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Medizinische Röntgenanwendungen bei Schwangeren:
Risikoabschätzung für das Ungeborene
E. A. Nekolla, V. Minkov, D. Nosske
Strahlenschutzsymposium, München vom 16.-17. März 2012
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Rechtliche Situation
§ 23 Röntgenverordnung, Abs. 3:
Vor einer Anwendung von Röntgenstrahlung … hat der anwendende Arzt gebärfähige Frauen … zu befragen, ob eine Schwangerschaft besteht oder bestehen könnte.Bei bestehender oder nicht auszuschließender Schwanger-schaft ist die Dringlichkeit der Anwendung besonders zu prüfen.
Analog: § 80 Abs. 3 Strahlenschutzverordnung
5.1 Richtlinie Strahlenschutz in der Medizin:
Ist … eine Anwendung … aus ärztlicher Indikation geboten, sind im besonderen Maße alle Möglichkeiten zur Herabsetzung der Strahlenexposition der Schwangeren und besonders des ungeborenen Kindes auszuschöpfen.
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Rechtliche Situation
Fall 1: Schwangerschaft besteht oder ist nicht auszuschließen
→ die Notwendigkeit der Anwendung ist besonders kritisch zu prüfen
→ Nutzen-Risiko-Abwägung im Vorfeld: Der mögliche Nutzen für die Frau ist dem möglichen Risiko für das Kind gegenüber zu stellen.
Fall 2: Schwangerschaft ist nicht bekannt
→ strahlenhygienische Beratung im Nachhinein
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Biologische Wirkungen ionisierender Strahlung
Zwei Kategorien biologischer Strahlenwirkungen:
→ deterministische Wirkungen
→ stochastische Wirkungen
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Biologische Wirkungen ionisierender Strahlung
Deterministische Strahlenwirkungen
→ entstehen infolge von Zellabtötungen in kritischem Umfang und führen zu einer Reduzierung oder dem kompletten Verlust einer Organ- oder Gewebefunktion
→ treten oberhalb bestimmter Dosisschwellen auf
→ unterhalb dieser Schwellen: die Anzahl abgetöteter gesunder Zellen ist zu gering, um die Funktion von Organen oder Geweben nachhaltig zu beeinträchtigen
→ oberhalb dieser Schwellen: mit zunehmender Dosis steigt die Schwere dieser Wirkungen an
untere Dosis-schwelle
Dosis
Wirku
ngsw
ahrs
chein
lichke
it
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Biologische Wirkungen ionisierender Strahlung
Stochastische Strahlenwirkungen
→ entstehen durch strahleninduzierte Veränderungen der genetischen Information einzelner Zellen (DNS) (→Kontrollverlust über die Zellteilungsfunktion)
→ keine Dosisschwellen→ theoretisch genügt ein einziges Teilchen (γ-Quant,
Elektron, Positron, α-Teilchen), um einen Schaden an der DNS zu verursachen
→ die Wahrscheinlichkeit für das Eintreten dieser Wirkungen steigt mit zunehmender Dosis an
→ zu den stochastischen Wirkungen zählen → somatische Schäden
(Krebs / Leukämie)→ genetische Schäden W
irku
ngsw
ahrs
chein
lichke
it
Dosis
LNT
Linear Non-Threshold
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Schwangerschaftsphasen
Deterministische Strahlenwirkungen
variieren mit den Schwangerschaftsphasen
Drei Hauptphasen der Entwicklung des ungeborenen Kindes:
→ Präimplantationsphase (erste 10 Tage nach Konzeption bis zur Implantation der Blastozyste in die Gebärmutterschleimhaut)
→ Organogenese (Zeitraum nach Implantation bis einschließlich der 8. Woche nach Konzeption)
→ Fetalperiode (Zeitraum ab der 9. Woche bis zur Geburt)
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Deterministische Strahlenwirkungen
Präimplantationsphase
Der Keim besteht aus relativ wenigen, noch
undifferenzierten Zellen
„Alles-oder-Nichts-Regel“:
Strahlenexpositionen führen bei entsprechend hohen Dosen entweder zum Absterben des Keims – häufig bereits vor der Implantation – oder bleiben ohne gravierende Folgen für die spätere Entwicklung des Kindes
Risiko für eine Fehlbildung gering
Tierversuch: in seltenen Fällen Induktion von Fehlbildungen, die auf eine entsprechende genetische Prädisposition zurückgeführt wurden
Morula Blastula
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Deterministische Strahlenwirkungen
Organogenese
Zelldifferenzierung; Bildung der embryonalen
Organanlagen (z. B. Herz und Nervensystem)
Frühe Phase der Organogenese (bis einschließlich 4. Woche nach Konzeption): sensibelste Phase für die Entstehung von Fehlbildungen
Nach dem 36. Tag nach Konzeption: nur selten schwerwiegende Fehlbildungen, eher allgemeine oder lokale Wachstumshemmungen,
funktionelle Störungen und leichtere Fehlbildungen
28 Tage p.c.
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Deterministische Strahlenwirkungen
Organogenese
Unterer Wert für die Schwellendosis: 50 mSv (konservativ!) häufig Annahme eines höheren Wertes: 100 mSv (z.B. ICRP)
oberhalb der Schwellendosis:
Risiko für Fehlbildungen = 50% bei 1 Sv
Zum Vergleich: Spontanrate für kongenitale Fehlbildungen von „klinischer Relevanz“
≈ 6%
Basierend auf tierexperimentellen Untersuchungen
(0,05% pro mSv)
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Deterministische Strahlenwirkungen
Fetalperiode
Ausbildung aller Organanlagen bis
Ende der 10. Woche; Differenzierung
der Organe; Ausdifferenzierung des
Gewebes; Abnahme des Risikos für
Fehlbildungen; aktivste
Produktionsphase für kortikale
Neuronen
Fehlentwicklung des zentralen Nervensystems;
schwere geistige Retardierung
Quelle: health.state.ga.us
16 Wochen p.c.
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Deterministische Strahlenwirkungen
Fetalperiode
Unterer Wert für die Schwellendosis: 300 mSv
oberhalb der Schwellendosis:
8. bis 15. Woche nach Konzeption:Risiko für schwere geistige Retardierung = 40% bei 1 Sv
16. bis 25. Woche nach KonzeptionRisiko für schwere geistige Retardierung = 10% bei 1 Sv
Zum Vergleich: Spontanrate fürschwere geistige Retardierung (I.Q. 20 – 34 Punkte) ≈ 0,5%geistige Retardierung (I.Q. < 70 Punkte) ≈ 2 - 3%
Basierend auf Beobachtungen beim Menschen
(0,04% pro mSv)
(0,01% pro mSv)
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Deterministische Strahlenwirkungen
Fetalperiode
keine Schwellendosis
Abnahme des Intelligenzquotienten
8. bis 15. Woche nach Konzeption:Reduktion von 30 I.Q.-Punkten pro Sv (0,03 pro mSv)
16. bis 25. Woche nach KonzeptionReduktion von 10 I.Q.-Punkten pro Sv (0,01 pro mSv)
Basierend auf Beobachtungen beim Menschen
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Stochastische Strahlenwirkungen
Es gilt als gesichert, dass das Krebsrisiko nach pränataler Bestrahlung erhöht ist
Allerdings: Risikoschätzungen sind mit erheblichen Unsicherheiten behaftet !
� Geringe Fallzahlen
� Große Unsicherheiten bezüglich Dosimetrie
� Response bias bei Fall-Kontroll-Studien
� ...
� Abschätzung der Risiken mithilfe unterschiedlicher Ansätze
Strahlenbedingtes Krebsrisiko
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Preston et al.: Solid Cancer Incidence in Atomic Bomb Survivors Exposed In Utero or as Young Children. J Natl Cancer Inst 100: 428-436 (2008)
Conclusion: ... lifetime risks following in utero exposure may be considerablylower than for early childhood exposure, but further follow-up is needed.
Stochastische Strahlenwirkungen
Ansatz 1:
Lebenszeitrisiken für Krebs nach Strahlenexposition in uteround während der Kindheit sind vergleichbar
� Risikokoeffizient nach ICRP (International Commission on Radiological Protection); Berücksichtigung der Altersabhängigkeit (ca. Faktor 3 höher):
� 15% pro Sv (0,015% pro mSv) zusätzliches Lebenszeitrisiko für strahlenbedingte Krebsmortalität
Strahlenbedingtes Krebsrisiko
eher konservativ
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Stochastische Strahlenwirkungen
Strahlenbedingtes Krebsrisiko
Zusätzliches Lebenszeitrisiko für strahlenbedingte Krebsmortalität
15% pro Sv (0,015% pro mSv)
Zum Vergleich: „Spontanes“ Risiko, im Laufe des Lebens an einer Krebserkrankung zu sterben: ≈ 25%
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Stochastische Strahlenwirkungen
Ansatz 2:
Ergebnisse von Studien über Krebsmortalität/-inzidenz im Kindesalter (bis zum 15. Lebensjahr) nach In-utero-Exposition:
� Fall-Kontroll-Studie aus dem Vereinigten Königreich (OSCC: Oxford Survey of Childhood Cancers): Krebsrisiko infolge einer aus diagnostischen Gründen veranlassten In-utero-Exposition mit Röntgenstrahlung
� In-utero-Studie der japanischen Atombombenüberlebenden
Strahlenbedingtes Krebsrisiko
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Stochastische Strahlenwirkungen
Risikoschätzung nach OSCC
höher als
Risikoschätzung nach In-Utero-Studie der Atombombenüberl.
Strahlenbedingtes Krebsrisiko
Strahlenbedingte Inzidenz bösartiger Erkrankungen im Kindesalter
8% pro Sv (0,008% pro mSv)
Zum Vergleich: „Spontanes“ Risiko, im Kindesalter an Krebs zu erkranken: ≈ 0,2%.
konservativ nach OSCC
Cave:
Verdoppelungsdosis
ca. 25 mSv!
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Dosimetrie
Röntgendiagnostik (pro Untersuchung)
Untersuchungen außerhalb des Abdomens / Beckens
� Embryonal-/Fetaldosis < 1 mSv
Untersuchungen des Abdomens / Beckens
� Embryonal-/Fetaldosis < 50 mSv
Nuklearmedizinische Diagnostik (pro Untersuchung)
� Embryonal-/Fetaldosis < 10 mSv
Faustregel
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Entscheidungsbaum
< 10 Tage
Schwangerschaftsabbruch nicht indiziert
Fall 1:
Möglichst genaue Bestimmung der Zeit zwischen Konzeption und Strahlenexposition
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Entscheidungsbaum
Möglichst genaue Bestimmung der Zeit zwischen Konzeption und Strahlenexposition / Abschätzung der Uterusdosis
> 10 Tage und≤ 8 Wochen
Schwangerschaftsabbruch nicht indiziert
Fall 2:
≤ 50 mSv > 50 mSv
Zusätzliches Risiko einer Fehlbildung
Zusätzliches Krebsrisiko
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Entscheidungsbaum
> 8 Wochen
Schwangerschaftsabbruch nicht indiziert
Fall 3:
≤ 300 mSv > 300 mSv
Risiko I.Q.-Reduktion
Zusätzliches Risiko einer schweren
mentalen Retardierung
Möglichst genaue Bestimmung der Zeit zwischen Konzeption und Strahlenexposition / Abschätzung der Uterusdosis
Zusätzliches Krebsrisiko
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• Grundsätzlich sollte vor einer Strahlenexposition die Frage einer Schwangerschaft geklärt werden.
• Mit einer Strahlenexposition im diagnostischen Bereich ist im allgemeinen keine Indikation zum Schwangerschafts-abbruch gegeben, da das Strahlenrisiko für das Ungeborene in der Regel gering ist.
• Eine Schwangerschaft gilt nicht als absolute Kontraindika-tion gegen strahlendiagnostische Untersuchungen –vorausgesetzt, es findet eine sorgfältige Nutzen-Risiko-Abwägung statt!
Zusammenfassung
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Bei Überschreiten der Schwellendosis:
• Der Arzt sollte die Risiken eines stochastischen oder deterministischen Schadens immer im Vergleich zum entsprechenden Spontanrisiko darstellen und auf die Unsicherheiten der Risikoschätzungen hinweisen.
• Bei der Bewertung sollten insbesondere auch weitere möglicherweise bestehende Risiken sowie der Kinderwunsch der Schwangeren berücksichtigt werden.
• Darüber hinaus sollten die Ergebnisse einer weiterführenden Diagnostik, evtl. unter Einbeziehung eines Humangenetikers, diskutiert werden.
Zusammenfassung
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Strahlenexposition während der Schwangerschaft
→ Für den verantwortlichen Arzt besteht die Möglichkeit, beim BfS eine individuelle Risikoabschätzung für das Ungeborene nach einer Strahlenexposition einzuholen
→ Information und Entscheidungshilfe für die betroffene Frau und für die behandelnden Ärzte
Notwendige Voraussetzungen für Risikoabschätzung:
→ Angaben zur Anamnese (Konzeptionstermin, Datum der Strahlenanwendung);
→ Angaben zur technischen Durchführung (Radiologe!)
Risikoabschätzung durch BfS
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→ im Mittel etwa 20 „Schwangerschaftsanfragen“ pro Jahr
→ Bei etwa drei Viertel der Anfragen betrug die Uterusdosis weniger als 5 mSv
Risikoabschätzung durch BfS
107Insgesamt
2� 50
19� 10 und < 50
6� 5 und < 10
37� 1 und < 5
43< 1
Anzahl der Anfragen (2003-2007)Uterusdosis (mSv)
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Fragen ???
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit
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