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Philosophisch-historische Fakultät der Universität Bern
„Mein Körper macht nicht mehr mit!“ Eine medizinanthropologische Untersuchung
der Körpererfahrung von Frauen mit Chronic Fatigue Syndrom
Lizentiatsarbeit
Institut für Sozialanthropologie der Universität Bern
Lorena Bulzis
Mai 2010
Fühlst Du Dich heute auch so zerschlagen?
Überblick der Präsentation:
• Idee, Fragestellung, Ziel
• Was ist Medizinanthropologie?
• Theoretischer Hintergrund: Definition von Körper und
Erfahrung
• Vorstellung des Samples
• Erläuterungen zur Methodik
• Resultate
• Diskussion der Ergebnisse
• Fragen
Idee:
Stammt aus dem beruflichen Alltag als Ergotherapeutin
Fragestellung:
Wie wird der eigene Körper von Chronic Fatigue
betroffenen Frauen wahrgenommen und erlebt?
Ziel der Untersuchung ist die Beschreibung der
subjektiven Körpererfahrung, ausgehend von einem
integrativen Verständnis von Körper und Geist.
Medizinanthropologie
• Disziplin, die sich auf die soziale und kulturelle
Dimension von Gesundheit, Krankheit und Medizin
bezieht. (Barnard und Spencer 1997:144)
• Untersucht werden:
- medizinische Vorstellungen und Kategorien von Laien
und Professionellen
- die je nach Kultur unterschiedlichen Reaktionen auf
menschliches Leben und Leiden
- kulturelle Konstruktionen von Krankheit.
Medizinanthropologie
• Die Medizinanthropologie fordert den alleinigen
Definitionsanspruch der Biomedizin über Krankheit und
Körper heraus, somit auch die scheinbar objektive
biologische Realität von Krankheit und Körper.
• Zwei relevante Bereiche der Medizinanthropologie:
Bereich des Körpers
Bereich des Leidens
Theoretischer Hintergrund
• Sozial- und medizinanthropologische Theorien, die Kritik
am cartesianischen Dualismus von Körper und Geist
üben.
• The Mindful Body: N. Scheper-Hughes und M. Lock
1987
• The Paradigma of Embodiment: Th. Csordas 1990
The Mindful Body
• Dichotomie von Körper und Geist (Descartes): kulturelle und historische Konstruktion
• Plädieren für die Aufhebung dieser Denkweise
• Annahme: Körper ist gleichzeitig ein physisches und symbolisches Erzeugnis, wurde auf natürliche und kulturelle weise produziert und ist historisch verankert
The Mindful Body
• Definieren 3 Körper:
– Individueller Körper
– Sozialer Körper
– Politischer Körper (Körperpolitik)
Gesonderte und übergreifende analytische
Einheiten
The Mindful Body
• Der individuelle Körper:
- Kritik am biomedizinischen Reduktionismus
- Körper und Geist untrennbar bei Erfahrungen wie Krankheit, Leiden oder Heilung.
- Individuelles Selbst (westliche Denkweise) versus soziozentrische Sichtweisen des Selbst
The Mindful Body
• Der individuelle Körper bedeutet die persönliche,
subjektive Selbsterfahrung des eigenen Körpers,
der Gefühle und anderer Prozesse, die in ihm
vor sich gehen, sowie die Beziehung des Selbst
zu anderen.
The Mindful Body
• Theoretischer Hintergrund des individuellen Körpers: Phänomenologie
• Der Mensch ist nicht im Besitz eines Körpers sondern er ist selber Körper oder er ist Leib (Heidegger)
• Der Leib gründet auf der Einheit von Körper und Geist
• Phänomenologie des Leibes: Maurice Merleau-Ponty
Paradigma des Embodiments
• Das Konzept des Embodiments ist auf den Leib
bezogen und nicht auf den Körper
• Embodiment auf Deutsch: „Embodiment [könnte]
also als kulturell wahrnehmender und
handelnder Leib bezeichnet werden“ (Platz
2006: 10)
• Es geht um den Leib (leibliches Selbst), der im
Verhältnis zur Welt steht und sich so seiner
selbst bewusst wird
Paradigma des Embodiments
• Embodiment definiert durch
– Erfahrung der Wahrnehmung
– Art und Weise der Präsenz in der Welt
– Verstrickung mit der Welt
Begriffsbestimmung
• Körper: Leib als Einheit von Körper und Geist,
mit seinem Sein-in-der-Welt.
• Erfahrung: Das, was als erstes auf den Leib trifft
und direkt an ihm geschieht.
Da diese Erfahrung immer in einem bestimmten
Kontext erlebt wird, handelt es sich um gelebte
Erfahrung.
Begriffsbestimmung
• Körpererfahrung = Leiberfahrung:
subjektive Selbsterfahrung des eigenen
Körpers und der Gefühle, die dabei
entstehen, die Reaktionen des Selbst und
ferner wie sich die Beziehung zu anderen
und das In-der-Welt-sein durch diese
Selbsterfahrung gestaltet.
Präzisierung der Fragestellung
• Wie wird der eigene Körper von vom Chronic
Fatigue Syndrom betroffenen Frauen
wahrgenommen und erlebt und wie drücken sich
diese Wahrnehmungen und Erlebnisse als
Leiberfahrung aus?
Vorstellung des Samples
• Einschlusskriterien : erwachsene Frauen ab 18
Jahren, die mindestens vor 1 Jahr von einem
Arzt die Diagnose CFS erhalten haben
• 8 Frauen aus der ganzen deutschsprachigen
Schweiz zwischen 28 und 57 Jahre alt
Pseudonym Alter Krankheitsdauer Jahr der Diagnose-stellung Angestelltenverhältnis
Colette 40 15 Jahre 2003 Keines
Lea 57 32 Jahre 1992 Keines, ehrenamtliche Tätigkeit
Amanda 40 7 Jahre 2003 Keines
Sue 44 14 Jahre 2008 50%
Brita 51 40 Jahre 2005 Keines
Olivia 28 10 Jahre 2004 Keines
Cindy 52 12 Jahre 2001 15%
Irma 33 2 Jahre 2008 Krankgeschrieben
Methodik
• Qualitativer Ansatz
Ziel: Exploration und Interpretation eines
menschlichen Phänomens
• Design: Interpretative Phänomenologische
Analyse (IPA)
- Untersuchung der Lebenswelt der Probanden
- persönliche Erfahrung
- persönliche Wahrnehmung
- „Insider“-Perspektive einzunehmen
• Mittel: Leitfadeninterviews
Resultate
• 5 Themen
– Der dysfunktionale Leib
– Der Verlust der vertikalen Position
– Die Interaktionen zwischen Körper und Geist
– Der Aufbau eines neuen Selbst
– Das In-der-Welt-sein mit einem
dysfunktionalen Leib
Resultate
• 5 Themen
– Der dysfunktionale Leib
• Der Leib drängt sich auf mit unangenehmen
Wahrnehmungen
• Kontroll- und Sicherheitsverlust
• Beeinträchtigung der körperlichen und kognitiven
Fähigkeiten
• Mangelnde Energieressourcen
Resultate
• 5 Themen
– Der Verlust der vertikalen Position
Auswirkung des dysfunktionalen Leibes:
eine aufrechte Körperhaltung ist schwer zu halten,
das Liegen wird bevorzugt
Resultate
• 5 Themen
– Die Interaktionen zwischen Körper und Geist
• Der Geist aktiviert den Körper
• Der Geist hilft beim Einhalten der Strukturen
• Körper und Geist arbeiten zusammen
• Der Geist muss aufgeben
Resultate
• 5 Themen
– Der Aufbau eines neuen Selbst
• Die Persönliche Weiterentwicklung
• Reflexion über Prioritäten, Werte, Beziehungen
• Situation managen können
• Integration des leiblichen Zustandes ins Leben und
neue Sicht auf die Welt
Resultate
• 5 Themen
– Das In-der-Welt-sein mit einem
dysfunktionalen Leib
• Die Freiheit und die Auswahlmöglichkeiten sind
reduziert
• Struktur und Balance
• Erschwernisse im Alltag
• Erwartungen können nicht erfüllt werden
• Die Position in der Welt
Diskussion
• Der dysfunktionale Leib
– Mit der Krankheit tritt der Körper mit
Dysfunktionalitäten in Erscheinung
– Gesunder Körper/Leib nicht Gegenstand der
Erfahrung
– Fähigkeiten werden ihm entzogen: Phänomen des
„nicht mehr in der Lage seins“ (Leder 1990: 81)
– Veränderung des Embodiments durch CFS: machen
nicht mehr die gleichen wahrnehmenden Erfahrungen
und engagieren sich nicht mehr in gleicher Weise in
der Welt
Diskussion
• Interaktionen zwischen Körper und Geist – Leib bietet konkrete Möglichkeiten, um in der Welt zu
agieren
– Funktionales Vermögen notwendig, wird aber nicht bewusst thematisiert -> es geht nicht um das Denken sondern um das Können
– Beziehung zwischen Absichten etwas zu tun und Leib, der sie ausführen sollte, ist durch die Krankheit verloren gegangen
– Funktionelles Vermögen muss bewusst thematisiert werden und die Aktivität muss für den Leib gedacht werden
– Bei Verlust der vegetativen Aktivitäten des Körpers, hat der Geist keine Möglichkeit mehr einzugreifen, weil er keine Kontrolle darüber hat
Diskussion
• Der Aufbau eines neuen Selbst
– Dysfunktionaler Leib durch „Nicht-Mehr-Können“
geprägt
– Selbstwahrnehmung des Leibes, Wahrnehmung der
anderen und der Welt hat sich verändert
– Durch neue subjektive Erfahrungen des
Wahrnehmens und neue kognitive Prozesse wird es
neu objektiviert
– Änderung des Embodiments bedarf einer Anpassung
des Selbst
Diskussion
• In-der-Welt-sein mit einem dysfunktionalen Leib
– Erleben einer marginalen Position in der Welt
stellt leibliche Erfahrung dar, die aus dem
Verlust der vertikalen Position des Körpers
resultiert
Schlusswort
• Übereinstimmung mit anderen sozial-
wissenschaftlichen Studien, nur
ergänzende Aspekte
• Beschreibung einer ganzheitlichen
Körpererfahrung möglich
• Auswirkungen der Krankheit auf den Leib
und somit auf den ganzen Menschen wird
beleuchtet
Fragen?
Fühlst Du Dich heute auch so zerschlagen?
ANHANG
Das Chronic Fatigue Syndrom (CFS)
• Von der Weltgesundheitsorganisation (WHO)
anerkannte Krankheit
• ICD-10: Ziffer G 93.3.:
„Chronisches Müdigkeitssyndrom: Benigne
myalgische Enzephalomyelitis, Chronisches
Müdigkeitssyndrom bei Immundysfunktion,
Postvirales Müdigkeitssyndrom“ (ICD-10 Version
2010)
Einreihung bei den neurologischen Erkrankungen
unter „Sonstige Krankheiten des Gehirns (G 93.)“.
CFS: Bezeichnungen
• Chronisches Erschöpfungssyndrom
• Chronisches Müdigkeitssyndrom
• Chronic Fatigue Syndrome (CFS)
• Chronic Fatigue/Immune Dysfunction Syndrome
(CFIDS)
• Myalgische Enzephalomyelitis (ME, England)
CFS: Beschwerden
• Schwere chronische Erschöpfung
• verbunden mit anderen vegetativen, neurologischen, immunologischen und endokrinologischen Symptomen, wie Hals-, Kopf- und Muskelschmerzen, geschwollene Lymphknoten, Fiebergefühl
• Schlafprobleme
• Benommenheit
• Konzentrationsstörungen
• Unverträglichkeit von Gerüchen
• Übelkeit etc.
CFS: Beschwerden
• zentrales Merkmal:
Verschlimmerung der Symptome nach
körperlicher und geistiger Anstrengung,
erfolgt meist etwas verzögert, nach ca. 24
Stunden
Erholung nach der Anstrengung dauert bis
zu 72 Stunden
CFS: Betroffene
• Erwachsene im mittleren Lebensabschnitt
(30-50 Jahre)
• Kinder
• Alle soziale Schichten
• Beide Geschlechter (Frauen häufiger)
• 2-4 von 1000 Erwachsenen
CFS: Definitionen
• Erste Definition: in England 1986
• Zweite Definition: USA 1988
• Fukuda-Definition 1994
• Kanadisches Konsensdokument oder
Kanadische Definition 2003 (klinische Fall-
Definition)
CFS: Behandlung
• Symptomlinderung
• Diätänderungen
• Ausgleich von Vitamin- oder Mineralmangel
• kognitive Verhaltenstherapie (Pacing)