungsdynamik –, sind Bemerkungen zum Begriff Übertragung ausgewählt worden, die diesen Begriff neu definieren. Autor: Massimo Fagioli Seiten 34 –37 Was uns bewegt – Ein Heft aus der Mitte der Redaktion

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Sozialpsychiatrische informationen 4/2014 – 44. Jahrgang

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Page 1: Massimo Fagioli, Psychiatrie als Psychotherapie

sozialpsychiatrischeinformationen

4/2014 – 44. Jahrgang

ISSN 0171 - 4538

Verlag: Psychiatrie Verlag GmbH, Ursulaplatz 1, 50668 Köln, Tel. 0221 167989-11, Fax 0221 167989-20www.psychiatrie-verlag.de, E-Mail: [email protected]

Erscheinungsweise: Januar, April, Juli, Oktober

Abonnement: Print für Privatkunden jährlich 38,- Euro einschl. Porto, Ausland 38,- Euro zzgl. 15 Euro Versandkostenpauschale. Das Abonnement gilt jeweils für ein Jahr. Es verlängert sich automatisch, wenn es nicht bis zum 30.9. des laufenden Jahres schriftlich gekündigt wird. Bestellungen nimmt der Verlag entgegen.

Redaktionsanschrift: beta89, Günther-Wagner-Allee 13, 30177 Hannover

Redaktionssekretariat: Peter Weber Tel. 0511 1238282 , Fax 0511 1238299E-Mail: [email protected]

Redaktion:Peter Brieger, KemptenMichael Eink, HannoverHermann Elgeti, HannoverHelmut Haselbeck, Bremen Gunther Kruse, LangenhagenSibylle Prins, Bielefeld

Kathrin Reichel, BerlinRenate Schernus, BielefeldUlla Schmalz, DüsseldorfRalf Seidel, MönchengladbachAnnette Theißing, HannoverPeter Weber, HannoverDyrk Zedlick, Glauchau

Sonderdruck

Psychiatrie als Psychotherapie

Zusammenfassung Der Text besteht aus Ausschnitten von ausführlichen Überlegungen des Autors aus dem Jahr 2004 zum Verhältnis von Psychiatrie und Psychotherapie. Diese Auswahl beginnt mit dem Hinweis, wie sehr Psychiatrie und Psychotherapie von der europäischen Geistesgeschichte abhängen. Diese ist von der Idee der Vernunft und der Rationalität als Identitätsmerkmal des Menschen geprägt, was eine Verteufelung (oder im Gegenzug dazu manchmal auch eine Idealisierung) des Irrationalen und der nichtbewussten Psyche mit sich bringt. Dann folgen Anmerkungen zu der Entstehungsgeschichte der Analisi collettiva, der spontan entstandenen therapeutischen Großgruppen, in die Fagioli seit 1975 involviert ist. Von den drei Konzepten, die der Autor für Kernbegriffe der Behandlung hält – therapeutisches Setting, Übertragung, Deutung der Beziehungsdynamik –, sind Bemerkungen zum Begriff Übertragung ausgewählt worden, die diesen Begriff neu definieren.

Autor: Massimo Fagioli Seiten 34 –37

Was uns bewegt – Ein Heft aus der Mitte der Redaktion

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Psychiatrie als Psychotherapie

Zusammenfassung Der Text besteht aus Ausschnitten von ausführlichen Überlegungen des Autors aus dem Jahr 2004 zum Verhältnis von Psychiatrie und Psychotherapie. Diese Auswahl beginnt mit dem Hinweis, wie sehr Psychiatrie und Psychotherapie von der europäischen Geistesgeschichte abhängen. Diese ist von der Idee der Vernunft und der Rationalität als Identitätsmerkmal des Menschen geprägt, was eine Verteufelung (oder im Gegenzug dazu manchmal auch eine Idealisierung) des Irrationalen und der nichtbewussten Psyche mit sich bringt. Dann folgen Anmerkungen zu der Entstehungs-geschichte der Analisi collettiva, der spontan entstandenen therapeutischen Großgrup-pen, in die Fagioli seit 1975 involviert ist. Von den drei Konzepten, die der Autor für Kernbegriffe der Behandlung hält – therapeutisches Setting, Übertragung, Deutung der Beziehungsdynamik –, sind Bemerkungen zum Begriff Übertragung ausgewählt worden, die diesen Begriff neu definieren.

Autor: Massimo Fagioli

Wir fassen die Psychiatrie als einen Bereich auf, der sich nicht mit den Störungen des Körperorgans Gehirn befasst, sondern mit den Erkrankungen der Psyche, und schon daraus ergeben sich grundsätzliche Unter­schiede zur Körpermedizin. Die Psychiatrie hat eine andere Identität als die somatische Medizin. Der Begriff Psychotherapie macht alles aber noch komplizierter, denn er bein­haltet auch die Auseinandersetzung mit den bestehenden kulturellen und philosophi­schen Strömungen, mit den verschiedenen Entwicklungen der Gedankengeschichte. Die Psychotherapie ist nicht nur Heilkunst, sondern auch und vielleicht vor allem Geis­teswissenschaft.

Studien über die Anatomie und Physiologie des Körpers gehören zweifellos zum Bereich der Wissenschaft. Aber wir sind zu der Auf­fassung gelangt, dass sich die Körpermedi­zin nicht mit dem befasst, was das spezifisch Menschliche ausmacht. Das spezifisch Hu­mane hat mit dem Denken, mit der mensch­lichen Psyche und ihrer Funktionsweise zu tun, die sich von derjenigen der Tiere in we­sentlichen Punkten unterscheidet. Für den menschlichen Körper gilt dies nicht in so radikaler Weise.

Dennoch ist der Psychiatrie als einem Zweig der Medizin eine wirkliche Autonomie von der Körpermedizin noch nicht gelungen. Das hat zur Folge, dass sie in ihren Forschungen die Methodik der experimentellen Medizin mit sich herumschleppt. Noch relevanter ist, dass die psychiatrische Behandlung weiter­hin von der Idee ausgeht, man müsse äuße­re Substanzen in den Körper einführen, um

die Psyche zu modifizieren. Dahnter steht eine vielleicht nicht bewusst reflektierte, aber agierte Lesart psychischer Krankheit: Psychische Störungen entstünden, wenn be­stimmte Substanzen nicht in der richtigen Menge vom Körper produziert werden. Psy­chische Störungen werden nicht mehr da­rauf zurückgeführt, dass es zum Verlust von Hirngewebe gekommen ist, aber die Grund­idee einer pathologisch veränderten Sekre­tion körpereigenener Substanzen besteht weiter. Die sogenannte Humoralpathologie, d. h. die uralte hippokratische Lehre von den vier Körpersäften, deren Fehlzusammenset­zung Krankheiten verursacht, scheint in der Mainstream­Psychiatrie immer noch gültig zu sein.

Es scheint, als wolle die Psychiatrie die Idee nicht aufgeben, die Störungen kämen aus dem Inneren des Kranken und von nirgend­woher sonst. Damit tut sie so, als ob die menschliche Psyche grundsätzlich narziss­tisch sei und die Menschen sich nicht gegen­seitig beeiflussen würden. Dieses hartnä­ckige Festhalten an der inneren Entstehung mentaler Krankheit hinkt selbst hinter der Entwicklung der Körpermedizin hinterher. Mit der Entdeckung der Bakterien gegen Ende des 19. Jahrhunderts hat diese nämlich eine historische Wende vollzogen, indem sie die Idee akzeptierte, dass Krankheit auch von einer äußeren Realität, mit der der Or­ganismus in Berührung kommt, verursacht werden kann.

Vielleicht hat dieser Stillstand oder sogar Rückschritt der Psychiatrie mit der Unfä­higkeit zu tun, eine bestimmte philoso­

phische Grundaussage zu überwinden. Ich meine damit die Begriffe »rational« und »nicht rational« und die Tatsache, dass das abendländische Denken vom Begriff des Lo­gos geprägt ist. Seit fast dreitausend Jahren besteht die Überzeugung, dass die Identität des Menschen im Gebrauch der Vernunft be­stehe, in einem Denken, das von der mess­baren Wahrnehmung der Dinge ausgeht, um dann die kausalen Verbindungen zwi­schen den wahrgenommenen Objekten zu erkennen.

Nun mache ich zeitlich einen Riesensprung und lande in der Literatur des 19. Jahrhun­derts, bei Edgar Allen Poe (1842), Louis Ste­venson (1886) und Bram Stoker (1897). Die Protagonisten ihrer Romane – der Rote Tod, Mr. Hyde und Dracula – spielen auf etwas an, das schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts als »unbewusst«, d. h. als prinzipiell dem Wissen entzogen, als nicht erkennbar dekla­riert worden war. Dieser angsteinflößende Begriff , »das Unbewusste«, hat dann die fol­genden zwei Jahrhunderte beherrscht, und sein Primat kommt einem Forschungsver­bot hinsichtlich der nichtbewussten Psyche gleich. Glücklicherweise gibt es aber auch andere Autoren und Denker, zum Beispiel Paracelsus und Giordano Bruno in der Nach­renaissance und dann Shakespeare. Und Maler wie Caravaggio, ganz zu schweigen von Cézanne, Braque, Picasso, Miró, sind bei der Erforschung des Nichtbewussten weiter vorgedrungen, als dies der Psychoanalyse bisher gelungen wäre.

Nehmen wir den historischen Durchbruch in der Malerei mit Picassos »Demoiselles

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d’Avignon« aus dem Jahr 1907. Nachdem er in seiner blauen und rosa Periode in genia­ler Weise Bilder gemalt hatte, die man als figure coscienti, als Abbilder von etwas vor­her bewusst Wahrgenommenem beschrei­ben kann, betreibt er mit den Demoiselles eine Art Entstellung oder Zerstückelung der dargestellten Figuren. Diese Zerstörung des Figürlichen lässt aber etwas erscheinen, das kein Abbild von etwas vorher Wahrgenom­menem ist, sondern meines Erachtens die Darstellung von etwas ist, das noch nie im Bewusstsein war. Hätte die Zerstörung der Figur nicht dieses Bild (immagine) von et­was Undefinierbarem hervorgebracht, dann wäre es zu einer psychotischen Zerrüttung der Darstellung gekommen. Nicht so bei Pi­casso, der an keiner Psychose litt.

Deshalb postulieren wir die Existenz von bildlichen Vorstellungen im Menschen, die keine definierbaren Figuren sind, und be­haupten, dass diese inneren Bilder (immagi-ni) weniger mit der Wahrnehmung als mit dem Denken, also mit dem Erkenntnispro­zess zu tun haben. Wenn man als Italiener dem Wort immagine nachgeht, stößt man auf das lateinische imago. Aber es gibt auch deutsche Wörter, die uns fasziniert haben: Abbild, Bild, Vorstellung. Im Italienischen gibt es dafür nichts Entsprechendes, deshalb haben wir die Unterscheidung zwischen dem Begriff figura (Figur, Abbild) und imma-gine (Bild, bildliche Vorstellung) eingeführt. Diese Unterscheidung ist eine Konsequenz unserer Annahme, dass das menschliche Denken bei der Geburt einsetzt, und zwar in der Form bildlicher Vorstellungen. Man kann diese inneren Bilder des Neugebo­renen als nichtbewusst bezeichnen, auch wenn die Psyche des Säugling nicht die spä­tere scharfe Trennung zwischen bewusst und unbewusst kennt.

Die Geschichte der Analisi collettiva

Ich möchte diese Geschichte kurz skiz­zieren, wobei ich häufig den Vergleich mit Nietzsche vornehme. Nach Meinung vieler ist er der Denker, der sich am meisten dem Irrationalen angenähert hat. Viel mehr als Freud, der eigentlich die Erforschung des Unbewussten aus Leibeskräften verhin­dert hat, weil es auch ihm um die Stärkung der Vernunft dem Unbewussten gegen­über ging. Auch er betrachtete das Nicht­bewusste als fascinans et tremendum, als etwas Anziehendes und gleichzeitig Un­geheuerliches, dessen Ausbruch den Men­schen zerstört.

Es ist Nietzsches Verdienst, den ewigen Konflikt zwischen Rationalität und Irratio­nalem, zwischen Indifferenz und Leiden­schaftlichkeit, bei dem die Passionen an­geblich zum Verderben führen und innere Gleichgültigkeit als einzige Lösung übrig bleibt, als die Dialektik von Apollinischem und Dionysischem neu formuliert zu haben, wobei er dem Dionysischen seine Existenz­berechtigung zugestand.

Ich erwähne das, weil die Geschichte der Analisi collettiva mit einem ungewöhnlichen und dionysischen Bild beginnt: dem spon­tanen Zustrom von Scharen von Menschen in einer Aula der Universität Rom.1 Es hat bei uns lange Diskussionen gegeben, was wohl die Gründe für diesen ungeplanten Zustrom von Aberhunderten waren. Vielleicht hatte es mit dem Übergang von bisogni zu esigenze zu tun, von den materiellen »Bedürfnissen«, die dank des Wirtschaftswachstums in den Siebzigerjahren befriedigt schienen, zu in­nerlichen »Ansprüchen«, darunter der auf psychische Gesundheit. Es gab die politischen Begleitumstände, so die Folgeerscheinungen der 68er­Bewegung mit dem Versuch, sich aus der Depression und dem inneren Chaos nach der vorigen Euphorie zu retten. Einer Euphorie, für die der Begriff »libération du désir« (Befreiung des Begehrens) mitverant­wortlich ist, als ein schleichendes Gift, das in Bernardo Bertoluccis »The Dreamers« (2003) ganz gut dargestellt wird.

Ohne weiter auf die psychischen Schwie­rigkeiten der 68er einzugehen, möchte ich behaupten, dass es in der ganzen 68er­Phi­losophie keinen wirklichen Versuch gab, die menschliche Psyche besser zu verstehen. Vor­herrschend war der von Foucault, Marcuse, Deleuze und Guattari untermauerte Gemein­platz, dass das Problem nur in der Repression, in der Unterdrückung psychischer Regungen bestehe. Das setzt die Idee voraus, dass die Psyche des Individuums a priori existiert, so wie ein schönes Pflänzchen, auf das sich lei­der der dicke Stein der Repression gelegt hat. Und es reiche, den Stein fortzuwälzen, um all das zum Vorschein zu bringen, was psy­chisch schon immer da war. Damit halten diese Denker, die das Leben von Millionen junger Menschen beeinflusst haben, trotz der von ihnen vorgenommenen Umkehrung der Erbsünde in Erbgüte immer noch an der biblischen Idee fest, der Mensch sei als eine statische Einheit erschaffen worden, für die keine Weiterentwicklung vorgesehen ist.

Aber vielleicht muss ich mehr Mut aufbrin­gen und behaupten, dass im Grunde auch

Marx dieselbe Idee teilt. Auch er fordert einzig die Befreiung von bestehender Un­terdrückung. Untersuchungen über eine psychische Realität, die sich noch nicht gebildet hat, über Fähigkeiten der Psyche, die erst entstehen müssen, gibt es bei ihm nicht. Marx betreibt gewissermaßen eine Idealisierung der Unterdrückten, Entwurzel­ten und Unglücklichen. Die skandalöse Idee, dass es in den menschlichen Beziehungen manchmal so etwas wie eine Komplizität von Opfern und Tätern gibt, liegt ihm fern. Liliana Cavanis Film Der Nachtportier (1974) ist dem Extremfall einer solchen Komplizität gewidmet, aber auch im Alltagsleben gibt es Beispiele dafür. Es gibt Beziehungen, die wir als »sadomasochistisch« in psychischer Hin­sicht bezeichnen,2 und häufig anzutreffen sind Konstellationen, bei denen sich ein ge­fühlsarmer (schizoider) und ein depressiver Partner auf Jahre zusammenfinden.

Zurück zum unglücklichen Genie Nietzsche, der die Befreiung des – nein, nicht des Unter­drückten, sondern eines »Anders« hinsicht­lich der Vernunft propagiert hatte. Er nann­te es das dionysische Element, das sich dem Apollinischen widersetzt. Aber dann gibt es leider diese Tatsache, dieses statement, die­ses Bild, das sich hinter seiner Biografie ab­zeichnet. Mit dem genialen Rebell, der dem herrschenden Denken widerspricht, um nicht »le désir«, sondern das »Dionysische« zu befreien, nimmt es ein schlimmes Ende: er endet psychisch krank im Hause seiner Schwester in Weimar. Die Erfoschung des »mächtig Dionysischen«, das wir als die ir­rationale Dimension in der Psyche auffassen können, scheint unweigerlich mit dem Zu­sammenbruch des Individuums zu enden.

Nach all diesen Vorbemerkungen komme ich zurück zum Beginn eines sozialen Phä­nomens, das sehr bald den Namen Analisi collettiva (Kollektive Analyse) erhielt. Am 12.3.1978 berichtete die Tageszeitung Cor-riere della sera darüber auf der ersten Seite und nannte das, was ich als Zustrom von Hunderten bezeichnet habe, »Psychoana­lyse als Großversammlung an der Universi­tät«.3

Da ist er, dieser Mix von eigentlich unver­einbaren Begriffen: »psychoanalytisch«, »Großversammlung« und »Universität«. Das Phänomen Großversammlung, den »un­geplanten Zustrom von Aberhunderten«, könnte man in die große Kategorie Volksbe­wegung einordnen, indem man es als spon­tane Regung eines gewissen Teiles der Bevöl­kerung ansieht. So etwas ist nichts Neues;

Fagioli: Psychiatrie als Psychotherapie

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meist drückt es religiösen Eifer aus oder ist Zeichen politischen Aufruhrs. Man kennt solche sozialen Regungen aber nicht als Aus­druck von etwas, das ... der Ausdruck »wis­senschaftlich« will mir nicht über die Zun­ge. Der einzige Begriff, der mir angebracht scheint, ist ricerca, Erforschung, Forschung.

Es ging diesen Zighunderten von Menschen aber nicht nur um die Erforschung der Psy­che im Allgemeinen, sondern ich möchte behaupten, dass ihr Interesse von Anfang an jener mysteriösen Welt galt, die seit fast zweihundert Jahren den Namen »Unbe­wusstes« trägt. Und das Erforschen des Un­bewussten seitens der »Masse« begann an einer elitären Einrichtung, der Universität.

Es gibt aber noch einen weiteren Wider­spruch. Traditionell wird es als Aufgabe der Psychoanalyse gesehen, sich mit dem Un­bewussten zu befassen, ausgehend von der psychoanalytischen Behandlung. Dabei wird angenommen, dass dieselbe ohne Bezahlung nicht reüssieren kann. Mit den klassischen vier Sitzungen pro Woche ergibt das eine enorme soziale Selektion, die aber nicht auf dem Schweregrad der Erkrankung beruht, sondern einzig auf dem Einkommen. Eine Analyse können sich nur die vermögenden Schichten leisten, aber es ist ziemlich lächer­lich anzunehmen, ein gültige Erforschung der unbewussten Psyche könne sich auf die Untersuchung einiger weniger privilegierter Personen beschränken. In der Analisi colletti-va hat es von Beginn an keine Selektion be­züglich der finanziellen Mittel und damit der sozialen Schicht gegeben. Sechs Jahre lang, von 1975 – 1981, sind die viermal pro Woche stattfindenden Sitzungen gratis gewesen. Als wir dann 1981 von der Universität in pri­vate, mit Kosten verbundene Räumlichkeiten umzogen, wurde die Lösung gefunden, dass jeder Teilnehmende anonym einen freiwilli­gen Beitrag leisten kann, aber nicht muss.4 So war die Freiheit der Teilnahme für jeden ge­rettet. Die Gewährung dieser Freiheit und der Respekt vor der Identität des Individuums, die nicht nach seinen finanziellen Mittel ein­geschätzt werden darf, sind meines Erach­tens methodische Grundvoraussetzungen für eine glaubwürdige Untersuchung der Psyche.

Um es noch einmal zu sagen: Die Supervisi­onsseminare, zu denen die Universität den Verfasser 1975 eingeladen hatte, verwan­delten sich schnell in den Zustrom von Hun­derten unbekannter Personen, die spontan verlangten, dass man ihre Träume interpre­tiere – und der Psychiater tat es. Die Tatsa­

che, dass die Universität das Ganze nicht wirklich annahm, sondern lediglich einige Jahre lang tolerierte, zeigt meines Erachtens, dass die Universität selbst nicht sonderlich daran interessiert war, Forschung über das Unbewusste zu betreiben. Ein Forschungs­prozess in diesem Bereich ist zustande gekommen, weil eine Menge von unbe­kannten Personen die Beziehung zu einem bestimmten Psychiater aufgenommen hat, der gerade eine neue Theorie des Unbewuss­ten vorgestellt hatte.5

In unseren Diskussionen taucht immer wie­der die Frage auf, ob diese Spontanregung als Anfangsphase einer community, einer Halt gebenden sozialen Gemeinschaft, an­zusehen ist oder ob es da noch irgendetwas anderes, nicht unmittelbar Wahrnehmbares gab. Ist dieser Zulauf der Anziehungskraft einer einzelnen Person mit ungewöhnlich starker Identität zuzuschreiben? Oder ist es denkbar – zugegebenermaßen mit einiger Mühe, denn es handelt sich um kaum er­sichtliche Faktoren –, dass die Persönlichkeit des Psychiaters weniger wichtiger war als die von ihm vorgeschlagene Theorie?

Nun ist es unrealistisch anzunehmen, dass es einer Menge anonymer Personen unter­schiedlichster sozialer Herkunft auf Anhieb gelungen sein soll, die Neuartigkeit eines theoretischen Ansatzes zu erfassen. Den­noch möchte ich die Hypothese aufstellen, dass in dieser Menge das intuitive Gefühl be­standen haben könnte, hier sei so etwas wie ein neuer Ansatz aufgetaucht. Die Ahnung, dass diesmal der Begriff des Unbewussten in ernsthafterer Weise als sonst angegangen wurde, was zu einer neuen Sichtweise der Psyche führen konnte.

Hinzuzufügen ist noch, dass dieser Massen­zustrom von Anfang die Form psychothe­rapeutischer Großgruppen annahm, deren Grundprinzip sich unter dem Begriff frustra-zione (Frustration, Versagung) subsumieren lässt. Das entspricht der von dem Psychiater in seinem ersten Buch dargestellten Me­thodik.6 Es gab keine politisch anfeuernden Diskurse, wie sie damals üblich waren, und es wurden auch keine existenziellen Trös­tungen verabreicht. Von Beginn an nahm der Zustrom von Hunderten eine klar struk­turierte Form an, die von anfänglich zwei Stunden Gruppenpsychotherapie. Diese ri­gorose Gestaltung der Treffen – peinlich ge­nauer Beginn, Verlauf, in dem der Psychia ter die Mitteilungen der Teilnehmenden inter­pretiert, und Ende nach zwei Stunden, die dann auf drei und schließlich vier erweitert

wurden – ist in den Jahrzehnten danach nie modifiziert worden. Wenn man hier wie­derum Nietzsche bemüht, der poetisch von apollinisch und dionysisch spricht, statt von rational und irrational, oder an den Ende des 18. Jahrhunderts entstandenen Gegensatz von Klassik und Romantik denkt, sieht es so aus, als ob diese scheinbar unvereinbaren Gegensatzpaare in der Geschichte der Ana-lisi collettiva ihre Koexistenz gefunden hät­ten.

Damit ist die Untersuchung aber alles an­dere als abgeschlossen. Es gibt noch viele Fragen, die der Beantwortung harren, zum Beispiel die, warum es – unter der geschätz­ten Schirmherrschaft Pablo Picassos – in der mehr als dreißigjährigen Existenz dieses Kollektivs niemals zu zerstörerischen Ges­ten gekommen ist. In einer Riesengruppe, die anfangs durchaus psychotische Züge aufwies, bei der das Verhalten der Personen absolut frei war und von einer einzelnen Person auch gar nicht hätte im Zaume ge­halten werden können, ist dieses Verhalten niemals in Gewalt ausgeartet. Wiederum die Frage: Ist das dem persönlichen Charis­ma oder meinetwegen den therapeutischen Fähigkeiten eines bestimmten Psychiaters zu verdanken? Träfe das zu, wäre das Ganze ebenso faszinierend wie deprimierend, weil es nicht wiederholbar wäre. Interessanter erscheint die Hypothese, dass die die Ana-lisi collettiva auszeichnende gewaltfreier Koexistenz von bewusster, sozialer Realität und Freisetzung verborgener, »primitiver« Dimensionen in der Psyche einem bestimm­ten, 1971 veröffentlichen theoretischen An­satz zu verdanken ist. Schließlich geht die Teoria della nascita (Geburtstheorie) davon aus, dass dank einiger spezifischer Dyna­miken bei der Geburt jedes Menschen eine Psyche entsteht, die von der Befindlichkeit der Mutter unbeeinflusst und von Beginn an beziehungsfähig ist. Falls diese »Ur­Psy­che« dann nicht infolge zwischenmensch­licher Destruktivität Schaden leidet, bringt sie das hervor, was immer das Unbewusste genannt wird, aber in Wirklichkeit die Fä­higkeit besitzt, die menschliche Realität in viel sensiblerer Weise zu erkennen, als dies dem Vernunftgebrauch möglich ist.

Setting, Übertragung, Deutung

Wir kommen hier zu einem Grundkonzept der psychodynamischen Behandlung, der Übertragung. Darunter versteht man im All­gemeinen die angeblich unausweichliche Tendenz des Patienten, Bilder der Eltern auf

Was uns bewegt

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die Figur des Analytikers zu übertragen. Der klassische Begriff der Übertragung beinhal­tet, dass es in der Sitzung keine reale Bezie­hung zum Analytiker selbst gibt, weil der Analytiker immer jemand anderen darstellt. Damit wird aber eigentlich eine Situation postuliert, die monstruös ist, weil sie den Realitätsbezug verloren hat. Der Analytiker, der doch da ist, gibt sich nicht als jemand mit einer bestimmten Realität, mit der der Patient in Beziehung tritt; statt mit einer konkreten Person, soll sich der Patient mit Erscheinungen aus der Vergangenheit be­fassen.

In der Geschichte der Analisi collettiva gab es von Beginn an die direkte Beziehung zu einer Person, die am Anfang wohl haupt­sächlich als Autor bestimmter Bücher gese­hen wurde. Wenn wir nun trotz aller Kritik den Begriff Übertragung weiter verwenden, tun wir dies, indem wir seinen herkömm­lichen Inhalt völlig umdrehen. Wir sehen die Übertragungssituation als eine Beziehung an, die realer ist als die meisten anderen Beziehungen. Dahinter steht die Behaup­tung, dass menschliche Beziehungen nur dann real werden – so real, dass sie Wahr­heitscharakter erhalten – wenn die nichtbe­wusste Psyche ins Spiel kommt. Dabei wird seit Jahrtausenden das Gegenteil gelehrt, nämlich dass die Möglichkeit menschlicher Beziehung nur dann bestehe, wenn das Un­bewusste, als verrückte antisoziale Dimen­sion gesehen, ausgeschaltet sei.

Unseres Erachtens kann eine psychiatrische Beziehung, die auf Heilung abzielt, nur dann zustande kommen, wenn es zu einer Beziehung kommt, bei der die normale Be­findlichkeit, das luzide Bewusstsein und Verhalten sozusagen in Klammern gesetzt werden, wenn es innerhalb des therapeu­tischen Settings gelingt, eine Indifferenz der Außenwelt gegenüber zu verwirklichen, die

aber kein Annullieren oder Negieren des Be­stehenden ist.

Denn vielleicht kann man annehmen, dass die menschlichen Beziehungen, so wie sie augenblicklich üblich sind, nämlich vor allem rational, unserer Psyche Schaden zu­fügen. Ich stelle mir deshalb den Beginn jeder therapeutischen Gruppensitzung als etwas vor, das unbewusst das Bild von der Geburtssituation vorschlägt: den initialen Moment, in dem das Neugeborene die für ihn bedrohliche Außenwelt »wegdenkt«.

So kann ich endlich ein wenig Theorie aus­packen und behaupten: Lässt man es zu, dass in der therapeutischen Sitzung eine rea le nichtbewusste Beziehung entsteht, kann es zu einer Wiedererschaffung – nicht Wiederholung – jener ersten zwischen­menschlichen Beziehung kommen, die jedes Kind erlebt. Die Fähigkeit zu der Beziehung mit der Mutterbrust, die jedem Kind eigen ist, ist unseres Erachtens die Konsequenz einer primordialen psychischen Realität, die wir Verschwindensfantasie nennen. Ihr ist die Entstehung der ersten mentalen Bilder zu verdanken, und dank ihrer realisiert das Kind etwas Grundsätzliches: nämlich dass sich die Identität des Menschen nicht in der Beziehung zur unbelebten Natur ausdrückt, sondern in den zwischenmenschlichen Be­ziehungen.

Anmerkungen

1 Ab dem Herbst 1975 hielt Fagioli Supervisions­

kurs für junge Psychiater an der Universität Rom

ab. Unbeabsichtigt stellten sich immer mehr Per­

sonen ein, bis sich Anfang 1976 in der brechend

vollen Aula eine unbekannte junge Frau meldete,

sie wolle einen Traum erzählen. Als sich Fagioli

darauf einließ, verstärkte sich der Zustrom weiter,

während die jungen Psychiater das Weite suchten.

Innerhalb kurzer Zeit gab es aufgrund der An­

frage vier solcher »Seminare«, an denen jeweils

100 bis 200 Personen teilnahmen und in denen

sich Fagioli mit den Träumen der Anwesenden

auseinandersetzte. Diese »Seminare« bzw. thera­

peutischen Großgruppen, die wöchentlich abge­

halten werden, bestehen weiterhin, seit nunmehr

38 Jahren. Von Teilen der italienischen Presse sind

sie jahrzehntelang als Gefolgsschar eines Gurus

dargestellt worden. Die Psychiater und Psychothe­

rapeuten, die 1992 die Zeitschrift »Il sogno della

farfalla« gegründet haben, nehmen zumeist an

diesen »Seminaren« teil. [A. d. Ü.]

2 Mit »sadomasochistischer Beziehungsdynamik«

ist eine Beziehung gemeint, in der die Partner sich

gegenseitig als Opfer des anderen erleben, der

als sadistisch und gemein erlebt wird, ohne sich

aber trennen zu können: »Ich kann weder mit dir

noch ohne dich leben.« Vgl. M. Fagioli, Todestrieb

und Erkenntnis (1972), Stroemfeld, Frankfurt a. M.

2011, Kapitel I. [A. d. Ü.]

3 G. Zincone, Psicoanalisi d’assemblea all’ Univer­

sità, Corriere della Sera, 12.3.1978.

4 Wer will, steckt beim Herausgehen einen von

ihm selbst bemessenen Obolus, dessen Höhe nie­

mandem mitgeteilt wird, in einen Plastiksack. In

der Analisi collettiva wird auch nie nach der Her­

kunft oder dem Beruf der Teilnehmer gefragt, ihre

Namen sind meistens unbekannt. [ A. d. Ü.]

5 Im Zeitraum 1972 – 1975 hatte Fagioli die fol­

genden Bücher veröffentlicht: 1972 Istinto di mor­

te e conoscenza (Todestrieb und Erkenntnis, cit.),

1974 La marionetta e il burattino, 1975 Teoria del­

la nascita e castrazione umana. [A. d. Ü.]

6 Vgl. M. Fagioli, Todestrieb und Erkenntnis, cit.,

Kapitel I.

Der Autor

Massimo [email protected]: [email protected]

Fagioli: Psychiatrie als Psychotherapie